4,99 €
»Es ist unglaublich, wie manche Dinge einfach passieren«, verstärke ich seine Worte vom Anfang unseres Gesprächs. »Ja, aber so ist das Leben. Du weißt nie, was passiert … es ist absolut fantastisch and wunderbar …«, sagst du glücklich, und da wird mir vermutlich zum ersten Mal klar, wie du das Leben siehst … als Herausforderung, als Abenteuer, in freudiger Erwartung dessen, was auch immer es für dich bereit halten mag und jede Minute davon auskostend. Und ich verstehe ein wenig mehr, wie das alles passieren konnte. »Und ich liebe es«, fügst du hinzu. Ja. Ich habe noch nie zuvor jemanden getroffen, der das Leben so sehr liebt. »Liebst du es nicht?« Der Titel des Buches, »Unvorhergesehen«, lässt vielleicht auf den ersten Blick vermuten, dass er direkt mit dem Untertitel zusammenhängt. Vielmehr bezieht er sich jedoch auf den Inhalt der Geschichten, und dass alle eines gemeinsam haben: Den Hauptfiguren passiert etwas, mit dem sie nicht gerechnet haben, das nicht geplant war, etwas Unvorhergesehenes. Und ich glaube, dass selbst diese unvorhergesehenen, spontanen Ereignisse im Endeffekt Entscheidungen sind (»man springt oder man springt nicht«), so sind es dann eben unvorhergesehene Entscheidungen. Und genau diese sind es oft, die unser Leben immer wieder auf den Kopf stellen und es so interessant, aufregend und unglaublich machen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Unvorhergesehen
For My Lover
Etwas Altes
Chicken Korma
Das Ende der Welt
18
Tod
Joe Gun
Geschwister
Es ist was es ist
John
Was wäre wenn …
UNVORHERGESEHEN
Danksagungen
Zum Buch
Über die Autorin
Eine kleine Bitte noch …
Kurzgeschichten und eine,
die ein bisschen länger geworden ist
von Sandra Andrés
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Neuauflage auf Deutsch, November 2021
Kurzgeschichtensammlung, erschienen im Selfpublishing durch:
Sandra Andrés
Wartberg 32
74906 Bad Rappenau
Lektorat: Simon Seichter
Covergestaltung: Original: Vector Grafikdesign.
Neuauflage: Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor -
www.100covers4you.com
Coverbild und Kapiteltrenner: Daria Ustiugova / iStock
Korrektorat und Satz: Autorenträume
Titel- und Kapitelschrift: Lizenz von Creative Fabrica
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm, über Social Media oder anderes) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 9798766658542
Ein Inhaltsverzeichnis finden Sie, ganz unvorhergesehen,
am Ende des Buches
Ich möchte vergessen können …
Vergessen, wie oft Du mir sagtest, dass Du mich liebtest.
Vergessen, wie Du mir bezeugtest, dass Du mich nie verlassen würdest.
Vergessen, wie Deine Hand mich festhielt und die Meine drückte, um mich für immer zu halten.
Vergessen, wie Du unsere Lieder sangst.
Welch große Dinge Du tun wolltest und tatest und sagtest, ohne es zu bemerken.
Wie herzlich und glücklich Du lachst.
Deine kindliche, unschuldige und doch so ungestüme, erobernde Art …
Vergessen, wie du schüchtern wegzucktest und Deine Stimme ins Wanken geriet, wenn ich Deine Gedanken erriet.
Du lerntest niemals, Dich selbst zu schätzen. Du hast nie Deine Größe verstanden oder auch nur bemerkt. Du hast nie gesehen, welch wunderbarer, einzigartiger Mensch Du bist.
Ich wünschte, ich könnte es Dir zeigen.
Ich kann immer noch Dein Parfum riechen.
Ich spüre immer noch Deinen Atem an meiner Wange.
Ich versinke immer noch in Deinen Augen.
Ich kann immer noch Deine Stimme hören, wie sie unsicher und zärtlich wird, wenn wir uns unterhalten.
Ich sollte nicht hier sein, alleine auf meinem Bett, verloren und hilflos. Ich sollte in Deinen Armen liegen, umschlungen, mein Körper dicht an Deinem, und mich geborgen fühlen und geliebt.
Alles an mir gehörte Dir.
Meine Haare waren nur da, um von Dir durchwühlt zu werden. Meine Augen sahen nur, um jede Deiner Bewegungen zu verschlingen. Meine Hände existierten nur, um Dich zu berühren. Mein Mund war nur da, um Dich zu küssen. Meine Arme hatten nur die Aufgabe, Dich zu halten. Mein Körper existierte nur, um von Dir liebkost zu werden. ICH existierte nur, um von Dir geliebt zu werden.
Ich wollte Dir mein Leben schenken.
Ich will, dass es aufhört. Ich will, dass dieser Schmerz nachlässt, diese unsagbare Seelenqual, gegen die ich so machtlos bin. Ich will, dass es nicht mehr weh tut.
Die Uhren ticken weiter, die Welt dreht sich, die Menschen führen ihre Kriege, und Sonne und Mond ziehen weiter ihre Bahnen. Und doch ist nichts mehr dasselbe.
Wie kann es auch?
Wie kann mein Leben nur annähernd dasselbe sein, wenn Du, der alles in meinem Leben bedeutete, weg bist?
Meine Welt ist leer.
Am Tag ist es erträglich. Es gibt Menschen. Es gibt Licht, Dinge, Ereignisse. Doch nachts kommt die Einsamkeit, und mit der Einsamkeit kommt der Schmerz.
Du sagst, Du passt nicht in mein Leben, das so perfekt ist. Wie kann es perfekt sein, ohne Dich darin?
Du hast Angst, ich könnte Dinge an Dir entdecken, mit denen ich nicht leben kann. Wie kann ich Dir beweisen, dass ich Dich so liebe, wie Du bist, wenn Du mir keine Chance gibst?
Ich vermisse Dein Lachen. Ich vermisse Deinen Enthusiasmus und Deinen Drang, die Welt zu erobern und zu unterwerfen. Ich vermisse Deine Liebkosungen und die Worte, die Du Dir für mich ausdachtest. Ich vermisse Deine Bemühungen, mich zu beein-drucken, und wie Du es schafftest, mit den einfachsten Dingen. Ich vermisse Dein zärtliches »Ich liebe Dich«.
Es ist, als hätte mir jemand mein Leben entrissen. Alles, was es ausgefüllt hat. Ich fühle nur noch diese unsagbare Leere und Traurigkeit.
Meine Fröhlichkeit ist gespielt und kurzlebig, ständig zum Tode verurteilt. Eine Überbrückung, die das Leben für kurze Zeit leichter macht. Nur die Einsamkeit bleibt. Tief in mir ändert sich nichts. Die Leere ist immerzu da. Es gibt keinen Tag ohne Schmerz. Keinen Tag, an dem ich nicht an Dich denke, an dem ich nicht diese Trauer in mir fühle, die mich so sehr einnimmt und ganz von mir Besitz ergreift. Ich kann es verdrängen und so tun, als ob ich mich besser fühlte. Doch in meinem Inneren bin ich alleine, traurig, verlassen von Gott und der Welt.
Ich komme mir vor wie der letzte Mensch auf Erden. Niemand kann mir helfen, niemand ist da, wo ich bin. Ich merke, wie sehr sich alle bemühen, mir das Leben zu erleichtern, mich zu trösten. Meine Familie, meine Freunde. Doch es ist zwecklos. Es gibt keinen Trost und keine Erleichterung für den Schmerz, der tief in meiner Seele brennt und mich aufzufressen droht. Ich fühle mich tot, getötet von den schmerzenden Erinnerungen, die mich endlos ans Messer liefern. Und doch möchte ich keine davon verlieren, denn sie sind alles, was ich noch von Dir habe.
Ich liebte Dich so sehr, dass es weh tat. Es war keine schreckliche Art von Schmerz, wie jetzt. Es war ein Schmerz, der mich nachts wach hielt, um mir zu zeigen, wie stark Liebe sein kann. Er war da, wenn ich in Deine Augen sah, wenn Du mich küsstest, und er war da, kurz nachdem Du nach Hause gingst und mein Verstand mit Dir.
Ein schöner Schmerz, ein Schmerz der Intensität, des Bewusstseins und der Unendlichkeit, der mich Dich in mir spüren ließ, selbst wenn Du weit entfernt warst.
Mir ist kalt. Innerlich kalt. Und kein Feuer der Welt kann mich erwärmen. Ich habe Angst zu erfrieren.
Ich wünschte, ich könnte alles rausschwitzen. Ich wünschte, es würde aus meinen Poren treten wie überflüssige Energie, aus meinen Adern quellen wie vergiftetes Blut.
Denn das ist es. Gift für meine Seele, mein innerstes Selbst, das entzweit ist und dasteht zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Schmerz und Nostalgie.
Es tut weh. Es tut unsagbar weh, Dich wiederzusehen. In den Armen einer Anderen.
Ich habe Dich geliebt.
Ich habe geliebt.
Ist das nichts?
Es waren noch zwei Monate bis zur Hochzeit.
Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Sie bekam fast stündlich einen Anruf: vom Floristen, vom Schneider oder vom Friseur. Im ganzen Haus herrschte rund um die Uhr Aufregung. Sowohl ihre Mutter als auch das sonst sehr ruhige Hauspersonal waren vom Stress angesteckt. Nur der Bräutigam hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und gute Worte für alle.
Das war eine seiner großen Stärken, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte.
Marina lag auf dem Bett und starrte an die Decke.
Den ganzen Morgen über war sie stundenlang in ihrem Brautkleid und ihren schwindelerregenden Absätzen herum-gestanden und hatte hier etwas abstecken, dort etwas dazu nähen lassen. Ihren Zukünftigen hatte sie kaum zu Gesicht bekommen. Während des Mittagessens hatten sie sich kurz gesehen, er hatte sie in die Arme genommen und geküsst, ihr zugelächelt und gemeint, es wäre ja jetzt nicht mehr lange, dann könnten sie ihr eigenes Leben beginnen, fern von all dem Rummel.
Sie hatten vor, ein Haus zu kaufen, unweit von dem Ort, wo sie sich kennengelernt hatten. Umgeben von kleinen Wäldern und Landhäusern, wo einen frühmorgens die Vögel weckten.
Vor drei Jahren war sie ihm dort auf der Flucht vor einem streunenden Hund direkt in die Arme gelaufen. Er hatte sie schon damals sanft angelächelt, sie beschützend umarmt und gemeint, es sei nichts zu befürchten, er würde alle Hunde in der Umgebung kennen, und keiner von ihnen, auch nicht die streunenden, seien gefährlich.
Dann hatte er sie nach Hause begleitet, und seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht gesehen hatten.
Jetzt blickte sie ins Leere.
Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, was am Ende der Anprobe passiert war.
Aber es ging ihr auch nicht mehr aus dem Kopf.
Ihre Mutter hatte seit Tagen darauf bestanden, ihr »etwas Altes« zu geben. Heute Morgen meinte sie, Marina solle nach der Anprobe am Besten die Sachen in der Truhe durchgehen und das nehmen, was ihr am meisten gefallen würde.
Marina kannte die Truhe. Sie stand seit jeher im Ankleideraum. Seit dem Tod ihres Vaters war sie nicht mehr geöffnet worden. Und das war verständlich … zu viele Erinnerungen … Ihre Mutter hatte dort all ihre Wertsachen verstaut. Den Schmuck ihrer Großeltern, ihren Verlobungsring, das Hochzeitsdiadem, die Taufkleidung der Kinder, alte Briefe, ein Seidenkissen, leere Parfümflaschen, und … ganz am Boden der Truhe, unter einem Stapel alter Tagebücher … ein Foto. Marina hatte es lange angestarrt und in ihrer Erinnerung nach dem Gesicht gesucht, das ihr vom Bild aus entgegen starrte, aber sie konnte es nicht zuordnen. Sie glaubte nicht, es schon je einmal gesehen zu haben.
Und trotzdem … kam es ihr so bekannt vor. Ein Mann mit dunklen Haaren, einem stechenden Blick, der ihre lächelnde Mutter auf die Wange küsste.
Dieses Bild hatte sich in ihre Gedanken eingebrannt und kam ihr den ganzen Tag über wieder und wieder vors innere Auge.
So müde sie auch war, sie musste die Antwort wissen.
Sie stand auf, öffnete knarrend die schwere Holztür und ging den Korridor entlang bis zum letzten Zimmer, wo sie sanft klopfte.
Eine leise Stimme bat sie, einzutreten, und auch diese Tür öffnete sich mit einem fürchterlichen, nervenzerreibenden Knarren.
Ihre Mutter lag im Bett und sah gedankenverloren aus dem Fenster in die pechschwarze Nacht. Als sie ihre Tochter kommen sah, setzte sie sich auf.
»Komm rein, mein Kind.«
»Hallo, Mutter …« Sie setzte sich an die Bettkante und zögerte. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
»Als du heute sagtest, ich sollte nach etwas Altem suchen …«
»Ja?« Ihre Mutter sah sie offen und erfreut an. »Hast du etwas gefunden, das dir gefällt, mein Schatz?«
»Na ja …« Sie atmete tief durch. »Gefunden habe ich etwas. Aber es ist nicht … Ich kann … Ich weiß nicht …«
»Was ist es, Marina? Du weißt, wir können über alles sprechen.«
»Ich habe ein Bild gefunden.«
»Ein Bild …?« Ihre Mutter sah sie verwirrt an.
»Ein Foto.«
Marina konnte sehen, wie ihrer Mutter innerhalb einer Sekunde die Farbe aus dem Gesicht entwich.
Über eine Minute lang herrschte Totenstille. Marina wusste nicht, was sie sagen sollte. Und ihrer Mutter hatte offenbar die Stimme versagt.
»Und … und was war auf dem Foto?« fragte sie schließlich leise und mit zittriger Stimme.
»Du. Mit einem Mann.«
Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
»Das war vor vielen Jahren.« Sie sah ihrer Tochter in die Augen. »Dein Vater wollte nie, dass ich dir davon erzähle. Er meinte, es würde dich nur unnötig verunsichern …«
»Verunsichern? Warum das?« Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, der ihre erste Intuition, als sie das Bild gesehen hatte, bestätigte.
»Ich weiß nicht, ob du das wirklich wissen willst, Marina.«
Marina saß weiterhin still auf der Bettkante. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Was wäre das Schlimmste, das sie erwarten konnte? Gedanken liefen wie Bilder vor ihren Augen ab. Ihre Mutter in den Armen dieses Mannes. Eine alte Liebe.
Eine Affäre, im äußersten Fall. Sie wusste nicht, ob sie die Wahrheit wissen wollte. Vielleicht war es auch nicht der richtige Zeitpunkt.
Aber was war die Alternative?
Bekäme sie die Antwort nicht jetzt, würde sie sich jeden einzelnen Tag fragen, wer der Mann wohl wäre, was passiert sei … ihre Fantasie würde Amok laufen bis zu dem Tag, an dem sie ihrer Neugierde doch nachgäbe und die Antwort bekäme.
Warum also nicht gleich?
»Wer war der Mann, Mutter?«, bekräftigte sie ihre Frage.
»Also gut.« Wieder atmete sie tief durch. »Es war auf unserer Hochzeitsreise.«
Wie bitte?
Einen Moment lang war Marina drauf und dran, es umgehend zu stoppen. Doch sie war zu neugierig und ohnehin schon mittendrin.
»Dein Vater und ich waren gerade zwei Wochen verheiratet. Wir fuhren nach Paris, der Stadt der Liebe, wie uns alle sagen. Ich habe diese Stadt vom ersten Augenblick an geliebt. Wir wohnten in einem kleinen Hotel ein bisschen außerhalb und machten jeden Tag kleine Ausflüge. Manchmal besuchten wir Sehenswürdigkeiten oder Museen, ein anderes Mal fuhren wir an einen See oder unternahmen lange Spaziergänge. Es war eine wundervolle Zeit.« Marina konnte es in ihren Augen ablesen, die immer noch leuchteten, wenn sie davon erzählte.
»So war es auch an jenem Sonntag Abend. Wir waren in unserem Hotel, es war schon spät, dein Vater schlief bereits, aber für mich war es viel zu heiß zum Schlafen. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, ging im Zimmer herum, lehnte mich aus dem Fenster, um Frischluft zu schnappen, und ging schließlich in die Bar, um ein paar Eiswürfel zu holen. Während ich wartete, kam ein junger Mann auf mich zu. Er hatte halblange, dunkle, fast schwarze Haare… na ja, du hast ihn ja gesehen.« Dabei wurde ihre Stimme leise, sie blickte auf den Rand ihres Nachthemds. »Mir fielen sofort seine Augen auf. Wundervolle, tiefe blaue Augen. Er setzte sich neben mich an die Bar und fragte, ob ich etwas trinken wollte. Ich lehnte natürlich ab, ich war eine verheiratete junge Frau mit Erziehung und Anstand. Ich war sogar ziemlich abweisend, denn es gehörte sich als frisch verheiratete junge Dame nicht, mit fremden Männern zu reden, und er verunsicherte mich außerdem, mit seinem eindringlichen Blick und seinem leicht süffisanten Lächeln. Also beschloss ich, einfach gar nichts mehr zu sagen, bis er von selbst wieder gehen würde.
Ich konnte seinen Blick auf mir spüren, und wie er mich anlächelte, ohne auch nur eine Sekunde wegzusehen. Ich spürte, wie ich nervös wurde und nicht wusste, wo ich hinsehen sollte. Ich wollte so ungerührt wie möglich wirken und hoffte, dass der Kellner schnell mit dem Eis zurückkommen mochte. Als er schließlich kam, bestellte der Mann zwei Gläser Wein. Und ich blieb stehen. Das Eis in dem Glas vor mir anstarrend.« Wieder legte sie eine Pause ein, wagte nicht, Marina anzusehen. »Er fragte nach meinem Namen, und ob ich allein hier wäre. Ich sah auf, sah in diese tiefen, blauen Augen, die mich in seinen Bann zogen. Und dann war es, als hätte eine andere Person von mir Besitz ergriffen. Ich konnte hören, wie sie bejahte, sah, wie sie versuchte, ihren Blick von ihm abzuwenden, ihre Fassung zu behalten und abweisend und distanziert zu bleiben. Ihn schien das nicht im Geringsten zu stören. Sein Blick blieb fest, sein Lächeln konstant und verführerisch. Ich riskierte einen weiteren raschen, scheuen Augenaufschlag in seine Richtung, dann noch einen.
Er nahm eine Packung Zigaretten heraus und bot mir eine an. Ich hatte noch nie im Leben geraucht, aber umso größer war meine Neugierde. Ich sah das Feuerzeug aufflammen, sah, wie er einen tiefen Zug nahm und spürte seinen Atem auf meinem Hals, als er den Rauch hinausblies.
›Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche, oder?‹, sagte er. Ich schaffte nur ein kaum merkliches Kopfschütteln. Seine goldene Packung lag immer noch einladend in meine Richtung geöffnet da. Ich nahm eine Zigarette und versuchte, genauso gelassen zu sein wie er. Aber schon als er mir Feuer gab, merkte ich, wie mir der Atem stockte. Als ich den Rauch einatmete und versuchte, dabei möglichst so auszusehen, als hätte ich in meinem Leben nichts anderes getan, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass der Rauch mich im Hals kitzelte und kratzte und ich derart husten musste, dass ich völlig rot anlief. Er legte seine Hand auf meinen Arm, sein Lächeln unbeirrt, wenn auch jetzt eher besorgt und mitfühlend als süffisant und erobernd. Seine Hand blieb auf mir, bis ich alles aus mir herausgehustet hatte.
›Sie rauchen nicht oft, nehme ich an?‹, fragte er weiter. Ich gab keine Antwort, da mir die Situation einfach nur peinlich war.« Marina hörte aufmerksam, aber auch skeptisch zu. Was versuchte ihre Mutter hier, ihr zu sagen? War es wirklich, wie sie vermutet hatte, eine alte Liebesaffäre?
»Er führte seine Zigarette an die Lippen«, fuhr sie fort. »›Sehen Sie zu, Miss. Sie dürfen nur ganz leicht daran ziehen. Lassen Sie den Rauch kurz in Ihrem Mund, schmecken Sie ihn, bevor Sie ihn vorsichtig einatmen und in Ihre Lungen lassen.‹ Und wieder dieses Lächeln. Wieder sein warmer, verrauchter Atem auf meiner Schulter.« Ihre Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern geworden, als könnte sie den Rauch auch jetzt noch auf ihrer Haut spüren.
»Vorsichtig tat ich es ihm nach, und diesmal folgte nur noch ein leises Hüsteln. Dann stellte er das zweite Glas Wein vor mir ab und begann zu erzählen. Dass er ursprünglich aus New York kam und nur auf der Durchreise war. Dass er eigentlich nach Nizza wollte, alte Freunde besuchen, aber hier noch etwas zu erledigen hatte. Er meinte, vielleicht habe ihn das Schicksal hierher geführt. Dabei berührte er wieder meinen Arm, und sein Gesicht näherte sich meinem. Ich spürte, wie seine Finger sanft über meine Haut strichen und hörte wieder diese andere Person, die von mir Besitz ergriffen hatte. Dass ihre Heimatstadt Wien und sie hier auf Geschäftsreise sei. Dass sie nächste Woche auf eine Demo für die Rechte der Frauen gehen würde. Dass sie englische Literatur studierte und dann vorhatte, nach London zu gehen.
Ich trank meinen Wein, und dann tranken wir noch ein Glas. Wir lachten und tranken und rauchten und lachten noch mehr und erzählten und erzählten, und ich spürte, wie er mich mit seinen Augen verschlang und ich nur zu gern darin versank. Schließlich nahm er meine Hand, und ich stand auf und folgte ihm aus der Bar. Mein Herz klopfte so stark, ich war mir sicher, er konnte es hören.« Nun hob sich der Blick ihrer Mutter und schweifte auf das Fenster, in den Nachthimmel. »Der Mond schien auf uns herab. Die Welt schien so weit weg. Es gab nur mich und meine Hand in seiner, als wir durch den duftenden Garten spazierten. Dann legte er meine Hand auf seine Schulter und wirbelte mich herum. Als er mich wieder auffing, war mein Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt. Ich konnte sein After Shave riechen, seinen Atem spüren und seine Hände auf mir, seine Arme, wie sich mich festhielten, und ich ließ es einfach geschehen. Ich verlor mich in dem Moment, in seinen strahlenden Augen und seiner Leichtlebigkeit. Er küsste mich, und ich wehrte mich nicht.« Nun sah sie direkt in Marinas Augen, die an ihren Lippen hingen, aber sie auch entsetzt ansahen. »Es tut mir leid, wenn dich das jetzt enttäuscht, mein Schatz … aber es war … so ein wundervoller Kuss … Nie hatte ich jemand anderen als deinen Vater geküsst, und dein Vater hatte mich noch nie so geküsst.«
Marinas Blick senkte sich. Sie konnte ihre Mutter nicht ansehen. Wie hatte sie das nur tun können?
»Soll ich aufhören?«, fragte sie jetzt.
Marina schüttelte stumm den Kopf und schluckte eine wütende Träne hinunter. Obwohl sie nicht wusste, ob sie verkraften konnte, wie es weiter ginge, spürte sie, dass sie nun die ganze Wahrheit erfahren musste.
»Als unsere Lippen sich trennten und ich realisierte, was passiert war, bekam ich Panik und lief weg. Noch auf dem Weg zu meinem Zimmer schwor ich mir, ihn nie wieder zu sehen und alles zu vergessen. Aber natürlich kam es anders.
Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Egal, wo wir waren, egal, was wir taten, bei unserem gemeinsamen Spaziergang durch die Tuilleries, in einer kleinen Galerie auf der Île-Saint-Louis, in einer Cafeteria im Quartier Latin … Ich konnte ihn nicht aus meinem Gedächtnis verbannen. Ich dachte unentwegt an seinen Blick, wie er mich berührte, und an diesen Kuss.« Selbst jetzt, nach all den Jahren, schwanken Leidenschaft und Sehnsucht in ihre Stimme mit. »Ich wusste nicht, ob er schon weitergereist war, aber ich ertappte mich dabei, wie mein Herz schneller schlug und ich mich suchend umsah, jedes Mal, wenn wir am Abend zurück ins Hotel kamen.« Ihre Hände krallten sich in ihr dünnes Nachthemd. »Und dann sah ich ihn wieder. Beim Essen im Restaurant, drei Tage später. Er saß nur wenige Tische von uns entfernt. Ich sah ihn, und er sah mich, auch wenn wir beide so taten, als wäre es nicht so. Ich sagte zu deinem Vater, dass ich sehr müde wäre und früh zu Bett gehen wollte. Und als er schlief, schlich ich mich in die Bar. Ich wusste, er würde dort sein. Ich wusste, er würde mich erwarten. Ich wusste, es würde nur diese eine Nacht geben und ich würde ihn nie wieder sehen. Und genau diese Sicherheit, aber auch diese Endgültigkeit, trieben mich zu dem, was ich dann tat.«
Nein! Hör auf! Ich will es nicht wissen!, rief eine Stimme in Marina, doch nichts kam aus ihrem Mund.
»Ohne ein Wort ging ich auf ihn zu, trank sein Glas Wein aus, nahm seine Hand und folgte ihm stumm. Schon im Aufzug küssten wir uns leidenschaftlich. Seine Hände waren überall auf mir, und ich klammerte mich an ihn. Er trug mich auf sein Zimmer und wir verbrachten eine unvergessliche Nacht zusammen. Vor Sonnen-aufgang schlich ich mich zurück, legte mich an die Seite meines Mannes, weinte leise, aber bitterlich, und wartete vergeblich darauf, dass die Schuldgefühle vergehen würden.«
Sie sah ihrer Tochter in die Augen, die versuchte, ihrem Blick auszuweichen.
»Ich warte immer noch darauf.«
Marina funkelte ihre Mutter an.
»Am nächsten Morgen fuhr er ab, wir drei Tage später, und ich sah ihn nie wieder.«
Marina blieb still, aber ihr Gesichtsausdruck verriet ihre Enttäuschung und Wut. Nie hätte sie ihrer Mutter so etwas zugetraut hätte.
»Ich habe deinen Vater geliebt, Marina. Mehr als alles andere auf der Welt. Ich hätte ihn für nichts und niemanden verlassen, auch nicht für diesen Mann. Ich kann auch nicht sagen, dass das Liebe war. Ich weiß nicht, was es war. Ich fühlte mich einfach unglaublich zu ihm hingezogen. So sehr, dass ich glaubte, nicht weiterleben zu können, wenn ich ihm nicht auf dieses Zimmer gefolgt wäre. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich wollte es nicht riskieren. Und ich weiß, dass ich gelernt habe, mit der Schuld zu leben. Ich bereue es nicht. Aber ich wollte auch nicht, dass es je jemand erfahren würde. Und es tut mir leid, dass du es jetzt und auf diese Art herausfinden musstest.«
Marina schaffte es immer noch nicht, sie anzusehen oder etwas zu sagen. Sie starrte stumm auf die weiße Wand.
»Ich liebte meinen Mann. Wir gehörten zusammen. Aber manchmal passieren Dinge, die man nicht erklären kann, und die stärker sind als jede Vernunft und auch stärker als konstante Liebe.«
»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte Marina schließlich. Es waren weit mehr Details gewesen, als ihr lieb war. Ihr hätte es gereicht, dass ihre Mutter nach dem Kuss aufgehört hätte.
Diese stand nun auf. Sie ging ans Fenster und antwortete fast lautlos: »Neun Monate später kamst du.«
Marina wurde leichenblass. Sie erstarrte und spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte.
»Was … wie … wie meinst du das? Willst du damit … sagen …dass … dass Dad gar nicht mein Vater war?«
Es dauerte lange, bis sie eine Antwort bekam. Mit den Händen vor ihrem Gesicht meinte ihre Mutter dann: »Ich weiß es nicht. Aber du hast seine Augen. Die gleichen Augen, die mich damals verzauberten.«
Marina fuhr sich durch die Haare.
»Oh mein Gott.«
Sie stand auf. Kalte Schauer liefen über ihren Rücken. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Oh mein Gott!«, wiederholte sie. Dann lief sie verstört aus dem Raum.
Über eine Stunde war vergangen.
Marina saß schweigend und immer noch ungläubig auf ihrem Bett und versuchte, zu verarbeiten, was sie gehört hatte.