Ur-Gemeinde - Frank Viola - E-Book

Ur-Gemeinde E-Book

Frank Viola

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Beschreibung

Jesu Plan für seine Gemeinde wiederentdecken In seinem (zusammen mit George Barna verfassten) Bestseller Heidnisches Christentum? hat Frank Viola die oft im Heidnischen wurzelnden Hintergründe vieler unserer vermeintlich biblischen Traditionen aufgezeigt. In Ur-Gemeinde geht er nun auf Gottes ursprünglichen Plan für die Gemeinde ein: Gemeinde soll in allem das Wesen des dreieinigen Gottes verkörpern. Grundlage für unsere Vorstellung von Gemeinde muss also das sein, was Gott selbst im Herzen hat, was ihn und seine Ziele widerspiegelt, wie wir es in den Schriften des Neuen Testaments finden. Daraus entsteht ein klares und herausforderndes Bild von Gemeinde. Wollen wir unsere Vorstellung von Gemeinde an die biblische anpassen, wird ein Umdenken in vielen Bereichen unumgänglich sein. Die Themen, für die der Autor das konkretisiert, sind unter anderem: Gemeinde als Organismus und als Familie, die Treffen der Gemeinde, das praktische Leben der Gemeinde, die Einheit der Gemeinde, Gemeindeleitung und Entscheidungsfindung, geistliche Autorität, Unterordnung und apostolische Tradition.

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FRANK VIOLA

Ur-Gemeinde

WIE JESUS SICH SEINE GEMEINDE EIGENTLICH VORGESTELLT HATTE

GLORYWORLD-MEDIEN

 

 

 

 

 

 

 

1. E-Book-Auflage 2021

© 2009 Frank Viola

David C. Cook, 4050 Lee Vance View, Colorado Springs, Colorado 80918 U.S.A.

Originaltitel: „Reimagining Church“

© der deutschen Ausgabe 2010 GloryWorld-Medien, www.gloryworld.de

Alle Rechte vorbehalten

Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Schlachter-Bibel, Fassung von 1951, entnommen.

Weitere Bibelübersetzungen:

[Elb]: Elberfelder Bibel, Revidierte Fassung von 1985

[LU]: Lutherbibel, Revidierte Fassung von 1984

Das Buch folgt den Regeln der Deutschen Rechtschreibreform. Die Bibelzitate wurden diesen Rechtschreibregeln angepasst.

Übersetzung: Ivo CarobbioLektorat / Satz: Dr. David Poysti / Manfred MayerUmschlaggestaltung: Kerstin & Karl Gerd Striepecke, www.vision-c.deFoto: istockphoto

ISBN (epub): 978-3-95578-147-7

ISBN (Druck): 978-3-936322-47-7

 

 

Stimmen zum Buch

 

Widerspruch ist ein Geschenk an die Gemeinde. Die Vorstellungskraft der Propheten mahnt uns: Wir sind Gottes auserwähltes Volk. Möge Violas Buch in uns den Mut zur Veränderung wecken, die wir uns für die Gemeinde wünschen … damit wir uns mit nichts weniger zufrieden geben als Gottes Traum für seine Gemeinde.

Shane Claiborne, Autor, Aktivist und genesender Sünder

 

Wie zu erwarten war, übt dieses Buch gründlich Kritik an den vorherrschenden Kirchenformen. Mit „Ur-Gemeinde“ malt uns Frank Viola allerdings auch ein positives Bild vor Augen von dem, was aus der Gemeinde werden kann, wenn wir uns neu auf ihre organische Beschaffenheit besinnen statt an starren institutionellen Strukturen festzuhalten. Dies ist eine kompromisslose, prophetische Schau für die Gemeinde des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Alan Hirsch, Autor

 

Frank bietet nicht nur frische Einsichten in Altbekanntes, sondern fordert uns heraus, zu den Wurzeln, das heißt: zu Christus selbst zurückzukehren. Danke, Frank! Diese praktische Hilfe wird zeigen, was Gemeinde bedeuten kann, wenn sie sich auf Jesus konzentriert.

Tony Dale, Autor und Begründer der Karis-Group

 

Sollten wir – wie viele meinen – tatsächlich vor der nächsten bedeutenden Reformation der Kirche stehen, dann ist Frank Viola eine der wichtigen Stimmen, auf die wir hören sollten. Franks demütiges Herz und seine virtuose Tastatur haben uns einmal mehr ein Buch beschert, das von allen gelesen zu werden verdient, die bereit sind, einen ehrlichen Blick auf den Zustand unserer heutigen Kirche zu wagen. Ur-Gemeinde fordert uns auf, zu den biblischen Wurzeln der Gemeinde zurückzukehren.

Lance Ford, Mitbegründer von shapevine.com

 

Ur-Gemeinde wird zugleich zweierlei bewirken: Es wird die Bequemen aufschrecken und die Besorgten trösten. Frank Viola schlägt eine Schneise durch die Nebelschwaden und legt seinen Finger in die Wunde des künstlichen Kirchenchristentums. Dabei liefert er eine biblisch-fundierte, praktische und strategische Sichtweise für das, was das Neue Testament unter ‚Leib Christi‘ versteht.

Rad Zdero, PhD, Autor

 

Wo Heidnisches Christentum? nachweist, dass ein Großteil unserer gängigen Kirchenpraxis jeder biblischen Grundlage entbehrt, geht Ur-Gemeinde einen Schritt weiter und beschreibt, wie echtes, biblisch-fundiertes Gemeindeleben aussehen soll. Vom Innenleben der Dreieinigkeit ausgehend, malt Viola ein großartiges Bild von organischem Gemeindeleben.

John White, Hausgemeinde-Gründer

 

Ur-Gemeinde ist ein weiterer wertvoller Beitrag zu den Veröffentlichungen zum Thema „Organische Gemeinde“. Frank Viola schreibt darüber aus der Sicht eines erfahrenen Praktikers und mit gewohnter Klarheit. Dabei vermittelt er viele praktische Anregungen zur Gründung von Gemeinden. Ich empfehle dieses Buch jedem, der an organischer Gemeinde interessiert ist.

Felicity Dale, Autorin

 

Ur-Gemeinde ist eine les- und lebbare(!) Beschreibung eines im Neuen Testament verwurzelten organischen Gemeindelebens für das einundzwanzigste Jahrhundert. Es vermeidet das Unkraut nicht nur eines hölzernen Fundamentalismus, sondern auch der unreflektierten ‚Überkontextualisierung‘. Frank Viola malt das einladende und attraktive Bild eines Gottesvolkes, das – vom Wirken des Heiligen Geistes bewegt – Gott in Christus zum Mittelpunkt hat. Dabei hilft uns Frank, von der Einzigartigkeit Jesu und seiner frühesten Nachfolger zu lernen, wie man authentisches und tiefes gemeinschaftliches Leben pflanzt.

Mike Morrell, zoecarnate.com

 

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Aufbrechen zu einer neuen Art von Gemeinde

TEIL 1: GEMEINSCHAFT LEBEN

1 Umdenken: Gemeinde als Organismus

2 Umdenken: Wie treffen wir uns?

3 Umdenken: Abendmahl

4 Umdenken: Wo treffen wir uns?

5 Umdenken: Gottes Familie

6 Umdenken: Die Einheit der Gemeinde

7 Gemeindepraxis und Gottes ewiger Plan

TEIL 2: LEITUNG UND VERANTWORTLICHKEIT

8 Umdenken: Geistliche Leitung

9 Umdenken: Aufsicht in der Gemeinde

10 Umdenken: Entscheidungsfindung

11 Umdenken: Geistliche Abdeckung

12 Umdenken: Autorität und Unterordnung

13 Umdenken: Abdeckung durch die Denomination/Konfession

14 Umdenken: Apostolische Tradition

15 Wie geht es weiter?

Anhang/Diskussion: Gemeindeleitung

Literaturverzeichnis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle Nachfolger Jesu,

die sich darüber Gedanken machen,

was Gemeinde eigentlich ist.

 

 

 

Vorwort

Nachdem ich dreizehn Jahre lang zahlreiche Kirchen und außerkirchliche Organisationen besucht hatte, wagte ich den Schritt, die Institution „Kirche“ zu verlassen. Seitdem bin ich nicht mehr in das institutionalisierte Christentum zurückgekehrt. Heute bin ich in so genannten „organischen Gemeinden“ unterwegs.

Warum ich die institutionelle Kirche verlassen habe? Zunächst haben mich die Sonntagsgottesdienste zu Tode gelangweilt – ganz allgemein und ungeachtet der jeweiligen Kirche, Denomination oder Freikirche. An den Menschen, die in die Kirche gingen, konnte ich kaum geistliche Veränderung beobachten. Und was ich selber an geistlichem Wachstum erfuhr, schien sich außerhalb des kirchlichen Milieus zu ereignen.

Außerdem hatte ich ein tiefes Verlangen nach Gemeinde, wie ich sie im Neuen Testament beschrieben fand. Scheinbar gab es in den traditionellen Kirchen und Gemeinden, die ich besuchte, so etwas nicht. Je mehr ich in der Bibel las, desto fester wurde meine Überzeugung, dass sich die heutige Kirche von ihren biblischen Wurzeln weit entfernt hat. Deshalb verließ ich das institutionelle Kirchenchristentum und begann mich mit einigen Christen auf „organische“ Art zu treffen.

Nach diesem Schritt wurde ich von Freunden und Bekannten oft gefragt: „In welche Kirche/Gemeinde gehst du eigentlich?“ Meine Antwort erzeugte regelmäßig eine peinliche Stimmung: „Ich gehöre einer Gemeinde an, die keinen Pfarrer und kein Gebäude hat; wir versammeln uns so, wie es die Urgemeinde getan hat. Dabei sind wir ganz von Jesus Christus eingenommen.“ So lautete gewöhnlich meine Standardantwort. Daraufhin wurde ich in der Regel angestarrt, als käme ich direkt vom Mars!

Auch heute diese Frage noch häufig gestellt. Jetzt kann ich besser antworten als damals vor zwanzig Jahren (obschon meine Antworten zugegebenermaßen immer noch schwerfällig und unbefriedigend ausfallen).

Genau hier liegt die Absicht dieses Buches: Es möchte eine biblische, geistliche, theologische und praktische Antwort auf die Frage formulieren, ob es überhaupt möglich ist, außerhalb der etablierten Kirchen Gemeinde zu leben? Und wenn ja, wie?

Wenn ich aus den vergangenen zwanzig Jahren etwasgelernt habe, dann Folgendes: Dieses Buch wird im Wesentlichen zwei Reaktionen auslösen. Die eine: „Gott sei Dank, bin ich nicht verrückt! Ich habe schon an mir selbst gezweifelt. Jetzt stell ich dankbar fest, dass ich nicht der Einzige bin, der so über Kirche denkt. Dieses Buch drückt genau das aus, was ich selbst seit vielen Jahren empfinde und denke. Jetzt kann ich wieder hoffen, dass es außerhalb des Althergebrachten authentisches Gemeindeleben gibt.“

Die andere Reaktion wird sein: „Wie können Sie es wagen, die gängige Kirchenpraxis in Frage zu stellen? Gott liebt die Kirche. Wer gibt Ihnen das Recht, so harsche Kritik zu üben? Und wer gibt Ihnen das Recht, zu sagen, Ihr Verständnis von Kirche sei das einzig richtige?“

Selbstverständlich bin ich nicht unfehlbar und gebe unumwunden zu, dass ich selber noch wachse und dazulerne. Doch genau hier liegt das Problem, das dieses Buch anpackt: Wir Christen sind uns uneins, was Kirche/Gemeinde ist. Ich kritisiere die Kirche keineswegs. Dieses Buch habe ich vielmehr geschrieben, weil ich die Gemeinde liebe. Deshalb sehne ich mich danach, den Leib Christi so gelebt zu sehen, wie Gott ihn sich meines Erachtens vorgestellt hat. Verwechseln Sie die Gemeinde bitte nicht mit einer Organisation, einer Denomination, einer Bewegung oder gar einer hierarchischen Struktur. Die Gemeinde ist das Volk Gottes, mehr noch: sie ist die Braut Jesu Christi! Ich werde in diesem Buch zeigen, dass Gott keineswegs verschwiegen hat, wie er sich die Gemeinde auf Erden vorgestellt hat. Was ich überdenken will, ist nicht die Gemeinde an sich, sondern ihre gegenwärtige Praxis.

Außerdem behaupte ich nicht, es gäbe so etwas wie den „richtigen“ Weg Gemeinde zu sein, geschweige denn, ich hätte ihn entdeckt. In diesem Buch denke ich ganz einfach über neue Wege nach – über Wege, von denen ich glaube, dass sie in Übereinstimmung sind mit der Lehre Jesu und der Apostel. Für mich und viele andere Christen haben sich diese Wege als das erwiesen, wonach wir uns im Tiefsten gesehnt haben.

Diesem Buch gehen zwei andere Schriften voraus. Das erste Buch heißt The Untold Story of the New Testament Church.1Darin zeichne ich die Geschichte der Gemeinde im ersten Jahrhundert in ihrer richtigen Reihenfolge nach. Die Apostelgeschichte und die neutestamentlichen Briefe werden ineinandergefügt, damit eine Zusammenschau der Urgemeinde entsteht. „Ur-Gemeinde“ beruht auf dieser Geschichte. Hier greife ich gezielt einige Themen aus der beeindruckenden Geschichte auf und gliedere sie thematisch. Zusammen gelesen ergeben beide Bücher ein überzeugendes Bild des neutestamentlichen Gemeindelebens.

Das zweite Buch, Heidnisches Christentum?2, zeigt, wie weit sich die gegenwärtige Kirche von ihren ursprünglichen Wurzeln entfernt hat. Die Kirche, wie wir sie heute kennen, hat sich von einem lebendigen, atmenden, kraftvollen Ausdruck von Jesus Christus zu einer kopflastigen, hierarchischen Organisation mit Anklängen an das imperiale Rom entwickelt. Die meisten Kirchen haben an diesen römischen Strukturen bis heute festgehalten.

Das vorliegende Werk gliedert sich in zwei Teile. Den ersten Teil habe ich mit „Gemeinschaft und Versammlung“ überschrieben. Ich untersuche darin das Leben und die Versammlungspraxis der Urgemeinde und vergleiche sie mit den Bräuchen der heutigen Kirche.

Der zweite Teil des Buches lautet: „Leitung und Verantwortung“. Darin stelle ich ein neues Leitungskonzept vor, einschließlich einiger Grundsätze zu Autorität und Verantwortung. Trotz ihres antitraditionellen Ansatzes beruhen meine Thesen auf biblischen Prinzipien. Sie sind auch praktisch. Ich erlebe seit nunmehr zwanzig Jahren, dass sie funktionieren. Im Anhang des Buches gehe ich zudem auf einige gängige Einwände ein.

Mein Ansatz ist durchweg konstruktiv. Dabei liegt es mir fern, eine Auseinandersetzung zu führen. Viele meiner Gedanken unterscheiden sich so radikal vom herkömmlichen Verständnis, dass sie deshalb bei manchen wohl Missfallen, bei anderen gar Feindseligkeit nach sich ziehen werden.

Ich zähle auf Ihre Geduld und bitte Sie, meine Aussagen im Licht der Heiligen Schrift und Ihres Gewissens zu prüfen. Meine Haltung beim Schreiben finde ich mit den Worten von C. S. Lewis am besten wiedergegeben: „Betrachten Sie mich als Mitpatient im selben Krankenhaus. Ich bin schon etwas früher eingeliefert worden und kann daher den einen oder anderen Rat geben.“ Ich wünsche mir sehnlich, Gottes Volk befreit zu sehen von der Tyrannei des Status quo, befreit aber auch von allen unterdrückenden, hierarchischen Strukturen – und dies aus einem einzigen Grund: damit Jesus Christus wieder Zentrum und Haupt seiner Gemeinde wird.

Frank Viola

Gainesville, Florida

Oktober 2007

 

1 Erscheint Anfang 2011 bei GloryWorld-Medien auf Deutsch.

2 Frank Viola / George Barna, Heidnisches Christentum?

Einleitung: Aufbrechen zu einer neuen Art von Gemeinde

Unsere Zeit lebt weit hinter den Maßgaben des Neuen Testaments – und gibt sich mit einer kleinen, überschaubaren Religion zufrieden.

Martyn Lloyd-Jones

Die meisten bekennenden Christen bemerken nicht, dass die zentralen Vorstellungen und Traditionen, die wir „Kirche“ nennen, nicht im Neuen Testament wurzeln, sondern in den in nachapostolischer Zeit entwickelten Bräuchen.

Jon Zens

Wir stehen vor einer Revolution der kirchlichen Theologie und Praxis. Zahllose Christen – darunter Theologen, Kleriker und Experten – suchen nach neuen Wegen, die Kirche zu erneuern und zu reformieren. Andere haben das traditionelle Verständnis von Kirche längst aufgegeben und sind zu der Überzeugung gelangt, dass die institutionelle Kirche, wie wir sie heute kennen, nicht nur wirkungslos geworden, sondern auch biblisch nicht mehr begründbar ist. Deshalb halten sie es für einen Fehler, die gegenwärtige Kirche bloß reformieren zu wollen, liegt doch das ursächliche Problem – nach ihrer Überzeugung – in der Struktur der Kirche selbst.

Zu diesem beunruhigenden Ergebnis bin auch ich vor nunmehr zwanzig Jahren gekommen, als nur wenige wagten, die Praktiken der institutionellen Kirche zu hinterfragen. Damals kam ich mir ziemlich einsam vor. An manchen Tagen fragte ich mich sogar, ob ich den Verstand verloren hatte.

Seitdem hat sich manches geändert. Heute wächst von Jahr zu Jahr die Zahl derer, die die institutionelle Kirche/Gemeinde infrage stellen.1 Viele von ihnen haben sie bereits verlassen und sich auf die Suche nach einem Gemeindeleben begeben, das ihre tiefsten Sehnsüchte stillt.

Eine Revolution jenseits von Erneuerung und Reformen braut sich zusammen: Sie hat die Axt an die Wurzel gelegt und zielt auf die Praxis und Theologie der Kirche selbst. Vielleicht hilft ein Beispiel aus der Geschichte, dieses Phänomen zu erklären.

Jahrhundertelang suchten westliche Astronomen die Bewegung der Sterne und Planeten zu verstehen. Doch so sehr sie sich auch mühten, ihre Berechnungen anhand der ihnen zur Verfügung stehenden Daten wollten einfach nicht aufgehen. Der Grund dafür war denkbar einfach: Ihre Voraussetzungen waren falsch, denn sie gingen von einem geozentrischen Weltbild aus. Sie glaubten, die Sterne und Planeten drehten sich um eine stationäre Erde. Auf diesem Weltbild gründeten sie ihr gesamtes Verständnis vom Universum.

Dann trat ein Bilderstürmer namens Kopernikus auf und stellte das traditionelle Weltbild infrage. Seine revolutionäre Behauptung: Die Planeten und Sterne drehen sich um die Sonne. Kopernikus‘ heliozentrisches Weltbild wurde zwar zunächst vehement bekämpft, doch konnten die Tatsachen nicht widerlegt werden. Schließlich setzte sich der neue heliozentrische Ansatz durch.2

In ähnlicher Absicht stellt dieses Buch den beherzten Versuch dar, der Kirche einen Paradigmenwechsel nahezulegen, eine Veränderung, die von der neutestamentlichen Vorstellung ausgeht, dass die Gemeinde Jesu Christi einen geistlichenOrganismus und keine institutionelle Organisation darstellt.

Ich kenne wenige Christen, die das bestreiten würden. Ich bin sogar unzähligen Christen begegnet, die bekennen: „Die Gemeinde ist ein Organismus, keine Organisation.“ Trotz dieser Beteuerung bleiben sie weiter treue Mitglieder in einer Kirche, die nach dem Vorbild eines Wirtschaftsunternehmens organisiert ist.

In diesem Buch werde ich zugespitzt fragen: Was bedeutet eigentlich die Feststellung, dass „die Gemeinde ein Organismus ist“? Wie funktioniert eine solche „organische Gemeinde“ im einundzwanzigsten Jahrhundert?

Die Begriffe „neutestamentliche Gemeinde“, „Urgemeinde“ und „Gemeinde des ersten Jahrhunderts“ verwende ich in meinem Buch durchweg synonym. Diese Bezeichnungen beziehen sich auf die frühe Kirche des ersten Jahrhunderts, wie wir sie aus dem Neuen Testament kennen.

Ich spreche aber auch jene Gemeinden an, die man allgemein als „institutionelle Kirchen bzw. Gemeinden“ bezeichnet. Ich hätte sie auch „etablierte Kirchen“, „traditionelle Kirchen“, „Establishment-Kirchen“, „Volks- und Landeskirchen“, „Episkopalkirchen“, „zeitgemäße Kirchen“, „Zuhörer- und Zuschauer-Kirchen“, „sakrale-Gebäude-Kirchen“, „Freikirchen“, „überlieferte Kirchen“ oder „programmgesteuerte Kirchen“ nennen können. Das sind jedoch unzulängliche Begriffe. Meines Erachtens trifft der Ausdruck „institutionelle Kirche“ am ehesten, was die meisten Kirchen heutzutage ausmacht.

Beachten Sie bitte: Wenn ich „institutionelle Kirche“ sage, dann meine ich damit nicht Gottes Volk! Ich spreche dann vielmehr von einem System. Die „institutionelle Kirche“ ist ein System; sie ist eine Art und Weise, wie „Gemeinde“ gelebt wird. Nicht die Menschen, die dorthin gehen, sind gemeint. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig und darf bei der Lektüre dieses Buches nicht vergessen werden.

Ein Soziologe mag mit meinem Gebrauch des Wortes „institutionell“ nicht einverstanden sein. Soziologisch gesehen stellt jede Institution ein Muster menschlicher Aktivität dar. Dazu gehört selbst eine Begrüßung mit Handschlag oder Umarmung. Ich räume gerne ein, dass alle Kirchen (selbst organische) einige solcher „Konventionen“ praktizieren.

Ich verwende die Bezeichnung „institutionelle Kirche“ dagegen in einem viel engeren Sinn: Ich meine damit jene Kirchen und Gemeinden, deren Organisation unabhängig von ihren Mitgliedern funktioniert. Solche Kirchen operieren aufgrund von Programmen und Ritualen und nicht von Beziehungen. Es sind durchstrukturierte Kirchen, in deren Mittelpunkt ein sakrales Gebäude steht und die von berufenen Fachkräften (den „Geistlichen“, „Pfarrern“, „Pastoren“ und dem „Klerus“) geleitet und von ehrenamtlichen Helfern (den Laien) unterstützt werden. Sie benötigen Personal, Gebäude, Gehälter und eine Verwaltung. In einer typischen institutionellen Kirche besuchen die Teilnehmer ein- oder zweimal die Woche einen Gottesdienst oder eine andere Veranstaltung und betrachten dabei eine religiöse Darbietung, die oft von einer einzigen Person ausgerichtet wird (einem Pastor oder Ältesten). Danach kehren sie nach Hause zurück zu ihren individuellen christlichen Existenzen.

Wenn ich dagegen von „organischer Gemeinde“ rede, meine ich damit jene Gemeinden, die sich an den gleichen geistlichen Grundsätzen ausrichten wie die Gemeinden, von denen wir im Neuen Testament lesen. Die neutestamentliche Gemeinde war die allererste organische Gemeinde, von der sich alle anderen organischen Gemeinden herleiten. Den Ausdruck „organische Gemeinde“ verdanke ich dem Engländer T. Austin-Sparks. Er schreibt:

Gottes Gesetz der Fülle heißt organisches Leben. Jedes Leben bringt nach göttlicher Ordnung seine eigene Form hervor, ob pflanzlich, tierisch, menschlich oder geistlich. Es kommt also alles von innen heraus. Funktion, Ordnung und Frucht entspringen dem inwendigen Gesetz des Lebens. Nur auf dieser Grundordnung entstand, wovon das Neue Testament berichtet. Das organisierte Christentum hat diese Reihenfolge jedoch völlig umgekehrt.3

Mein Freund Hal Miller führt auf brillante Weise diesen Gedanken weiter aus, indem er anhand einer einfachen Metapher die institutionelle Kirche mit der organischen Gemeinde vergleicht:

Institutionelle Kirchen sind Eisenbahnen vergleichbar: Sie fahren in eine bestimmte Richtung und behalten diese Richtung auch dann bei, wenn viele Hände versuchen sie anzuhalten. Wie bei Zügen ist in institutionellen Kirchen eine Richtungsänderung kaum möglich. Nur mithilfe einer Weiche wäre ein Wechsel auf ein anderes Gleis möglich. Andernfalls ist der Zug gezwungen, dem Gleis, auf dem er sich befindet, zu folgen. Die Passagiere können nur hoffen, in den richtigen Zug gestiegen und die gewünschte Richtung eingeschlagen zu haben.Organische Gemeinden wie die im Neuen Testament sind anders. Sie gleichen nicht einem Zug, sondern einer Wandergruppe. Reisegruppen zu Fuß sind wesentlich langsamer als Züge unterwegs; sie legen nur wenige Kilometer in der Stunde zurück. Allerdings können sie ihre Richtung jederzeit ändern. Wichtiger noch: Sie nehmen ihre Umwelt wahr, können auf ihren Herrn hören und jederzeit aufeinander achten.Wie alte Eisenbahnen sind institutionelle Kirchen leicht bemerkbar. Ihr Rauch und Lärm sind unverkennbar. Organische Gemeinden sind etwas subtiler. Weder kündigen sie durch Blinklichter ihr Kommen schon von Ferne an, noch pfeifen sie an jedem Bahnübergang. Daher glauben viele Menschen, diese neutestamentliche Art von Gemeinde sei längst ausgestorben. Weit gefehlt! Organische Gemeinden finden sich überall. Ich selbst bin schon seit nunmehr zwanzig Jahren Teil einer solchen Gemeinde. Immer noch gibt es Gemeinschaften wie unsere, die still ihres Weges gehen und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir sind einfach Pilger auf einem gemeinsamen Weg.Haben Sie erst einmal gelernt, organische Gemeinden zu erkennen, werden Sie sofort merken: Da versammeln sich Menschen wie im Neuen Testament – als Leib Christi, als Familie und als Braut, aber nicht als Institutionen.Organische Gemeinden sind Gruppen von Menschen, die ihren Weg mit Gott gehen. Die Züge überholen sie. Die Passagiere winken ihnen gelegentlich zu. Das klappt nicht immer, vor allem wenn der Zug so schnell unterwegs ist, dass die Wanderer entlang der Gleise einfach verschwimmen. Wenn auch Sie einer solchen Wandergruppe angehören, die als organische Gemeinde unterwegs ist, dann wird dieses Buch Ihre Wertschätzung für die neutestamentlichen Wurzeln wiederbeleben. Wenn Sie dagegen in einem vorbeirauschenden Zug sitzen, wird es Sie vielleicht überraschen, dass einige dieser verschwommenen Farbflecke dort draußen tatsächlich Menschen sind, die mit Gott unterwegs sind! Sie sind gerade an einer organischen Gemeinde vorbeigerauscht.

Sie sollten unbedingt wissen, dass der Versuch, Gemeinde als lebenden Organismus zu entdecken, kein Tagtraum ist. Auch heute kann die Kirche Jesu das sein, was sie im ersten Jahrhundert war: ein Organismus. Die folgenden Ausschnitte aus Briefen stammen von unterschiedlichen Menschen, die in den vergangen Jahren Erfahrungen mit organischen Gemeinden gemacht haben.

Brief 1 (eine Lehrerin)

Ich hatte nie vor, meine übernommenen Vorstellungen von Kirche aufzugeben oder gar meine Kirche zu verlassen. Weder habe ich eine neue Kirche gesucht, noch hatte ich irgendeine Vorstellung von organischer Gemeinde, als man mich das erste Mal in eine solche einlud. Ich bin der Einladung gefolgt. Was ich dort sah, war ganz anders als alles Bisherige. Diese Gemeinde war weder ein Bibelkreis noch eine Gebetszusammenkunft, sie war weder eine Heilungsveranstaltung noch ein Gottesdienst.Stattdessen konzentrierte man sich ganz auf Jesus Christus. Die Menschen sangen von ihm, tauschten sich über ihn aus und beteten ihn an. Diese Christen waren völlig eingenommen von der Großartigkeit des Herrn Jesus Christus. Sie verlangten – ganz ehrlich – nicht danach, bei ihren Treffen irgendetwas anderes zu tun, als über ihn / von ihm / zu ihm zu singen, sich über ihn zu unterhalten und einander durch ihn Liebe zu erweisen.Was mir zuerst auffiel, war ihre Innigkeit. Ich habe noch nie Menschen getroffen, die in einem solch innigen Verhältnis zum Herrn lebten. Diese Menschen brauchten ihn und schöpften ihr Leben aus ihm. Meine bisherigen Erfahrungen mit der Kirche sahen anders aus. Ich habe hingegebene Menschen gesehen, leidenschaftliche, ja sogar liebende Menschen. Ich habe aber noch niemals zuvor Christen gesehen, die das Herz Gottes selbst zu kennen schienen.Lange zuvor hatte ich gelernt, dass der Herr unter seinem Volk wohnt; diese Gemeinde jedoch war die erste, in der diese Erkenntnis auch in die Tat umgesetzt wurde. Hier teilte jeder jedem Christus auf eine Art und Weise mit, dass er mir ganz nah vor Augen geführt wurde. Durch die Menschen dort lernte ich verstehen, dass Christus unsere Speise und unser Trank ist. Jetzt erkannte ich, wer und wie er in unseren Versammlungen und in unserem Alltagsleben wirklich ist. Ganz neu „verliebte“ ich mich in ihn.Die Innigkeit, die ich hier erlebte, weckte meine Neugier; es war aber die Freiheit, die diese Christen auslebten, die meine Aufmerksamkeit dauerhaft fesselte und mich schließlich dazu bewegte, immer wieder hinzugehen und mich schließlich dieser Gemeinschaft anzuschließen. Wenn mir etwas Ermutigendes in Bezug auf den Herrn in den Sinn kam, konnte ich es einfach aussprechen; die anderen sagten „Amen“ oder „Preist den Herrn“. Ihre Ermutigung machte mir klar: Hier darf ich frei sein. Mehr noch: Christus schenkt seinem Volk Freiheit – und ich gehöre dazu.Zum allerersten Mal habe ich unter Christen solche Freiheit erlebt. Allmählich erkannte ich, wie es ist, wenn Christus den ersten Platz im Leben seines Volkes und dessen Zusammenkünften einnimmt und zu unglaublicher Einheit führt. Seit nunmehr zwei Jahren sehe ich, wie Christus jedes Treffen mit seiner Wahrheit erfüllt. Weder geh ich leer aus, noch kann ich mir vorstellen, die Tiefen Jesu Christi je auszuloten. In dieser Gemeinde und mit diesen liebevollen Geschwistern fange ich an zu entdecken, wie herrlich er wirklich ist.

Brief 2 (Frau eines ehemaligen Pastors)

Die ganze Erfahrung organischen Gemeindelebens hat mein Leben in vielfacher Hinsicht verändert. Die Gemeinde ist aus einer Konferenz hervorgegangen. Was wir auf dieser Konferenz zu hören bekamen, war wirklich erstaunlich. Der Herr zeigte mir seinen Plan und seine Absicht für die Gemeinde, seine Braut. Meine Vision erhielt eine himmlische und Christus-bezogene Dimension. Aber das sollte nur der Anfang sein.Nach der Pflanzung der Gemeinde erlebte ich Christus unter meinen Brüdern und Schwestern wie nie zuvor. Schlagartig wusste ich: Das ist es! Endlich hatte ich nach Hause gefunden. Gott wusste, was mein Mann und ich brauchten. Diese Offenbarung begann nach und nach zu wachsen und sich vor meinen Augen zu entfalten. Ich sah eine wunderschöne Braut, die ihrem Herrn voller Leidenschaft zugetan war. Ich sah eine Gemeinschaft von Gläubigen, die sich zu einem Wohnort für Gott zusammenfügen ließen. Ich sah Brüder und Schwestern aus verschiedenen Hintergründen, die sich noch nie gesehen hatten und dennoch liebten.Indem wir Christus gemeinsam liebgewannen, verbanden sich unsere Herzen. Die wachsende Einsicht in Gottes ursprünglichen Plan veränderte unser Leben. Ich sah, dass Gemeinde wirklich der Leib des Christus ist und er dessen Haupt. Erst wenn wir ihm erlauben, seinen rechtmäßigen Platz in unseren Herzen einzunehmen, werden wir sein Leben erfahren, wie er es uns zugedacht hat. Diese Art von Gemeindeleben ist die natürliche Heimat des Christen. Dort wachsen und gedeihen wir und ernähren uns von den Reichtümern Christi. Ich könnte manches erzählen, es gab so viel zu entdecken!Was ich dort gesehen und erfahren habe, hat mein Leben und das Leben meines Mannes für immer verändert. Wir hatten den Herrn schon lange gebeten, uns sein Herz und seine Wünsche zu offenbaren. Ich glaube, er hat dieses Gebet erhört. Es ist so aufregend, zu wissen, dass wir den Rest unseres Lebens erfahren dürfen, wie Christus sich seiner Gemeinde offenbart!

Brief 3 (Marketing- und Unternehmensberater)

Ich bin in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen und besuchte die Kirche bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich wusste, wie man als Christ lebt und sich zu benehmen hat. Ich war sozusagen ein Vorzeigekind.Im Gymnasium und später auf dem College lernte ich Christen kennen, die eine Leidenschaft in mir weckten, die ich nie für möglich gehalten hätte. Sie strebten nach einer tiefen Christus-Erkenntnis und schienen Christus bereits besser zu kennen als ich. Die Begegnung mit ihnen machte mir die Oberflächlichkeit meines eigenen Glaubens und meiner mangelhaften Christus-Erkenntnis bewusst. Obwohl ich gerne zur Kirche ging, um mit meinen Freunden und meiner Familie zusammen zu sein, war Kirche für mich eher eine notwendige, zu ertragende Verpflichtung, um nach der Sonntagsschule, dem Gottesdienst oder der Jugendgruppe mit meinen Freunden abzuhängen.So ließ ich die Predigten über mich ergehen und hoffte im Stillen, sie mögen endlich vorbei sein, damit wir anschließend ins Restaurant konnten. Wenige Minuten nach einer Predigt hatte ich ihren Inhalt vergessen. Ich hörte immer wieder: Du musst öfter in die Kirche, den „Zehnten“ geben, mehr in der Bibel lesen und deinen Glauben bezeugen. Bis ich jenen Christen begegnete, war mir nicht bewusst, dass keine der Kirchen, die ich besuchte, meinen Durst nach Jesus stillte. Statt Leben gaben sie mir Regeln und Vorschriften. Statt in Christus zu wachsen, „verdorrte ich am Weinstock“, ängstigte und schämte mich und fühlte mich unwürdig. Vom Herrn zu reden, machte mir keine Freude, und mir fehlte der Mut, Jesus vor Ungläubigen zu bekennen.Ich fragte mich: Wenn du der gute Christ bist, für den du dich hältst, wieso fällst du immer weiter zurück? Je mehr Zeit ich mit diesen Christen verbrachte, desto dringlicher wurde mein Wunsch, Christus zu kennen, wie sie ihn kannten. Christus zog mich an wie eine Straßenlaterne Motten. Ich verbrachte zunehmend mehr Zeit mit ihnen und besuchte ihre Versammlungen. Diese waren frei und offen. Dort gab es weder eine Liturgie noch einen Pastor. Offensichtlich brauchte man diese nicht. Es gab genügend Gläubige, die dem Herrn begegnet waren und fähig waren, andere aufzubauen.Sie brauchten keine Genehmigung sich zu Wort zu melden. Sie benötigten keinen, der sie unter einem Regelwerk lebloser Verpflichtungen begrub. Viele ihrer Lieder schrieben sie selbst. Reihum beteten sie füreinander; ihre Gebete kamen von Herzen und waren nicht einstudiert. Sie versammelten sich so, als wäre Jesus wirklich im Zimmer. Sie gingen liebevoll miteinander um wie in einer Familie.

 

Schon bald war mir klar, dass mir genau diese organische Art, Christus zu erfahren, fehlte. Ich lechzte danach, mich mit diesen Gläubigen zu treffen. Ich ging in ihre Zusammenkünfte und begegnete einem Herrn, der viel größer war, als dass er „nur“ für meine Sünden gestorben wäre. Ich fing an, ihn viel tiefer kennenzulernen.Irgendwelchen Darbietungen beizuwohnen stellte mich nicht mehr zufrieden. In diesen organischen Zusammenkünften wünschte ich anderen zu erzählen, was ich selbst mit dem Herrn erlebt hatte. Auf einmal fiel es mir leicht, meine Passivität zu überwinden, aktiv am Geschehen teilzunehmen und zur Versammlung beizutragen. Jede Zusammenkunft durfte anders sein. Manchmal sangen wir stundenlang. Ein andermal konnten sich die Gläubigen kaum zurückhalten, von allem zu berichten, was Jesus in der vergangenen Woche in ihrem Leben getan hatte. Manchmal haben wir den Herrn einfach schweigend in Ehrfurcht verehrt. Keiner musste uns etwas vorschreiben. Der Geist wirkte, und alles geschah spontan und wie von selbst. Oft haben wir wie eine Familie zusammen gegessen. Manchmal unterhielten wir uns über Bibelstellen. Oder wir inszenierten Geschichten aus der Bibel, die uns Christus näherbrachten.Wir trafen uns auch morgens unter der Woche: Brüder mit Brüdern, Schwestern mit Schwestern. Wir suchten den Herrn im Gebet und studierten gemeinsam die Schrift. Jeder Tag begann mit Christus. Am Abend luden wir uns gegenseitig ein zum Essen und zur Gemeinschaft mit Christus. Es gab Männerzusammenkünfte und Frauenstunden, bei denen wir uns berieten und gemeinsam Entscheidungen trafen für die Gemeinde. Wir übernahmen Verantwortung und sorgten füreinander.Lag nichts Dringliches vor, dann sangen wir zum Herrn und suchten gemeinsam seine Gegenwart. Brauchte jemand Hilfe, überlegten wir uns eine Lösung. Manchmal segneten wir einander einfach so. Singles passten gelegentlich auf die Kinder auf und ermöglichten den Ehepaaren, abends auszugehen. Kehrte jemand von einer längeren Reise zurück, wurde er am Flughafen von der ganzen Gruppe empfangen: Gemeindeversammlung am Airport!Immer und überall geschah etwas und ergaben sich Gelegenheiten, sich über Christus auszutauschen und gemeinsam den Herrn zu lieben. Oder wir gingen spontan raus, um den Verlorenen zu dienen. Egal, was wir unternahmen: Der Geist war frei sich unter uns zu bewegen und die Richtung vorzugeben. Wenn wir uns versammelten, sah ich einen verherrlichten und wunderbaren Christus. Wir entdeckten immer wieder Neues an ihm. Und jedes Mal wollte ich ihn tiefer erkennen. Das Schuld- und Schamgefühl und das Gefühl von Wertlosigkeit waren weg. Leidenschaftlich suchte ich Christus besser kennenzulernen.Ich verdorre nicht mehr am Weinstock. Ich habe die Freiheit der Christen entdeckt, die organisch zusammenkommen – wie in der Urgemeinde.

Kurzum: Dieses Buch versucht eine Vision von Gemeinde neu zu entwerfen, die organisch zusammengefügt ist und beziehungsorientiert lebt. Sie ist bibelgemäß in ihrer Gestalt und richtet sich an Christus aus. Sie ist trinitarisch geprägt und lebt gemeinschaftlich. Dabei vermeidet sie jedes elitäre Auftreten und verbietet sich sektiererisches Verhalten.

Ich lade Sie auf eine Entdeckungsreise ein, ganz neu zu erkennen, was es aus Gottes Perspektive heißt, Gemeinde zu sein. Unser gemeinsamer Ausgangspunkt ist das Neue Testament.

Ich habe einen Traum

Ich träume davon, dass die Gemeinde Jesu Christi eines Tages ihrer von Gott gegebenen Berufung folgt und – ganz nah am Herzschlag des allmächtigen Gottes – ihrer wahren Identität gemäß lebt: als die Verlobte des Königs aller Könige.

Ich träume davon, dass Jesus Christus eines Tages wieder das Haupt seiner Gemeinde sein wird: nicht nur als frommes Lippenbekenntnis, sondern tatsächlich.

Ich träume davon, dass überall Gruppen von Christen die neutestamentliche Wirklichkeit ausleben werden: Gemeinde ist ein lebendiger Organismus und keine institutionelle Organisation.

Ich träume davon, dass die Unterscheidung zwischen Klerus und Laien eines Tages Geschichte sein wird, wenn nämlich der Herr Jesus das vermoderte System menschlicher Hierarchie, das ihn seiner rechtmäßigen Herrschaft unter seinem Volk beraubt hat, durch seine Person ersetzt haben wird.

Ich träume davon, dass weite Teile von Gottes Volk dieses von Menschen geschaffene System nicht länger hinnehmen, das sie in Religion versklavt und unter einem Berg von Schuld, Verpflichtungen und Verurteilungen begraben und sie zu Sklaven autoritärer Systeme und Führer gemacht hat.

Ich träume davon, dass die Vorherrschaft und Zentralität Jesu Christi Mittelpunkt, Lebensgrundlage und Herzensanliegen jedes einzelnen Christen und jeder Gemeinde wird. Gottes geliebtes Volk wird sich dann nicht mehr über religiöse und theologische Fragen entzweien lassen. Die gemeinsame Leidenschaft und das Streben aller gilt nur noch einer Person, nämlich dem Herrn Jesus Christus.

Ich träume davon, dass sich zahllose Kirchen und Gemeinden von Powerunternehmen in geistliche Familien verwandeln, in authentische auf Christus fokussierte Gemeinschaften, in denen einer den anderen persönlich kennt und bedingungslos liebt, in denen man miteinander leidet und sich ungeheuchelt aneinander freuen kann.

Ich habe heute einen Traum …4

 

TEIL 1

GEMEINSCHAFT LEBEN

 

1 Vgl. George Barna, Revolution (Carol Stream: Tyndale, 2005), 9, 39, 65, 107–108.

2 Kopernikus’ Schrift Über die Kreisbewegungen der Weltkörper markiert den Beginn der wissenschaftlichen Revolution.

3 T. Austin-Sparks, Words of Wisdom and Revelation, 49.

4 Nach Martin Luther King Jr. I Have a Dream; Rede gehalten am 28. August 1963 in Washington.

Kapitel 1: Umdenken – Gemeinde als Organismus

Die Bestürzung über eine neue Wahrheit steht in direktem Verhältnis zur Überzeugung, mit der zuvor der Lüge geglaubt wurde. Nicht, dass die Erde rund war, hat die Menschen beunruhigt, sondern dass sie nicht mehr flach sein sollte. Wenn den Massen nach und nach und über Generationen hinweg ein ausgeklügeltes Lügennetz verkauft worden ist, wird die Wahrheit gänzlich lächerlich aussehen und ihr Vertreter wie ein Verrückter erscheinen.

Dresden James

Der Dienst des Heiligen Geistes war stets, Jesus Christus zu offenbaren und ihm alle Dinge gefügig zu machen. Das kann kein auch noch so begabter Mensch leisten. Durch Studium, Forschung oder Vernunft können wir nichts Wesentliches aus dem Neuen Testament gewinnen. Alles hängt davon ab, dass der Heilige Geist uns Jesus Christus offenbart. Wir müssen ständig danach trachten, ihn durch den Geist zu erkennen. Dann wird uns klar werden, dass er selbst die Ordnung, Form und Gestalt ist. Eine Person ist die Summe aller Ziele und Wege. Alles, was [in der Urgemeinde] geschah, ließ sich auf die freie und spontane Bewegung des Heiligen Geistes zurückführen; und dieser orientierte sich ausschließlich an Gottes Sohn.

T. Austin-Sparks

Das Neue Testament bedient sich zahlreicher Bilder für die Gemeinde. Dabei fällt auf, dass alle Bilder etwas Lebendiges darstellen: ein Körper, eine Braut, eine Familie, ein neuer Mensch, ein lebendiger Tempel aus lebendigen Steinen, ein Weinberg, ein Acker, ein Heer, eine Stadt usw.

Jedes Bild verdeutlicht, dass die Gemeinde ein lebendiger Organismus und keine institutionelle Organisation ist. Wer wollte dem widersprechen? Doch was ergibt sich daraus für die Praxis? Und glauben wir das wirklich?

Die Gemeinde, von der wir im Neuen Testament lesen, war „organisch“. Damit meine ich, dass sie aus geistlichem Leben geboren und am Leben erhalten wurde und keine menschliche Erfindung, kein von menschlichen Hierarchien beherrschtes und von leblosen Riten geformtes Konstrukt darstellt, das von religiösen Programmen zusammengehalten wird.

Ein Vergleich macht dies deutlich: Eine von mir in einem Labor hergestellte Orange wäre nicht organisch. Dagegen würde aus einem in den Boden gelegten Organgenkern ein organischer Baum entstehen.

Ähnlich ergeht es sündigen, sterblichen Menschen, wenn sie eine Gemeinde nach Art eines Wirtschaftsunternehmens gründen wollen und dabei das organische Lebensprinzip von Gemeinde missachten. Eine organische Gemeinde entsteht auf natürliche Weise immer dann, wenn eine Gruppe von Menschen Jesus Christus wirklich begegnet ist (äußerliche kirchliche Requisiten braucht es dazu nicht) und die DNA (das Erbgut) der Gemeinde sich uneingeschränkt entfalten kann.

Auf den Punkt gebracht, ist organisches Gemeindeleben kein Theaterstück mit verteilten Rollen, sondern eine Gemeinschaft, die aus Gott lebt. Im Gegensatz dazu arbeitet die moderne institutionelle Kirche nach denselben Organisationsprinzipien, die in jedem modernen Wirtschaftsunternehmen herrschen.

Die DNA der Gemeinde

Sämtliche Lebensformen verfügen über eine DNA, einen genetischen Code. Dieser verleiht jeder Lebensform ihren charakteristischen Ausdruck. So enthält Ihre DNA den Bauplan für Ihren biologischen Körper und bestimmt Ihr Aussehen und Ihre seelischen Grundstrukturen.

Ist eine Gemeinde wirklich organisch, verfügt sie auch über eine DNA – über geistliches Erbgut. Wo finden wir die Gemeinde-DNA? Der Schlüssel liegt in Gott selbst.

Mit den Worten des Athanasischen Glaubensbekenntnisses: „So ist der Vater Gott, der Sohn Gott, der Heilige Geist Gott. Und doch sind es nicht drei Götter, sondern ein Gott“, bekennen sich Christen zum dreieinigen Gott.1 Das klassische Christentum lehrt, dass Gott als eine Gemeinschaft von drei Personen existiert: Vater, Sohn und Geist. Die Gottheit ist demnach eine Gemeinschaft aus drei Personen, eine „Dreieinigkeit“ oder „Trinität“, wie Theologen dazu sagen. Der Theologe Stanley Grenz schreibt:

Gottes trinitarisches Wesen bedeutet, dass Gott in Beziehung existiert: Er ist ein „gemeinschaftlicher“ Gott. Deshalb können wir von Gott als von einer „Gemeinschaft“ reden. Gott existiert in der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Geist – in vollkommener und ewiger Gemeinschaft.2

Jahrelang habe ich präzise Lehraussagen zur Dreieinigkeit gehört. Für mein praktisches Leben hatten sie jedoch keinerlei Bedeutung. Ich empfand die Lehre von der Dreieinigkeit abstrakt und für die Praxis belanglos.

Später entdeckte ich, dass ein Verständnis für das aktive Leben innerhalb der Dreieinigkeit der entscheidende Schlüssel für sämtliche Aspekte des christlichen Lebens ist, einschließlich der Gemeinde.3 Es ist wie Eugene Peterson formuliert: „Die Trinität bildet den umfassendsten und integrativsten Rahmen, der uns zur Verfügung steht, um das christliche Leben zu verstehen und an ihm teilzuhaben.“4

Andere Theologen teilen seine Auffassung. Beispielsweise behauptet Catherine LaCunga: „Die Lehre von der Dreieinigkeit ist letztlich eine praktische Lehre mit radikalen Konsequenzen für das Leben jedes Christen.“5

Ganz ähnlich sieht es Miroslav Volf: „Der dreieinige Gott steht am Anfang und am Ende der christlichen Pilgerschaft und bildet somit das Herzstück des christlichen Glaubens.“6

Die biblische Lehre von der Dreieinigkeit ist keine abstrakte Spekulation über die Existenz Gottes. Vielmehr informiert sie uns über Gottes Wesen und Wirkungsweise innerhalb der christlichen Gemeinde. Als solche ist sie mehr als bloße Fußnote am Ende des Evangeliums, ist sie doch prägend für das Leben des Christen und ausschlaggebend für die Praxis der Gemeinde.7

Im ganzen Johannesevangelium macht Jesus Aussagen über sein Verhältnis als Sohn zum Vater. Er sagt: „Vater … du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt“ (Joh 17,24). „… damit aber die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe …“ (Joh 14,31). Schon diese beiden Stellen bezeugen die gegenseitige Liebe innerhalb der Gottheit vor Grundlegung der Welt.

Bereits in den ersten Kapiteln der Genesis lernen wir, dass die Gottheit in Gemeinschaft lebt: „Lasst uns Menschen machen nach unserem Bilde“, heißt es da (1 Mo 1,26). Wir sehen hier, wie der dreieinige Gott mit sich berät und plant.

Im Johannesevangelium erfahren wir mehr über das Wesen der Gottheit, zum Beispiel, dass der Sohn sein Leben aus dem Vater hat (Joh 5,26; 6,57). Der Sohn teilt die Herrlichkeit seines Vaters und bringt sie zum Ausdruck (Joh 13,31-32; 17,4-5). Der Sohn lebt im Vater und der Vater im Sohn (Joh 1,18; 14,10). Der Sohn lebt in völliger Abhängigkeit vom Vater (Joh 5,19). Er sagt und tut ausschließlich, was der Vater ihm aufträgt (Joh 12,49; 14,9). Der Vater verherrlicht den Sohn (Joh 1,14; 8,50.54; 12,23; 16,14; 17,1.5.22.24) und der Sohn ehrt den Vater (Joh 7,18; 14,13; 17,1.4; 20,17).

Innerhalb der Dreieinigkeit entdecken wir gegenseitige Liebe, Gemeinschaft und Abhängigkeit, dazu gegenseitige Verehrung, Unterordnung, Innewohnung und authentisches Zusammenleben. In der Gottheit ergänzen sich Vater, Sohn und Geist, indem sie ihr Leben, ihre Liebe und ihre Gemeinschaft miteinander teilen und gegenseitig austauschen.

Erstaunlicherweise wurde diese Art von Beziehung dann vom Göttlichen ins Menschliche gebracht: vom Vater zum Sohn und vom Sohn zur Gemeinde (Joh 6,57; 15,9; 20,21). Sie kam aus der himmlischen Sphäre des ewigen Gottes zur Gemeinde auf der Erde, die der Leib des Herrn Jesus Christus ist.

Die Gemeinde ist somit eine organische Erweiterung des dreieinen Gottes. Sie wurde in Christus vor der Zeit beschlossen (Eph 1,4-5) und an Pfingsten geboren (Apg 2,1ff.).

Richtig verstanden ist die Gemeinde die versammelte Gemeinschaft derer, die Anteil haben an göttlichem Leben und dieses auf der Erde sichtbar machen. Mit anderen Worten ist die Gemeinde das irdische Bild des dreieinen Gottes (Eph 1,22-23).

Weil die Gemeinde organisch ist, hat sie auch einen natürlichen Ausdruck. Eine Gruppe von Christen, die ihrer geistlichen DNA folgen, versammeln sich gemäß der göttlichen DNA, teilen sie doch Gottes eigenes Leben. (Christen sind zwar nicht göttlich, doch haben wir das Vorrecht, „Teilhaber der göttlichen Natur“ zu sein; vgl. 2 Pt 1,4).

Folglich weist die DNA der Gemeinde dieselben Merkmale auf, die man beim dreieinigen Gott erkennt, insbesondere gegenseitige Liebe, Gemeinschaft, Abhängigkeit, Achtung, Unterordnung, Innewohnung und authentisches gemeinsames Leben. Anders gesagt hat die Gemeinde ihre Quelle in Gott. Deshalb kann Stanley Grenz behaupten: „Letztendlich wurzelt unser Gemeindeverständnis in der Beziehung zum Wesen des dreieinigen Gottes.“8

Der Theologe Kevin Giles unterstreicht diesen Gedanken, indem er die Dreieinigkeit als ein Modell hinstellt, „anhand dessen die Lehre von der Gemeinde zu formulieren ist. Dies vorausgesetzt, ist das Innenleben der göttlichen Dreieinigkeit zugleich Muster, Vorbild, Modell, Echo und Bild für das gemeinschaftliche Leben der Christen in der Welt.“9

Die Dreieinigkeit ist schlichtweg das Paradigma für den natürlichen Ausdruck der Gemeinde. Die beliebte Theologin Shirley Guthrie entfaltet diesen Gedanken, indem sie die Beziehungsnatur der Gottheit beschreibt:

Die Einheit Gottes ist nicht das Eins-Sein eines bestimmten, in sich geschlossenen Individuums, sondern die körperschaftliche Einheit von Personen, die einander lieben und harmonisch zusammenleben … In ihrer Beziehung zueinander definieren sie sich gegenseitig … Keiner steht von den anderen losgelöst für sich alleine da, es gibt weder ein Vor- noch ein Nachgeord­netsein, auch keine Rangordnung; genauso wenig herrscht eine Person über eine andere; weder gibt es eine privilegierte Stellung auf Kosten eines anderen, noch herrscht Streit darüber, wem welche Aufgabe zukommt. Die Personen der Gottheit haben es nicht nötig, ihre Unabhängigkeit und Autorität gegen die anderen auszuspielen. Es ist eine Gemeinschaft unter Gleichen, die alles miteinander teilen, was sie haben und sind. Hier leben drei Personen in gegenseitiger Transparenz, aufopfernder Liebe und gegenseitigem Beistand. Sie sind nicht frei von-, sondern frei füreinander. So ist die Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist im inneren Kreis der Gottheit.10

Schauen wir uns noch einmal den dreieinigen Gott an und beachten dabei, was fehlt: Es lässt sich weder eine Befehlskette noch eine Hierarchie ausmachen.11 Es gibt auch kein passives Zuschauen und keine Vorherrschaft einer einzelnen Person. Außerdem fehlen religiöse Rituale und Programme. (Einige meinen, eine gewisse Hierarchie innerhalb der Dreieinigkeit zu erkennen, doch lässt sich diese weder biblisch noch geschichtlich nachweisen. Näheres dazu im Anhang.

Befehlsketten und Kommandostrukturen, Hierarchien, passive Gefolgschaft und teilnahmslose Beobachter, die Vorherrschaft Einzelner und religiöse Programme und Riten sind Erfindungen des gefallenen Menschen. Sie stehen in deutlichem Widerspruch sowohl zur DNA des dreieinigen Gottes als auch zur DNA der Gemeinde. Nach dem Tod der Apostel hat man bedauerlicherweise rasch nach solchen religiösen Praktiken gegriffen und ihnen damit den Zugang zum Christentum ermöglicht.12 Heute sind solche Bräuche zu markanten Merkmalen der institutionellen Kirche geworden.

Vier Paradigmen zur Wiederherstellung der Gemeinde

Im Folgenden nenne ich die vier wichtigsten Paradigmen, wie heute versucht wird, die Gemeinde zu erneuern:

Die Bibel als genaues Schema

Verfechter dieses Ansatzes gehen davon aus, dass das Neue Testament präzise Anweisungen zur gemeindlichen Praxis enthält. Demzufolge müssen wir lediglich das biblische Modell nachahmen. Wie ich aber zeigen werde, bietet das Neue Testament weder ein einfach kopierbares Schema für die gemeindliche Praxis noch legt es ein Regelwerk vor, das Christen zu beherzigen hätten.13 Der Neutestamentler F. F. Bruce schreibt: „Wenn wir das Neue Testament auf unsere Situation übertragen wollen, dürfen wir es nicht mit den Schriftgelehrten zur Zeit Jesu und ihrer Handhabung des Alte Testaments halten. Wir sollten das, was als Richtschnur für die Gläubigen in einer bestimmten Situation gedacht war, nicht zu einem allgemeingültigen Gesetz für alle Zeiten erheben.“14

Kulturelle Anpassungsfähigkeit

Die Vertreter dieses Paradigmas verweisen gerne auf den zeitlich bedingten Kulturwandel: Die Gemeinde im ersten Jahrhundert habe sich ihrer Kultur angepasst. Heute lebten wir allerdings in einem ganz anderen kulturellen Umfeld. Die Gemeinde müsse dieser Veränderung Rechnung tragen. Man fordert von der Gemeinde, sie solle sich in jedem Zeitalter gewissermaßen neu erfinden, um der jeweils vorherrschenden Kultur gerecht zu werden.

Diesem Ansatz liegt das „Kontextualisierungskonzept“ zugrunde. Kontextualisierung ist die theologische Methode, nach der die biblische Botschaft in den jeweiligen kulturellen Kontext zu übersetzen ist. Geht es um die Anwendung der Schrift, ist diese Methode freilich unverzichtbar. Solcher Kontextualisierung ist es zu verdanken, dass wir heute weder Sandalen noch Togen tragen und statt Griechisch Deutsch sprechen. Als Reisemittel haben wir Pferde gegen Autos getauscht.

Allerdings haben einige das Fähnchen der Kontextualisierung so hochgehalten, dass es zu einer Überkontextualisierung auf Kosten der Schrift und ihrer Gegenwartsrelevanz gekommen ist. Es besteht die Gefahr, dass die Kontextualisierung am Ende den biblischen Sinn bis zur Unkenntlichkeit entstellt und wir uns eine Gemeinde nach eigenem Gutdünken basteln. Vor dieser Gefahr warnt F. F. Bruce:

Die Übertragung des Evangeliums in die [kulturellen] Ausdrucksformen einer Generation ist ebenso notwendig wie seine Übersetzung in neue Sprachen. Wenn [jedoch] die überzogene kulturelle Anpassung des Evangeliums zur Verfälschung desselben führt, kann es schließlich ganz verloren gehen, und übrig bleibt am Ende, was Paulus „ein anderes Evangelium“ nennt, das eigentlich gar keines mehr ist (Gal 1,6f.). Hat sich die christliche Botschaft erst der herrschenden Meinung so sehr angeglichen, dass sie selbst nur ein weiterer Ausdruck dieser öffentlichen Meinung wird, dann kann man nicht mehr von der christlichen Botschaft sprechen.15

Ich bin vielen Anhängern des kulturellen Anpassungs-Paradigmas begegnet. Stets war ich überrascht, dass sie alle überzeugt waren, es gebe bezüglich der Gemeinde dennoch zeitlose und vom kulturellen Umfeld unabhängige Leitlinien. Die meisten Befürworter der kulturellen Anpassungsfähigkeit lehnen die Abschaffung etwa der Wassertaufe entschieden ab, und keiner von ihnen käme auf den absurden Gedanken, beim Abendmahl statt Brot und Wein Pommes frites und Limo zu reichen (ausgenommen Kinder unter zehn Jahren!).

Die kritische Frage indes bleibt: Welche Bräuche im Neuen Testament dürfen als bloße Beschreibungen angesehen werden, und welche haben normativen Charakter? Oder, um es anders auszudrücken: Welche Handlungen sind an die Kultur des ersten Jahrhunderts gebunden, und welche spiegeln das unveränderliche Wesen der Gemeinde wider?

Die Gefahren der Überkontextualisierung sind real, und viele christliche Verantwortungsträger sind ihnen unbeabsichtigt erlegen. Wir müssen uns davor hüten, einerseits biblische Grundsätze aufrechtzuerhalten, nur weil sie unseren Zwecken dienen, sie jedoch andererseits im Namen der „Kontextualisierung“ aufzugeben, wenn sie nicht in unser Konzept passen.

Fakt ist, dass nahezu alle Christen ihre Vorstellungen von Christsein und Gemeinde der Bibel entnehmen. (Ironischerweise berufen sich gerade die, die diesen Anspruch nicht für sich erheben, immer dann auf die Lehren Jesu oder des Paulus, um ihre speziellen Auffassungen zu belegen.) Die Urgemeinde war keineswegs vollkommen. Der Korintherbrief belegt dies auf eindrucksvolle Weise. Die ersten Christen schwärmerisch als fehlerlos hinzustellen, ist ein Irrtum.

Andererseits war die Gemeinde des ersten Jahrhunderts das Gründungswerk Jesu und seiner Apostel. Sofern die Gemeinden im ersten Jahrhundert die Lehren Jesu und der Apostel verwirklichten, dienen sie uns als Vorbild. J. B. Philips schreibt:

Der große Unterschied zwischen den Christen unserer Tage und jenen, von denen wir in den Briefen [des Neuen Testaments] lesen, besteht darin, dass das, was für uns in erster Linie Darstellung ist, für sie noch echte Erfahrung war. Wir neigen dazu, den christlichen Glauben auf gewisse Regeln zu reduzieren oder bestenfalls zu Herzensanliegen und Leitsätzen zu machen. Für jene Menschen aber brach eine neue Qualität von Leben in ihre Existenzen ein.16

Nachkirchliches Christentum

Dies ist der Versuch, Christsein ohne Zugehörigkeit zu einer identifizierbaren Gemeinschaft zu leben, die sich regelmäßig zu Anbetung, Gebet, Gemeinschaft und gegenseitiger Ermutigung sammelt. Befürworter von Christsein ohne Gemeinde halten spontane Gemeinschaft (zum Beispiel bei einer Tasse Kaffee) und persönliche Freundschaft für das, was das Neue Testament unter Gemeinde versteht. Wer sich zu diesem Paradigma bekennt, glaubt an eine gestaltlose, nebulöse Phantomgemeinde.

Solche Ansichten entbehren jeder neutestamentlichen Grundlage. Die Gemeinden im ersten Jahrhundert waren auffindbare, identifizierbare und erkennbare Gemeinschaften, die sich regelmäßig an bestimmten Orten versammelten. Deshalb konnte Paulus seine Briefe an spezifische Ortsgemeinden richten und dabei ganz bestimmte Leserkreise vor Augen haben (vgl. Röm 16). Wahrscheinlich wusste er sogar, wann sie sich trafen (vgl. Apg 20,7; 1 Kor 14) und mit welchen geistlichen Herausforderungen sie gemeinsam zu kämpfen hatten (vgl. Röm 12–14; 1 Kor 1–8). Der nachkirchliche Ansatz kann nicht als bibelgemäß gelten, entspricht aber freilich dem heutigen Wunsch nach Beziehungsnähe ohne Verbindlichkeit.

Organischer Ausdruck

Dies ist der Ansatz, den ich hier vertrete. Nach meiner Überzeugung schildert das Neue Testament die Entfaltung und Auswirkung der gemeindlichen DNA. Die Apostelgeschichte und die Briefe offenbaren uns die Genetik der Gemeinde Jesu Christi, wie sie sich in den jeweiligen Kulturen der Antike äußerte. Da Gemeinde ein geistlicher Organismus ist, bleibt ihre DNA unverändert. Ihre biologische Identität ist dieselbe gestern, heute und morgen. Die DNA der Gemeinde beinhaltet immer die folgenden vier Elemente:

1. Sie bringt stets zum Ausdruck, dass Jesus Christus das Haupt seiner Gemeinde ist und damit im Gegensatz zur Herrschaft des Menschen steht. (Ich sage „Haupt“, weil ich beides hervorheben möchte: Christus zugleich als Autorität und Ursprung der Gemeinde).17

2. Sie fördert und ermöglicht immer, dass alle Glieder am Leib ihren Beitrag leisten.

3. Sie wird sich gewissenhaft an der Theologie des Neuen Testaments ausrichten und dieser auf der Erde sichtbaren Ausdruck verleihen.

4. Stets wird sie in der trinitarischen Gemeinschaft Gottes gegründet sein.

Die Dreieinigkeit ist das Paradigma, an dem sich die gemeindliche Praxis zu orientieren hat. An ihr zeigt sich, wie Gemeinde sein sollte: eine hierarchiefreie Gemeinschaft der Liebe, Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit.

F. F. Bruce hat einmal gesagt: „Entwicklung ist die Entfaltung von dem, was – wenn auch noch im Verborgenen – schon immer da war. Abweichung dagegen ist das Aufgeben eines Grundsatzes zugunsten eines anderen.18

Alles, was die Gemeinde befähigt, den dreieinigen Gott widerzuspiegeln, ist Entwicklung. Alles, was sie daran hindert, ist Abweichung.

Zusammen mit George Barna habe ich in Heidnisches Christentum?