Vertrau dir (nicht): Psychothriller - Chris Karlden - E-Book
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Vertrau dir (nicht): Psychothriller E-Book

Chris Karlden

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Beschreibung

Ein verlorenes Gedächtnis. Eine schockierende Erinnerung. Eine grausame Wahrheit. Manchmal lässt man die Vergangenheit besser ruhen! Vor Jahren verlor Vincent sein Gedächtnis. Plötzlich glaubt er, sich wieder daran zu erinnern, den Mord an einer jungen Frau beobachtet zu haben. Doch schon bald kann er nicht mehr ausschließen, dass diese Erinnerung trügt und nicht der dafür Verurteilte das schreckliche Verbrechen begangen hat, sondern er selbst. Ein weiterer Mord geschieht. Als die Polizei Vincent verdächtigt, ermittelt er auf eigene Faust. Dabei stößt er auf immer mehr Puzzleteile seines früheren Lebens und auf einmal wird die Wahrheit zur tödlichen Bedrohung für ihn und alle, die ihm nahestehen.

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VERTRAU DIR (NICHT)

PSYCHOTHRILLER

CHRIS KARLDEN

INHALT

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Nachwort

Weitere Bücher

Psychothriller

ÜBER DAS BUCH

Ein verlorenes Gedächtnis. Eine schockierende Erinnerung. Eine grausame Wahrheit. Manchmal lässt man die Vergangenheit besser ruhen!

Vor Jahren verlor Vincent sein Gedächtnis. Plötzlich glaubt er, sich wieder daran zu erinnern, den Mord an einer jungen Frau beobachtet zu haben. Doch schon bald kann er nicht mehr ausschließen, dass diese Erinnerung trügt und nicht der dafür Verurteilte das schreckliche Verbrechen begangen hat, sondern er selbst. Ein weiterer Mord geschieht. Als die Polizei Vincent verdächtigt, ermittelt er auf eigene Faust. Dabei stößt er auf immer mehr Puzzleteile seines früheren Lebens und auf einmal wird die Wahrheit zur tödlichen Bedrohung für ihn und alle, die ihm nahestehen.

ÜBER DEN AUTOR

Chris Karlden, Jahrgang 1971, studierte Rechtswissenschaften. Mit seinem ersten Roman, dem als E-Book veröffentlichten Psychothriller »Monströs«, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller. Seitdem sind von ihm viele erfolgreiche Thriller erschienen. Der Autor lebt mit seiner Familie grenznah zu Frankreich und Luxemburg im Südwesten Deutschlands. Mehr Informationen unter https://chriskarlden.de

Vertrau dir (nicht)

Copyright © 2020 by Chris Karlden

Alle Rechte vorbehalten

Chris Karlden

c/o COCENTER

Koppoldstr. 1

86551 Aichach

E-Mail: [email protected]

https://chriskarlden.de

Umschlaggestaltung: Artwize, https://cover.artwize.de/

unter Verwendung eines Fotos von Depositphotos.com

Urheberrecht: Bubbers (Chayapon Bootboonneam)

Shadow hands of the man- Standardlizenz

url: https://depositphotos.com/128179480/stock-photo-shadow-hands-of-the-man.html

Lektorat: Philip Anton

Korrektorat: Schreib- und Korrekturservice Heinen

Korrektorat: Heidemarie Rabe

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jedwede Verwendung des Werkes darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung.

Dies ist ein fiktiver Roman. Die Figuren und Ereignisse darin sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, wäre zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Dienstag

Die Bäume links und rechts des Weges bildeten ein grünes Blätterdach. Unzählige Vögel pfiffen in den Wipfeln. Wie oft im Sommer war die Luft schwülwarm. Doch am frühen Abend war es im Wald deutlich angenehmer als unten im Dorf.

Er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und schaute auf seine Armbanduhr. Ungläubig runzelte er die Stirn. Für die Strecke, auf deren Ende er zusteuerte, brauchte er ungefähr eine Dreiviertelstunde. Um halb sieben war er gestartet. Es hätte demnach kurz nach sieben sein müssen. Seine Uhr zeigte aber halb neun an. Sie musste während des Joggens kaputt gegangen sein. Anders konnte er sich den Zeitsprung nicht erklären.

Er konnte sich auch nicht daran erinnern, weiter als sonst gelaufen zu sein. Gleichzeitig wurde ihm mit einem Schreck bewusst, dass ihm vom Start an jegliche Erinnerung an den Lauf fehlte. Etwas Derartiges war ihm noch nie passiert, aber auch nicht völlig fremd. Es kam vor, dass er sich am Ende einer Autofahrt nicht mehr an Details erinnerte. Er wusste nicht mehr, ob er an Ampeln gehalten hatte, ob sie Grün gewesen waren oder er sie gar bei Rot überfahren hatte. Aber das hier fühlte sich anders an. Stärker, intensiver. Eine andere Beschreibung hatte er dafür nicht.

Einen Fuß vor den anderen, der darauf abgestimmte Atemrhythmus. Er liebte es zu laufen. Für ihn kam es einer Meditation gleich. Aber gerade war es eine Qual. Er keuchte und schleppte sich mühsam in einem langsamen Trab voran. Sein Kopf schmerzte und er fühlte sich schwach und ausgelaugt.

Endlich kam die letzte Weggabelung in Sicht. Er bog rechts ab. Vor ihm lag nun eine lange Gerade. An deren Ende befand sich der am Waldrand gelegene Parkplatz.

Kurze Zeit später war er an seinem Wagen. Er war froh, die Laufrunde hinter sich zu haben. Seine Kopfschmerzen hatten noch weiter zugenommen. Er fühlte sich kraftlos und ihm war übel. Nach Luft ringend beugte er seinen Oberkörper vor und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab. Auf die Dehnübungen, die er sonst nach dem Joggen absolvierte, verzichtete er.

Stattdessen holte er den Autoschlüssel aus der Tasche seiner Laufhose, stieg in den Wagen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Verblüfft starrte er auf die Cockpituhr. Es war zwanzig vor neun. Seine Armbanduhr funktionierte also doch.

Er hielt inne, überlegte, konnte sich aber die Zeit, die viel weiter vorangeschritten war, als er gedacht hatte, nicht erklären. Eine tiefe Unruhe überkam ihn.

Sicher fragte sich Hanna schon, wo er blieb. Er nahm sein Smartphone aus dem Handschuhfach. Die darauf eingeblendete Uhrzeit stimmte mit der auf dem Cockpitdisplay überein. Es waren keine eingegangenen Nachrichten oder Anrufe verzeichnet. Er runzelte die Stirn. Er hätte gewettet, dass seine Frau versucht hatte, ihn zu erreichen.

Er fuhr vom Parkplatz auf den angrenzenden Feldweg, der nach ein paar Hundert Metern in eine Dorfstraße mündete. Dabei blickte er auf die Sonne, die in Kürze hinter einer weit entfernten Hügelkette verschwinden würde.

Fünf Minuten später parkte er seinen Wagen in der Einfahrt seines Hauses. Er schloss kurz die Augen, atmete durch und stieg aus. Er würde eine Schmerztablette einnehmen, viel Wasser trinken und kalt duschen. Danach würde es ihm bestimmt besser gehen.

Er schritt über den von Lavendel gesäumten Vorgartenweg zur Eingangstür, steckte den Hausschlüssel ins Schloss und versuchte, ihn zu drehen. Es funktionierte nicht. Hektisch wischte er sich den noch immer rinnenden Schweiß von der Stirn. Er probierte nochmals, die Tür zu öffnen. Diesmal ging er brachialer vor. Es half nichts. Wenn er so weitermachte, würde er den Schlüssel im Schloss abbrechen.

Nervös betätigte er die Klingel. Gleichzeitig erblickte er rechts am Türrahmen das schwarze Band, welches die Sternsinger zum Segen des Hauses alljährlich Anfang Januar neu beschrifteten. Augenblicklich wurden seine Beine weich und er sackte in den Knien ein: Die Jahreszahl, die auf das Band gemalt war, lag fünf Jahre in der Zukunft.

Er schaffte es, den aufkommenden Brechreiz zu unterbinden. Die Tür wurde geöffnet. Er erstarrte. Die freundlich lächelnde Frau ihm gegenüber war nicht seine Ehefrau. Es war nicht Hanna. Er hatte diese Frau noch nie zuvor in seinem Leben gesehen.

Der Schwindel in seinem Kopf nahm zu. Er blickte auf die Jahreszahl am Türrahmen, den nicht passenden Hausschlüssel in seiner Hand, auf die Frau. Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb. »Wer sind Sie?«, fragte sie.

Sein Unterkiefer klappte nach unten. Er wischte einen Speichelfaden von seiner Unterlippe.

»Ich … Ich bin …« Er schluckte. »Mein Name ist Maik.« Er griff sich mit beiden Händen seitlich an den Kopf und presste die Lider zusammen. Sein Nachname wollte ihm nicht einfallen.

»Sie machen einen verwirrten Eindruck«, sagte die Frau.

Seine Verunsicherung wich allmählich Wut. Er funkelte sie an. »Was machen Sie hier? Das ist mein Haus.«

Die Fremde trat einen Schritt zurück. Ein Ausdruck von Panik legte sich auf ihr Gesicht.

Er versuchte, sich zusammenzureißen, und hob beschwichtigend die Hände. »Keine Angst, ich tue Ihnen nichts.«

Die Frau zog die Augenbrauen zusammen. »Sie liegen falsch. Ich und mein Mann haben dieses Haus vor drei Jahren gekauft. Es stand davor lange Zeit leer.«

»Das kann nicht sein. Ich war nur kurz im Wald joggen«, erwiderte Maik.

Sie musterte ihn. »Auf Ihrem Shirt sind Tannennadeln und dunkle Flecken. Die könnten vom Waldboden stammen. Vielleicht sind Sie gestürzt.«

Instinktiv fasste er sich an die linke Kopfseite und fühlte eine Beule. Sie tat weh, als er darauf drückte.

Die Frau deutete auf das Smartphone in seiner Hand. »Am besten rufen Sie jemanden an, den Sie kennen.«

Er starrte sie wie paralysiert an und versuchte, sich zu konzentrieren. Sein Gedächtnis war wie leer gefegt.

Mit zitternden Händen tippte er auf die Telefonfunktion seines Handys. Ganz oben erschien die Nummer, mit der er am meisten telefoniert hatte. Statt eines zugehörigen Namens war dort nur ein Herzsymbol abgebildet.

Er drückte das grüne Hörersymbol und hielt sich mit bebender Lippe das Gerät ans Ohr. Dabei ließ er die fremde Person vor sich, in deren Gesichtsausdruck sich nun Züge tiefen Mitleids mischten, nicht aus den Augen. Druck legte sich auf seine Ohren und sein Atem ging schnell und flach. Endlich ging Hanna ran. »Vincent, wo bist du? Gerade wollte ich dich auch anrufen. Ich hab mir Sorgen gemacht.«

Er war verdutzt und brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. »Vincent? Hier ist Maik«, antwortete er schließlich.

Schweigen war in der Leitung. Sein Blick verengte sich zu einem Tunnel, an dessen weit entferntem Ende sich das Gesicht der Frau vor ihm drehte wie ein Glücksrad.

»Vincent, das ist nicht lustig. Von wo aus rufst du an?« Hannas Stimme klang ganz anders als sonst. Er bezweifelte, dass das seine Frau am anderen Ende der Leitung war.

»Ich stehe vor unserem Haus. Eine fremde Frau hat mir geöffnet.« Er sprach betont langsam, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er im Begriff war, durchzudrehen.

»Vincent, das kann doch gar nicht sein.«

»Was? Warum denn nicht?« Seine Stimme zitterte.

»Weil ich daheim in unserem Haus bin. Ich habe, während ich mit dir spreche, vor unserer Haustür nachgesehen. Aber da bist du nicht. Was ist los mit dir? Ich bekomme langsam Angst.«

»Ich weiß es nicht«, stammelte er.

»Vincent, gib mir bitte mal die Frau, die bei dir ist.«

Er hörte die Stimme, die nicht Hannas Stimme war, wie weit entfernt. Statt ihrer Aufforderung nachzukommen, startete er einen weiteren Versuch. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Aber mein Name ist Maik und ich will jetzt sofort mit meiner Frau Hanna sprechen. Offensichtlich sind Sie im Besitz ihres Handys.«

Schluchzer drangen an sein Ohr. »Oh mein Gott«, wimmerte die Frau. »Du heißt nicht Maik. Du heißt Vincent. Ich bin deine Verlobte und mein Name ist nicht Hanna, sondern Lisa.«

Die Farben verblassten. Die Welt um ihn herum drehte sich immer schneller, bis alle Formen nur noch schemenhaft zu erkennen waren. Seine Beine gaben nach. Die Frau stützte ihn und er setzte sich auf den Treppenabsatz. Sein Rücken fand Halt an der Hauswand. Dunkelheit überkam ihn und er verlor das Bewusstsein.

2

Mittwoch

Als er zu sich kam und die Augen öffnete, tat sein Kopf höllisch weh, seine Kehle war staubtrocken und die gleißenden Sonnenstrahlen, die durch das große seitliche Fenster in den Raum fielen, verursachten einen stechenden Schmerz auf seinen Netzhäuten. Er hielt sich den Handrücken vor die Augen und richtete den Oberkörper auf. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, nahm er die Hand weg und sah sich um.

Er lag in einem weiß bezogenen Bett, über ihm ein Triangelgriff an einem Galgen. In seinem linken Handrücken steckte eine Kanüle, die über einen Schlauch mit einem Infusionsbeutel verbunden war, der an einem Tropfständer hing. Die Wanduhr zeigte sieben Uhr fünfundzwanzig an.

Rechts neben ihm stand ein elektronisches Kontrollgerät, mit dem er verkabelt war. Links ein Beistelltisch mit einem Glas und einer Wasserflasche darauf. Daneben ein weiteres fahrbares Bett, das frisch bezogen und unbenutzt war. Er befand sich in einem Krankenhaus. Aber warum?

Er war mit seinem Wagen zum Waldparkplatz gefahren, um eine Runde zu laufen. Das war seine letzte Erinnerung.

In dem Zimmer gab es einen Tisch an der den Betten gegenüberliegenden Wand. Einer der beiden zugehörigen Stühle stand ihm zugewandt neben seinem Bett.

Die Tür wurde langsam geöffnet und eine junge Frau mit blonden langen Haaren trat zaghaft ein. Als sie ihn sah, verschüttete sie fast den Inhalt des Pappbechers in ihrer Hand.

»Du bist wach!«, rief sie freudestrahlend. »Ich war die ganze Zeit bei dir und nur kurz weg, um mir einen Kaffee zu besorgen.«

Er lächelte. Schnell kam sie mit einem breiten Lachen auf den Lippen näher. Gleichwohl stand ein Ausdruck von Unsicherheit in ihrem Gesicht. Hastig stellte sie den Becher auf dem Tisch ab, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

Sie löste sich und trat einen Schritt zurück. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Soll ich den Arzt rufen?« Ihre Fragen schienen ihm so schnell hintereinander wie die Kugeln eines Maschinengewehrs abgefeuert.

»Lisa, mein Schatz«, sagte er. »Es tut gut, dich zu sehen.«

Lisa atmete tief ein, hielt kurz die Luft an und blies sie in einem Schwall aus. Es schien, als würde eine tonnenschwere Last von ihr abfallen.

»Was ist denn los?«, wunderte er sich.

»Ich bin einfach nur froh. Du erkennst mich und weißt wieder meinen Namen.«

Vincent zog die Stirn kraus. »Warum sollte ich nicht wissen, wer du bist? Ich fühle mich ganz okay. Ich habe nur keine Ahnung, wie ich in dieses Krankenhaus gekommen bin.«

Sie sah ihn eindringlich an. »Wie ist dein Name?«

Er war verdutzt und zog die Augenbrauen zusammen. »Warum fragst du mich das?«

Lisa nahm seine Hand, drückte sie fest und sah ihn mit flehendem Blick an. Ihre Augen wurden feucht. »Sag mir bitte einfach, wie du heißt!«

Er atmete durch und sah sie eindringlich an. »Einverstanden. Aber dann sagst du mir, was los ist: Mein Name ist Vincent Herzog.«

Tränen kullerten aus Lisas Augen. »Gestern hast du behauptet, dass du Maik heißt.«

Er lachte auf. Aber Lisa hatte es ernst gemeint. Sie umarmte ihn abermals und legte ihren Kopf auf seine Brust.

»Daran erinnere ich mich nicht mehr«, sagte er und strich sanft über ihr nach Mango riechendes Haar.

Nach einer Weile richtete sich Lisa auf und setzte sich auf den Stuhl am Bett. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah ihn einen Moment schweigend an.

Vincent räusperte sich. »Ich weiß nur, dass ich zum Laufen in den Wald gefahren bin.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Beistelltischs. »Könntest du mir bitte ein Glas Wasser geben?«

»Selbstverständlich.« Lisa schenkte ihm ein Glas ein und reichte es ihm. Er richtete sich auf, trank es in einem Zug aus und gab ihr das Glas zurück. »Du bist zu einem fremden Haus gefahren und hast an der Tür geläutet. Als die Eigentümerin öffnete, hast du behauptet, es sei dein Haus und du würdest mit deiner Frau Hanna dort leben.«

Vincent hielt einen Moment die Luft an und schluckte. »Das kann ich nicht glauben.«

»Es ist aber so. Du hast mich von diesem Haus aus angerufen und nicht mehr gewusst, wer ich bin.«

»Wie bin ich ins Krankenhaus gekommen?«

»Du bist zusammengebrochen und warst nicht mehr ansprechbar. Die Hauseigentümerin hat den Rettungswagen alarmiert.«

Er senkte den Kopf und starrte die Bettdecke an.

»Der Notarzt hat eine Kopfverletzung bei dir festgestellt und hier im Krankenhaus wurde ein Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert«, fuhr Lisa fort. »Deine Sportsachen waren mit Erde beschmutzt, ebenso deine Haare. Die Ärzte gehen davon aus, dass du beim Laufen gestürzt bist. Das wäre ein Grund für dein merkwürdiges Verhalten.«

Vincent legte sich wieder zurück, sah zur Decke auf und versuchte, sich an den Waldlauf zu erinnern. Auf einmal schossen die passenden Bilder vor sein geistiges Auge. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und sah Lisa an. »Ich bin tatsächlich hingefallen. Auf dem unbefestigten Pfad, der zwei Hauptwege miteinander verbindet. Ich bin über eine Wurzel gestolpert. Danach weiß ich nichts mehr.«

»Immerhin«, sagte Lisa und lächelte. »Ich war die ganze Nacht bei dir. Du bist kein einziges Mal aufgewacht. Ich hatte Angst, dass du in ein Koma gefallen bist und nicht mehr zu Bewusstsein kommst. Vermutlich hast du den langen Schlaf gebraucht. Er scheint einiges in deinem Kopf wieder zurechtgerückt zu haben.«

Es klopfte an der Tür. Ein Mann mit Arztkittel kam ins Zimmer. Er hatte grau melierte Haare und trug eine rahmenlose Brille.

Er lachte breit, als er sah, dass Vincent nicht mehr schlief. »Ich bin Dr. Salomon. Ihr behandelnder Arzt.« Er stellte sich vor das Krankenbett. »Sie sind wach. Das ist wunderbar. Wie geht es Ihnen?«

»Eigentlich gut. Nur habe ich ein paar Gedächtnislücken. Allerdings erinnere ich mich wieder an meinen Waldlauf und an den Sturz. Auch sonst fühle ich mich ganz normal.«

»Das ist sehr gut. Als Sie gestern Abend zu uns gebracht wurden, haben wir Ihren Kopf untersucht. Äußerlich ist eine ausgeprägte Beule erkennbar. Das ist nicht schlimm. Aber bei einem Schädel-Hirn-Trauma besteht das Risiko innerer Blutungen. Das schauen wir uns heute nochmals an. Aber ich glaube, Sie sind glimpflich davongekommen.«

Vincent atmete erleichtert aus. »Meine Verlobte hat mir erzählt, dass ich zu einem fremden Haus gefahren bin und sie am Telefon nicht mehr erkannt habe. Das ist doch merkwürdig.«

Der Arzt nickte. »Das ist es und ich kann verstehen, dass Ihnen das Sorge bereitet. Aber so etwas kann vorkommen. Vermutlich waren Sie nach dem Sturz kurz bewusstlos. Der eingetretenen Hirnschwellung dürfte es zuzuschreiben sein, dass Sie sich nicht mehr erinnern, was Sie getan haben, nachdem Sie wieder zu sich gekommen sind.«

»Wie lange muss ich hierbleiben?«, fragte Vincent.

»Wir wollen in zwei Wochen heiraten und haben einiges vorzubereiten«, fügte Lisa hinzu.

Dr. Salomon rückte seine auf dem Nasenrücken nach vorn gerutschte Brille mit dem Zeigefinger zurück an die Stirn. »Auf jeden Fall sollte Herr Herzog zumindest eine weitere Nacht hierbleiben.«

Vincent seufzte. »Ich dachte, ich könnte jetzt gleich nach Hause.«

Lisa lächelte ihm zu. »Eine Nacht. Das ist zu verkraften.«

Dr. Salomon lächelte ebenfalls. »Einer Hochzeit steht danach nichts mehr im Wege.« Der Arzt machte eine Pause und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Er wirkte zögerlich.

»Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen möchten?«, fragte Vincent.

Dr. Salomon räusperte sich. »Ich war damals noch nicht in diesem Krankenhaus. Aber ich habe Ihren Unterlagen entnommen, dass Sie vor fünfeinhalb Jahren schon einmal mit einem Schädel-Hirn-Trauma eingeliefert wurden. Damals war die Angelegenheit deutlich ernster. Sie hatten eine offene Schädelfraktur. Es war lebensbedrohlich.«

Vincent nickte betrübt.

»In der Akte steht, dass Sie sich an Ihr Leben vor der Verletzung nicht mehr erinnern. Ist das noch immer so?«

»Ja«, sagte Vincent. Seit diesem Ereignis, wie er seinen damals erlittenen kompletten Gedächtnisverlust für sich bezeichnete, hatte sich nichts geändert.

Ein Autofahrer hatte ihn an einer Landstraßenraststätte am Rand eines bewaldeten Hügels bewusstlos auf dem Boden liegend gefunden. Seine Kleidung war übersät gewesen mit Erde und getrocknetem Blut. Er wusste bis heute nicht sicher, wie er sich die offene Kopfwunde zugezogen haben konnte und wie er dahin gekommen war. Sein Wagen hatte vor seinem Haus in seinem mehrere Kilometer entfernten Wohnort geparkt.

Die Polizei hatte wegen seiner Verletzung ermittelt, aber keine Beweise für Fremdeinwirkung gefunden. Da es an diesem Tag orkanartige Böen gegeben hatte, war man davon ausgegangen, dass ihm bei einem Waldspaziergang ein abgebrochener Ast auf den Kopf gefallen war.

Seine Erinnerungen an sein früheres Leben waren seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Welchen Beruf er erlernt hatte, welche Schule er besucht hatte, Erlebnisse, alles weg. Als er damals aus seiner Bewusstlosigkeit im Krankenhaus erwachte und in den Spiegel sah, kannte er den Mann, dem er ins Gesicht blickte, nicht. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Er hatte sein eigenes Ich verloren.

Wenigstens sein prozedurales Gedächtnis, in dem sein Allgemeinwissen verankert war, war intakt geblieben. Rad- und Autofahren, Kampfsporttechniken und Lesen. Das alles funktionierte tadellos.

Die Ärzte waren anfangs zuversichtlich, dass er sich bald wieder an seine Biografie würde erinnern können. Aber Vincent Herzog stellte sich als einer jener extrem seltenen Fälle heraus, in denen es bei einer dauerhaften Amnesie blieb. Drei Wochen nach dem Ereignis wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. In vielen Sitzungen bei einem Psychologen lernte er zu akzeptieren, was geschehen war, und sein neues Leben anzunehmen.

Da er erst ein Jahr zuvor in das kleine saarländische Dorf gezogen war und allein in dem von ihm gekauften Haus lebte, gab es niemanden, der ihm erzählen konnte, wie sich sein Leben vor dem Umzug gestaltet hatte. In seinem neuen Heim befanden sich keine Fotos oder Unterlagen, mit deren Hilfe alte Freunde, Verwandte, soziale Kontakte oder frühere Arbeitskollegen zu ermitteln gewesen wären. Nicht einmal das Einwohnermeldeamt war in der Lage, seine frühere Wohnadresse ausfindig zu machen. Angeblich sei er vor seinem Umzug nirgendwo gemeldet gewesen. Nie hatte ihn ein alter Bekannter, dem er vielleicht die neue Adresse hinterlassen hatte, besucht und in seinem Handy gab es keine Telefonnummern von früheren Freunden, die er hätte anrufen können. Seinen Namen, sein Alter von damals dreiunddreißig Jahren und die Adresse des von ihm erworbenen Hauses hatten die Ärzte seinem Personalausweis entnehmen können, der sich in seiner Geldbörse befunden hatte.

Das eine Jahr seines Lebens in der neuen Heimat hatte Vincent im Laufe der folgenden Wochen mühsam rekonstruiert.

Er arbeitete in einer Security-Firma, bei der er sich ohne schriftliche Bewerbung vorgestellt hatte. Er war sportlich, beherrschte ein paar Selbstverteidigungsgriffe und hatte keine Vorstrafen. Das hatte Hubert Koller, dem Inhaber der Firma, gereicht, um ihn zunächst probeweise und anschließend als freien Mitarbeiter zu beschäftigen. Nach einem Jahr hatte Vincent einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten.

Sein einziger Freund hieß Anton Heckmann. Nach dem Ereignis hatte Anton ihm erzählt, dass sie sich in einer Kneipe kennengelernt hatten. Sie hatten dort neben vielen anderen ein Fußballspiel im Fernsehen angeschaut. Vincent hatte einen Streit zwischen Anton und einem Fan der gegnerischen Mannschaft geschlichtet. Anton hatte ihm daraufhin ein Bier ausgegeben. Bei dem einen Getränk war es nicht geblieben. Am Ende waren sie beide betrunken nach Hause gewankt. Sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht und ein paar Tage später hatte Anton angerufen, um Vincent zu fragen, ob er mit zum Bowling kommen würde. Vincent hatte zugesagt. Seitdem trafen sie sich regelmäßig zum Bowlen und Fußballschauen.

Anton war vierundfünfzig Jahre alt, hatte eine erwachsene Tochter und war seit acht Jahren geschieden.

Seinen Job als Kundenberater bei einer Bank hatte er vor einigen Jahren aufgrund seines Alkoholkonsums und seiner Verschrobenheit verloren. Anton hing so manchen Verschwörungstheorien nach und hatte sie an die Bankkunden verbreitet. Zu allem Übel glaubte er fest an das, was er von sich gab.

Die stattliche Abfindung, mit der man ihn als langjährigen Mitarbeiter aus der Bank komplimentierte, war längst für Spielautomaten und beim Pokern draufgegangen.

Anton fand es merkwürdig, dass Vincent nach dem Gedächtnisverlust nicht mehr so ausgiebig mit ihm trank, und war anfangs deswegen sogar beleidigt gewesen. Doch mit der Zeit hatte er sich damit abgefunden, dass Vincent lieber nüchtern blieb.

Manchmal hatte Vincent mit Tonis Art so seine Schwierigkeiten, aber sie lachten doch häufig gemeinsam über die allzu oft verrückte Welt und drückten bei Sportübertragungen den Underdogs die Daumen.

Nach seinem Umzug und der Amnesie war Vincent froh gewesen, überhaupt jemanden zu haben, dem er vertrauen konnte. Sie hatten sich verbunden gefühlt, weil sie beide einsame Seelen gewesen waren. Für Vincent hatte sich dieser Zustand geändert, nachdem er mit Lisa zusammengekommen war. In gewisser Weise tat es Vincent leid, dass Toni nicht ebenfalls das Glück gehabt hatte, eine neue Beziehung zu finden.

Für Vincent war Toni ein treuer Freund, der von der komplexen Welt überfordert dauernd Schiffbruch erlitt und dem, wenn er es nicht tat, niemand sonst einen Rettungsring zuwarf. Auch wenn es anders schien, so war Toni doch ein sehr liebenswerter Mensch, der bereit war, für jemanden, den er mochte, sein letztes Hemd zu geben. Er verhielt sich nur leider oft wie ein verspielter Elefant im Porzellanladen und gab äußerlich den harten Mann, während er innerlich sehr verletzlich war. Vincent war davon überzeugt, dass Toni so viel trank, weil er mithilfe des Alkohols versuchte, den Schmerz, den die Trennung von seiner Familie in ihm ausgelöst hatte, zu verdrängen.

Dr. Salomon sah seinen Patienten nun nachdenklich an.

Vincents Gesicht verfinsterte sich. Das tat es immer, wenn das damalige Trauma, mit dem sein zweites Leben begonnen hatte, zum Thema wurde. Er hatte Eltern, an die er sich nicht erinnerte. Lebten sie noch oder waren sie bereits gestorben? Hatte er Geschwister? Er wusste es nicht.

»Warum sprechen Sie mich darauf an?«, fragte Vincent.

Dr. Salomon schien zu bemerken, dass Vincent Herzog dieser Punkt äußerst unangenehm war. Kurz presste er die Lippen zusammen und machte eine entschuldigende Geste. »Vielleicht hätte ich das Thema nicht berühren sollen. Vermutlich haben beide Vorfälle nichts miteinander zu tun.«

»Gibt es denn trotzdem etwas, das wir noch wissen sollten?«, hakte Lisa nach.

»Nicht direkt.

---ENDE DER LESEPROBE---