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Die junge Künstlerin Lara steht kurz vor ihrer Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Tobias. Doch dann kommen ihr Zweifel: War das wirklich schon alles? Ist er wirklich der Richtige? Ein Urlaub mit ihrer besten Freundin soll Klarheit verschaffen. Dabei begegnet sie Leon, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Aber ist ein heißer Flirt es tatsächlich wert, alles aufzugeben? Oder erwartet Lara doch etwas anderes von ihrem Leben? Ihr Weg zu sich selbst hält einige Abenteuer und Überraschungen bereit …
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Wie warmer Juliregen
Roman, erschienen im Selfpublishing durch:
Sandra Andrés
Wartberg 32
74906 Bad Rappenau
Mail: [email protected]
Lektorat: Simon Seichter, Rebecca Feist (Die flinke Feder)
Covergestaltung: Esther Jonitz
Format und Satz: Sandra Andrés
Druck: Amazon Media (on demand)
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm, über Social Media oder anderes) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gewidmet meiner Oma Evi,
die mich immer so geliebt hat, wie ich bin und mir das Gefühl gegeben hat, dass ich, egal was ich tue, richtig und gut bin, genau so wie ich bin.
Du wirst immer bei mir sein.
Anmerkung zum Buch:
Dieses Buch spielt auf Teneriffa, in Österreich und auf Kuba. Ich habe mich entschieden, die wenigen Dialoge der Muttersprachler in der Originalsprache zu schreiben. Diese tragen eine Fußnote.
Ich finde es als Leserin selbst immer wenig authentisch und recht anstrengend, wenn in Büchern alles auf Deutsch ist und daneben steht:
„…sagte er auf Spanisch“.
Wer nicht Spanisch spricht und auch nicht zwischen den Zeilen lesen oder raten möchte, der kann sämtliche gekennzeichnete* Sätze am Ende der betreffenden Kapitel in der deutschen Übersetzung nachlesen.
Ich wünsche Euch viel Freude und einen
schönen mehrsprachigen Urlaub – in Echt oder auf Papier!
Eine kleine Bitte noch …
Rezensionen sind für AutorInnen unglaublich wichtig. Nicht nur machen sie unser Buch bekannter. Es freut mich persönlich auch unglaublich zu erfahren, welche Stelle, was genau Euch besonders an
Wie warmer Juliregen
gefallen hat. Das bestärkt mich in meiner Arbeit
und macht mein nächstes Buch noch besser.
Also helft gern mit, wenn Ihr Wie warmer Juliregen fertig gelesen habt, es bekannter zu machen, und schreibt mir eine kleine oder große Rezension.
Ich danke es Euch und freue mich darauf.
Eure Sandra
1. Teil
Zurück zu mir
EINS
Nach Süden mit irgendetwas aus dem Norden
Es begann schon alles sehr aufregend.
Der Flug war für acht Uhr morgens angesetzt, was bedeutete: Um fünf Uhr dreißig aufstehen, über-ladene Koffer ins Auto schleppen, für alle Fälle Joghurt und Schokolade einpacken, Morgenkaffee auf dem Weg nach Wien, und eine Stunde auf dem Flughafen warten.
Als endlich die richtige Flugnummer auf dem Monitor erschien und unser Gate anzeigte, schoben wir uns durch die piepsenden Detektoren, gerade schnell genug, um das Gepäck vom Fließband zu nehmen, bevor die Inhalte am Ende des Bandes herausfallen oder vom Nachfolgegepäck eingeholt werden konnten.
Tobias hat meine Freundin Tanja und mich nach Wien gefahren und winkte nun hinter der Glastür beim Zoll so lange, bis wir außer Sichtweite waren. Der gute Tobias … in sechs gemeinsamen Jahren war es der erste Urlaub, den wir getrennt verbrachten. Normalerweise waren wir zwei es, die früh aufstanden, um eine Woche unter südlicher Sonne zu entspannen. Allerdings war das Aufregendste, was passiert war, dass Tobias sich erschrocken hatte, als eine Möwe auf ihm gelandet war, und er die Kamera hatte fallen lassen. Ein Tourist war dann draufgetreten, sodass sie nicht mehr zu retten war – genauso wenig wie der Rest des Urlaubs, der unspektakulär vorbeizog. Also hatte ich beschlossen, dass es wieder Zeit war für eine Reise mit meiner besten Freundin. Aber ich hatte auch noch andere Gründe …
Die restliche Zeit vor dem Abflug verbrachten Tanja und ich im Duty Free Shop. Wir kauften nichts, wollten nur alle Parfum-Neuheiten testen.
Jetzt sitzen wir im Warteraum und trinken noch mehr Kaffee, bis man uns schließlich zum Einsteigen aufruft. Von der Fluglinie, die uns nach Teneriffa bringen soll, habe ich noch nie gehört, und am Schalter konnte man mir nur sagen: »Irgendetwas aus dem Norden.«
Soviel ließ auch der Name der Airline vermuten, vielen Dank. Vor dem Einsteigen bin ich so sehr damit beschäftigt, die Maschine nach dunklen Stellen, Löchern oder ähnlichen Defekten abzusuchen, dass ich ganz vergesse, Tobias zuzuwinken, der am Tower steht. Meine Freundin, keinen halben Meter hinter mir, macht mich mit Knuff und Augenwink darauf aufmerksam, als ich schon mit einem Bein im Flugzeug stehe. Ich drehe mich hastig um, winke, setze sogar ein gekünsteltes Lächeln auf, obwohl er es aus der Ferne ohnehin nicht sehen kann, und verschwinde im Flugzeug. Selbst mein Lächeln für die Stewardessen, die mir eine Zeitung anbieten, ist überzeugender.
Tanja und ich haben beide schreckliche Flugangst. Trotzdem hält uns das nie davon ab, jedes Jahr in Richtung Süden abzuheben, um ein paar Tage dem feuchten, düsteren Sommer zu entfliehen, der uns in den letzten Jahren den Juli zum Oktober gemacht hat. Vermutlich vertrauen wir doch auf die moderne Technik, oder hoffen – wie wohl alle Leute –, dass es nicht genau uns passieren wird. Das letzte Mal sind wir allerdings kurz vor Beginn meines Kunststudiums gemeinsam geflogen.
Jetzt sitzen wir also in Reihe 16 – kein schlechter Platz, wenn man die Reihenfolge der Essensausgabe bedenkt und noch dazu direkt am Notausgang – und warten darauf, in die Lüfte zu steigen. Keiner von uns fällt auf, dass wir Verspätung haben, dazu sind wir viel zu sehr damit beschäftigt, nicht ans Fliegen zu denken, das Gepäck zu verstauen, zum x-ten Mal die Sicherheitsmaßnahmen zu lesen und den Gurt noch fester zu zurren.
Leider ist das Bordpersonal nicht gnädig genug, uns in unserer glücklichen Unwissenheit zu lassen. So spricht der Kapitän jetzt in sehr nordisch angehauchtem Englisch von electrical problems. Unsere Hände verkrampfen sich, wir halten den Atem an, versuchen, ruhig zu bleiben. Elektronik ist ja nicht so schlimm, hat keinen Einfluss auf die Flugtauglichkeit, versuche ich mich zu beruhigen. Vermutlich das Cockpitradio oder der Blinker. Hat ein Flugzeug überhaupt einen Blinker?
Zwei Minuten später zerstört die deutsche Übersetzung unsere Illusionen.
Elektronische Probleme an der Triebwerkszündung.
Triebwerkszündung?
Ist das Triebwerk nicht eigentlich verantwortlich dafür, das ganze Ding in der Luft zu halten?
Scheiße.
Panik.
Schweißausbruch.
Zittern am ganzen Körper.
Platzangst.
Tanja und ich sehen uns an, die Angst steht uns beiden ins Gesicht geschrieben. Zu allem Übel ist die Flugzeit zu früh am Morgen angesetzt gewesen, um das an sich obligatorische Gläschen Wein an der Flughafenbar zu trinken.
Na immerhin rieche ich gut, falls wir abstürzen – und einen Fensterplatz habe ich auch abbekommen, ganz nahe an den Tragflächen und bei den Triebwerken, also alles unter Kontrolle.
Tanja greift nach meiner Hand, während das Flugzeug sich schließlich doch noch in Bewegung setzt und in Richtung Startbahn rollt.
Nochmal Gurt festschnallen, nur, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich hält. Der Stewardess genau zuhören, als sie von der Schwimmweste zu sprechen beginnt.
Full Stop.
Dann hört man die Motoren aufheulen, wir setzen uns in Bewegung … und tschüß. Hoffentlich nicht für immer!
Die Anspannung ist noch zu groß, keine von uns sagt ein Wort. Nach einigen Minuten haben wir unsere endgültige Flughöhe erreicht. Die Stewardess macht ihre erste Runde mit den Getränken. In dieser Extremsituation finde ich, ist ein Glas Rotwein um halb neun Uhr morgens absolut zu rechtfertigen. Nachdem ich die Hälfte des Glases in einem Zug geleert habe, fühle ich mich schon ruhiger. Leider gibt es statt des lang ersehnten Frühstücks nur einen Snack, der aus einem Ciabatta-Brötchen mit Käse und Kaffee besteht. Bloß nicht noch ein Kaffee! Ich bin schon nervös genug – vor allem, wenn ich daran denke, dass das Triebwerk möglicherweise kurz vor Teneriffa doch noch den Geist aufgeben könnte.
Wir überfliegen Italien, Frankreich … könnte schlimmere Orte zum Abstürzen geben. Vielleicht können wir ja rechtzeitig notlanden, direkt neben dem Eiffelturm bitte.
Nicht verrückt machen. Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Erstmal auf die Toilette, dann werde ich mich gleich besser fühlen. Ich wecke den Sitznachbarn am Rande unserer Reihe, den die Triebwerksprobleme offenbar nicht beeindrucken konnten, da er eingenickt ist – oder versucht er, seine Panik durch Schlaf zu verdrängen? Keine schlechte Methode eigentlich. Warum klappt das bei mir bloß nicht? Vielleicht liegt es am Kaffee.
Ich taumle bis zum hinteren Teil des Flugzeugs, wo die WC-Kabinen sind. Dabei muss ich an den Fernsehbericht denken, den ich letzte Woche mit Tobias sah. Darin wurden einem Mann fast die Eingeweide herausgerissen, als er die Spülung des Bord-WCs betätigte. Hilft alles nichts. Muss jetzt sein, sonst platzt meine Blase. Nächstes Mal nicht so viel fernsehen vor dem Abflug. Vor lauter Grübeln über ins WC gesaugte Körperteile, fliegende Urin-Eiswürfel, die Autos treffen – ja, die gab es auch im Bericht –, und ausfallende Triebwerke, erwische ich die falsche Tür und habe ordentlich sortierte Tücher, Besteck und Parfums vor meiner Nase. Ich schließe die Tür hastig wieder, drehe mich um und öffne die auf der gegenüberliegenden Seite. Zu spät, mein Fauxpas wurde bereits von den hinteren Reihen bemerkt. Ich verschwinde eilig hinter der richtigen Tür und schließe ab.
Als ich an meinen Platz zurückkomme, wecke ich den jungen Mann erneut, werfe ihm einen entschuldigenden Blick zu, als ich bemerke, dass jetzt auch Tanjas Platz leer ist. Anscheinend besetzt sie das zweite WC.
»Hast es nicht leicht mit uns, was?«, spreche ich ihn etwas peinlich berührt an. Note to self: Nächstes Mal trotz Vorflugangst und dem Versuch, den Kreislauf zu stabilisieren, und trotz Fluges im Morgengrauen, nicht so viel Kaffee.
Aber er winkt nur ab, lässt mich durch und schläft wieder ein. Zumindest für ein paar Minuten, bis Tanja zurück-kommt. Kaum sind wir alle wieder auf unseren Plätzen, fest angeschnallt und immer noch den Blick starr aus dem Fenster auf die Triebwerke gerichtet, werden auch schon die leeren Becher und verschmutzten Servietten einge-sammelt, und wir setzen zum Landeanflug an. Unter uns kann ich schon eine ganze Weile nur noch das unendliche Blau des Ozeans beobachten. Noch fünfzehn Minuten, dann ist es überstanden. Sofern die Landung gut geht. Bald liegen wir unter Palmen am endlosen Sandstrand, lassen uns von hübschen Spaniern Cocktails servieren und fühlen das Salz auf unserer Haut. Wenn wir dann beim Rückflug abstürzen, ist es nicht mehr so schlimm. Dann hatten wir wenigstens noch eine schöne Woche.
ZWEI
Erster Abend in der Ananas
Doch natürlich kommt es anders.
Bereits am Terminal passt uns eine Frau in blauer Uniform ab und bringt uns zum Schalter unseres Reiseveranstalters. Dort teilt uns eine weitere blau uniformierte Dame in schwer verständlichem Englisch mit, dass unsere Reservierung vom Hotel zurückgewiesen worden sei. Überbuchung kommt im Sommer andauernd vor. Man habe uns umgebucht, aber keine Sorge, es sei ohnehin ein besseres Hotel.
Das sagen sie immer.
Zweifelnd sehe ich die freundlich lächelnde Dame hinter dem Schalter an.
»Same categorrii, betterr serrvis and verry good care1«, versucht sie uns zu überzeugen. Als hätten wir eine andere Wahl. Ohne weitere Erklärungen nimmt sie meine Reiseunterlagen, streicht das gebuchte Hotel durch und schreibt stattdessen handschriftlich darüber: Piña del Mar. Ananas des Meeres? Wohl kaum. Vermutlich ist mein Spanisch völlig eingerostet.
Mir kommen ernsthafte Bedenken, ob die Rezeption des neuen Hotels dieses Gekritzel anerkennen wird und sehe uns schon die Nacht am Strand verbringen. Aber gut, warum nicht? Hat auch etwas für sich. Zwei junge, flexible, abenteuerlustige Frauen, all unsere Kleidung, die wir mitgenommen haben, zum Schutz über uns ausgebreitet, Handgepäck als Kissen. Wir wollten ja etwas Aufregendes erleben und keinen langweiligen All-Inclusive-Urlaub!
Wir verlassen das Gebäude und folgen Uniformfrau Eins. Mit unseren viel zu schweren Koffern, die Garderobe für mindestens drei Urlaubswochen beinhalten – man weiß ja nie, was auf einen zukommt – hieven wir uns durch die Drehtür. Die typische salzige, südländische Meeresluft, vermischt mit dem Duft von Pinien, schlägt uns gleich entgegen. Ich nehme einen tiefen Atemzug und fühle mich sofort wie im Urlaub, trotz aller Hindernisse. Vergessen das Triebwerk, die vielleicht bevorstehende Übernachtung am Strand, nur noch diese unglaubliche Luft. Unvorstellbar, wie ich über elf Monate im Jahr ohne sie existieren kann.
Auf dem großen Flughafenparkplatz stehen die Reisebusse in mindestens zehn Reihen zu je acht Bussen. Ein weiterer Mitarbeiter – diesmal in rot – deutet auf die achte Reihe und ruft uns die Busnummer auf Spanisch zu. Wir folgen seinem Zeigefinger, Tanja bleibt am Anfang der Reihe stehen und bewacht die Koffer. Ich sehe die Nummern-schilder durch, die in den Windschutzscheiben der Busse hängen. Als ich glaube, das richtige entdeckt zu haben, winke ich Tanja zu. Der Busfahrer, ein Spanier mittleren Alters mit zerzausten Haaren, fragt uns auf Spanisch, wohin wir wollen. Tanja nennt spontan den Namen des gebuchten Hotels, und er schüttelt gestresst den Kopf, verweist uns zwei Reihen weiter.
»No, no! Piña del Mar«, korrigiere ich. Dieser seltsame Name hat sich gleich in meine Gehirnwindungen eingebrannt.
»Sí.« Er deutet weiter auf die andere Seite, sichtlich irritiert darüber, dass wir offenbar nicht wissen, wo wir hinwollen. Einen Moment lang scheint er zu überlegen, ob wir möglicherweise versuchen, uns durchzuschmuggeln und überhaupt keinen Transfer gebucht haben. Er fuchtelt weiterhin nach rechts. Wir nehmen unsere Koffer und gehen zwei Reihen weiter. Vielleicht habe ich mich doch in der Nummer geirrt.
»Piña del Mar?«, frage ich den nächsten Busfahrer. Er nickt, stopft unser Gepäck ungeduldig in das überfüllte Fach und drängt uns hinein. Anscheinend sind wir die letzten Passagiere für den Bus. Drinnen ist bereits alles besetzt. Im hinteren Teil rückt eine Frau nach rechts und macht einen Sitzplatz frei. Wir beschließen, uns beim Stehen abzu-wechseln, und ich setze mich zuerst. Der Chauffeur zählt durch. Vor Tanja, die sich, um ihn vorbeizulassen, auf die Lehne eines anderen Passagiers gequetscht hat, bleibt er verdutzt stehen. Er fragt sie etwas auf Spanisch, murmelt vor sich hin und schiebt sie zurück nach vorne. Auf der linken Seite, nur wenige Reihen hinter seinem Fahrersitz, hat er einen Platz für sie ausfindig gemacht. Hastig gibt er ihr zu verstehen, sich hinzusetzen.
Die Reiseleiterin, eindeutig Deutsche, erklärt uns, dass die Fahrt etwa 60 spanische Minuten dauern wird. Ich bin neugierig, was das bedeuten mag und lehne mich entspannt zurück. Eine Weile genieße ich die ersten Eindrücke von Teneriffa – Palmen, Felsformationen, Pinienbäume und Kakteen. Schließlich schlafe ich ein.
Im Hotel angekommen, strecke ich der Rezeptionistin ganz selbstbewusst unsere handschriftlich abgeänderte Reser-vierungsbestätigung entgegen, damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, wir könnten hier falsch sein. Gott sei Dank gibt es keine weiteren Probleme. Sie lässt uns zwei Blätter ausfüllen, in denen wir Auskunft über Wohnsitz und Alter geben, verlangt unsere Ausweise und überlässt uns den Schlüssel zu Zimmer 702.
Nachdem wir uns mitsamt des Gepäcks in den winzigen Lift gepfercht haben und einen weiteren Moment der Panik erleben dürfen, als dieser kurz vor dem Ziel einen heftigen Ruck macht, stehen wir vor unserem Zimmer im siebten Stock. Es ist nicht übermäßig groß, hat aber einen hübschen kleinen Balkon, dessen Aussicht ich wegen eines mehr oder weniger gesunden Respekts vor Höhen erstmal meide. Es ist zwei Uhr nachmittags, und wir brauchen keine halbe Stunde, um den Reiseschweiß abzuwaschen, uns einzucremen, umzuziehen und an den Strand zu legen.
Wir entdecken auch gleich zwei freie Liegestühle unter einem der vielen Strohschirme und breiten erleichtert und müde unsere Handtücher darauf aus. Trotz der, für die Ankunft neuer Badegäste eher ungewöhnlichen Stunde, entgehen wir dem Beach Boy nicht. Kaum haben wir uns entspannt ausgestreckt und lassen uns vom Rauschen des Meeres einlullen, kommt er gesprintet und zückt die Brieftasche.
Das nächste, das gefühlte zehn Minuten später meinen Halbschlaf im Schatten unterbricht, ist eine männliche, englisch sprechende Stimme. Ich blinzle zwischen den Sonnenstrahlen, die hinter dem Schirm hervorlugen, hindurch und halte mir die Hand vors Gesicht, um ihn genauer mustern zu können. Süß, etwa unser Alter, braun gebrannt, nackter Oberkörper, blondes, von der Sonne gebleichtes Haar.
»I’d like to invite you to come to D3 tonight. It’s a London-style club at the end of Alosa Street2«, erklärt er mit britischem Akzent und streckt mir ein kleines, schwarzes Kärtchen entgegen. »There’s a map on the back. If you come before one o’clock, the entry is free.2«
Ich lächle ihn erstmal an.
»Okay.« Mein Blick schweift hin und her zwischen seinen mich anblitzenden Eyes, seinem braungebrannten Body und dem Flyer.
»Fine, see you then!2«
»Okay«, ist immer noch alles, was ich erwidere, weil ich viel zu abgelenkt bin. Ich schenke ihm ein Lächeln, und er eilt los zum nächsten Schirm.
»Der war süß!«, meldet sich jetzt auch Tanja zu Wort.
»Ja.« Ich habe meinen Blick immer noch auf ihm haften.
»Ich glaub’, hier wird uns nicht langweilig«, meint sie und lehnt sich wieder zurück in ihren Liegestuhl.
An unserem ersten Abend sitzen wir nach dem Essen auf dem kleinen Balkon, auf dem sogar ein Tisch und zwei Stühle Platz haben. Ich überwinde meine Höhenangst während der ersten Flasche Sangria. Wir schenken ihn in die Zahnputzbecher des Hotelzimmers ein und stoßen in der abendlichen Schwüle der Dämmerung an. Trotz Schraubverschlusses ist es ein akzeptabler Sangria für wenig Geld, in einer ungewöhnlich hellen Farbe. Es ist kurz nach acht, und wir sind beide von der Anreise erschöpft. Wir beschließen, nur einen kurzen Bummel durch die Stadt zu unternehmen, um uns ein bisschen zu orientieren und am nächsten Abend Zeit zu sparen. Vielleicht noch ein Gute-Nacht-Drink und dann ab ins Bett, ausschlafen, morgen fit aufstehen.
Ich tippe gerade eine Nachricht an Tobias, lasse ihn wissen, dass wir gut angekommen sind, als Tanja sich erkundigt: »Und, was hast du jetzt vor?«
Wir reden also gleich darüber, über das heikle Thema. Ich weiß, was sie meint. Es ist die gleiche Diskussion zwischen uns, seit Monaten. Ich überlege, ob ich schon genug Wein hatte, um sie auf mich zu nehmen.
»Keine Ahnung. Erstmal abwarten. Urlaub genießen, nachdenken, den Kopf frei kriegen.«
»Ist es denn jetzt besser?«, fragt sie weiter. Die letzten Monate habe ich ihr permanent die Ohren vollgeheult, dass ich unglücklich bin, dass ich so nicht weiter machen kann, dass ich jeden Abend Bauchschmerzen bekomme bei dem Gedanken, nach Hause zu fahren. Unweigerlich erinnere ich mich an unsere Anfangszeiten, als wir unzertrennlich waren, ich es nicht erwarten konnte, Tobias am Abend zu umarmen.
Ich schüttle den Kopf.
»Ich weiß auch nicht. Das Problem ist, dass ich mir eine Zukunft mit Tobias vorstellen kann. Er ist geduldig, gutherzig, großzügig. Ich sehe ihn als Vater meiner Kinder. Und ich glaube, dass mir nicht unbedingt langweilig mit ihm wird.«
»Aber auch nicht, dass er dich glücklich macht«, wirft sie ein. Es hat keinen Zweck, sie anzulügen, sie weiß ohnehin Bescheid. »Jetzt bin ich es zumindest nicht, und das werde ich auch nicht sein, wenn es so weitergeht.«
Ich starre auf den Schriftzug des gegenüberliegenden Hotels, der in der hereinbrechenden Dunkelheit zu leuchten beginnt. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich aufgehört habe, glücklich zu sein. Ich kann mich an keinen konkreten Moment erinnern, nichts, was passiert wäre. Kein großer Streit, kein Betrug, keine Ent-täuschungen. Irgendwann hat das Glück uns einfach verlassen. Wie ist das passiert? Was ist aus unseren Träumen geworden? Haben sie sich verändert? Haben wir uns verändert? Einmal dachte ich, er sei genau das, was ich wollte, alles was ich brauchte.
Wir hatten so viele Pläne, schon gemeinsam Häuser besichtigt, Möbel ausgesucht. Ich erfreute mich an wallenden Hochzeitskleidern, er etablierte sich in seinem Job. Alles lief perfekt.
Vielleicht war es genau das, das mich so erschreckte – die Routine, die Reibungslosigkeit. Vielleicht habe ich mich einfach aus unserem Glück herausgelangweilt.
»Als ich jünger war, hatte ich diese Vorstellung von einer perfekten Beziehung, die immer aufregend ist, oder zumindest immer wieder«, mache ich meinen Gedanken Luft. »Die mich herausfordert, für die ich mich anstrengen muss, manchmal vielleicht auch kämpfen, die aber immer wieder aufs Neue ihr Feuer entfacht. Und genau das ist es eben nicht. Und irgendwo da drin«, ich lege meine Hand symbolisch auf mein Herz, »ist dieses sechzehnjährige Mädchen mit ihren Vorstellungen immer noch. Und ich bin nicht bereit, das einfach aufzugeben. Ich kann mich nicht mit etwas zufriedengeben, das nicht mein Feuer entfacht.« Ich trinke mein Glas aus und schenke nach. »Ich bin einfach nicht mehr … verliebt. Ich sehne mich nicht danach, dass er mich in den Arm nimmt und küsst. Er fehlt mir nicht, wenn er spät nach Hause kommt. Es ist kein Kribbeln mehr da, schon seit einer Ewigkeit nicht mehr.«
»Und, lass mich raten, du bügelst um acht Uhr abends, damit du erst fertig damit bist, wenn er eingeschlafen ist, sodass ihr keinen Sex habt«, deckt sie mich auf.
Ich sehe sie verblüfft und etwas beschämt an. Und in dem Moment wird mir klar, dass ich in der gleichen Situation bin, wie sie ein Jahr zuvor, als sie kurz davor stand, Schluss zu machen, es aber so lange nicht schaffte. Jeder wusste damals, dass es nicht mehr lange gehen würde, dass sie unglücklich war, und trotzdem dauerte es ein halbes Jahr, bis sie sich endlich dazu überwand. Nur jemand, der sich schon einmal so gefühlt hat, kann alle Tricks kennen, die man in einer solchen Lage anwendet.
»Wie lange schon?«, fragt sie leise.
Ich versuche, mich zu erinnern. Wann ist das letzte Mal etwas zwischen Tobias und mir gelaufen? Ich weiß es nicht einmal mehr. An unserem verlängerten Wochenende in Wien? Nach der Geburtstagsfeier seines Bruders, als wir betrunken nach Hause torkelten? Nein. Es war später. Als Tobias von seiner Dienstreise zurückkam.
»Zwei, drei Monate«, gestehe ich kaum hörbar.
Ein Seufzer der Verblüffung entweicht ihr.
»Und da ist ihm noch nichts aufgefallen?«, fragt sie ungläubig.
»Doch, ich denke schon. Er hat es ein paar Mal angesprochen. Aber ich habe immer Ausreden. Lernstress, Erschöpfung, Abschlussprüfungen … Und nicht zu vergessen, die klassischen Kopfschmerzen!« Sie muss lachen, aber ich merke, dass auch Mitgefühl dabei ist.
»Warum ist es so schwierig? Warum bin ich zu feige, es einfach zu beenden?« Ich leere mein Glas in einem Zug.
»Ich weiß nicht, aber es ist schwierig. Man hängt an der anderen Person, an dem Gewohnten. Es bedarf auch absoluter Sicherheit. Ich glaube, es muss erst richtig unerträglich sein, um sicher zu sein, dass es nicht die falsche Entscheidung ist.«
»Darum bin ich hier«, gestehe ich. »Ich hoffe, etwas Abstand zu gewinnen, einen klaren Kopf zu bekommen. Die Seele baumeln zu lassen. Vielleicht komme ich dann zu einer Lösung.«
Eine knappe Stunde später bummeln wir die immer noch geschäftige Fußgängerzone entlang, sehen Malern und Haare knüpfenden Frauen zu, bleiben da und dort stehen. Tanja scheint sich schon gut zurechtzufinden, als sie mich in Richtung Strand lotst, um der Geschäftsstraße zu entgehen und über die ruhige Promenade zurück zum Hotel zu schlendern. Zu unserer Freude stellen wir fest, dass die Disco des hübschen, braungebrannten Beach Boys vom Nachmittag fast gegenüber unseres Hotels liegt. Die anfangs unerwünschte Umbuchung stellt sich also doch als ganz vorteilhaft heraus. Noch vier weitere Clubs machen wir ausfindig, während wir uns den Weg ans andere Ende der Promenade bahnen.
Aber heute gehen wir es erstmal ruhig an. In einer einladenden Strandbar nehmen wir einen Schlummertrunk. Wir lassen uns in zwei gemütliche Korbsessel fallen. Ich bestelle einen der spanischen Weine, die hier im Vergleich zu daheim trotz Touristenpreisen fast lächerlich günstig sind, Tanja nimmt ein Bier. Aus einem werden zwei, und aller guten Dinge sind drei, und schließlich stolpere ich bereits an unserem ersten Abend leicht angeheitert in meinen schwarzen Pumps in die Ananas.
1: Same category, better service and very good care - gleiche Kategorie (gleichwertig), besserer Service und sehr gute Versorgung.
2:I’d like to invite you to come to D3 tonight. It’s a London-style club at the end of Alosa Street - Ich würde Euch gern heute Abend ins D3 einladen. Das ist ein Club im Stil von London, am Ende der Alosa-Straße.
There’s a map on the back. If you come before one o’clock, the entry is free. - Ein Plan ist auf der Rückseite. Wenn Ihr vor ein Uhr kommt, ist der Eintritt gratis.
Fine, see you then! - Alles klar, wir sehen uns später.
DREI
Flirting in the Moonlight
Am nächsten Morgen sitzen wir zeitig beim Früh-stück, frisch wie die Meeresbrise, die auf unseren Balkon weht. So etwas wie Kopfschmerzen oder Schwindelgefühl nach Übermüdung und Alkoholgenuss scheint es auf dieser wunderbaren Insel aus irgendeinem Grund nicht zu geben. Ich könnte schon wieder ein Glas Sekt trinken. Doch ich muss zu meinem Bedauern feststellen, dass es keinen Sekt zum Frühstück gibt. Wir beschränken uns daher auf frisch gepressten Orangensaft und streichen uns Nutella aufs Croissant.
Dann verbringen wir den ganzen Tag am Strand, sehen nur kurz auf, um dem Beach Boy die Schirme zu bezahlen, oder um mit den Jungs zu flirten, die vorbeikommen, um mit Flyern für ihre Discos und Pubs zu werben.
Auf dem Rückweg vom Strand kaufen wir zur Ein-stimmung gleich zwei Flaschen Wein, öffnen die erste bereits vor dem Duschen, leeren sie bis um halb zehn und schaffen die zweite bis zur Hälfte, bevor es Zeit ist, aufzubrechen, um noch rechtzeitig in die Disco zu kommen, bevor Eintritt zu zahlen ist.
Zum ersten Mal seit langem bin ich wieder richtig in Ausgehlaune. Die Urlaubsstimmung ist völlig bei mir angekommen. Tobias und ich gehen höchstens mal ins Kino, oder auf ein Glas Wein am Wochenende. Tanzen war noch nie sein Ding, nicht einmal, als wir uns kennen lernten. Das war ironischerweise auf meinem Abitur-Abschlussball. Getanzt haben wir da auch nicht, hauptsächlich gequatscht. Am nächsten Tag haben wir uns in einem Eiscafé verabredet und seitdem keinen Tag getrennt verbracht.
Aber heute möchte ich tanzen. Und vielleicht ein wenig flirten – ganz harmlos. Meine tristen Gedanken wegtanzen, mich treiben lassen, den Abend und ein bisschen Freiheit genießen.
Nach mehrfachem Umziehen und Rat aus dem Weinglas, entscheide ich mich deshalb für einen schwarzen Salsarock – immerhin sind wir trotz der Entfernung zum Festland in Spanien – und ein zartes Top aus hauchdünnem, durch-sichtigem Chiffon. Noch ein Erinnerungsfoto an das perfekte Styling samt passender Ohrringe und dezentem Make-up, dann stürzen wir uns leicht angeheitert ins Nachtleben.
Es bleibt noch Zeit für einen Cocktail vor der Disco. Man soll schließlich auch nicht zu früh aufkreuzen, das verdirbt den Auftritt. Es dauert auch keine fünf Minuten, bis uns ein junger Spanier in perfektem Deutsch anquatscht und dazu überredet, ins Moonlight mitzukommen: Eine Bar, nur zwei Straßen weiter, wo heute Abend, wie er uns begeistert vorschwärmt, Beachparty ist. Da es uns egal ist, wo wir uns betrinken, folgen wir ihm bereitwillig. Die Zeit ist mittlerweile ohnehin zu knapp, um lange zu suchen. Ein schneller Drink und auf zum Tanzen.
Er begleitet uns in eine mit Fischernetzen dekorierte, nur von Teelichtern auf den Tischen beleuchtete Bar, schon fast an der Strandpromenade. Wir setzen uns an einen Tisch am Rand, sehen kurz die Karte durch, als der Kellner kommt. Mir fallen sofort seine angriffslustigen Augen auf, die uns unter seiner schwarzen Fischerkappe anfunkeln.
»English? Deutsch? Español?«, spricht er uns an, noch bevor er uns ansieht oder grüßt.
»Deutsch«, antworten wir fast gleichzeitig.
»Woher seid ihr?«, fragt er in perfektem Deutsch weiter. Fasziniert von seinen funkelnden Augen, mustere ich ihn eingehend, nicht sicher, ob er diesen Satz nur für Touristen perfekt einstudiert hat, oder Deutsch tatsächlich seine Muttersprache ist. Zu oft habe ich in früheren Urlauben erlebt, wie Leute mich als Verkaufsmasche mit ein paar Worten Deutsch dazu überreden wollten, ihnen eine Goldkette abzunehmen.
»Österreich«, antwortet Tanja.
»Cool. Und was möchtet ihr trinken?«, fragt er weiter in astreinem Deutsch. »Tagescocktail ist heute Sex on the Beach.“ Sein etwas verstohlenes Lächeln ist nur eine Zugabe. Ich hätte sein Sex on the Beach sowieso jederzeit genommen.
„Okay”, bringe ich aber nur heraus.
Er notiert es sich und rauscht davon.
»Der ist süß!«, flüstere ich Tanja aufgeregt zu, und sie nickt grinsend. »Hab’ ich auch gerade gedacht.«
Nach und nach füllt sich das Lokal. Mr. Sexy Kellner hat alle Hände voll zu tun, läuft eilig von einem Tisch zum nächsten. Blonde Haarsträhnen kommen unter seiner Kappe hervor, die einen starken Kontrast zu seinen Augen bilden. Zu dem T-Shirt mit aufgedrucktem Bar-Logo trägt er eine bunte Leinenhose.
Ich bin in Topstimmung, und der Sex on the Beach ist gut gemischt. Vergessen ist der Tanzabend, die Disco, der Beach Boy, meine Beziehung. Alles ist ganz weit weg. Ich sitze bei meinem romantischen Teelicht, spanische Musik im Hintergrund, die perfekt das Meeresrauschen ergänzt, und fühle mich so frei wie schon lange nicht. Nichts kann mich jetzt noch von einem heißen Flirtabend abhalten. Sexy Kellner gehört mir.
Sobald unsere Cocktails leer sind, steht mein erwähltes Opfer wieder bei uns. Mittlerweile hat er sich seines T-Shirts entledigt – es ist fast Mitternacht und hat immer noch knapp dreißig Grad. Dabei fallen mir sofort seine zahlreichen Tattoos auf. Entlang seines Rückens schlängelt sich ein bunter Drache, der auf der Vorderseite seiner linken Schulter mit dem Kopf und den Krallen endet. Rundherum gibt es noch diverse andere Motive, die ich auf den kurzen ersten Blick nicht erkennen kann. Rund um seinen Bauchnabel hat er ein schwarzes, wellenartiges Ornament, in dessen Mitte ein Piercing sitzt. Alles passt perfekt zu ihm. Es ist nicht übertrieben, macht ihn nicht zum harten Biker, es stimmt genau so, wie es ist.
»Was darf’s bei euch noch sein?«, fragt er, Kuli und Block in der Hand.
»Ein Bier«, bestellt Tanja durstig. Er sieht zu mir.
»Was kannst du denn noch empfehlen?«
So schnell lasse ich dich nicht gehen. Erstmal ein paar Momente deiner Aufmerksamkeit gewinnen. Dieses Mal bin ich besser vorbereitet.
»Den San Francisco.«
»Was ist da drin?«, zögere ich das Gespräch hinaus, um einen ersten, tiefen Blickkontakt aufzunehmen.
»Ja …« Er hält meinem Blick stand und lächelt. »Das sind verschiedene Fruchtsäfte, Grenadine und Wodka.«
Was auch immer, ist mir eigentlich eh völlig schnuppe. Ich würde gerade so ziemlich alles bestellen, was er mir anbietet. Aber noch bin ich nicht fertig.
»Ich glaube, ich nehme lieber noch einen Sex on the Beach«, sage ich dann und blinzle ihn herausfordernd an. Ich sehe ihm nach, während er die Bestellung an den Barkeeper weitergibt und lächle Tanja mit fröhlich blitzenden, abenteuerlustigen Augen an. Sie weiß sofort, was das heißt und lächelt hämisch zurück.
»Ich seh’ schon, den schnappst du dir heute noch.«
»Ach was. Ich flirte doch nur ein bisschen«, spiele ich ihre Stichelei herunter.
»Ja, klar …«, kommentiert sie augenzwinkernd.
Er ist zurück, mit einem Bier und einem weiteren Glas mit rot-oranger Flüssigkeit, stellt die Getränke vor uns ab und bleibt kurz stehen. Die meisten Tische sind mittlerweile bedient, einige Leute sind auch in die Discos weitergezogen.
»Was habt ihr denn schon alles gemacht?« Er sieht mich neugierig an.
»Hauptsächlich am Strand gelegen. Gestern Abend haben wir auf einen Sprung in eine Bar geschaut. Aber die Musik hat uns nicht überzeugt. Gibt’s denn hier irgendeine Disco, wo sie richtig gut auflegen? Ihr habt doch auch gute Musik.« Während wir reden, lasse ich ihn keine Sekunde aus den Augen. Er grinst mich an, sich dessen – und wahrscheinlich noch vielem mehr – bewusst.
»Hier ist es überall das gleiche. Da müsstet ihr schon ein wenig weiter raus fahren, in die Hauptstadt.«
»Das ist etwa eine Stunde nördlich von hier, oder?« Ha! Hab mich doch informiert. Bin ja sowas von kosmopolitisch!
Er nickt.
»Und dort ist es besser?«, erkundige ich mich trotzdem weiter, den Blick immer noch auf seine Augen gerichtet, mein zauberhaftestes, flirtwilligstes Lächeln aufgesetzt.
»An Wochenenden ganz sicher. Ich kann euch ja ein paar Sachen sagen, die hier in der Gegend ganz okay sind.«
Wie gesagt, nicht, dass wir ernsthaft vorhätten, irgendwo hinzufahren, wo’s doch hier gerade so schön ist, aber solange er nur hier stehenbleibt, soll er ruhig schreiben.
Er schreibt drei Namen auf seinen Notizblock und reißt das oberste Blatt ab. Als er es mir entgegenstreckt, mustere ich die zahlreichen Ringe an seinen Fingern.
»Das sind Bars, die ganz gut sind. Warte.« Er nimmt es wieder an sich, Strich drunter, drei weitere Namen. »Und das sind Clubs, wo halbwegs was los ist.«
Ich nehme den Zettel wieder, und für eine Sekunde berühren sich unsere Finger. Ein angenehmer Schauder durchfährt mich wie ein Blitz.
»Okay, danke.« Ich richte meinen Blick wieder auf ihn, schenke ihm noch ein schnelles Lächeln, bevor er sich auf den Weg zurück zum Tresen macht.
»Ich glaube, das zahlt sich eher nicht aus, so weit zu fahren. Wie kämen wir da überhaupt hin?«, meint Tanja skeptisch.
»Ach Quatsch, wer will denn woanders hinfahren? Da gehen wir lieber noch ein paar Mal hierher«, grinse ich und lasse meinen Blick möglichst unauffällig durch die Bar schweifen. Ich sitze mit dem Rücken zum Geschehen, habe also eine schlechte Sicht auf das, was hinter mir vorgeht. Deshalb kann ich nicht widerstehen, mich immer wieder umzusehen, nach ihm Ausschau zu halten, und, wenn sich die Gelegenheit bietet, seinen Blickkontakt zu erwidern, ihm mein verführerischstes Lächeln zu schenken.
Mit einem freundschaftlichen Stoß in die Seite gewinnt Tanja wieder meine Aufmerksamkeit. Anstatt etwas zu sagen, grinst sie mich nur vielsagend an.
»Ja, was soll ich sagen, ich stehe auf ihn«, verteidige ich mich, auf frischer Tat ertappt. Währenddessen bemerke ich einen Mann beim Eingang, der ganz offensichtlich auf meine Freundin steht. Er hat seine Haare streng nach hinten gegelt, trägt Jeans und Hemd, steht etwa zehn Meter von uns entfernt und sieht auffällig zu ihr her.
»Ich glaube, da checkt dich jemand aus!«, mache ich sie darauf aufmerksam. Sie folgt meinem Blick und dreht sich auch gleich wieder weg.
»Na traumhaft«, gibt sie sarkastisch zurück, gar nicht erfreut über den weitaus älteren, so gar nicht ihrem Männertyp entsprechenden Bewunderer, der sich schon zu früh darüber freut, dass sie ihm nun endlich Beachtung schenkt. Überhaupt ist Tanja seit zwei Wochen frisch verliebt. Tom heißt ihr Auserwählter, den sie während eines Firmenausflugs kennengelernt hat.
Doch bevor es zu einer echten Flirtattacke von Señor Haargel kommen kann, steht wieder der Kellner zwischen uns und schenkt uns eine weitere Minute seiner stressigen Zeit.
»Die Musik in den Discos gefällt euch also nicht«, setzt er das Gespräch fort.
»Nicht wirklich. Ist immer nur der gleiche R’n’B und Hip Hop, sehr einseitig.«
»Und auf was steht ihr dann so?«
»Na ja … House zum Beispiel«, antwortet Tanja.
»Und privat eher rockig«, ergänze ich.
»Ah, dann seid ihr also alte Death-Metal-Hasen?«, lacht er.
»Ja, doch, schon! Früher waren wir auf fast allen Konzerten in unserer Stadt«, bestätige ich, verwundert darüber, dass er das durch all unser jetzt so perfektes Styling hindurch noch so klar erkennen konnte.
»Wieso? Du auch?«, bohre ich neugierig weiter.
»Ja, hab mal in einer Band gespielt. Ist aber schon Jahre her.«
»Wie hießen die?« Ich bin gespannt, ob ich schon mal was von ihnen gehört habe. Vermutlich hatten sie überhaupt nie einen echten Gig.
»Jekyll and Hyde.«
»Ist nicht dein Ernst!« Ich kenne sie tatsächlich. »Da war ich sogar mal auf einem Konzert. Ihr wart als Vorgruppe von Tiamat auf Tour. Ich hatte das Plakat in meinem Zimmer hängen.« Diesmal sage ich nicht nur was, um ihn länger hier zu behalten. Es stimmt tatsächlich, sogar die Geschichte mit dem Plakat. Es war rabenschwarz, mit weißer Aufschrift – Tiamat als Hauptact – und hatte jahrelang die Eingangstür zu meinem Zimmer geziert.
»Dann habt ihr mich sicher gesehen? Am Bass?«, fragt er mit fast kindlicher Hoffnung.
Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich mich damals übermäßig auf die Band konzentriert habe. In diesen doch eher wilderen Zeiten meiner Jugend ging’s nur um Bier und wildes Rumhüpfen mit Haaren im Gesicht.
Er wartet die Antwort gar nicht erst ab, sondern springt freudig eine Runde im Kreis und ruft:
»Wow, da kennt mich wer!«
Wir müssen lachen über so viel Enthusiasmus, und ich freue mich, dass der persönliche Kontakt hergestellt ist.
Eine Gruppe neuer Gäste betritt das Lokal und lässt sich an einem der Tische auf der anderen Seite der Bar nieder.
»Arbeit ruft«, stellt er schnell fest und zischt ab. Sein Gang ist flott, trotzdem sind seine Bewegungen fließend. Obwohl er sehr groß ist, wirkt er nicht schlaksig. Er hat einen schlanken, kräftigen Körper. Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, von ihm hochgehoben zu werden, umarmt, meine Beine um seine Hüfte …
»Ja, die Welt ist klein«, wundert sich Tanja laut und holt mich zurück in die Realität. »Ist mein Schönling noch hinter mir?«, fragt sie, ohne es zu wagen, sich selbst umzudrehen. Ich ordne meine Gedanken, werfe einen kurzen Blick über ihre Schulter und nicke.
»Checkt dich immer noch aus. Der wartet vermutlich schon eine halbe Stunde, dass du dich endlich umdrehst und ihm etwas Aufmerksamkeit schenkst.«
»Ja, da kann er noch lange warten«, entgegnet sie gelassen.
Mein Schönling kommt inzwischen von seinen neuen Gästen zurück und nimmt im Vorbeigehen Tanjas leeres Glas mit.
»Darf’s noch eins sein?«
»Ja, bitte«, lässt sie sich ohne große Überredungskünste breitschlagen, da sie vermutlich schon ahnt, dass der Abend länger werden könnte.
»Kann ich sicher brauchen, falls mein Herzensbrecher doch noch beschließt, herzukommen.«
Ich nehme den Fotoapparat, den ich am Tag zuvor überraschenderweise in meinem Koffer gefunden hatte, aus meiner Handtasche. Keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war, oder was auf dem Film sein könnte. Es ist eine Einwegkamera, die ich oft und gerne benutze, wenn ich auf Kurzurlaub bin. Anscheinend hatte ich nach dem letzten Trip vergessen, sie zur Entwicklung zu bringen, und sie war im Koffer liegen geblieben. Das digitale Zeitalter hat sich bei mir noch nicht durchgesetzt, was mir häufig Gelächter einbringt. Aber das hat mir noch nie etwas ausgemacht, und da ich schon mal hin und wieder etwas (sprichwörtlich) in den Sand setze und auch gern mal verreise, finde ich es beruhigend, diese praktisch wertlosen Plastikdinger in meiner Tasche zu wissen.
Ich aktiviere den Blitz – ja, meine Einwegkamera ist rundum top ausgestattet – und knipse ein paar Erin-nerungsfotos von Tanja, während sie auf ihr Bier wartet. Alles wieder in der Tasche verstaut und immer noch mit dem Rücken zum Geschehen, spüre ich plötzlich einen Arm um mich. Ich schaue nach links und beobachte die vielberingte Hand, die Tanjas Bier auf den Tisch stellt und mich dabei wie zufällig umarmt. Dann räumt er auch mein leeres Glas ab und ersetzt es in der gleichen Bewegung mit einem neuen, blutroten, eisgekühlten Sex on the Beach. »Geht auf mich.«
Dabei steht er die ganze Zeit über rechts hinter mir, seinen Arm um meine Schultern. Er hat wunderschöne Hände. Hände sind für mich immer schon eine große Sache gewesen. Seine sind, genau wie er, ausdrucksvoll und interessant.
Eigentlich bin ich ohnehin schon benommen vom Alkohol, Flirten und dem langen in-die-Augen-Schauen und seinem süßen Lächeln. Mit zitternder Hand nehme ich Tanja trotzdem die Zigarette aus den Fingern, nachdem er wieder gegangen ist.
»Ich brauche jetzt einen Zug.« Der erste seit drei Jahren. Aber ist ja Urlaub. Ausnahmezustand, also kein Grund zur ernsthaften Sorge. Ich atme den Rauch ein, gemischt mit dem Geschmack der Betörung und der Aufregung eines sommernächtlichen Urlaubsflirts.
»Ich werde ein paar Ansichtskarten schreiben«, beschließe ich beschwingt.
»Bleib halt bei der Wahrheit«, meint Tanja. »Du weißt schon … Dass es hier stinklangweilig ist, man nirgendwo ausgehen kann, es keine attraktiven Kellner gibt, keinen Alkohol, und dass es saukalt ist.«
Ich lache und schreibe genau das auf. Gerade, als ich die letzte Zeile beende, merke ich, wie mir jemand im Vorbeigehen ganz schamlos über die Schulter sieht. Ich drehe mich um und sehe den soeben auf der Karte beschriebenen attraktiven Kellner gerade noch weggehen. Obwohl es zu spät ist, lege ich instinktiv die Hand auf die Karten.
»Shit.«
Tanjas Lächeln erweckt nicht gerade den Eindruck, als hätte sie die Situation nicht kommen sehen.
»Shit. Glaubst du, er hat’s gelesen?«
»Was soll’s ... Er hat sowieso schon lange die Lage erfasst. Wenn er’s jetzt noch schriftlich hat, macht es auch keinen Unterschied mehr», kommentiert sie ungerührt und trinkt ihr zweites Bier aus. »Aber am besten fragst du ihn einfach selbst«, fordert sie mich heraus, und schon sieht sie sich mit gehobener Hand nach ihm um. Er steht gerade neben Tanjas Verehrer, der ihr Winken mit einem freudigen, breiten Lachen erwidert. Es braucht kein zweites Zeichen, er springt enthusiastisch auf, fährt sich nochmal durch das glatte Haar und kommt festen Schrittes auf uns zu.
»Oh nein«, ist alles, was Tanja hervorbringt, gefolgt von einem panischen: »Scheiße!«
Sie dreht sich zu mir um, sieht auffällig weg von ihm, überlegt einen Moment lang ernsthaft, unter den Tisch zu kriechen, sieht dann aber wohl doch ein, dass das auch nicht viel bringen würde, da er ja nur noch wenige Meter von uns entfernt ist. In letzter Not springt sie von ihrem Platz und sprintet los in Richtung Toilette. Als sie hinter der Tür verschwindet, versteinert das Lächeln des Mannes von einer Sekunde zur anderen, und er macht sich wie ein geschlagener Hund wieder auf zu seinem Platz.
Es ist mittlerweile kurz nach eins. Nun sind nur noch einige wenige Tische besetzt, aber fast jeder hat noch einen vollen Drink vor sich stehen. Mein Herz klopft unverändert heftig bei seinem Anblick, ich wage nur hin und wieder einen Blick durch die Bar. Mir fällt auf, dass Tanjas Verehrer das Handtuch geworfen hat.
Noch einen Schluck von meinem schönen, roten Cocktail. Ich bemerke, dass ich kaum dreimal davon gekostet habe, und er schon wieder fast leer ist. Entweder besteht er aus zu vielen Teilen Eis, oder meine Nerven gehen mit mir durch, und ich leere mit einem Zug das halbe Glas. Tanja, zurück von der Toilette, steckt sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?« Sie bietet mir das Päckchen an, und ich halte es tatsächlich nicht für die schlechteste Idee. Ich ziehe mir eine heraus und lasse mir von ihr Feuer geben.
Die Musik ist immer noch hervorragend, obwohl sie jetzt zu Rockklassikern der Achtziger gewechselt hat – genau Tanjas Geschmack. Und da wir den ganzen Abend schon in Partylaune sind und unser Alkoholspiegel mittlerweile hoch genug gestiegen ist, dass es uns egal ist, hüpfen wir neben unseren Sesseln herum, sobald wir ein Lied kennen. Wenn der Text mir besonders aus dem Herzen spricht, gibt es gar kein Halten mehr: I just can’t get enough …, kommt es aus den Lautsprechern, und ich singe enthusiastisch mit. Nach so langer Zeit der Ungewissheit und des innerlichen Kampfes kann ich tatsächlich nicht genug bekommen von diesem Abend, nur mit meiner besten Freundin und einem kleinen Flirt-Abenteuer.
Aber natürlich kann mein ertappter Ansichtskartentext unmöglich die einzige Peinlichkeit des Abends bleiben, und so lässt sich das Objekt meiner Begierde genau in dem Moment auf den Sessel neben mir fallen, als ich hopsend und die Arme wild in die Luft schlagend mit vollem Einsatz enough in die Nacht trällere. Ganz Gentleman, verhält er sich unauffällig, fast so, als hätte er es gar nicht bemerkt, nicht einmal ein verstecktes Grinsen kann ich entdecken. Stattdessen stellt er einen weiteren Sex on the Beach auf dem Tisch ab, diesmal seinen eigenen, und stößt mit uns an.
»Langsam werde ich müde«, meint er seufzend, während er einen langen Schluck nimmt.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragt er dann und rückt ein wenig näher zu mir herüber. Will er sich jetzt versichern, dass ich ihn nicht in den Knast bringe? So jung sehe ich auch wieder nicht aus.
»24. Und du?«
»27«.
Das war auch ungefähr meine Schätzung.
»Und wie heißt du?«, frage ich. Mir fällt auf, dass in den ganzen zwei Stunden, in denen wir immer wieder das Gespräch gesucht haben, noch keiner auf die Idee gekommen ist, danach zu fragen.
»Leon«, entgegnet er, und ich wundere mich ein wenig. Leon? Mit deutschen Wurzeln? Die exotischen Modenamen kamen doch erst in den letzten zehn Jahren auf.
»Und wirklich?« Ich sehe ihn skeptisch an.
»Leon. Hab Glück gehabt. Hätte auch Fritz sein können«, meint er überzeugend und ernsthaft.
»Ja, besser ein typisch deutscher Namen wie Leon«, schaltet sich Tanja wieder ein und bestätigt meinen Argwohn. »Oder Kevin.«
Wir lachen.
»Und ihr?«, erkundigt er sich jetzt.
»Ich bin Lara. Und das ist Tanja.«
»Auch Glück gehabt«, lächelt er. Sein Drink ist zur Hälfte leer, meiner mittlerweile ganz.
»Möchtest du noch etwas?«, fragt er und deutet mit den Augen auf mein Glas, in dem nur noch die restlichen Eiswürfel vor sich hin schmelzen.
»Na ja, vielleicht ein Glas Rotwein zum Abschluss.«
»Wir haben ganz hervorragenden Rotwein«, betont er überzeugend, steht auf und nimmt seinen Drink mit.
»Ich muss die Drinks erst einmal ausleeren«, wende ich mich zu Tanja und gehe in Richtung Toiletten. Jetzt, zu später Stunde, alleine mit meinen Gedanken und meinem Alkoholspiegel, kommen mir schließlich Gewissensbisse. Was mache ich hier eigentlich? Ich bin verlobt. Ich sollte im Hotelzimmer sitzen und mir ein Brautmodenmagazin reinziehen.
Stattdessen kann ich nicht genug kriegen vom Sex on the Beach meines heißen Kellners. Ich bin ausgehungert nach Abenteuer, Aufmerksamkeit und Aufregung. Ich weiß, es ist nicht okay, es ist nicht fair, und trotzdem könnte mich nichts davon abhalten, weiterzumachen. Überhaupt bin ich gerade ganz angenehm weit weg von allem, was mich davon abhalten könnte.
Moment, das ist aber nicht die Toilette.
Was ist es bloß mit diesem Land, das mich permanent die falschen Türen erwischen lässt? Diesmal habe ich das Lager erwischt und stehe vor gestapelten Kisten in allen Farben. Ich überlege einen Moment lang, ob ich die Gelegenheit nutzen und ein paar Flaschen einstecken soll. Aber dann mache ich kopfschüttelnd kehrt und gehe durch die gegenüber liegende Tür, auf der eigentlich ganz klar Baños steht. So weit reicht mein Spanisch gerade noch. Und selbst wenn nicht, hätte mir das Männchen Hinweis genug sein sollen.
Endlich am richtigen Ort, checke ich auch gleich mein Aussehen: Die Haare fallen immer noch lockig über meine Schultern. Meine Augen sehen auch noch nicht sehr müde aus, Make-up sitzt. Im Großen und Ganzen halte ich mich recht gut. Ich ziehe meinen Lippenstift nach und gehe wieder zurück nach draußen.
Leon steht wieder an unserem Tisch, hat das Glas Wein auf meinen Platz gestellt und unterhält sich mit Tanja. Gerade als ich dazukomme, wird er an den gegenüberliegenden Tisch beordert.
»Und? Was hat er gesagt?«, frage ich neugierig. Ob er auch bei ihr einen Annäherungsversuch gestartet hat?
»Keine Sorge, er hat die ganze Zeit nur zur Tür geschaut, wann du wieder zurückkommst.«
Am liebsten hätte ich gleich einen Freudenschrei ausgestoßen, aber dafür ist er noch zu nahe, und ich will auch nicht alle Blicke im Lokal auf mich ziehen. Also jauchze ich innerlich und probiere den Wein. Er ist wirklich gut, wie eigentlich alles hier auf dieser wunderschönen, romantischen Insel.
»Wenn ich den jetzt noch austrinke, bin ich hinüber«, warne ich Tanja schon einmal vor. Wein hat bei mir meistens ohnehin eine stärkere Wirkung als Cocktails, was daran liegt, dass ich sie selbst gern mische, und das meist um einiges stärker, als sie in den Bars üblicherweise serviert werden.
Leon kommt von dem Tisch zurück, an dem die Gäste jetzt aufstehen und gehen. Überhaupt fällt mir erst jetzt auf, dass zu dieser späten Stunde nur noch unserer und ein weiterer Tisch besetzt sind.
»Schaut ihr heute noch woanders rein?«, erkundigt er sich zu meiner Freude. Möglicherweise eine erste Andeutung darauf, dass er noch für weitere Pläne offen wäre.
»Nein, ich denke, wir bleiben hier«, grinse ich zurück und sehe ihm herausfordernd in die Augen. Ich kann mich in seiner Gegenwart einfach nicht beherrschen.
»Find ich gut.« Er schenkt mir wieder sein tolles Lächeln. Die Leute am letzten noch besetzten Tisch winken ihm zu.
»Oh nein, komm, ich kann nicht mehr. Ich hoffe, die wollen zahlen«, klagt er, schleppt sich aber doch hin. Das hoffe ich auch. Ich beobachte, wie sie ihm den Gefallen tun, während ich noch einmal an meinem Wein nippe. Tanja ist mit ihrem dritten Bier fast fertig. Verdammt. Auch ich habe jetzt gleich keine Entschuldigung mehr, das Bezahlen und den damit verbundenen unausweichlichen Abschied hinauszuzögern.
Er ist wieder zurück bei uns.
»Ich fürchte, ich muss euch an die Bar bitten. Wir be-ginnen, die Stühle aufzuräumen.«
»Okay, kein Problem«, meint Tanja, steht auf, und ich folge ihr. Wir lassen uns auf zwei Hockern nieder, während er und sein Kollege, der sonst die Cocktails mischt, beginnen, alles ordentlich zusammenzustellen. Ich überlege einen kurzen Augenblick, ob das eine Auf-forderung an uns war, auch zu gehen, verwerfe den Gedanken dann aber. Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Abend noch nicht beendet ist.
Die Stühle stehen gestapelt übereinander, die Tische sind abgeräumt, die Kerzen ausgeblasen. Nur noch wir, die Musik und die beiden Jungs.
»Na komm, trink aus!«, drängt Tanja.
»Ich kann nicht. Hilf mir ein bisschen. Ich bin betrunken. Ich kann heute nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden, was ich sage oder tue.«
Sie nimmt einen Schluck von meinem Wein. Ich auch.
Fast haben wir’s geschafft.
Leon ist wieder zurück und steht jetzt hinter dem Tresen, mir direkt gegenüber. Er ist keine Armlänge entfernt. Ich rieche sein Parfum, sehe in seine müden, aber immer noch glänzenden Augen. Er dreht sich um und trocknet die letzten Gläser ab, stellt sie ins Regal. Dann legt er die Rechnung vor uns ab.
»Was sind jetzt eure weiteren Pläne für diese angebrochene Nacht?«, startet er wieder einen Versuch, nachdem er zuvor unterbrochen wurde.
»Nach Hause gehen, schlafen. Ist ja nirgendwo mehr etwas los«, antwortet Tanja. Außerdem fallen ihr schon die Augen zu.
»Na dann muss man halt was los machen«, schlägt er einladend mit einem Seitenblick in meine Richtung vor. Ich weiß so schnell keine Antwort darauf.
Okay, entscheide ich schließlich still für mich selbst. Lass uns gehen! Machen wir was los. Ich möchte am liebsten sofort mit ihm durch die Nacht ziehen. Meine Gedanken schweifen ab zu langen Spaziergängen am nächtlichen Strand, sein Körper ganz nah an meinem. Ich starre in meinen Wein, versuche, mich zu beherrschen und meine Abenteuerlust in den Griff zu kriegen, mich daran zu erinnern, dass ich überhaupt nicht frei bin, verdränge den Gedanken daran, was ich hier gerade im Begriff bin zu tun, lege geistesabwesend das Geld auf den Tisch.
Er verschwindet hinten im Lager, um die Kasse zu verstauen. Tanja sieht mich mit einem müden Blick an und wiederholt: »Lass uns gehen.«
Okay. Was soll’s, worauf warte ich eigentlich? Ist ohnehin besser. Ich trinke aus, stehe auf, wir verabschieden uns mit einem kurzen Ciao in seine Richtung, und ich kann den leisen Funken Hoffnung nicht unterdrücken, dass er uns nachläuft und mich zurückhält, mich in die spanische Nacht davonträgt …
Nichts passiert. Wir verlassen die Bar, ich kann mich nicht umdrehen. Wozu auch? Es würde nichts mehr ändern, außer vielleicht, einen bedauernden Blick von seinem Kollegen abzufangen.
Schweigsam spazieren wir zurück über die Pflastersteine der menschenleeren, spätnächtlichen Strandpromenade. Als wir in die Straße zu unserem Hotel abbiegen, meint Tanja nur: »Nimm’s nicht tragisch. Wahrscheinlich hat er’s heute einfach nicht mehr geschafft. Ich bin sicher, wenn wir morgen hingehen, bezirzt er dich wieder.«
»Nein, es ist besser so«, spreche ich laut aus, was ich schon vorhin dachte. »Ich meine, was will ich überhaupt? Ich hatte meinen Urlaubsflirt, meine fünf Minuten Aufregung. Mehr ist ohnehin nicht drin. Im Endeffekt ist es doch nur eine kurze Ablenkung, die mich auch nicht weiterbringt.« Trotzdem fühle ich mich frustriert, zurückgewiesen, enttäuscht.
Wir sind vor der Hoteltür angekommen. Die Glastür am Eingang ist zu der späten Stunde bereits verschlossen. Nachdem Tanja den Zimmerschlüssel gefunden hat und ihn langsam in die Tür steckt, dreht sie sich zu mir um, bleibt einen Moment lang wie erstarrt stehen und stößt dann ungläubig hervor: »Nein, das gibt’s nicht!«
»Was?«
»Da ist er!« Sie deutet mit den Augen auf die andere Straßenseite. Offensichtlich ist er uns gefolgt und winkt jetzt von der anderen Seite gelassen und lächelnd zu uns herüber. Mein Herz macht einen Riesensprung, und ich auch, direkt in seine Richtung.
»Wo seid ihr denn so schnell hin?«, fragt er, während ich noch laufe. »Die Nacht ist noch jung hier auf der Insel.«
»Wir konnten ja nicht ewig sitzen bleiben«, antwortet Tanja, die mir jetzt langsam folgt.
»Hättet ihr noch ein paar Minuten gewartet, wäre ich auch schon fertig gewesen. So musste ich euch eben stalken.«
Vor ihm angekommen, bleibe ich abrupt stehen. Eigentlich möchte ich ihm vor Freude in die Arme fallen, aber ich halte mich zurück.
»Also, kommt ihr noch mit?«, fordert er uns auf.
»Ich nicht. Bin müde. Ich hau mich ins Bett«, antwortet Tanja, ohne weiter zu überlegen. »Aber du kannst gerne. Macht mir nichts aus«, sagt sie an mich gewandt.
»Okay …« Was soll’s. Ich bin hier, ich bin betrunken, von Sex on the Beach und vor Aufregung und Glück. Er hat mich gefunden. Ich kann für eine Nacht vergessen, wer ich bin.
»Aber mach nichts, was ich nicht auch tun würde!«, gibt Tanja mir grinsend mit auf den Weg, während sie durch die Glastür verschwindet. Ich laufe knallrot an. Na, das tu ich besser nicht. Ich weiß genau, was Tanja tun würde. Leon lächelt nur, und wir traben davon in Richtung Strand.
VIER
Träume im Sand
Jetzt stehen wir vor dem Eingang des Breakdance, einer Disco, wo sich die meisten Kellner, Animateure und Barkeeper nach Dienstschluss treffen. Schon vor dem Eingang wird Leon herzlich von allen begrüßt – auf Spanisch, das er, im Gegensatz zu mir, perfekt beherrscht. Meines ist sehr spärlich. Vor sechs Jahren habe ich einen Kurs in meinem Abschlussjahr belegt, seitdem aber nie mehr die Gelegenheit gehabt oder wahrgenommen, es zu sprechen. Ich kann mehr oder weniger verstehen, jedoch nur mühselig selbst einen vollständigen Satz formulieren.
Wir gehen die wenigen Stufen am Eingang hinunter, einer der Security-Männer hält uns bereitwillig die Tür auf. Die gleiche Musik wie in der Bar am Vorabend dringt uns entgegen. Um diese Zeit sind nicht mehr viele Leute im Club. Wir setzen uns auf zwei Hocker an der Bar. Zwar fühle ich mich durch den Spaziergang etwas nüchterner, trotzdem entscheide ich, erstmal lieber nur Wasser zu trinken und einen klaren Kopf zu behalten. Oder zu bekommen. Leon bestellt die Getränke, wiederum auf Spanisch, was mich beruhigt: Vermutlich werde ich zum ersten Mal in diesem Land wirklich ein stilles Wasser bekommen.
»Und, bist du das ganze Jahr über hier?«, beginne ich das Gespräch.
»Nein. Im Winter bin ich in Österreich.«
»Bei deiner Familie?«
Er winkt ab.
»Nein, da bin ich höchstens einmal im Jahr und besetze für eine Nacht die Couch. Im Winter bin ich in Ischgl.«
»Was machst du da? Auch in einer Bar jobben?«
»Koch«, gibt er zu meiner Überraschung zurück. Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Die Vorstellung von ihm mit einer weißen Mütze passt so gar nicht in mein Bild von ihm.
»Habe ich ursprünglich gelernt. Und wenn die Zeit es erlaubt, stelle ich mich zwischendurch mal gern aufs Snowboard.«
Das Mädchen hinter der Bar stellt die zwei Getränke vor uns ab. Ein Cocktail und tatsächlich stilles Wasser.
»Und wie lang machst du das schon? Hier auf Teneriffa meine ich?«, frage ich weiter.
»Drittes Jahr jetzt. Ist kein schlechter Job. Im ersten Jahr durfte ich nur Flyer austeilen. ›Komm heut Abend ins Moonlight, da geht’s echt ab …‹«, äfft er sein früheres Ich nach. »Immer fremde Leute anquatschen ... in jeder erdenklichen Sprache den gleichen Satz lernen. Das war nicht mein Ding. Jetzt bin ich das zweite Jahr an den Tischen. Ist anstrengend, ich bin ja ganz alleine. Das ist schon ziemlich heftig, wenn was los ist. Könnte jemanden brauchen, der mir ein wenig zur Hand geht ... mal die Aschenbecher ausleert, Gläser abräumt und so. Aber immerhin nicht ständig Touristen anquatschen.«
»Und du hast sicher auch deinen Spaß«, meine ich augenzwinkernd.
»Ja, schon. Sonst wäre ich nicht mehr hier. Ist ja auch ganz okay bezahlt, für Teneriffa. Und an guten Abenden mache ich schon mal 50 Euro Trinkgeld.«
»50 Euro? An einem Abend?«, frage ich erstaunt nach. »Was machst du denn dafür, einen Striptease?«
»Wenn’s sein muss ...«, antwortet er in einem sehr gelassenen und ernsthaften Tonfall. »Muss man schon etwas für tun.« Er zwinkert mir zu, und wir trinken erstmal, er von seinem Cocktail, ich von meinem stillen Wasser. Er nimmt eine Zigarette aus der Packung, zündet sie an und gibt sie mir rüber. Wieder wird mir klar, dass er mich in der Bar beobachtet haben muss. Während er seine eigene anzündet, nehme ich sie lächelnd entgegen, bekomme einen kleinen Vorgeschmack seiner Lippen. Bei dem Gedanken fährt mir ein angenehmer Schauder über den Rücken.
»Gracias«. Meine Stimme ist leise und heiser. Ich räuspere mich. »Wie viele Sprachen kannst du eigentlich?«, stelle ich rasch die erstbeste neutrale Frage, die mir einfällt.
Er überlegt einen Moment.
»Englisch, Spanisch, einige Wörter Rumänisch und Polnisch, weil ich dort früher auf Tour mit der Band war ...«
Ich versuche mitzuzählen, bin aber ohnehin schon beein-druckt. Sexy, interessant und intelligent in einem Paket: Das bekommt man nicht alle Tage.
»Kurwa mać3«, mache ich meinem Erstaunen Luft in den einzigen Wörtern, die ich je auf Polnisch gelernt habe.
Leon lacht. »Und du?«
»Englisch und Französisch ziemlich gut, Spanisch kann ich verstehen, Latein hatte ich mal, und Italienisch lerne ich seit drei Jahren.«
Bei Latein sieht er mich etwas verwundert und neugierig an, fragt aber nicht weiter.
»Und, reist du gerne?«, erkundigt er sich stattdessen.
»Grundsätzlich schon«, antworte ich, nehme einen ausgie-bigen Zug und genieße den wieder entdeckten Geschmack der Zigarette. »In letzter Zeit nicht so viel. Da ist natürlich der typische jährliche Sommerurlaub ... Griechenland, Türkei, Italien … früher kam ich ein bisschen mehr rum … Frankreich, England, Monaco … Deutschland natürlich, hauptsächlich Europa. Marokko ist das einzige Land, das ich bisher außerhalb Europas gesehen habe. Sonst war ich noch nie sehr weit weg.«
Er hört mir aufmerksam zu und sieht mir wieder in die Augen. Ich genieße es. »Und du?«
»Ja, ich liebe Reisen. Von Europa habe ich auch schon viel gesehen, vor allem, als wir noch auf Tour waren. In Südamerika war ich schon, …«
»Ach ja? Wo?« Irgendetwas an Südamerika hat mich immer schon fasziniert.
»Überall, als Backpacker. In Mexiko habe ich angefangen, dann weiter nach Venezuela, Peru, Bolivien, Chile … kurz vor Brasilien ist mir das Geld ausgegangen.«
Ich muss lachen, vor allem aber bin ich begeistert über so viel Spontaneität und In-den-Tag-hinein-Leben. Ich wünschte, ich könnte das von mir auch behaupten. Aber leider waren meine eigenen Reisen weniger abenteuerlich. Es ist wirklich höchste Zeit, das zu ändern, fährt es mir durch den Kopf.
»Und, schön gewesen?«, frage ich weiter.
»Ja, total spannend. Wunderschöne Landschaft, ich war oft ewig allein. Ich war eine Weile als Freiwilliger tätig, in Ecuador. Habe dort geholfen, Gärten in Stand zu halten. Im Morgengrauen durch den Regenwald zu spazieren ist etwas Unvergessliches. Da war niemand sonst, nur ich und meine Gedanken. Und manchmal ein paar Affen, die Mangos von den Bäumen warfen.«
»Wow!«, begeistere ich mich wieder.
»Aber es gab auch schwierige Situationen … oft wusste ich nicht, wo ich am nächsten Tag schlafen würde. Einmal hat mich einer überfallen, schon gegen Ende der Reise. Ich stand auf der Straße, hatte nur ein paar Pesos in der Tasche und meinte, er sollte mich ruhig durchsuchen, ich habe nichts. Er gab schließlich auf und ist wieder gegangen. Die Tasche selbst wollte ich ihm nicht geben, aber war ja sowieso nichts Wertvolles drinnen. Für ihn«, fügt er hinzu.
In allem, was er erzählt, steckt Lebendigkeit, Humor, vielleicht ein wenig Nostalgie, aber auch Direktheit. So etwas wie eine ursprüngliche Wahrheit, die mich noch mehr zu ihm hinzieht.
»Und was war in der Tasche?«
»Das gleiche wie jetzt.« Er grinst mich einen Moment lang geheimnisvoll an. Dann öffnet er die olivgrüne, mittelgroße Leinentasche, die er um die Schultern gehängt hat, und packt einige Dinge aus.