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Die Magie der zweiten Chance. Svenja und Nils sind das perfekte Paar. Sie haben sich an der Ostsee jung kennengelernt und schwören sich ewige Treue. Doch ihr Traum vom gemeinsamen Familienglück zerplatzt, als sie erfahren, dass Nils zeugungsunfähig ist. Svenja muss sich zwischen ihrer großen Liebe und ihrem Kinderwunsch entscheiden. Sie wählt die Familie und heiratet Mateusz, mit dem sie mehrere Kinder bekommt. Jahre später bietet das Schicksal Svenja und Nils eine unerwartete Gelegenheit, ihre Geschichte neu zu schreiben.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sandra Andrés
ZWEI LEBEN AUF USEDOM
HINSTORFF
Für Doña Aleyddi.Mein Happy End für Dich.
9. AUGUST 1997: HERINGSDORF
8. MAI 2010: ZINNOWITZ
9. AUGUST 1997: HERINGSDORF
15. JANUAR 2011: KRUMMIN
2. FEBRUAR 1998: HERINGSDORF
25. JUNI 2013: KRUMMIN
30. JULI 1999: HERINGSDORF
9. AUGUST 2014: GREIFSWALD
27. OKTOBER 2002: GREIFSWALD
15. SEPTEMBER 2015: POSEN, POLEN
12. JULI 2004: HERINGSDORF
12. JULI 2016: KRUMMIN
14. MÄRZ 2006: HERINGSDORF
4. SEPTEMBER 2016: KRUMMIN
6. JULI 2007: GREIFSWALD
FÜNF TAGE SPÄTER: ZINNOWITZ
25. MAI 2018: KRUMMIN
14. MAI 2008: HERINGSDORF
12. AUGUST 2019: ZINNOWITZ
7. SEPTEMBER 2008: HERINGSDORF
30. APRIL 2020: KRUMMIN
17. FEBRUAR 2022: KRUMMIN
2. SEPTEMBER 2023: AHLBECK
15. NOVEMBER 2023: ZINNOWITZ
20. DEZEMBER 2023: HERINGSDORF
10. JANUAR 2024: KRUMMIN
10. SEPTEMBER 2024: HERINGSDORF
Danksagung
UNSERE AUTORIN
DIE NEUEN HINSTORFF LIEBESROMANE
Das erste Mal, als er sie anblinzelte, hielt Svenja für Zufall. Als hätte ihn etwas erstaunt, und sie wäre nur zufällig in seinem Sichtfeld erschienen. Beim zweiten Mal dauerte sein Blick zu lange, um als Zufall durchzugehen. Und beim dritten Mal begleitete ein Lächeln sein Blinzeln. Was für ein Lächeln! Direkt an sie gerichtet. Herausfordernd, selbstsicher, flirtend.
Von diesem ersten Moment an wollte Svenja wissen, was sich hinter seinem Lächeln verbarg. Wollte alles über ihn wissen: seine Geheimnisse, die sich ganz bestimmt hinter seinen Haarsträhnen versteckten, die ihm seitlich schräg ins Gesicht fielen. Die Tricks, mit denen er Mädchen rumkriegte, sicher nicht wenige, durch sein freches Blinzeln. Den Klang seiner Stimme, den Geschmack seiner Lippen, den Geruch seines Duschgels. Seine letzten Gedanken, bevor er schlafen ging.
„Gehst du den heute noch an?“, drang es wie aus weiter Ferne zu ihr durch, obwohl ihr ihre Freundin Simone direkt gegenüberstand. Svenja kam zurück in die Realität, blickte auf. „Was?“
„Deinen Drink. Gehst du den heute noch an?“, wiederholte Simone.
Svenja schaute auf ihren bunten, alkoholfreien Cocktail, auf dem ein kleines Stück Ananas steckte. „Klar. Prost.“ Sie streckte der Freundin das Glas entgegen, sie stießen an, hörten das Klingen der Gläser. Die Musik drang noch recht leise aus den Boxen des Festzeltes. Zu späterer Stunde würde sich das ändern, sie waren früh dran. Auch die Lichter sah man bisher kaum, es dämmerte erst.
„Den kannst du übrigens auch jederzeit angehen“, meinte Simone und grinste Svenja an.
„Was?“, wiederholte sie, obwohl sie genau wusste, wen Simone meinte.
„Gefällt mir. Sieht selbstbewusst aus, nicht so ein Komplexler wie Ronny“, meinte Simone, deutete mit ihrem Blick auf den kecken Jungen, der zwischen seinen Freunden stand und lachte.
Svenja lief rot an. Sie wurde ungern an Ronny erinnert.
„Nach dem Idioten kannst du eine Aufmunterung doch gut gebrauchen.“
Damit hatte Simone durchaus recht. Ronny war eine Vollpleite gewesen. Noch schlimmer: eine Demütigung. Ronny war in der Parallelklasse, der 10a. Er war Svenja schon länger aufgefallen, und hin und wieder, hatte sie sich eingebildet, wurden ihre Blicke erwidert. Er gefiel ihr, doch sie war schüchtern, wenn es um Jungs ging. Also hatte sie ihm einen Brief geschrieben. Ja, im Nachhinein betrachtet vielleicht etwas kindisch, aber sie war nun mal kein Mädchen großer Worte. Sie tat sich leichter, die Dinge niederzuschreiben. Es war nur ein kurzer Brief gewesen, in dem sie anführte, dass sie Ronny nett fand und gern mal mit ihm einen Kaffee trinken würde. Oder einen Milchshake. Oder was auch immer er gern trank. Nur bitte keine Schorle, da ihr Magen sehr schlecht auf Kohlensäure reagierte und sie davon regelmäßig Schluckauf bekam.
Als sie Ronny den Brief, zugegeben, recht kommentarlos und rot wie eine Tomate, entgegenstreckte, lachte der nur, drehte sich um und ging weg. Svenja wollte im Boden versinken. Am besten erst auf der anderen Seite der Erdkugel wieder rauskommen, irgendwo bei Australien.
Zu ihrem Glück hatte es niemand mitbekommen, und Ronny hängte es auch nicht an die große Glocke. Immerhin so viel Anstand hatte er, ihr nur das Herz zu brechen, aber nicht noch damit anzugeben.
Simone hatte versucht, sie zu trösten, dass es vielleicht gar keine direkte Zurückweisung war, sondern er nur die Aktion an sich lächerlich oder Briefe allgemein blöd fand. Doch für Svenja war die Sache erledigt.
„Sollen wir direkt rübergehen und sie zum Tanzen auffordern?“, schlug ihre Freundin nun vor. Obwohl sie offiziell auf einem „Tanz“ waren, tanzte noch niemand. Die Musik lud noch nicht dazu ein. „Nein, auf keinen Fall!“, wehrte Svenja ab. Keine weiteren unaufgeforderten Annäherungen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Außerdem war das hier anders. Dieser Blick eben hatte sie mit seiner Wucht aus Angriffslust und Lebensfreude direkt ins Mark getroffen. Bei einer weiteren Umdreh-und-Weggeh-Aktion müsste sie sich nicht nur nach Australien beamen, sondern irgendwo hinter den Mars.
„Aber der sieht doch nett aus. Und er grinst die ganze Zeit zu dir herüber.“ Sie deutete auf besagten Jungen drei Tische weiter.
„Vielleicht grinst er ja zu dir rüber“, konterte Svenja, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte. Sie wollte nur ablenken.
Simone grinste. „Glaub mir, das kann man unterscheiden. Ich stehe auf der anderen Seite. Er hat ganz klar dich im Visier.“
Genau das war gerade wieder der Fall. Er sah ihr direkt in die Augen, lächelte, ein bisschen verträumt, ein bisschen erobernd, blinzelte dann. Das Zelt war noch nicht sehr voll, es war nicht schwer, Blicke zu dirigieren oder aufzufangen. Niemand stand zwischen ihnen. Nur ein paar Meter voll abgestandenem Rauch, Würstchenduft und der Geruch von verbranntem Plastik trennten sie und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Oder tat er es?
Sie bemerkte, wie ihr Daumen über ihre Lippen fuhr, und wurde wieder rot wie eine Tomate. Sie hasste das. Warum konnte sie nicht so cool sein wie Simone? Stattdessen ging ihre Fantasie immer mit ihr durch. Sie spürte schon seinen Kuss auf ihren Lippen, fuhr ihm durch die halblangen Haare, hörte, wie er ihren Namen sagte. Ihren Namen seufzte. Und lief entsprechend rot an.
Stattdessen seufzte nun Simone. „Ich hole mir noch was zu trinken“, sagte sie, warf ihre dunklen Haare zurück und stapfte zur Bar in der Mitte des Zeltes.
Noch während Svenja ihrer Freundin hinterhersah, spürte sie eine Hand, die ihre umschloss, sie mit sich zog. Sie fühlte weiche, warme Finger, einen entschlossenen Griff, ein freudiges Kribbeln um ihr Herz, bevor sie aufsah und bestätigt bekam, was sie schon wusste: Blinzelnder Blick war der Auslöser ihres Kribbelns, und sein Lächeln sagte ihr, dass dieser Moment ihr Leben für immer verändern würde.
Mateusz streckte seine Hand nach ihr aus. Svenja zögerte nur eine Sekunde, als ihre Gedanken abschweiften, zu dieser anderen Hand, dieser sanften und doch so entschlossenen Hand, die so lange die ihre gehalten hatte.
Dann sah sie an sich hinab, sah das lange mattweiße Kleid, den zarten Blumenstrauß in ihren Händen, die Blütenblätter auf dem kalten, schwarzen Boden der Kirche. Svenja schluckte, blickte ihrem Bräutigam ins Gesicht, lächelte und ergriff dessen Hand.
Die Musik hörte auf zu spielen. Sie wusste nicht genau, was gespielt wurde. Vermutlich Pachelbel oder Bach. Es war nur halb zu ihr durchgedrungen.
„Wir haben uns heute hier versammelt“, begann der Pfarrer, „um gemeinsam zu feiern. Um im Kreis eurer Lieben, in der Gemeinschaft der Kirche, in Anwesenheit eurer Familien und Freunde, den Bund fürs Leben zu schließen.“
Mateusz strahlte sie an. Ihm war es wichtig gewesen, ihren Bund vor Gott zu schließen. Seine blauen Augen glänzten, seine kurzen blonden Haare waren sorgsam gekämmt. Er trug einen einfachen, aber eleganten schwarzen Anzug, kombiniert mit einer lila Krawatte.
Svenja schmunzelte über die Farbe der Krawatte. Wie an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Was für eine süße Geste von ihm.
Der Pfarrer sprach weiter. Erzählte von der Bedeutung der Ehe, von ihren Verpflichtungen, aber auch ihrem Trost und ihrer Sicherheit. Nichts, was sie nicht die Erfahrung schon gelehrt hätte. Und doch stand sie jetzt hier.
Svenjas Cousine Clara las die Fürbitten. Zwischendurch spielte wieder Musik. Diesmal ein Lied, das sie kannte, das sie gemeinsam ausgesucht hatten. So viele Gäste, die sie begeistert und gerührt ansahen, waren um sie herum.
Ganz anders als beim letzten Mal.
Svenja blickte in die Menge. Viele Leute kannte sie nicht. Mateuszs Familie hatte sie nur ein paarmal getroffen, hatte kaum ihre Namen behalten. Jetzt besetzte die namenlose neue Verwandtschaft, die allesamt aus Polen angereist war, die Hälfte der Kirche. Ihre eigenen Tanten und Onkeln waren auch gekommen, jene kannte sie kaum besser. Die meisten waren nach der Wende weggezogen, wohnten in ganz Deutschland verteilt.
Ihre Großtante aus Hamburg sah sie mit Tränen in den Augen an, ein Taschentuch fest unter die Nase gepresst. Einer ihrer jüngeren Cousins blickte sich ungeduldig um, lehnte sich dann zurück, ließ den Kopf auf die harte Holzlehne der Bank kippen und schien wegzudösen. Ihre Eltern saßen in der ersten Reihe. Die Augen ihrer Mutter glänzten, ihr Mund zeigte ein zufriedenes Lächeln. Nur ihr Vater hatte die Augen besorgt, gar skeptisch, zusammengepresst. Als ihre Blicke sich trafen, gingen seine Mundwinkel rasch auseinander. Trotzdem hatte Svenja es gesehen und verspürte selbst ein kurzes mulmiges Ziehen im Bauch.
„Sind Sie hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit Ihrem Bräutigam Mateusz Szulc den Bund der Ehe zu schließen?“ Der Pfarrer sah sie erwartungsvoll an. Mateusz lächelte. Sie spürte die Blicke der Gemeinde in ihrem Nacken.
War sie das?
Wieder wanderte ihr Blick zu seiner lila Krawatte. Erinnerte sie sich an seine ersten Worte: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Sein leichter Akzent, sein breites, freundliches Lächeln. Die Krawatte, wie sie sich lose davonmachte, als er sich zu ihr beugte.
In diesem einen Satz war ihre ganze Beziehung zusammengefasst. Mateusz war ihr vom ersten Tag an eine große Hilfe gewesen. Eine Stütze, eine Schulter zum Anlehnen, ein verlässlicher Partner. Er würde für sie durchs Feuer gehen, das wusste sie. Er würde alles tun, damit sie glücklich wurde, und er würde ein hervorragender Vater sein, nie zu müde zum Spielen, immer ein offenes Ohr habend. Sie sah ihn, wie er mit den Kleinen durch den Garten tollte, sie sich gegenseitig mit dem Schlauch nass spritzten, wie er am Vorabend vor Weihnachten die Geschenke einpackte, mit Bändchen und Stickern versah, wie er die ganze Nacht am Kinderbett wachte, wenn die Kinder Fieber hatten.
Ja, sie hatte es sich reiflich überlegt. Sie liebte ihn. Sie liebte seine Fürsorglichkeit, seine positive Lebenseinstellung, seine Kraft. Sie liebte ihre Zukunft und das winzige Wesen unter ihrem Herzen. Svenja lächelte. Sie schob die Erinnerungen an die sanften Hände und blinzelnden Blicke entschlossen beiseite; die Bilder ihres jüngeren Ichs, barfuß, mit Blumenkranz im Haar; Bilder eines anderen Lebens. Dann sagte sie laut: „Ja.“
Sie kamen etwas abseits des Zeltes zum Stehen. Die Musik erreichte sie nicht mehr. Stattdessen hörte Svenja das leise Rauschen des Meeres und den Wind, der durch die Gräser fuhr. Er trug einen leichten Duft nach versengtem Schilf an ihre Nase. Ihre Hand lag nach wie vor in der des unbekannten Jungen. Sie war immer noch warm und sorgte für das anhaltende Kribbeln in ihrem Innern.
Dieses verwandelte sich nun in ein regelrechtes Ameisengewusel, als er ihr ganz dicht gegenüberstand und ihr in die Augen sah; immer noch das gleiche, kecke Grinsen auf den Lippen. Genau diese Lippen kamen jetzt näher und näher. Das Meeresrauschen verwandelte sich in ein Rauschen in ihren Ohren, ihr Herz klopfte wild dazwischen. Svenja war noch nie auf einem Rave gewesen, aber ungefähr so musste es sich dort anhören.
Als sein Gesicht schon verschwommen nahe war, hielt er inne. Als wollte er sichergehen, dass er keine Ohrfeige kassieren würde. Oder um Svenja Zeit zu geben, den letzten Schritt zu tun. Svenja wollte ihn keinesfalls ohrfeigen, war aber auch viel zu überwältigt, um den letzten Schritt zu tun. Also schloss sie die Augen und wartete ab. Dann endlich trafen seine Lippen auf ihre. Weich und sanft wie seine Hände, vorsichtig, gefühlvoll, und doch intensiv genug, dass ihr ganzer Körper brannte. Sein Kuss war kein Eindringen, keine Überwältigung, sondern ein Erwachen. Nie zuvor hatte ihr ganzer Körper bei einem Kuss gezittert, hatte sie gehofft, er würde nie enden.
Und doch tat er es. Sie ließ die Augen ein paar Sekunden länger geschlossen, um die Funken nachglühen, das Kribbeln nachwirken zu lassen. Als sie sie schließlich öffnete, grinste der Junge ihr wieder entgegen. „Hi. Ich bin Nils.“
Es dauerte einige Atemzüge, bis sie heiser hervorbrachte: „Svenja.“ „Hallo, Svenja.“ Jetzt blinzelte er wieder. „Möchtest du ein bisschen spazieren gehen?“
Svenja gab rasch Simone Bescheid, dass sie eine Runde drehen würde. Nach einem kurzen Blick zu Nils’ Tisch und einem breiten Grinsen wusste Simone Bescheid und nickte ihr aufmunternd zu. Jetzt ging Svenja schweigend neben dem fremden Jungen Richtung Strandpromenade. Ihre Arme hingen etwas unbeholfen hinunter, der Wind wehte ihr konstant die langen Haare ins Gesicht und sie fragte sich, was sie eigentlich hier wollte. Warum sie es nicht bei einem aufregenden Kuss belassen hatte. Sie führte ungern Gespräche, ihr fielen nie Themen ein, schon gar nicht mit Menschen, die sie nicht kannte und die gerade ihr Herz in Flammen gesetzt hatten. Doch natürlich wollte sie genau deshalb immer noch alles über Nils wissen. Und sie wollte definitiv noch mehr funkenentfachende Küsse.
Aber wo beginnen?
Im Schnelldurchgang zermarterte sie sich das Gehirn nach ersten, unverfänglichen Fragen, doch er kam ihr zuvor: „Also, Svenja, wie kommt es, dass ich dich noch gar nicht kenne? Bist du nicht von hier?“
„Doch“, antwortete sie leise, „bin ich.“
„Auf welche Schule gehst du?“
„Ich bin auf der Realschule in Zinnowitz. In der Abschlussklasse.“ „Ah, okay“, antwortete Nils. „Dann kann ich dich nicht gesehen haben. Ich bin am Gymnasium hier in Heringsdorf. Du wärst mir bestimmt aufgefallen.“ Wieder grinste er, diesmal von der Seite, und Svenja wurde wieder rot. Eigentlich mochte sie solche Floskeln gar nicht. Doch bei ihm klang es nicht wie eine Floskel. Seine Stimme war sanft und klar und hatte einen aufrichtigen Unterton. „Wohnst du in Zinnowitz?“, fragte er weiter, und Svenja war dankbar dafür. Sie war immer noch nicht in Schwung gekommen.
„Nein. In Neeberg.“
„Ah, im Achterland.“
Svenja nickte nur und war froh, dass keine abfällige Bemerkung à la, das sei die pure Einöde, kam. Sie mochte ihr kleines Dorf am Achterwasser, die alten Reetdachhäuser, die löchrigen Wege, die sie auf dem Fahrrad durchschüttelten. Aber vor allem die Ruhe. Wenn sie nachmittags am Ufer lag und nichts hörte außer Bienen, Vögel und das leichte Plätschern des Wassers.
„Wohnst du hier?“, stellte sie die Gegenfrage.
„Ja, in Heringsdorf.“
Sie waren an dem umwachsenen Weg angekommen, der den Strand entlang zum Zentrum führte. Immer wieder ragten ein paar vorwitzige Äste hervor. Nils drängte sie aufmerksam zur Seite, bevor sie Svenja ins Gesicht schnellen konnten. Sie grinste in sich und die Dunkelheit hinein, fand es süß, wie fürsorglich er war. Dann blieb er plötzlich abrupt stehen.
„Svenja“, sagte er und zog sie an sich. „Ich muss dich unbedingt noch mal küssen.“
Sie spürte ein Kichern, das jedoch von einem heftigen Atemzug verstummt wurde, der ihr entwich, als seine Lippen sich erneut näherten. Und wieder brannte alles in ihr, als sie sie spürte. Seine Hand auf ihrem Rücken drückte sie noch fester an ihn, sie krallte ihre in sein loses Hemd. Ein Verlangen keimte in ihr auf, ihre Beine um seine Hüfte zu schwingen und mit ihm in die Büsche zu taumeln; das Brennen zu befreien, ein ganzes Leuchtfeuer zu entfachen.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie, dass er sie immer noch geschlossen hatte, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Ganz langsam öffneten sie sich nun, er seufzte. „Svenja.“ Eine lange Pause folgte, in der er sie intensiv ansah. „Was machst du bloß mit mir?“ Er strich ihr über die Wange, strich ihr eine ihrer rebellischen Haarsträhnen zurück.
Was macht er bloß mit mir?, fragte sie sich. So unbändig und begierig kannte sie sich nicht, obwohl sie es mit jeder Faser ihres Körpers genoss. Eine Welle an Gefühlen machte sich in ihr breit, die sie noch nicht einordnen konnte, von der sie sich aber nur zu gern davontragen, ja, überrollen ließ.
Nils wechselte auf die andere Seite, an den Rand der Büsche, was sie wieder zum Schmunzeln brachte, und nahm ihre Hand. Umgehend beschlich sie ein Gefühl, als würde sie von nun an nie wieder eine falsche Abzweigung nehmen können, nie wieder ihren Weg verlieren, sich nie wieder sorgen müssen, egal, was sich ihr auch in den Weg stellen mochte.
„Wünschst du dir manchmal, einen Zauberstab zu haben, mit dem du in die Zukunft sehen könntest?“, fragte er und bewegte ihre ineinander verschränkten Hände sanft hin und her.
Die Frage traf Svenja ein wenig aus dem Nichts. Hatte ihr Kuss ihn dazu angeregt, über die Zukunft nachzudenken? Welche Gedanken waren das wohl?
Gleichzeitig suchte sie nach einer Antwort. Sie kannte sie ganz klar. Sie hatte sehr konkrete Vorstellungen von ihrer Zukunft. Doch sollte sie diese bereits mit Nils teilen? Vielleicht würde ihn das abschrecken. Andererseits – entweder kam er klar mit ihrer Zukunftsvision oder es wäre ohnehin besser, gleich zu wissen, dass er das nicht tat. Bevor sie zuließ, dass dieses entflammte Feuer sie verbrannte und ein Häufchen Asche hinterließ.
„Nein. Denn ich weiß eigentlich genau, was ich will“, antwortete sie also ehrlich, und mit einem leichten Zittern in der Stimme fuhr sie fort: „Ich möchte eine Familie. Ein paar Kinder, einen Mann, der mich liebt … Ein kleines Häuschen wäre auch schön.“ Nils blieb stehen und für einen Augenblick befürchtete sie, doch zu direkt gewesen zu sein. Oder zu simpel, weil sie nicht von einer großen Karriere oder fernen Reisen träumte.
Er drehte sich zu ihr und stand nun wieder ganz nah bei ihr. „Ist das so?“, fragte er leise. Dann legte er seine Hände in ihren Nacken und küsste sie wieder lange. So einfühlsam und doch sicher, als wollte er sagen: „Herausforderung angenommen.“
„Ich mag, dass du weißt, was du willst“, sagte er dann nur. Sie war kurz davor, ihn nach seinen Träumen zu fragen, als er ihre Hand nahm und sie mit sich zog. Sie kicherte. Schon jetzt mochte sie das. Diese Spontaneität, das Nichtwissen, was im nächsten Moment passieren würde, aber die Gewissheit, dass er offenbar einen Plan hatte.
Sie standen direkt vor der Villa Esplanade, einem schicken Seehotel, das in der Abenddämmerung wunderbar beleuchtet war. Zahlreiche kleine Lampen hingen an der vorderen Wand und über dem Eingang, wo ein roter Teppich ausgerollt lag. Davor waren zu beiden Seiten Tische mit Sonnenschirmen aufgebaut, sehr elegant bezogene Stühle, eine Menge violetter Blumendekoration, die die Nacht mit einem herrlichen, schweren Duft erfüllte.
Eine Hochzeit!, schoss es Svenja durch den Kopf. Ein Blick auf die Gesellschaft bestätigte ihre Vermutung: Männer in festlichen Anzügen, Frauen in hinreißenden, wallenden Kleidern, etwas weiter hinten erblickte Svenja sogar die Braut.
„Ein Prinz hat dieses Hotel Ende des 19. Jahrhunderts für seine Angebetete erbauen lassen“, erklärte Nils nun. „Ist das nicht ein absolut gelungener Ort für Hochzeiten?“
Svenja hatte keine Ahnung. So oft war sie nicht in Heringsdorf, und die großen, teuren Hotels ignorierte sie meist. Doch die Vorstellung war ungemein romantisch. Und die Tatsache, dass Nils ihr diese Geschichte erzählte, war noch viel romantischer.
„Ja“, sagte sie leise und lächelte.
„Komm!“ Wieder zog er sie mit sich, diesmal in Richtung Hoteleingang. Was … hast du vor?, wollte sie sagen, doch es ging alles viel zu schnell. Mit selbstsicherem Schritt trat Nils auf den Vorplatz, ihre Hand immer noch fest in seiner. Sie spazierten über den roten Teppich, als wären sie die Ehrengäste. Nils’ sichere Haltung und sein zielstrebiger Gang ließen gar keinen Zweifel zu, dass sie zur Gesellschaft gehörten, obwohl weder er – in schwarzen Jeans und lockerem weißen Hemd – noch sie – in ihrem luftigen Sommerkleidchen – dem Anlass entsprechend gekleidet waren.
Svenja warf einen Blick zur Braut, die ein weißes, bodenlanges Kleid trug, schulterfrei und mit einer riesigen Masche auf der Rückseite. Diese begeisterte Svenja weniger, aber der glückliche Blick der jungen Frau, die Art, wie sie ihren Brautstrauß an sich drückte, wenn sie sprach, ihre Blickwechsel mit dem Bräutigam, der ein paar Meter weiter mit anderen Verwandten sprach, diese Details regten Svenja zum Träumen an. Ob auch sie je diesen speziellen Tag mit ihrem Traummann feiern dürfte?
Nils hielt vor der Bar an, griff nach zwei gefüllten Sektflöten, reichte ihr eine, um dann wieder nach ihrer Hand zu greifen. Svenja kehrte aus ihrem Traumland zurück. Und so selbstverständlich, wie sie gekommen waren, spazierten sie über den roten Teppich hinaus auf die Seestraße.
„Ich kann nicht glauben, dass uns niemand bemerkt oder gestoppt hat!“, rief Svenja, als sie außer Reichweite waren.
„Natürlich nicht!“, gab Nils gelassen zurück. „Man muss nur sicher seinen Weg gehen, dann stellen dich andere auch nicht infrage.“ Dabei fielen ihm ein paar Haarsträhnen über die Stirn.
Svenja lächelte fröhlich. Sie strich sie ihm aus dem Gesicht, er küsste sie. Ganz kurz und trotzdem innig. Dann sah er sie wieder mit diesem abenteuerlustigen Blinzeln an. Die Funken sprühten in ihr.
„Gehen wir zum Strand“, schlug er vor, seine Stimme unverändert ruhig. Svenja mochte sie. Diesen warmen, dunklen Klang, den versteckten herausfordernden Unterton, der in allem mitschwang, wenn man genau hinhörte. Svenja mochte Nils.
Sie bogen auf die Strandpromenade ab, zu den gepflegten Rosenrabatten und den vielen Bänken, auf denen Touristen und Kurgäste die Abendstimmung genossen. Svenja inhalierte den leicht süßlichen Duft des Meeres, der sich mit den Pinienbäumen am Wegesrand vermischte.
Am Strand waren kaum noch Menschen. Einige Pärchen hatten sich versammelt, um die angenehmen abendlichen Temperaturen zu genießen. Die Strandkörbe waren leer und verschlossen. Ein paar sanfte Wellen umspielten die Holzpfeiler der neu gebauten Seebrücke, deren Lichter sich entlang des Steges auf der glatten Wasseroberfläche spiegelten.
Svenja und Nils setzten sich in den abgekühlten Sand.
Der Spaziergang zum Meer hatte sie aufgewühlt. Die ganze Zeit über hatte Svenja die Wärme seiner Finger gespürt, seinen festen Griff, seinen Daumen, der zärtlich über die Außenfläche ihrer Hand strich. Alles in ihr hatte wieder gekribbelt, die Welt verschwamm ein wenig vor ihren Augen, sie schwebte mehr, als dass sie ging. Sie fühlte sich hellwach und gleichzeitig, als wäre sie in einer Traumwelt gelandet. Ihre kaum vorhandene Restkonzentration hatte sie darauf gerichtet, ihr Sektglas festzuhalten.
Als sie nun nebeneinandersaßen, hielt er ihr sein Glas zum Anstoßen entgegen. „Schön, dass ich heute mit dir hier bin, Svenja.“ Sie stieß ihr Glas an seines, trank, konnte jedoch nicht vermeiden, zu hinterfragen, was er damit meinte. Heute mit ihr. Gestern mit Kathrin? Anke? Heike?
Er ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, legte den Arm um sie und drückte sie an sich. Drückte ihr einen Kuss auf die Haare, die wieder im Wind wehten, genau wie seine.
Svenja schloss die Augen, sog die Meeresbrise tief ein, ein Hauch Minze von seinem Shampoo schwang mit, in der Ferne sang eine Möwe ihr Abendlied.
Sie spürte seine Hand in ihrem Nacken, wie sie zärtlich über ihre Haut strich, sie kitzelte, kribbelte, ihren Atem und ihren Herzschlag beschleunigte. Sie sah ihn an. Er lächelte, ernst und eindringlich. Vielleicht sehnsüchtig? Dann waren seine Lippen wieder auf ihren. Zwischen ihren. Streichelten sie, liebkosten sie. Seine Zunge spielte mit ihrer, nicht ungeduldig, nicht fordernd. Neckisch, behutsam, ein bisschen provokativ. Absolut perfekt.
„Wir können das morgen wieder machen“, flüsterte er und küsste sie erneut.
„Und übermorgen.“
Wieder ein langer Kuss.
„Und alle Tage danach.“
Svenja kicherte glücklich, ließ sich in den Sand fallen, verschüttete ein wenig Sekt. Egal. Würde ohnehin nur für Schluckauf sorgen, und den konnte sie gerade nicht gebrauchen.
Nils ließ sich neben sie fallen, griff wieder nach ihrer Hand. Sie sahen in den immer dunkler werdenden Nachthimmel, sahen die ersten Sterne funkeln. In Svenjas Bauch fuhren die Ameisen Achterbahn. Wie konnte das sein? Wie konnte sie fünf Meter über dem Boden schweben mit jemandem, den sie vor einer Stunde kennengelernt hatte? Vielleicht würde sich gleich herausstellen, dass er keine Ahnung hatte, wer in Deutschland Präsident war oder wie die neuen Bundesländer hießen.
Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das gar nicht sein konnte. Dass er nichts tun oder sagen könnte, was diesen Moment weniger perfekt machen würde.
Also fragte sie nicht nach den neuen Bundesländern, sondern nur:
„Was sind deine Pläne nach dem Abi?“
„Ist ja noch ein Jahr hin“, gab er zurück.
„Das heißt?“
„Das heißt, dass wir auch nächstes Jahr noch darüber sprechen können.“ Selbst in der Dämmerung konnte sie erkennen, wie er sie verschmitzt anlächelte. Ihr Herz vollführte einen Sprung, denn Nils nahm offensichtlich an, dass sie auch im nächsten Jahr noch zusammen wären. Das konnte er eigentlich nicht. Niemand konnte nach so kurzer Zeit abschätzen, was passieren würde. Und trotzdem hatte sich in ihr die gleiche Sicherheit breitgemacht. Eine Vorahnung, dass sie an diesem Abend jemanden und etwas für die Ewigkeit gefunden hatte.
„Was willst du denn nach der Schule machen?“, erkundigte er sich.
„Außer, eine Familie zu gründen, meine ich“, und sie konnte sein Lächeln darin hören. „Was willst du beruflich machen?“
Svenja beobachtete den Abendstern und die kleineren Sterne, die um ihn herum strahlten. „Vermutlich werde ich in den Tourismus gehen. Wie alle eben. Was sollte man hier auch sonst machen?“
„Muss ja nicht hier sein“, warf er ein.
Svenja stieß Luft durch die Nase. Wo sollte sie sonst hin? Ihre Eltern hatten kein Geld, ihr ein Auslandsstudium oder eine Reise durch Europa zu finanzieren, um die Welt zu erkunden. Von einem Ort zum nächsten reisen, arbeiten, sparen, weiterreisen – dafür war sie zu planvoll und organisiert. Sie hätte vielleicht ein Stipendium beantragen können, zumindest irgendwo in Süddeutschland oder in einer der großen Städte. Doch tatsächlich reizte sie das nicht. Sie liebte das Meer, die Küste, ihre Insel.
„Ich bin eigentlich gern hier“, antwortete sie. Sie sah, dass Nils etwas beschäftigte, aber er sagte nichts. Fand er sie jetzt einfältig? Langweilig? Oder hatte er seine eigene Weltreise schon geplant? Warum sagte er es dann nicht?
Leichte Regentropfen durchbrachen ihre Gedanken, als diese auf ihrer Stirn landeten.
Sie setzten sich auf. „Schnell weg mit dem Sekt, bevor er zur Regenschorle wird“, meinte Nils lachend und trank den Rest in seinem Glas in einem Zug aus. Svenja tat es ihm gleich. Dann breitete sie die Arme aus. Sie liebte Sommerregen. Am liebsten wollte sie jeden Tropfen auf ihrer prickelnden Haut spüren. Sie stand auf, schüttelte ihre Sandalen ab und tanzte barfuß über den Sand, lachte dabei laut und glücklich. Der Wind fuhr durch ihre Haare, wirbelte ihr Kleid herum, sie tanzte nur noch wilder und lachte noch lauter. Tanzte und lachte vor Glück, das sie nicht hatte kommen sehen. Von dem sie nicht wusste, dass es existierte.
Nils saß da und sah ihr eine Weile zu. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen, das sie mehr erahnen als erkennen konnte. Irgendwann stand er auf, ging langsam auf sie zu, hob sie hoch, wirbelte sie herum. Dann legte er seine Hände in ihren Nacken, drückte sie an sich und küsste sie erneut, lange, innig und definitiv sehnsüchtig.
Svenja blickte in das kleine Gesichtchen ihrer Tochter. Entdeckte, obwohl sie erst ein paar Wochen alt war, ähnliche Gesichtszüge zu ihren eigenen. Erkannte die gleiche Form der Nase und der Augen, jedoch Mateuszs Mundwinkel und sein dünnes blondes Haar. Sie strich ihrer kleinen Rika über die Wange und erntete dafür ein Lächeln und fröhliches Strampeln. Ihre winzigen Füße füllten kaum die Wollsöckchen, die Svenjas Mutter gestrickt hatte. Die Bewegungen waren unkoordiniert und ruckartig. Und doch schien es Svenja, als wüsste die Kleine ganz genau, wo sie war, was sie tat, wenn sie sich an sie kuschelte und ihren Daumen drückte. Oder sie zu weinen begann, sobald sie Svenjas Nähe und Wärme nicht mehr spürte. Und sich beruhigte und fröhlich gluckste, sobald Svenja ihre Tochter wieder an sich drückte.
Svenja konnte den ganzen Tag am Bettchen der Kleinen verbringen. Oder auf dem Sofa, mit Rika im Arm. Sie wog sie hin und her, sang ihr Lieder vor, zog die Spieluhr auf, wenn ihr selbst keine Lieder mehr einfielen. Wenn sie mit ihrer Tochter kuschelte, war sie erfüllt von überwältigender Liebe. Einer Liebe, die sie so noch nie zuvor empfunden hatte. Einer Liebe, die nicht nur diesem kleinen Wesen galt, sondern der ganzen Welt. Einer Liebe, die auch Dankbarkeit war. Wenn sie kuschelten und Rika gluckste und strampelte und ihren Daumen hielt, war es alles wert gewesen; hatte sie keine Zweifel, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Sie hörte den Schlüssel im Türschloß und legte die schlafende Rika in deren Bettchen, um ihren Mann zu begrüßen.
„Hallo, Schatz“, sagte sie leise, obwohl sie außer Hörweite war und Rika auch meist dann nicht wach wurde, wenn vor ihrem Fenster der Presslufthammer tobte.
„Hallo.“ Mateusz lächelte sie an und drückte ihr einen kurzen Kuss auf den Mund. „Wie geht es dir? Wie geht es unserem Engel?“
„Alles okay“, antwortete Svenja und strahlte dabei. „Sie schläft.“
Auf Zehenspitzen schlich Mateusz in das kleine, verdunkelte Zimmer, in dem Rikas Bett stand. Als er zurückkam, hatte er das gleiche selige Lächeln auf den Lippen wie Svenja. Erst dann stellte er eine große Tüte auf dem Küchentisch ab.
„Ich habe alles eingekauft, was du aufgeschrieben hast. Ich habe sehr lange nach Thunfisch gesucht, ich weiß nicht … vielleicht stellen die jede Woche um. Heute war er hinter der Eiscreme.“ Er lachte.
Svenja war froh, dass sie ihn hatte. Dass er nie aus der Ruhe zu bringen war, nie verzweifelte, auch nicht an den kleinen Dingen des Alltags. Dass er alles mit Humor nahm und sich selten über etwas ärgerte. Sie selbst hätte vermutlich einfach keinen Thunfisch gekauft.
Mateusz begann, die Einkäufe auszupacken und einzuräumen. Auch das machte er besser als sie. Irgendwie schien er über ein eigenes Tetris-System zu verfügen, sodass er stets alles mühelos in der viel zu kleinen Küche unterbrachte. Auch im Kühlschrank schichtete er die Lebensmittel geschickt übereinander und passte danach den Temperaturregler an.
Svenja griff nach den Kartoffeln und begann, sie in Stücke zu schneiden. Die Suppe brodelte auf dem Herd vor sich hin und erfüllte die Küche mit einem herrlichen Zucchiniduft. „Wie war dein Tag heute?“
„Ach ja. Du weißt schon. Wie immer“, antwortete er und lächelte ihr dabei liebevoll zu. Ihr war klar, was das hieß: Sein neuer Chef hatte sich wohl wieder an ihm ausgelassen, ihn zu Unrecht zusammengestaucht oder ihm Aufgaben übertragen, die eigentlich nicht in seinen Bereich fielen. Er hatte sicherlich den ganzen Tag über Koffer rauf und runter geschleppt. Nicht schnell genug für seinen ungeduldigen Vorgesetzten. Und hatte am Ende des Tages sogar noch ewig nach Thunfisch gesucht. Und trotzdem stand er nun liebevoll lächelnd neben ihr und schnitt Zwiebeln klein, weil sie davon immer heulen musste. Eine Welle aus Mitgefühl und Liebe überkam sie. Sie legte das Messer aus der Hand, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn. „Danke“, sagte sie. „Danke, dass du es nicht mit nach Hause nimmst. Dass du das alles für uns tust.“ Sie sah ihm in die Augen, küsste ihn noch mal. „Dass du so unglaublich bist.“
„Natürlich!“, antwortete Mateusz. „Ihr seid meine Familie. Mein Glück. Mein Alles. Nichts ist schöner, als nach Hause zu kommen und bei euch zu sein.“
Trotzdem nahm sich Svenja vor, sobald es ging, wieder ein paar Stunden in der Kinderbetreuung zu übernehmen, um ihren Mann zu entlasten.
Sie umarmten sich und ein bisschen Saft von den Kartoffeln tropfte von Svenjas Finger auf seinen Pulli. Sie wischte ihn mit dem Geschirrtuch weg, er stupste auf ihre Nasenspitze. Sie tauchte einen Löffel in die Suppe, blies darauf und ließ ihn kosten. Er schloss genüsslich die Augen.
Rika begann zu weinen.
„Ich geh schon“, meinte Mateusz und wusch sich die Hände.
„Ganz sicher?“
„Ja, klar. Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen. Sie soll auch mal in den Armen ihres Papas einschlafen.“ Freudig stapfte er zum Kinderzimmer. „Juz idę kochanie“, rief er dabei und Svenja schnitt glücklich die Kartoffeln weiter.
„Hab noch ein schönes Leben, Svenja.“ Die Worte donnerten eins nach dem anderen auf sie ein, als befände sie sich in der finalen Runde eines Boxkampfes. In gewisser Weise war sie das auch. Und irgendwie überraschte es Svenja nicht, dass Nils’ Mutter sich mit diesem Satz von ihr verabschiedete. Für immer. Zumindest ihrer Ansicht nach. Noch einmal deutlich machte, dass Svenja in Nils’ Welt nichts zu suchen hatte.
Das hatte Svenja schon verstanden, als sie vor etwa einer Stunde vor diesem riesigen Herrenhaus gestanden hatten. Nils hatte über ihr Staunen nur gegrinst, ein wenig keck, ein wenig stolz, sie zu beeindrucken. Bis dahin hatte sie keine Ahnung gehabt, dass er aus einer wohlhabenden – nein, einer stinkreichen – Familie kam, die eine Hotelkette, verteilt über ganz Deutschland, besaß.
Nils war dieser Wohlstand nicht anzusehen. Er redete nie über seine Familie, über Zukunftspläne, über Geld. Trotzdem war es seine Idee gewesen, dass Svenja seine Eltern bei einem Abendessen kennenlernte. Sie waren seit knapp einem halben Jahr unzertrennlich, Svenja erschien es ein logischer Schritt, auf den sie sich eigentlich gefreut hatte. Doch dann stand sie vor der riesigen Eingangstür im von gefrorenen Rosenstöcken umrankten Vorgarten, sah an den drei Stockwerken mit den hohen, runden Fenstern empor, die in spitzen Türmchen gipfelten. Kleine Säulen und Balkone zierten die Vorderfront.
Ein Mann im Anzug öffnete ihnen die Tür und brachte sie in einen Salon mit einer langen Tafel. Nils’ Eltern standen davor. Vom ersten Augenblick an war Svenja klar gewesen, dass sie nicht hierhergehörte. Auch dass Nils’ Mutter das genauso sah, als ihr anfangs aufgesetztes Lächeln gefror wie die Rosen vor der Tür, nachdem sie Svenja in ihren einfachen Jeans und dem lockeren Sweater betrachtete. Ihre wilden, langen, vom Wind leicht zerzausten Haare begutachtete. Als sie schwer schlucken musste, weil Svenja aus Unwissenheit den Salat mit der falschen Gabel aß. Als sie ihr einen strafenden Blick zuwarf, weil sie einfach nach einem Brötchen griff, anstatt den Butler darum zu bitten, ihr den Brotkorb zu reichen. Aber vor allem, als der Mutter die Gabel aus der Hand fiel, weil Svenja offenbarte, dass ihr Vater Busfahrer war und ihre Mutter in einer Strandkorbmanufaktur Körbe knüpfte. Danach gab es für das Abendessen keine Rettung mehr, es ertrank in Schweigen. Nils’ Eltern wollten und brauchten nichts weiter zu wissen, konnten wohl nichts weiter hinnehmen ohne möglichen Herzinfarkt. Und Svenja träumte sich, wie sie es häufig tat, in ein Paralleluniversum.
Dabei stellte sie sich oft vor, wie ihr Fantasie-Ich eine andere Abzweigung nahm. Wo dieses gerade wäre und was ihm dort passieren würde. Wie es beispielsweise in einer besonders langweiligen Schulstunde über die holprigen Steine des Achterlandes radelte und die frische Brise des Wassers roch. Und auch in diesem Moment schien es Svenja absolut notwendig, ihr Fantasie-Ich agieren zu lassen, um diesen grässlichen Abend zu überstehen. Sie konnte es sogar verstehen, dass Nils’ Eltern ihretwegen keine Luftsprünge vollführten. Gleichzeitig wurde ihr klar, warum Nils das Treffen so lange hinausgezögert hatte. Trotzdem trafen die verächtlichen Blicke sie, die herablassenden Seufzer der Mutter, und selbstverständlich der abschließende Kommentar, der beinhaltete, sie brauche sich hier nicht mehr blicken zu lassen.
Nils hatte das Abendessen stoisch über sich ergehen lassen. Hatte die Blicke seiner Eltern ignoriert, generell kaum etwas gesagt. So schnell wie möglich mampfte er alles in sich hinein. Selbstverständlich mit der richtigen Gabel. Immer wieder drückte er Svenjas Hand, hielt sie fest, streichelte sie mit dem Daumen. Zwinkerte ihr von der Seite zu, als wollte er sagen: „Gleich haben wir es überstanden. Gleich sind wir hier raus, dann sind wir wieder wir.“ Den süffisanten Abschied seiner Mutter hatte Nils nicht gehört. Er unterhielt sich ein paar Meter weiter mit seinem Vater. Die Mutter drehte sich danach zu ihnen, Nils küsste beide kurz auf die Wangen, dann stapften sie zwischen den dürren, vereisten Rosen hinaus in die eisige Kälte, die Svenja jedoch viel wärmer vorkam als alles, was sie an diesem Abend im Inneren des herrschaftlichen Hauses empfunden hatte.
„Warum hast du mir nicht gesagt, was mich erwartet? Dass das alles so elegant ist? Ich hätte mich anders angezogen, anders vorbereitet“, warf sie Nils vor, als sie wieder auf der Straße waren.
„Ich mag dich genau so, wie du bist“, gab Nils zurück und hielt zur Bestärkung ihre beiden Hände. „Sie sollten keine verstellte, verklärte Version von dir kennenlernen. Sie sollten dich kennenlernen. Genau so, wie du bist. Genau so bist du absolut wunderbar.“ Svenja durchfuhr wie immer, wenn er ihr Komplimente machte, ein warmer Schauer. Trotzdem war sie ein wenig wütend. „Aber so hassen sie mich.“
„Sie hassen dich nicht.“ Sie gingen weiter. Mit der Hand, die nicht ihre hielt, machte er eine abtuende Bewegung. „Sie können es nur nicht ausstehen, dass ihr Sohn nicht der ist, den sie haben wollen. Dass er nicht immer die Entscheidungen trifft, die sie für mich vorgesehen haben.“
Svenja wollte nachfragen, welche Entscheidungen das waren. Wie seine Eltern sich das Mädchen an Nils’ Seite vorstellten. Doch eigentlich kannte sie die Antwort. Wohlhabend, aus gutem Hause, vielleicht mit einer anderen Hotelkette im Rücken oder auch einer Supermarktkette, aber definitiv nicht mit Eltern, die Busfahrer und Korbknüpferin waren.
„Sie haben über mein ganzes Leben entschieden, schon bevor ich geboren wurde.“ Nils blieb stehen, nahm erneut ihre zweite Hand. „Die Entscheidung, wen ich liebe, überlasse ich ihnen aber nicht.“ Es war nicht das erste Mal, dass er sagte, dass er sie liebte. Und doch klang es jedes Mal wie das erste Mal; fühlte es sich jedes Mal wieder so an. Trotz der Minusgrade breitete sich eine Welle der Wärme in ihrem ganzen Körper aus, trug sie davon, ließ sie fliegen. Svenja lächelte und küsste ihn. Spürte seine warmen, weichen Lippen in der kalten Brise auf ihrem Gesicht, was den Kuss noch zärtlicher machte, ihn zu einer Hülle aus Geborgenheit und Zweisamkeit werden ließ. Nils strich über ihre Wange, seine Wollhandschuhe kitzelten sie. Der Wind blies seine Haarsträhnen wild über sein Gesicht.
„Komm, lass uns irgendwo hingehen, wo es wärmer ist“, schlug er vor.
Svenja fragte sich, wo das sein sollte. Heringsdorf war angefroren, eine leichte Schneedecke lag über allem. Ein kalter Wind blies vom Ufer zu ihnen herüber. Tatsächlich wollte sie keine Minute länger als nötig im Freien verbringen. Andererseits wollte sie jede freie Minute mit Nils verbringen, vor allem jetzt, nach diesem furchtbaren Essen.
Ihre Eltern kannten Nils bereits, mochten ihn auch, trotzdem würde ihre Mutter alle fünf Minuten in der Tür stehen und ihnen Kekse und Kakao anbieten. Wohin sollten sie also?
Nils zog sie mit sich und sie spazierten mit schnellen Schritten ein paar Straßen weiter, bis sie vor einem kleinen Hotel standen. „Wir haben im Winter geschlossen. Niemand ist hier bis April.“
Seine Augenbrauen bewegten sich dabei keck nach oben.
„Und wie kommen wir dann rein?“
Statt einer Antwort zog er einen Schlüsselbund hervor. „Ich habe immer einen Schlüssel. In den Ferien arbeite ich hier.“
Svenja kicherte verlegen. Sie war noch nie in einem Hotel gewesen und schon gar nicht in einem derart eleganten. Mit ihren Eltern war sie bislang selten in den Urlaub gefahren. Und wenn doch, dann in ein Ferienhaus.
Nils öffnete die Eingangstür. Im Foyer war es kalt und dunkel. Es roch ein wenig abgestanden, nach Staub und Holz und … je weiter sie hineingingen, nach Rauch.
Vor einer großen Glastür blieben sie stehen. Svenja sah einen hohen, gemauerten Kamin, in dem Flammen loderten.
„Hast du das gemacht?“
„Ich war vor dem Essen hier.“ Seine Stimme war leise und hallte in dem riesigen, leeren Gebäude doch nach.
Sie gingen in den Salon und setzten sich auf ein weiches, samtenes Sofa, das direkt vor dem Kamin stand. Das Knistern der Flammen, die das Holz vernaschten, gab Svenja sofort ein Gefühl der Geborgenheit.