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Chris Karlden

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Beschreibung

Eine junge Frau, die wider Erwarten aus dem Koma erwacht. Eine Wahrheit, die zu schrecklich ist, um sie zu glauben. Eine Erklärung, die alles in den Schatten stellt! Zwei Wochen nach einem Autounfall erwacht Linda Förster aus dem Koma. Teile ihres Gedächtnisses sind wie weggeblasen und auch an den Unfall selbst kann sie sich nicht erinnern. Als man ihr eröffnet, dass ihr Mann Mark dabei ums Leben kam, bricht für Linda eine Welt zusammen. Dann jedoch glaubt sie, sich zu erinnern, dass Mark gar nicht im Wagen saß, als der Unfall geschah. Nachdem Linda aus dem Krankenhaus entlassen wird, ereignen sich seltsame Dinge um sie herum und ein schreckliches Trauma aus ihrer Kindheit erwacht zu neuem Leben. Zudem fühlt sie sich verfolgt. Hat Marks Vergangenheit etwas damit zu tun oder wurde ihr Kopf durch den Unfall so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sie sich alles nur einbildet? Während Lindas Realität mehr und mehr verschwimmt, wird ihr eines jedoch immer klarer: Sie muss die Wahrheit herausfinden, auch wenn diese sie vollständig in den Wahnsinn treiben könnte.

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UNVERGOLTEN

PSYCHOTHRILLER

CHRIS KARLDEN

INHALT

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Über das Buch

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Nachwort

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ÜBER DAS BUCH

Eine junge Frau, die wider Erwarten aus dem Koma erwacht.Eine Wahrheit, die zu schrecklich ist, um sie zu glauben.Eine Erklärung, die alles in den Schatten stellt!

Zwei Wochen nach einem Autounfall erwacht Linda Förster aus dem Koma. Teile ihres Gedächtnisses sind wie weggeblasen und auch an den Unfall selbst kann sie sich nicht erinnern. Als man ihr eröffnet, dass ihr Mann Mark dabei ums Leben kam, bricht für Linda eine Welt zusammen. Dann jedoch glaubt sie, sich zu erinnern, dass Mark gar nicht im Wagen saß, als der Unfall geschah. Nachdem Linda aus dem Krankenhaus entlassen wird, ereignen sich seltsame Dinge um sie herum und ein schreckliches Trauma aus ihrer Kindheit erwacht zu neuem Leben. Zudem fühlt sie sich verfolgt. Hat Marks Vergangenheit etwas damit zu tun oder wurde ihr Kopf durch den Unfall so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sie sich alles nur einbildet? Während Lindas Realität mehr und mehr verschwimmt, wird ihr eines jedoch immer klarer: Sie muss die Wahrheit herausfinden, auch wenn diese sie vollständig in den Wahnsinn treiben könnte.

ÜBER DEN AUTOR

Chris Karlden, geb. 1971, studierte Rechtswissenschaften. Anschließend übte er für viele Jahre eine Tätigkeit als Jurist aus. Daneben schrieb er Thriller, die er in Verlagen und als Selfpublisher veröffentlichte. Mittlerweile widmet er sich beruflich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen. Seine Bücher steigen dabei regelmäßig auf Spitzenpositionen in den Bestsellerlisten. Insbesondere seine Thrillerreihe um die Kommissare Adrian Speer und Robert Bogner erfreut sich einer immer größer werdenden Anhängerschaft. Der Autor ist sehr am Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern interessiert, die er insbesondere auf Facebook und mit seinem Newsletter auf dem Laufenden hält.

Neuigkeiten und Kontakt zu Chris Karlden erhalten Sie hier:

Homepage: https://www.chriskarlden.de

Facebook: https://www.facebook.com/c.karlden

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Instagram: https://www.instagram.com/chris.karlden

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Unvergolten

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 2022 by Chris Karlden

Alle Rechte vorbehalten

Chris Karlden

c/o COCENTER

Koppoldstr. 1

86551 Aichach

E-Mail: [email protected]

https://chriskarlden.de

Umschlaggestaltung: Artwize, https://cover.artwize.de/

unter Verwendung eines Fotos von © Sean Pollock

sowie der Fotos

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© photocosma

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© kirahoffman

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© rkarkowski

https://www.shutterstock.com/de/image-illustration/beautiful-girl-closed-eyes-on-blue-121412710

© Yuliya Yafimik

Lektorat & Korrektorat: Heidemarie Rabe

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jedwede Verwendung des Werkes darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung.

Dies ist ein fiktiver Roman. Die Figuren und Ereignisse darin sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, wäre zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Hamburg

»Zum Geburtstag viel Glück ...« Jürgen und Anne Brauer sangen das Lied ganz leise und mit einem freudigen Ausdruck im Gesicht, während sie mit einer kleinen Kindertorte, auf der vier Kerzen brannten, das Zimmer ihrer Jüngsten betraten. Laura, Maries zwei Jahre ältere Schwester, stand neben ihren Eltern und krächzte das Geburtstagslied verschlafen mit. Marie hatte sich unter ihrer Bettdecke verkrochen. Als das Lied zu Ende war, warf sie die Decke hellwach und mit einem erwartungsvoll strahlenden Lächeln zur Seite, um gleich darauf von Mama und Papa in den Arm genommen zu werden.

Beim Frühstück konnte Jürgen Brauer den Blick nicht von seiner hübschen Frau und seinen Töchtern lassen, die fleißig ihr Müsli in sich hineinstopften.

»Heute komme ich früher heim. An deinem Geburtstag muss die Bank am Nachmittag einmal ohne mich auskommen. Schließlich will ich die Feier mit deinen Freundinnen auf keinen Fall verpassen.«

Marie schenkte ihm daraufhin ihr schönstes Lächeln. Jürgen Brauer stand auf, um zu gehen. Er hatte es im Bankgeschäft zu etwas gebracht und war vor zwei Jahren zum Vorstandsmitglied einer kleinen Genossenschaftsbank aufgestiegen. Während er im Stehen seinen Kaffee austrank, blätterte er auf die letzte Seite des Hamburger Abendblatts. Sein Blick gefror kaum merklich für einen kurzen Moment, und er spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.

Er sah zu Anne hinüber, die damit beschäftigt war, die Brotdosen der Kinder zu füllen. Dann wandte er sich schnell wieder der Zeitung zu und drückte sie mit der flachen linken Hand auf den Tisch. Mit der anderen Hand versuchte er, die Seite so geräuschlos wie möglich abzureißen.

»Steht was Besonderes drin?«, fragte Anne. Mist, sie hatte es doch mitbekommen. Gerade diese Frage hatte er vermeiden wollen. Ertappt schaute er sie an. Hoffentlich bemerkte sie nicht auch noch seine Unruhe. Er seufzte und versuchte, einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen.

»Nein«, sagte er und verzog seine Lippen zu einem verschmitzten Lächeln. »Nur langweiliger Börsenkram.«

Das war natürlich eine Lüge. Er wusste, dass seine Frau sich für das Thema Wirtschaft, was nun einmal zu seinem Job gehörte, nicht im Geringsten interessierte. Glücklicherweise bohrte sie auch nicht weiter nach, sondern nahm mit einem Schulterzucken die Brotdosen und die Trinkflaschen und verstaute die Sachen in den Taschen der Kinder. Brauer atmete die angehaltene Luft erleichtert aus, faltete die Zeitungsseite zusammen und steckte sie in seine Aktentasche. Das war noch einmal gut gegangen. Hätte Anne darauf bestanden, dass er ihr die Seite zeigte, dann hätte sie sich unweigerlich gefragt, was er ausgerechnet mit dem Bericht über einen brutalen Mord in Heidelberg wollte, der kürzlich geschehen war, und dann hätte sie sich Sorgen gemacht. Vielleicht zu Recht.

Früher war er aufgeregter gewesen, wenn er Zeitungsberichte dieser Art entdeckt hatte. Das Herz hatte ihm bis zum Hals geschlagen, und er war meist mehrere Tage wie ein verängstigter Hund herumgelaufen. Doch umso mehr Jahre vergangen waren, desto gelassener ging er damit um.

Er gab seiner Frau einen Abschiedskuss, umarmte die Kinder, verließ das Haus und schlenderte hinüber zu seinem Auto, das in der Einfahrt zur Garage parkte. Er betätigte den Knopf für die Zentralverriegelung am Wagenschlüssel, und das typische Quieken signalisierte das Öffnen der Türen. Kurz darauf saß er im Wagen. Als er mit der Hand am Anlasser in den Rückspiegel schaute, rollte ein alter silberner Ford älteren Baujahrs in sein Sichtfeld.

Zu seinem Entsetzen blieb der Wagen vor der Einfahrt stehen. Brauer versuchte sich zu beruhigen, doch sein Atem ging bereits nur noch stoßweise und panische Angst umfasste seine Glieder mit eisernem Griff.

Zuerst der Zeitungsausschnitt, und jetzt versperrte ihm ein Fremder mit seinem Auto den Weg. Er konnte sich noch so oft sagen, dass schon alles in Ordnung sei, dass wahrscheinlich nur jemand nach dem Weg fragen wollte. Gegen seine unterbewussten Instinkte hatte sein Verstand jedoch keine Chance. Er hatte den Wagen, der seitlich versetzt unter den Platanen vor dem Haus der Meyers geparkt hatte, zwar registriert, als er aus dem Haus gekommen war, ihm aber keine besondere Bedeutung beigemessen. Ganz anders jetzt. Nun gab es nichts anderes mehr, das zu existieren schien. Die Umgebung schmolz für Brauer zu diesem einen Punkt im Rückspiegel zusammen. Dabei trieben ihn die stark getönten Scheiben des Mondeo fast in den Wahnsinn. Wer saß hinter dem Steuer?

Er dachte wieder an den Inhalt des Artikels in seiner Aktentasche, sah das Foto vom Tatort mit der auf den Straßenasphalt aufgemalten Lage des Ermordeten vor sich. Die Reporter, die mit ihren aufblitzenden Fotoapparaten wie Aasgeier neben unzähligen Schaulustigen vor dem Flatterband der Polizei standen. Der Leichenwagen auf der anderen Straßenseite.

Nein, das konnte nicht sein. Einen Sekundenbruchteil später wusste er, dass es so war. Das war der Moment, vor dem er sich all die Jahre gefürchtet hatte. Im gleichen Augenblick jagte die Angst einen weiteren unvermittelten Adrenalinstoß durch seinen Körper. Sein Atem setzte aus. In seinen Ohren dröhnte das Rauschen seines Blutes wie das Getöse eines wilden Flusses. Nichts war verziehen. Es blieb keine Zeit, weiter nachzudenken.

Ein großer hagerer Mann in brauner Stoffhose und schwarzer Lederjacke stieg aus dem Mondeo. Das war nichts Besonderes. Doch zwei weitere Details brachten Brauers Gehirnzellen zum Hyperventilieren und ließen seine Gedanken wie Flipperkugeln umherschnellen. Der Mann trug eine Mütze mit Aussparungen für die Augen auf dem Kopf und in der rechten Hand baumelte eine Pistole mit Schalldämpfer. Er ging lässig und ohne Hast auf Brauers Wagen zu. Innerlich glaubte Brauer jetzt zu explodieren, so sehr pochte sein Herz gegen seine Brust. Äußerlich verdammte ihn jedoch eine Schockstarre zur Bewegungslosigkeit. Er fühlte sich wie ein Käfer, der sich instinktiv tot stellt, wenn er Gefahr wittert.

Nur ein leichtes Zittern, das jeden Muskel seines Körpers zu erfüllen schien, und seine vor Entsetzen weit geöffneten Augen verrieten, dass er noch am Leben war. Der Mann mit der Pistole trat nun neben den Wagen und musterte Brauer aus den engen Augenschlitzen seiner Skimütze. Fast so, als würde er ein Insekt durch ein Mikroskop beobachten und wäre gespannt darauf, wie es reagieren würde, wenn man ihm mit dem Feuerzeug die Gliedmaßen versengte.

Statt den Wagen zu starten, den Rückwärtsgang einzulegen, und koste es, was es wolle, einen Fluchtversuch zu unternehmen, starrte Brauer den Vermummten nur an. Wertvolle Sekunden verstrichen, ohne dass Brauer sich dieser Tatsache bewusst wurde.

»Nein, nicht, bitte tun Sie es nicht«, war das Einzige, was er herausbrachte.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Brauer eine Bewegung am Küchenfenster. Es waren Anne und die Kinder, die auf der Küchenarbeitsplatte knieten und mit den Fäusten an die Fensterscheibe trommelten. Mein Gott, sie bekamen alles mit. Er sah ihre weit geöffneten Münder. Anne, Marie und Laura. Sie schrien allesamt vor Angst und Entsetzen. Er glaubte, ihr Geschrei trotz der geschlossenen Wagenfenster zu hören, konnte sich aber auch täuschen. Er hatte das Gefühl, das Glas der Fensterscheibe würde unter ihren Schlägen vibrieren. Er streckte seine Hand nach ihnen aus, als ob er so eine Verbindung zu ihnen herstellen und sie ihn ins Haus zu sich in Sicherheit ziehen könnten. Jetzt weinte auch Anne.

»Geht da weg«, schrie er. Sie verharrten, wo sie waren. Ihre Augen waren schreckgeweitet. Marie weinte hysterisch. Er war sich nicht sicher, ob sie begriff, was hier gerade ablief. Doch kein Zweifel: Was hier geschah, würde sich für immer in ihrer aller Gedächtnis einbrennen. Jetzt rannen auch ihm die Tränen die Wangen herunter. Für eine Millisekunde fragte er sich, wie ihr Leben wohl ohne ihn verlaufen würde. Das machte ihn unendlich traurig.

Das hatte Brauer nicht für seine Lieben gewollt. Er hatte sich eingebildet, sie beschützen und ihnen ein unbeschwertes Leben bieten zu können. Jetzt erschien ihm sein naiver Glaube wie eine Lachnummer. Was er damals getan hatte, war nie in Vergessenheit geraten.

Anne hatte jetzt das Telefon am Ohr. Er sah die Bewegungen ihres Mundes. Plötzlich erwachte er aus seiner Lähmung und war wieder fähig, sich zu bewegen. Er musste etwas tun. Mit wilder Entschlossenheit stieß er die Fahrertür auf. Der Mann mit der Waffe wich der aufschwingenden Tür mit einem eleganten Schritt nach hinten aus. Es wirkte fast so, als habe er bereits darauf gewartet, dass Brauer endlich aussteigen würde.

Brauer sprang aus dem Wagen und rannte an dem Mann vorbei, der keine Anstalten machte, ihn aufzuhalten oder die Waffe gegen ihn zu richten. Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht wollen sie mir nur einen Denkzettel verpassen. Brauers Beine waren dennoch weich wie Pudding und obwohl es nur ein paar Meter bis zur Haustür waren, kam es ihm vor, als liefe er in Zeitlupe. Er blickte nicht zurück, konzentrierte sich nur auf die Tür. Er streckte die Arme aus. Es war nur noch ein Meter. Die Tür öffnete sich bereits einen Spalt. Er sah Anne. Dann fiel der Schuss mit einem kaum hörbaren Puffen. Das Morgenkonzert der Vögel übertönte das Geräusch fast vollständig.

Brauer stürzte vornüber und berührte mit den Fingerspitzen der rechten Hand den unteren Türrahmen. Die andere presste er auf die Wunde in seinem Oberschenkel, aus der das Blut zwischen seinen Fingern hindurchsickerte und sowohl seine Hose als auch den gepflasterten Weg unter ihm rot färbte. Anne schrie. Er hörte es nur gedämpft. Den Schmerz im linken Oberschenkel, der ihn sonst hätte aufschreien lassen, spürte er kaum. Sein Unterbewusstsein wusste, dass der Schmerz belanglos war und unbeachtet bleiben musste, denn es ging um mehr. Jetzt ging es ums nackte Überleben.

Anne hatte noch immer das Telefon in der Hand, als sie sich bückte und vergeblich versuchte, ihn mit der freien Hand ins Haus zu ziehen. Die Kinder standen hinter ihr, klammerten sich an ihren Rücken. Er sah, dass sie schrien, doch hören konnte er es nicht, wie er auch sonst keine Geräusche außer einem tiefen Brummen im Ohr mehr wahrnahm.

Brauer drehte sich auf den Rücken und sah im nächsten Moment den Vermummten über sich. Die Pistole war jetzt auf seine Stirn gerichtet.

Sie hatten ihn gefunden. Vielleicht wollten sie ihm auch nur Angst einjagen. Warum sonst hatte der Mann ihn nicht gleich eliminiert, als er noch im Wagen saß? Doch tief in seinem Inneren wusste er, was gleich geschehen würde. Der Mann wollte ihm nicht nur Angst einjagen. Sein Auftrag lautete, ihn zu töten. Der Lauf der Pistole fixierte ihn wie der Kopf einer Giftschlange, die gleich zustoßen würde. Er war sich jetzt ganz gewiss, dass er sterben musste. Auch wenn sein Verstand ihm etwas anderes zu suggerieren versuchte. Das war nur ein kläglicher Versuch, ihn nicht verrückt werden zu lassen. Ja, er musste sterben. Hier und jetzt. Länger konnte der Killer nicht mehr warten. Gleich würde die Polizei hier sein. Seltsamerweise ließ ihn diese Erkenntnis ruhiger werden.

Brauer schloss die Augen. Er nahm nicht mehr wahr, wie Anne an ihm zerrte, sah nicht mehr, dass sie auf die Knie gesunken war und den Killer anflehte. Er hatte eine Familie gegründet, und jetzt lag er hier auf dem Weg im Vorgarten seines Hauses, und seine Frau und die beiden Kinder mussten dabei zusehen, wie er getötet wurde.

Tränen liefen ihm über die Wangen. Er zitterte, seine Blase entleerte sich, der Urin bildete einen dunklen Fleck im Schritt seiner kakifarbenen Anzughose.

»Nicht hier, nicht vor den Augen meiner Kinder und meiner Frau«, wimmerte er.

Er sah kurz auf. Um den Mund bewegte sich die Maske des Killers. Ein dunkles Höllentor, das ihn bald verschlingen würde. Er lächelt, dachte Brauer. Sein Blut bildete mittlerweile auf den Pflastersteinen unter seinem Körper eine Lache. Er spürte die Feuchtigkeit an seinem Bein. Erst jetzt bemerkte er die eisige Kälte, die sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte. Er ließ den Kopf zur Seite sinken und betrachtete das satte Grün zu seiner Rechten. Er tauchte seine linke Hand in die Blutlache und hob sie vor seine Augen. Die rechte Hand krallte er mit ganzer Kraft in das Erdreich des feuchten, kurz geschorenen Rasens. Und dann im selben Moment, als der Vermummte zweimal abdrückte, war Jürgen Brauer klar, dass der Killer genau das gewollt hatte. Er sollte vor den Augen seiner Familie im Dreck sterben. Die Hinrichtung sollte grausam sein, zur Abschreckung für all jene, die Gleiches getan hatten wie er. Sie würden davon in der Zeitung lesen, genau wie er jahrelang davon in der Zeitung gelesen hatte, und dann würden sie wissen, was auf sie zukam. Seine Frau und die Kinder würden überleben, ihr Seelenheil jedoch nicht.

2

Fünfzehn Tage danach

Sie wissen Bescheid. Immer wieder geisterte dieser Satz in einer Endlosschleife durch Lindas Kopf, der vor Schmerzen zu bersten drohte und sich so schwer anfühlte, als ob jemand einen Eimer Beton hineingegossen hätte. Ihre Augäpfel zuckten hinter den geschlossenen Lidern hin und her. Jegliches Zeitgefühl war ihr abhandengekommen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon so halb wach, halb schlafend dahinvegetierte.

Plötzlich jedoch ging ein Ruck durch ihren Körper, als ob ein elektrischer Impuls ihn gerade zum Leben erweckt hätte. Endlich schaffte sie es, wenigstens ihre Augen zu öffnen.

Die Intensität des Schmerzes, der sie durchfuhr, war kaum auszuhalten. So musste es sich anfühlen, wenn man mit einem heißen Eisen geblendet wurde. Sie hörte ihren inneren Aufschrei, doch den Mund öffnen, um ihn nach außen zu schreien, konnte sie nicht.

Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten und der Schmerz abebbte, schien dennoch alles umsonst gewesen zu sein. Denn um sie herum blieb alles milchig und verschwommen. Es gab keine Konturen oder eindeutigen Farben, als ob die Außenwelt, während sie geschlafen hatte, in einem riesigen Mixer zu Brei verarbeitet worden wäre. Oder konnte es sein, dass ihr Gehirn einfach verlernt hatte, aus den Informationen, die ihm über die Netzhaut der Augen weitergeleitet wurden, Bilder zu formen? Gleichzeitig merkte sie, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war nicht einmal in der Lage, auch nur den kleinen Finger anzuheben. Keine Minute nach ihrem Erwachen schlief Linda erneut ein.

Als sie das nächste Mal zu sich kam, fühlte sie sich unglaublich schwach. Sie hielt die Augen noch für einen Moment geschlossen. Dafür funktionierte das Denken nun besser. Sie hörte in sich hinein. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Normalerweise wusste sie, wo sie war, wenn sie erwachte. Im Moment herrschte in ihrem Kopf jedoch völlige Leere. Sie hatte das Gefühl, schwerelos im finsteren Weltall zu taumeln. Ihr Gehirn - ein Computer ohne Betriebssystem und Software. Was war geschehen? Sie wusste es nicht. Unregelmäßig hob und senkte sich ihr Brustkorb nun in einem viel zu schnellen Rhythmus. Sie hörte einen schrillen Ton. Ein Alarmsignal. Eine Tür, die sich öffnete und schloss. Schritte, die über den Boden eilten. Dann tauchten nach und nach wenigstens einzelne unzusammenhängende Situationen aus ihrem Leben auf wie bunt und hell explodierende Feuerwerkskörper am schwarzen Firmament. Ihr war speiübel. Bittere Magenflüssigkeit drängte in ihrer Speiseröhre nach oben und sie glaubte, sich erbrechen zu müssen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war, als hätte jemand Sektionen ihres Gehirns neu formatiert und dabei die meisten ihrer Erinnerungen ganz gelöscht oder zeitlich durcheinandergebracht. Die Trockenheit in ihrem Mund war kaum auszuhalten und ihr Hals schmerzte wie nach einer Mandeloperation. War das hier ein Traum, in dem sie ohne Vergangenheit und Zukunft war und nur auf die Dinge reagieren konnte, die ihr unweigerlich gleich widerfahren würden?

Sie spürte nun auch die Matratze unter ihrem Körper. Sie lag in einem Bett. Lange, wie ihr schmerzender Rücken verriet. War es ihr eigenes Bett? Sie wusste es nicht.

Sie wissen Bescheid. Jemand ist unterwegs. Es ist unvergessen. Sie schrak zusammen. Warum geisterten diese Worte, gesprochen von einer gesichtslosen männlichen Stimme, durch ihren Kopf? Und warum jagte ihr diese Stimme eine solche Angst ein, dass sich augenblicklich ihr Atem beschleunigte? Eiskalt, die Stimme war eiskalt und bedrohlich, das musste es sein. Gleichzeitig begann ihr Körper, der bis dahin träge und bewegungslos wie ein Reptil in der Winterstarre verharrt hatte, impulsartig zu zucken. Jetzt riss sie panisch die Augen auf, um dem Vakuum ihres Geistes und dieser fremden Stimme in ihrem Kopf zu entfliehen.

Aus der zunächst nur schemenhaften Wahrnehmung, als ob ein Schleier über ihren Augen liegen würde, kristallisierte sich dieses Mal nach und nach die klare Struktur eines kleinen viereckigen Raumes heraus. Zu der Farbe der Wände gesellten sich Geräusche, die sie dumpf, als sei ihr Schädel in Styropor gewickelt, wahrnahm. Nicht mehr als Sinnesreize in einer abgeschotteten Enklave. Sie atmete tief ein. Ihr Herz pochte zu dem Ziehen in ihren Lungen in einem apokalyptischen Rhythmus.

Sie bewegte den Kopf leicht zur Seite. Blumen standen auf der Fensterbank zu ihrer Rechten. Dabei hatte sie das Gefühl, auf einer im Meer hin und her wogenden Luftmatratze zu liegen und nicht in einem Bett auf festem Untergrund.

Am Ende des Bettes tauchte eine Gestalt auf.

»Linda, erkennst du mich?«

Linda wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Ihre Zunge schien am Gaumen festzukleben. Mit einer leichten Kopfbewegung und einem Zukneifen der Augen signalisierte sie ihrem Vater Benedikt ein „Ja“. Er sah fürchterlich aus, als hätte er Wochen nicht geschlafen. Zu ihrer Linken hörte sie nun ein Schluchzen. Sie wandte den Kopf und sah ihre Mutter Magrit. Erst jetzt spürte sie, dass diese ihre Hand hielt. Hinter ihrer Mutter kam Lindas drei Jahre ältere Schwester Maja zum Vorschein. Was zum Teufel war hier los? Wie war sie hierher in dieses sterile Zimmer mit der gelb gestrichenen Raufasertapete gekommen? Sie versuchte sich aufzurichten, schaffte es jedoch gerade einmal, den Kopf leicht anzuheben. Ihr Vater beugte sich zu ihr und streichelte über ihre Stirn.

Endlich realisierte Linda, wo sie sich befand. Ein Krankenhaus. Das musste es sein. Eine Kanüle steckte in ihrer rechten Hand, ein Schlauch führte zu einer Flasche, die an einem Metallständer hing. Dahinter stand auf einem fahrbaren Tisch ein elektronischer Kasten mit einem kleinen Monitor und verschiedenfarbigen Leuchtdioden. Auf dem Display flimmerte eine grüne Linie auf und ab. Unter ihrem Nachthemd liefen Drähte hervor, die zu dem Gerät führten, das ihre Vitalfunktionen überwachte. In einem fast gleichbleibenden Abstand gab es einen Piepton von sich. Nun trat ein Mann in einem weißen Kittel vor das Bett. Er sprach übertrieben laut und deutlich.

»Ich bin Dr. Obermann. Können Sie mich verstehen?«

Dr. Obermann war groß und dünn. Linda schätzte ihn auf Ende dreißig. Sein dichtes dunkles Haar reichte ihm seitlich bis zum Kinn, was ihn wie einen der Beatles in ihren Anfangsjahren aussehen ließ.

Linda versuchte abermals zu sprechen. Doch ihre Zunge gehorchte nicht ihren Befehlen, sondern lag nur wie lose in ihrem Mund. Statt einem deutlichen „Ja“ gab sie nur unverständliche Laute von sich. Eine Schlinge schnürte sich augenblicklich um ihr Herz und zog sich immer weiter zu. Sie konnte nicht mehr reden. Plötzlich war sie hellwach. Panisch versuchte sie sich aufzurichten, zum Zeichen, dass sie am Leben war und alles mitbekam, was um sie herum geschah. Doch der Versuch, ihre Muskeln zu aktivieren, misslang ebenso wie zuvor ihre Bemühung, sich zu artikulieren. Stattdessen nickte sie nur wie verrückt. »Ja, ich verstehe Sie«, wollte sie Dr. Obermann damit sagen. Was stimmte nur nicht mit ihr? Ich bin gefangen, dachte sie. Ich bin in mir selbst gefangen. Bitte, Gott, lass das nicht wahr sein. Mit jedem weiteren ihrer destruktiven Gedanken beschleunigten sich ihre Atmung und ihr Puls. Sie hörte nun statt des Pieptons einen beunruhigend hohen Dauerton und sah eine Lampe an dem Monitor, mit dem sie verbunden war, grellrot aufleuchten. Dr. Obermann legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war wunderbar warm und weich.

»Sie müssen sich beruhigen. Es kommt alles wieder in Ordnung.« Seine Worte drangen zu ihr durch. Jedoch reagierte ihr Körper nicht so schnell darauf, wie er es vorher geschafft hatte, aus dem Lot zu geraten. Die Tür wurde aufgerissen. Ein weiterer Arzt stürmte ins Zimmer, gefolgt von einer Krankenschwester.

»Schon gut, unsere Patientin ist gerade dabei, sich wieder zu beruhigen.« Dr. Obermann sprach mit einer so besänftigenden Stimme, dass sie einfach überzeugt sein musste, dass er die Wahrheit sagte und wirklich wieder alles in Ordnung kam. Vertrau ihm, sagte sie sich. Er ist Arzt. Er muss es wissen. Gleich darauf fühlte sie, dass ihre Panikattacke auf dem Rückzug war. Die Todesangst ging. Der Alarm verstummte. Der regelmäßige Piepton setzte, wenn auch nun schneller als zuvor, wieder ein.

»Gut. Wissen Sie auch, wie Sie heißen?«, fragte Dr. Obermann weiter.

Sie wusste es. Sie hieß Linda Förster. Sie nickte abermals.

Der Arzt strahlte nun übers ganze Gesicht und blickte zu Lindas Mutter Magrit.

»Das ist sehr, sehr selten, und man kann von absolutem Glück reden.«

Er wandte sich wieder Linda zu. »Sie befinden sich in einem Krankenhaus. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie hierhergekommen sind?«

Linda machte den Ansatz, zu überlegen und ein paar noch vorhandene Fetzen ihrer anscheinend verbrannten Erinnerungen aus der Asche zu fischen. Doch sofort schoss ihr ein stechender Schmerz ins Gehirn. Sie wiegte den Kopf hin und her zum Zeichen, dass sie diese Frage des Arztes mit „Nein“ beantworten musste.

Der Arzt nickte jetzt nachdenklich. »Frau Förster, Sie haben ungewöhnlich lange geschlafen. Es ist ganz normal, dass Sie nicht sofort wieder reden können. Auch werden Sie wahrscheinlich Probleme haben, sich an etwas zu erinnern. Möglicherweise wissen Sie sogar sehr vieles aus ihrem Leben gar nicht mehr. Aber das wird schon wieder. Wichtig ist, dass Sie am Leben sind und sich Ihrer Identität bewusst sind.«

Lange geschlafen, was hieß das? Lindas Augen begannen zu flackern. Sie sah nur noch verschwommen, wie sich ihre Eltern umarmten. Sie wollte fragen, was denn los sei und vor allem wo Mark sei. Doch dann überfiel sie schlagartig wieder eine unglaubliche Müdigkeit. Ihre Lider schlossen sich wie von selbst, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, und sie fiel mit einem letzten Gedanken an Mark erneut in einen tiefen Schlaf.

In den folgenden beiden Tagen schlief Linda weiterhin viel und in der kurzen Zeit, in der sie wach war, war sie anfangs zunächst orientierungslos. Doch wie Dr. Obermann prophezeit hatte, kehrten tatsächlich viele Bruchstücke ihrer Erinnerungen wie an Land gespülte Teile eines im Sturm gekenterten Schiffes zurück. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, Grundschullehrerin und seit vier Jahren mit Mark, einem Immobilienmakler, glücklich verheiratet. Alles war wieder da – wie sie sich kennengelernt hatten, die gemeinsamen Urlaube und vieles mehr.

Doch auch die anderen, die negativen Meilensteine in ihrem Leben beanspruchten wieder ihren angestammten Platz in Lindas Gedächtnis. Allen voran der schreckliche Mann, der sie einen Tag nach ihrem neunten Geburtstag mit Chloroform betäubt und wie ein Paket in den Kofferraum seines Wagens verfrachtet hatte. Sie roch noch heute seinen ekelerregenden Schweißgeruch, den er fortwährend absonderte, und den modrigen Geruch in dem Kofferraum. Noch heute spürte sie das Einschneiden der Kabelbinder in die kindliche Haut ihres Halses und ihrer Handgelenke. Als sie wieder zu sich gekommen war, fand sie sich gefangen in einem feuchten Erdloch wieder. Auch die zahllosen Sitzungen bei einem Kinderpsychologen, die nach ihrer Befreiung folgten, waren wieder da. Misstrauen gegenüber allen und jedem, vor allem Erwachsenen traten für viele Jahre an die Stelle ihrer vormals so ausgeprägten kindlichen Neugier. Sie hatte sehr viel schneller als ihre Altersgenossen ihre Naivität gegenüber dem Leben verloren. Sie wusste jetzt, wie es sich anfühlte, wenn von einer Sekunde zur nächsten alles anders war. Hatte viel zu früh verstanden, dass das Leben endlich war. Auch wenn sie in den folgenden Jahren immer nach Sicherheit gestrebt hatte, so beherrschte sie dennoch immer die Gewissheit, dass ein Leben, dass Träume und Wünsche sehr schnell zerstört werden konnten.

Erst Mark hatte ihr Vertrauen zurückgewinnen können. Bei ihm fühlte sie sich zu jeder Zeit sicher und beschützt. Letztes Jahr waren sie vor Weihnachten ins Schweizer Wallis gefahren und hatten dort in einem kleinen, aber luxuriös eingerichteten Blockhaus drei romantische, von tiefster Verbundenheit geprägte Tage verbracht. Linda schloss die Augen und erlebte von Neuem, wie sie eng umschlungen auf dem weichen Teppich vor dem lodernden Kaminfeuer gelegen hatten, während das kleine Dorf und die umliegenden Berge unter einer dichten weißen Schneedecke versanken. Sie glaubte sogar, Marks warme zarte Lippen wieder auf den ihren zu spüren. Umso mehr fehlte er ihr jetzt, da sie hier lag und seine Unterstützung mehr denn je brauchte. Warum hatte er sie noch nicht besucht?

Eine von vielen Fragen. Sie wusste nicht einmal, wie sie in dieses Krankenhaus gekommen war. Gerade den Zugriff auf die Ereignisse, die sie hierhergebracht hatten, schien ihr Gehirn zu verweigern. War etwas so Entsetzliches geschehen, dass es Linda nicht damit konfrontieren wollte? Wieder zermarterte sie ihr Hirn, wollte unbedingt ein paar Tropfen Erkenntnis aus der schwarzen Wolke, hinter der sich ihre Erinnerungen verbargen, herauspressen. Doch alle Anstrengungen erwiesen sich als vergeblich. Allein die Schmerzen, die sie bei den letzten Malen, als sie so intensiv nachgedacht hatte, geerntet hatte, blieben diesmal aus.

Für Linda endete ihr Leben vor dem Erwachen im Krankenhaus mit einem Zubettgehen am Donnerstagabend, dem Abend vor ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag, wobei auch die letzten Stunden dieses Tages von einem nebulösen Schleier umhüllt waren. Den Vormittag sah sie klar vor sich. Sie hatte eine Mathematikarbeit zurückgegeben, die erfreulicherweise für die gesamte Klasse überdurchschnittlich gut ausgefallen war. Sie sah das stolze Strahlen in den Augen der Kinder, hörte ihr Lachen und auch ihre tröstenden Worte, die sie den einzelnen Schülern mit schlechteren Noten zusprach. Die folgenden zwei Tage hingegen waren wie weggeblasen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihr zugestoßen sein könnte.

Linda nahm den kleinen Handspiegel von dem Beistelltisch neben ihrem Krankenbett und hielt ihn sich vors Gesicht. Sie sah mitgenommen aus. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, die Wangenknochen stachen ungewöhnlich intensiv hervor. Ihre Haare waren kurz davor zu verfilzen, und ihre rehbraunen Augen überzog ein trüber Schimmer. Sie betastete zunächst ihre Stirn und dann ihren gesamten Kopf. Da war keine Stelle, die ihr beim Berühren wehtat. Wäre sie gestürzt, hätte es dann nicht zwangsläufig äußere Spuren geben müssen? Andererseits musste das Ganze doch irgendwie mit einer Kopfverletzung zusammenhängen. Aber wer weiß, wie lange du schon hier liegst. Sie legte den Spiegel wieder weg und schloss die Augen, aus denen alsbald kleine Tränen über ihre Wangen rannen und in ihrem Kopfkissen versanken.

Später kam Dr. Obermann zu ihr. Wieder vertröstete er sie auf einen späteren Zeitpunkt, als sie nach dem Grund ihres Aufenthaltes fragte. Eigentlich hatte sie auch nichts anderes erwartet. Auch die anderen Ärzte wie auch ihre Eltern gaben sich geheimnisvoll, wenn sie wissen wollte, was genau passiert war. Die Antworten waren immer gleich. Man müsse abwarten, bis es ihr wieder besser ginge.

Die unterschiedlichsten Ärzte hatten bereits unzählige Tests mit ihr durchgeführt, und sie hoffte, dass die allgegenwärtigen Kopfschmerzen, mit denen sie zu kämpfen hatte, sich bald bessern würden. Das Pflegepersonal musste ihr noch helfen, sich aufzurichten und ihre Muskeln wieder aufzubauen. Dabei machte sie schnell Fortschritte. So konnte Linda bereits wieder wie gewohnt sprechen und ohne fremde Hilfe gehen, beides aber sehr langsam. Im Moment schleifte sie noch ihr linkes Bein nach, jedoch war Dr. Obermann überzeugt, dass sich auch dies noch im Laufe der Zeit bessern würde und sie zumindest körperlich keine bleibenden Schäden behalten würde.

In ihrem Gehirn hingegen herrschte weiterhin ein Gefühl der Benommenheit und der Hilflosigkeit. Nur allzu oft schleuderten ihre Gedanken wie von einem Tornado mitgerissene Objekte in ihrem Kopf herum. Nicht immer fiel ihr deshalb auch sofort die Frage nach Mark ein. Doch wenn sie nach ihm fragte, dann wich Dr. Obermann ihr aus, indem er beispielsweise antwortete: »Im Moment ist es wichtig, dass Sie sich schonen und zunächst meine Fragen beantworten. Sie wollen doch schnellstmöglich wieder genesen.«

Ein anderes Mal sagte er: »Geben Sie sich ein wenig Zeit, bis Sie selbst darauf kommen. Es ist nicht gut, wenn wir Sie jetzt mit zu vielen Informationen überlasten. Vertrauen Sie mir einfach. Ich weiß, was das Beste für Sie ist.«

Und dann unerwartet und plötzlich geschah es tatsächlich, als sie kurz nach dem Abendessen an die Decke starrte und an nichts Bestimmtes dachte. Sie wandte den Kopf zur Seite und betrachtete die vielen Blumensträuße, die ihr Freunde, Kolleginnen und Verwandte mit den besten Genesungswünschen gebracht hatten. Ihr Blick blieb an einem Strauß gelber Rosen hängen. Irgendetwas daran kam ihr bekannt vor. Dann hörte sie, wie sich zwei Krankenschwestern auf dem Flur vor ihrer halb offenen Tür unterhielten.

»Na, wie war dein Wochenende?«

»Wunderschön, wir haben einen Ausflug nach Metz gemacht.«

»Ja, Metz ist wirklich eine schöne Stadt. So nahe gelegen, und doch fährt man viel zu selten dorthin.«

Linda lag in Dillingen, einer Hüttenstadt an der Saar, im Krankenhaus, und Metz war tatsächlich nur ungefähr fünfzig Kilometer entfernt. Auch sie war mit Mark schon des Öfteren dort gewesen. Der große Antiquitätenmarkt hatte es ihnen angetan. Aber in erster Linie waren die Rosen und die Tatsache, dass Metz eine französische Stadt war, Auslöser dafür, dass nun auch Erinnerungen von den letzten sechsunddreißig Stunden vor ihrem Zusammenbruch wie in einem Wirbelsturm aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins an die Oberfläche gespült wurden. Zunächst waren es nur Bruchstücke, dann fügten sich die Teile zu einem Ganzen zusammen. Sie konnte regelrecht die Weiterschreibung ihrer eigenen Geschichte wie einen Film, den man zum ersten Mal sah, miterleben. Sie weinte Tränen der Freude. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem entrückten Lächeln, das im nächsten Moment, als sie am Ende angekommen war, einem jähen angstvollen Zusammenzucken wich. Sie krampfte ihre Hände in die Bettdecke und hielt die Luft an. Was hatte das nur zu bedeuten?

3

Dr. Obermann hatte ihr zumindest verraten, dass sie am 9. März, einem Samstagabend, ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Jetzt wusste sie mehr dank der Rosen und des Gesprächs der Krankenschwestern. Sie erinnerte sich nun, was in der Zeit von Freitag- bis Samstagmorgen geschehen war.

Leider setzte sie dieser Umstand nun einem neuen Dilemma aus. Denn noch immer fehlte ihr der entscheidende Rest des Tages. Und das Ende ihrer derzeitigen Erinnerungen mochte zwar geeignet sein für eine Drama-Serienfolge im Fernsehen, die mit einer spannenden Schlussszene die Vorfreude auf die nachfolgende Sendung erhöhte. Im wahren Leben jedoch konnte man auf solche angstschürenden Ereignisse gern verzichten. Wieder ging sie ihre neuen Erinnerungen im Kopf Stück für Stück durch. Vielleicht würden noch weitere neue Details auftauchen, die ihr weiterhelfen würden, zu verstehen.

Während sie noch schlief, hatte Mark am Freitagmorgen für sie ein opulentes Geburtstagsfrühstück zubereitet, einen großen Strauß rote Rosen auf den Tisch gestellt und ihr in einem champagnerfarbenen Briefumschlag mit lavendelfarbener Schleife die Tickets für eine gemeinsame Reise nach Paris geschenkt. Schon am Sonntag wollten sie mit dem TGV in die französische Hauptstadt mit all ihren Sehenswürdigkeiten fahren. Linda spürte die Freude wieder, die sie über das Geschenk empfunden hatte. Doch dann gesellte sich auch ein anderes Gefühl, das sie an jenem Morgen empfunden hatte, dazu. Es war das ihr bereits vertraute Unwohlsein im Hinblick auf das Ereignis, das sie regelmäßig um ihren Geburtstag herum mit ihren Urängsten konfrontierte. Morgen, einen Tag nach ihrem Geburtstag, würde es sich schon zum zwanzigsten Mal jähren. Das Schreckliche, das damals geschehen war, hatte sich tief in ihre Seele und ihre Persönlichkeit gefressen, und die Erinnerung daran überbrückte mühelos jede zeitliche Distanz. Es fühlte sich an, als ob es erst gestern geschehen sei. Jedes Jahr krochen die verstörenden Bilder aufs Neue hervor, um schon Wochen vor dem Jahrestag für ihren schlimmsten Albtraum zu sorgen.

Nach dem Frühstück war sie zur Schule gefahren. Sie sah sich in ihrer Klasse, der 3 a, unterrichten. Es war der letzte Schultag vor den Faschingsferien.

Danach hatte sie das Kinderdorf besucht, wo sie ehrenamtlich für die dort wohnenden Waisenkinder Nachhilfe in den Grundschulfächern gab. Jeden Freitagnachmittag wiederholte sie dort den Lehrstoff der Woche mit den Kindern, die es nötig hatten. Außerdem las sie vor und unternahm auch gelegentlich zusammen mit den Erziehern Ausflüge mit den Kindern, die sonst niemanden mehr hatten. Linda schloss die Nachhilfe früher als sonst und entließ ihre kleinen Schüler zum Toben auf den Spielplatz des Wohnheims. Sie saß auf der Bank unter dem alten Eichenbaum unweit des Spielplatzes, genoss die Frühlingssonne und beobachtete das ausgelassene Treiben. Da heute ihr Geburtstag war, hatte sie am Vortag einen Apfelkuchen gebacken, den sie jetzt in Stücke schnitt, um diese an ihre Schützlinge zu verteilen. Als Linda danach wieder aufschaute, um die Kinder herbeizurufen, sah sie etwas, das sie in helle Aufregung versetzte und ihr Herz auf einen Schlag zum Rasen brachte.

»Milla, bleib wo du bist! Ich helfe dir runter«, schrie sie und rannte los. Doch Milla wartete nicht, bis sie bei ihr war. Das passte zu Millas bisherigem Verhalten an diesem Tag. Sie war so traurig gewesen. Die Achtjährige vermisste ihren Bruder Ben, ihren einzigen noch lebenden Verwandten. Auch er hatte mehrere Jahre hier mit ihr im Heim gelebt und dann nach Abschluss seiner Ausbildung eine Arbeitsstelle in Berlin gefunden. Milla war nun wahrscheinlich aus Trotz, Verärgerung oder um eine Mutprobe zu bestehen auf die hohe verästelte Buche neben der Nestschaukel geklettert. Sie befand sich schon in einer Höhe von ungefähr drei Metern. Doch anstatt auf Lindas Rufen hin innezuhalten, stieg Milla nur noch weiter hinauf. Linda war nur noch wenige Meter von dem Baum entfernt, da rutschte das Kind von einem Ast ab und stürzte in die Tiefe. Fast hätte Linda sie noch erreicht, sie auffangen und ihren Fall zumindest noch abfedern können. Aber eben nur fast. So hörte sie nun noch Millas kurzen schrillen Schrei, sah das Entsetzen in den Augen der umstehenden Kinder. Dann der dumpfe Aufprall von Millas Körper auf der unebenen Wiese unter dem Baum, genau vor Lindas Füßen. Eine Sekunde des Erstarrens. Die Kleine, die ihr wegen ihrer lieben Art besonders ans Herz gewachsen war, regte sich nicht mehr.

Linda hörte Annettes Stimme wie durch Watte. Annette war Millas Betreuerin und inzwischen so etwas wie eine Freundin für Linda. Die Panik, die kurze Augenblicke später einsetzte, war kaum zu beschreiben. Kinder kreischten, weinten, rannten wild durcheinander. Immer mehr Betreuer kamen hinzu. Zwei Männer – einer von ihnen hieß Adrian, den anderen kannte Linda nicht – beugten sich über Milla. Ihr ernster Gesichtsausdruck sprach Bände. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit traf der Rettungswagen ein. Die Sanitäter legten Milla vorsichtig auf eine Trage und transportierten sie darauf in den Krankenwagen. Annette stieg mit ein. Linda fuhr hinterher. Die ganze Zeit hatte sie nur dagestanden und hilflos zugeschaut, was geschah. Dabei hatte sie sich wie gelähmt gefühlt. Dieser Sturz Millas hatte irgendetwas Verborgenes in ihr ausgelöst. Etwas, das tief in ihr drin schlummerte. Etwas, das sie sehr lange verdrängt hatte und nun wieder an die Oberfläche vordrang. Die Grube, die Dunkelheit, ihr ausgedörrter Hals. Das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, die Einschnitte der Fesseln an ihren Händen. Ihre Entführung. Sie war damals ungefähr in Millas Alter gewesen und hatte ein Trauma davongetragen. Linda konnte nicht aufhören, sich auszumalen, was die Folgen dieses Sturzes sein könnten. Milla könnte gelähmt sein, sie könnte nicht mehr aufwachen und wenn doch, dann würde sie diesen Sturz nie vergessen. Von nun an würde dieser Fall in die Tiefe und der harte Aufschlag auf dem Boden Millas Trauma sein.

Am Abend, als Linda aus dem Krankenhaus kam, erwarteten sie bereits Freunde und die Familie zu einer Überraschungsparty. Sie hatte sich nicht wohlgefühlt und ihr war nicht nach einer Feier zumute angesichts der Sache mit Milla. Die Kleine war zwar wieder zu Bewusstsein gekommen, jedoch gab Linda sich insgeheim die Schuld an dem Unfall. Sie hätte besser aufpassen müssen. Ein wenig Ablenkung hatte sie gehabt, als sie ihrem Vater und Mark beim gemeinsamen Karaoke-Singen zugehört hatte. Gleichzeitig kam ihr die Situation unglaubwürdig vor. Es fühlte sich nicht echt an, was wohl daran lag, dass weder Benedikt noch Mark der Typ für so etwas war. Öffentlich singen hatte sie jedenfalls weder ihren Vater noch ihren Ehemann jemals gehört.

Am Samstagmorgen hatte Mark das Haus nach ihrer gemeinsamen Joggingrunde im Wald gegen zehn Uhr verlassen. Wie fast jeden Samstag standen Besichtigungstermine an. Als Immobilienmakler musste er so gut wie jedes Wochenende arbeiten. Viele Klienten, bei denen über die Woche Zeitknappheit herrschte, nutzten gern ihre freien Tage, um die Wohnobjekte in Ruhe zu begutachten. Bei den Preisen, die sie für die Luxusobjekte, die Mark vertrat, hinblättern mussten, war es auch nur allzu verständlich, dass sich die Leute mit einer Entscheidung Zeit ließen.

Um halb zwölf – Linda war dabei, die Koffer für die Reise nach Paris zu packen – läutete das Telefon aus der unteren Etage. Sie hetzte die Stufen hinunter, um noch rechtzeitig den Anruf annehmen zu können, bevor der Anrufer auflegte, und sie schaffte es. In ihrer Erinnerung sah sie sich das Gespräch annehmen.

Plötzlich fühlte Linda, wie ihre Muskeln nur aufgrund der Erinnerung an dieses Telefonat zu Eis gefroren – hier in ihrem Krankenbett, wo niemand ihr etwas antun konnte. Wieder beschlich sie ein unheimliches Gefühl. Genauso wie an jenem Morgen, als der anonyme Anrufer sie mit gefühlloser Stimme nach Mark fragte. Da er nicht da war, sollte Linda ihm seine Botschaft ausrichten: Sie wissen Bescheid. Jemand ist unterwegs. Es ist unvergessen. Seinen Namen wollte der Anrufer ihr nicht verraten, und die Art, wie der Mann gesprochen hatte, brachte jetzt wie damals ihren Puls erneut zum Rasen.

Daher also die Worte, die ihr immer wieder im Kopf herumgespukt waren, und jetzt wusste sie auch, warum. Unmittelbar nach dem kurzen anschließenden Telefonat mit Mark, in dem sie ihm die Nachricht des anonymen Anrufers mitgeteilt hatte, musste sie ins Koma gefallen sein. Jedenfalls war ihr Kollaps, der mit dem Aufschlagen ihres Kopfes auf dem massiven Bucheparkett des Wohnzimmerbodens endete und der darauf hindeutete, dass sie hier das Bewusstsein verloren haben musste, soeben glasklar vor ihrem geistigen Auge abgelaufen. Doch wie konnte das sein?

Dr. Obermann hatte ihr doch erzählt, dass sie erst am Samstagabend eingeliefert worden sei. Hatte man sie etwa erst später entdeckt? Hatte sie über Stunden bewusstlos im Wohnzimmer gelegen? Was war dann in der Zwischenzeit geschehen?

4

Am nächsten Morgen betraten Lindas Eltern ihr Zimmer. Sie sahen zerknirscht aus, als hätten sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Linda fragte sich, warum. Ihre neuesten Erinnerungen, über die sie Benedikt und Magrit noch am gestrigen Abend telefonisch informiert hatte, gaben doch allen Anlass zur Zuversicht.

Linda blickte noch einen Moment auf die hinter ihren Eltern ins Schloss fallende Tür. Sie hatte gehofft, Mark würde mit ihnen kommen, und sie könnte endlich sein einzigartiges Lächeln, das sie so sehr liebte, wiedersehen. Sie wünschte sich, er würde sie wieder mit seinen strahlend blauen Augen anschauen und ihr dadurch das Gefühl geben, sein ganzer Daseinszweck bestünde darin, ihr die Welt zu Füßen zu legen. Doch es blieb bei der Illusion. Wehmütig dachte sie an Paris. Bestand die Möglichkeit, dass er ohne sie gefahren war und deshalb nicht bei ihr sein konnte? Sofort verwarf sie den Gedanken wieder, so abstrus kam er ihr vor.

»Linda, der Arzt meinte, es sei besser, wenn wir mit dir reden.«

Zum ersten Mal bemerkte Linda, dass ihr Vater wirklich alt geworden war. Sein Gesicht war viel faltiger und unter seinen Augen hatten sich dicke Ränder gebildet. Bei ihrer Mutter Magrit erkannte sie sofort, dass sie kurz vor einem Tränenausbruch stand. Sie konnte ihr nicht länger in die Augen sehen, zu viel Traurigkeit stand darin.

Linda ahnte, dass sie keine guten Nachrichten zu erwarten hatte, und richtete ihren Blick hilfesuchend auf die Schildkrötenlampe auf dem Nachttisch.

Die Lampe hatten ihre Eltern ihr als Einschlafhilfe besorgt, als sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen war. Für eine Kinderleuchte war sie nicht besonders hübsch, eben eine grüne Schildkröte mit gelbem Kopf. Aber im Panzer befanden sich transparente Sterne, durch die ein Sternenhimmel an die dunkelblau gestrichene Decke ihres Kinderzimmers projiziert wurde, und das war wunderschön. Die Leuchte war mit einem Timer versehen, der die Lichtintensität nach einer bestimmten Zeit auf ein niedrigeres Niveau absenkte.

Seitdem die Polizisten sie damals vor zwanzig Jahren aus ihrem Verlies – dem Loch, wie sie es nannte – befreit hatten, war es für Linda zu einer Lebensnotwendigkeit geworden, dass die Lampe die ganze Nacht hindurch angeschaltet blieb. Nur für den Fall, dass sie wach wurde, was leider bis heute nur allzu oft vorkam.

Ihre Eltern hatten ihr die Schildkrötenlampe ins Krankenhaus mitgebracht, als sie Wechselkleidung für sie von zu Hause besorgt hatten, genauso die kleine Schneekugel aus dem Zoo d’Amnéville, die sie zur Erinnerung an den Tag im Zoo geschenkt bekommen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---