Valdarno geheimnisvolle Toskana - Barbara de Mars - E-Book

Valdarno geheimnisvolle Toskana E-Book

Barbara de Mars

4,9

Beschreibung

Der Valdarno liegt im “goldenen Dreieck” der Toskana zwischen Florenz, Arezzo und Siena. Nach Abschluss ihres Studiums der Kunstgeschichte verbringt Julia eine ereignisreiche Woche im Arnotal und entdeckt sowohl die Schönheit seiner Natur als auch seine kunsthistorischen Schätze. Julia ist insbesondere der Frage auf der Spur, warum die Renaissance in der Malerei von hier ihren Anfang nahm. Die Antwort erfährt sie in einer ungewöhnlichen Begegnung, die ihr Herz berührt.

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Übergänge

Seh aus dem Traum

mit anderen Augen

Geh anders wieder

in den Traum

Christoph Wilhelm Aigner

Meinen Eltern

und für Anna und Samuel

INHALT

Vorwort

Der Valdarno

Eine italienische Familie

San Giovanni Valdarno

Die Sprachschule

Eiszeit

Das Museum der „Terre Nuove”

Casa Masaccio

Berg- und Weinbau

Die „Balze”

Via Setteponti: San Giovenale und Cascia

Via Setteponti: Pian di Scò und Castelfranco

Via Setteponti: Loro Ciuffenna

Via Setteponti: die Entdeckung Amerikas

Via Setteponti: das Geheimnis der Mona Lisa

Das Museum der Basilika

Das Turmhaus von Menzano und der Pfirsich Elberta

Poggio alla Regina

Der letzte Schultag

Gropina

Slow Food Markt in San Giovanni

Schloss Sammezzano

Gorgiti - das Bad im Fluss

Rocca Ricciarda

Von Vallombrosa nach Secchieta

Abschied

Karte Valdarno

VORWORT

In weniger als einer Autostunde erreicht man von unterschiedlichen Ecken des Valdarno die Kunststädte Florenz, Arezzo und Siena. Der Valdarno im Herzen der Toskana ist über die Autobahn A1 mit den Ausfahrten Incisa - Reggello und Valdarno - San Giovanni, sowie die gut ausgebaute Zugverbindung auf der Trasse Florenz - Arezzo leicht zugänglich. Die nächstgelegenen Flughäfen sind Florenz, Pisa, Bologna und Rom.

Im Italienischen sind Täler weiblich. Nur das Arnotal wird mit dem männlichen Artikel versehen. Deswegen wird analog hierzu das Arnotal im Buch „der Valdarno” genannt.

Mit seiner abwechslungsreichen Geschichte, die vor Jahrtausenden beginnt und Etrusker, Hannibal, Römer und die Medici gesehen hat, bietet der Valdarno heute Erlebnisse für jeden Geschmack und die verschiedensten Interessen, von Museen und kulturellen Angeboten über kulinarische Streifzüge und Wanderungen in den sogenannten „Balze” (Lehm- und Steinformationen) im Tal oder im Pratomagnogebirge und in den Hügeln des Chianti. Die im Buch beschriebenen Orte und Wanderrouten gibt es wirklich. Es möchte anregen, die Schönheit in einfachen Dingen zu sehen und gleichzeitig hinter die Fassade zu blicken, um ein tieferes Erleben und Verstehen von Land und Leuten zu ermöglichen.

Herzlichen Dank an Stefania Papi für die Nutzung eines Details der „Mariä Verkündigung” (1994) von Lorenzo Bonechi als Titelbild. Für ihre Expertise, Ratschläge, Geduld und Freundschaft danke ich Christoph Wilhelm Aigner, Lucia Bencistà, Fabrizio D’Aprile, Carlo Fabbri, Maurizio Giovani, Bernardo Manetti, Anja Pochhammer und Giorgio Torricelli.

Weitere Anregungen, was Sie im Valdarno erleben und besichtigen können, finden Sie im Blog Valdarno365.

In diesem Sinne: Buone vacanze!

DER VALDARNO

Was würde sie erwarten? Dunkel umfing sie der Tunnel und sie hörte lediglich das dumpfe regelmäßige Rattern der Räder, gleich dem Pulsschlag in ihren Adern. Die Luft im Abteil war stickig, obwohl alle Fenster geöffnet waren. Ungeduldig rutschte sie auf dem kobaltblauen Plastiksitz hin und her. Die Jeans klebte an den Beinen und es roch nach Schweiß und langer Fahrt.

Als der Zug schließlich aus dem Dunkel auftauchte, meinte Julia in einer anderen Welt zu sein. Sie blickte nach links auf eine Bergkette, die sich imposant in der Nachmittagssonne auftürmte, während der Zug sich weiter in den Valdarno wälzte und immer neue Perspektiven eröffnete. Wie in einer Nussschale lag das Tal vor ihr, als sei es eine in sich abgeschlossene, kleine Welt. Es war ein sonniger Tag Anfang August, der Himmel strahlte in luftigem Hellblau und die Olivenhaine schimmerten silbrig-grün auf den Hügeln.

Julia war ihren Eltern dankbar, dass sie ihr zum bestandenen Bachelor in Kunstgeschichte eine Sprachreise in die Toskana spendiert hatten. Auch weil sie nicht wusste, wie sich ihr künftiges Leben gestalten würde und ob sie ein Masterstudium anhängen sollte. Aussicht auf eine konkrete Arbeit hatte sie nicht.

Und noch aus einem anderen Grund war sie froh, der gewohnten Umgebung zu entfliehen, aber das hatte sie ihren Eltern nicht erzählt. Einige Wochen zuvor war ihre Beziehung zu Johannes zerbrochen. Sie hatten sich vor mehr als zwei Jahren an der Uni kennengelernt, er war der praktische Jurist und sie die „Feingeistige”. Ihr gemeinsamer Freundeskreis fand, sie würden sich gut ergänzen und sie war froh, dass Johannes sie mit seiner konkreten Art erdete.

Nachdem er gerade sein Staatsexamen mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, wurde ihm eine Arbeit in einer anderen Stadt angeboten und wenige Tage später hatte er ihr kurzerhand eröffnet, dass er hiermit ihre gemeinsame Zeit für beendet erachte, denn „eine Fernbeziehung funktioniert eh nicht”. Julia fühlte sich überrumpelt und gedemütigt und obwohl sie sich bemühte, Johannes’ Argumentation zu verstehen, hörte es sich an wie ein Vorwand für eine bereits seit längerem gefällte Entscheidung. Sie erinnerte sich noch, wie Johannes während des ganzen Gesprächs unaufhörlich die Gläser seiner Brille putzte und es dabei vermied, ihr in die Augen zu schauen. Dabei hatte sie geglaubt, dass trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere seine Gefühle für sie tiefer gingen. Was für ein Irrtum.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, auf dessen Display immer noch ein Foto von Johannes eingebrannt war und tippte mit dem Zeigefinger auf die Funktion „Löschen”. Dann hielt sie das Handy willkürlich auf das Panorama, das sich vor ihr auftat und drückte auf den Auslöser.

Julia betrachtete ihr neues Display: das erste Drittel des Berges war mit Häusern gesprenkelt. Auf halber Höhe des Berges sah sie einen hellen Fleck, der aussah wie ein Haus mit einem Turm in der Mitte. Darüber lag nur noch der Berg, unbewohnt, verlassen, wild. Julia fand, das Foto sei so gut wie jedes andere, Toskana eben, und beließ es dabei.

Um sich abzulenken, sah sie abwechselnd aus dem Fenster und betrachtete dann ihre Mitreisenden. Das breite Flussbett des Arno, der jetzt im Hochsommer einem unscheinbaren Rinnsal glich, begleitete ihre Fahrt. Sanft lehnte sich der Zug in die Kurven. Die anderen Passagiere starrten meist auf ihre Smartphones. Auf dem Sitz vor ihr saß eine Frau in den Dreißigern, die kastanienfarbenen langen Haare fielen stufig weich auf die Schultern und die Finger mit sorgfältig rot lackierten Nägeln tippten in Windeseile eine Nachricht nach der anderen. Eine holländische Touristenfamilie mit drei blonden Kindern unterhielt sich angeregt über die Erlebnisse des Tages, den sie in Florenz verbracht hatte.

Auch Julia war gleich nach ihrer Ankunft in Florenz noch am Vormittag zur Kirche Santa Maria del Carmine geeilt, um in der Brancacci-Kapelle den Gegenstand ihrer Bachelorarbeit zu betrachten: die Fresken von Masaccio, Masolino und Lippi.

Von allen drei Künstlern hatte Masaccio sie seit jeher am stärksten gefesselt. In seiner „Vertreibung aus dem Paradies” konnte sie aus den Gesichtern von Adam und Eva die entsetzte Verzweiflung der beiden ablesen, im „Zinsgroschen” entwickelte Masaccio in einem einzigen Bild nur durch die Gesten der Figuren eine dramatische Handlung samt Wunder und Auflösung. Julia war begeistert von dem revolutionären Realismus Masaccios, von den manchmal grobschlächtigen, volksnahen Figuren, die auch heute noch beim Fleischer hinter der Theke stehen oder an der Bar einen heben könnten.

Masaccio hatte nicht nur der Malerei Anfang des 15. Jahrhunderts eine ganz neue Wendung gegeben, indem er von den vergeistigten, weich geschwungenen und verzierten Figuren der internationalen Gotik abrückte. Auch heute Morgen, rund 600 Jahre später, hatte er es vermocht, durch seine kraftvollen, zeitlosen Geschichten, seine Farben und sein Licht das Herz der jungen Frau zu berühren. Eine halbe Stunde nach ihrer Abfahrt vom Bahnhof Santa Maria Novella in Florenz hielt der Zug kurz in der kleinen Stadt Figline. Die holländische Familie und viele andere Reisende stiegen aus, so dass Julia mehr Platz und Luft hatte. Aber sie genoss das gewonnene Privileg nicht, denn die nächste Haltestelle war San Giovanni Valdarno. Hier würde sie die kommende Woche verbringen.

Sie dachte zurück an die letzten Monate, den Stress der Prüfungen, der sie wie in einen Sog gezogen hatte, der Tunnelblick auf ihre Aufgabe, die Zweifel und Anspannung, bevor das Ergebnis feststand. Aber was hatte sie mit dem Bachelor eigentlich erreicht? Masaccio, der noch vor Vollendung des 27. Lebensjahres gestorben war, hatte die Meisterwerke in der Brancacci-Kapelle von heute Morgen in Julias Alter gemalt.

Sie strich energisch eine widerspenstige blonde Haarsträhne aus der Stirn, als eine weibliche Stimme vom Band in abgehackten Satzteilen ankündigte: „Prossima stazione – San Giovanni Valdarno - next stop – San Giovanni Valdarno”.

Ohne dass Julia wusste warum, begann ihr Herz aufgeregt zu klopfen und während der Zug langsam in den Bahnhof einrollte, beschloss sie, die Zeit in der Toskana zu genießen und das Beste aus den nächsten Tagen zu machen. Sie nahm ihren Koffer und ging die paar Meter bis zur Wagontür, wo sich durch das verschmierte ovale Fenster das ziegelrote Gebäude des Bahnhofs in ihr Blickfeld schob.

Schrill quietschten die Bremsen und der Zug hielt an. Der abrupte Halt brachte sie fast aus dem Gleichgewicht. Ungestüm riss sie den roten Türhebel nach oben und die Tür öffnete sich zögernd wie eine Verheißung. Sie beeilte sich auszusteigen und zog den Koffer nach. Auf dem Bahnsteig fiel ein junges Mädchen mit einem überschwänglichen „Amore!” dem Mann hinter ihr um den Hals, kaum dass er die Füße auf den Boden gesetzt hatte und die beiden küßten sich wie auf Francesco Hayeks Bild. Es schien Julia unangemessen, dieses offensichtliche Glück länger zu betrachten, deshalb wandte sie den Blick ab und suchte den Ausgang.

Das Tal des Valdarno Superiore zwischen Florenz und Arezzo entstand im Wesentlichen bereits vor 7 Millionen Jahren. Im Nordosten wird es durch das Bergmassiv des Pratomagno begrenzt, dessen höchster Gipfel auf 1592 Metern liegt. Im Südwesten bilden die Hügel des Chianti eine natürliche Abgrenzung. Der Fluss Arno durchquert das Tal der Länge nach auf seinem Weg Richtung Florenz.

Seit der Steinzeit gibt es Zeugnisse der Besiedlung des Valdarno. Unter anderen waren Etrusker und Römer im Tal ansässig. Im Mittelalter wurde es von Florenz, Arezzo und Siena hart umkämpft und geriet schließlich mehr und mehr in den florentiner Einflussbereich.

Einst bekannt als die „Kornkammer” von Florenz, gediehen im 19. und 20. Jahrhundert besonders die metallverarbeitende Industrie sowie die Textil- und Lederbranche.

EINE ITALIENISCHE FAMILIE

Der war schnell gefunden, die Leute strömten durch einen engen Ausgang neben dem Bahnhofsgebäude wie durch ein Nadelöhr. Während Julia sich in den Strom der Reisenden einreihte, fragte sie sich, wie wohl ihre Gastfamilie sein würde, bei der sie die nächste Woche verbringen sollte. Auf dem Bahnhofsvorplatz manövrierten Autos und parkten chaotisch. Wie Ameisen und dennoch zielstrebig liefen die Menschen ihren unbekannten Zielen entgegen.

Julia hielt inne und suchte nach dem schmalen, blondgerahmten Gesicht der Gastmutter, deren Foto sie auf Facebook gesehen hatte. „Giulia?” Die Stimme klang angenehm und nur ganz sacht schwang darin die Möglichkeit, dass der Mann neben ihr sich geirrt haben könnte, als er ihren Namen auf Italienisch aussprach. Er mochte ungefähr Mitte fünfzig sein, war untersetzt und nur wenig größer als sie. Eine dunkle Hornbrille ließ ihn älter erscheinen und gab ihm ein seriöses Auftreten. Im Gegensatz zu den meisten leger gekleideten Reisenden trug er einen beigen Baumwollanzug, darunter ein sportliches rosa T-Shirt mit Kragen. Als sich ihre Augen begegneten, war Julia überrascht, wie schön die seinen trotz der dicken Brillengläser waren und wie einnehmend durch die gutmütige Freundlichkeit, die sie ausstrahlten.

Die Aufregung und Anspannung wich aus Julias Zügen und sie erwiderte in korrektem Italienisch: „Eccomi” - (Hier bin ich). Der Mann streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor: „Buonasera, Marcello” und zog sie dann behutsam an sich und begrüßte sie nach italienischer Sitte mit einem angedeuteten Kuss rechts und links auf die Wangen. Wie selbstverständlich nahm er ihr in väterlicher Manier den Koffer ab und bugsierte ihn zu einem in der Auffahrt zum Bahnhof in zweiter Reihe parkenden Fiat Tipo.

Ehe sie sich versah, fuhren sie schon durch die Stadt, wobei ihr Gastvater Marcello auf die Gebäude rechts und links deutete und erklärte: „Hier ist der Supermarkt - dort ist die Post.” Die Straßen waren geradlinig und breit, aber Julia konnte sich die Lage der Gebäude, die Marcello ihr zeigte, nicht merken, da sie die Stadt nicht kannte. Nach wenigen Minuten hielt das Auto bereits vor einem unspektakulären, aber gepflegten Haus mit Vorgarten, das um die Mitte des 20. Jahrhunderts erbaut sein mochte.

Der Eingang zur Gartentür war überdacht. Vor den Fenstern im Erdgeschoss spendeten orangene Markisen mit runden Volants, wie sie in den 70er Jahren in Mode waren, Schatten. „Hier sind wir. Marta erwartet dich schon, sie bereitet das Essen vor. Prego.” Mit galantem Schwung hielt Marcello ihr die Tür auf, was Julia ein bisschen peinlich war, denn sie fühlte sich nicht besonders damenhaft. Rasch schwang sie ihre langen Beine aus dem Auto, während Marta ihr bereits entgegeneilte.

Im Gegensatz zum korpulenten Marcello war Marta schlank und ihre Bewegungen eckig und schnell. Sie trug ein mit Bedacht gewähltes, farbenfrohes Kleid und modernen Schmuck an Hals und Armen, der bei jeder Bewegung fröhlich klimperte. Energisch zog sie Julia an sich, begrüßte sie freudig und organisierte in mütterlichem Tonfall, der keine Widerrede duldete, den weiteren Ablauf.

Als Julia sich in ihrem komfortablen Zimmer im obersten Stockwerk aufs Bett fallen ließ, war sie glücklich über den Verlauf des Tages. Das Ehepaar Marta und Marcello – sie Lehrerin an der örtlichen Oberschule und er Bankangestellter – machten einen warmen und herzlichen Eindruck.

Sie beeilte sich mit dem Duschen und Auspacken des Koffers. Eine Seite des Kleiderschranks war verschlossen und der Schlüssel abgezogen, so dass sie ihre T-Shirts, Jeans und Sneakers in den verbleibenden Schrankteil einräumte.

Es war fast 20 Uhr, als sie, immer zwei Stufen auf einmal, die Cotto- Treppen hinunter in den Wohnbereich nahm. Wohnzimmer, Küche und Esszimmer waren ein einziger großer Raum. Wer durch die Eingangstür aus dunklem Holz trat, stand mitten im Familienleben der Bonatti.

An der Wand gleich neben der Eingangstür befand sich rechts hinter einem kleinen Glastisch mit einer Schüssel Bonbons die helle Sofagruppe. Über dem Sofa und an den Wänden hingen verschiedene Stillleben in Öl. Die gesamte gegenüberliegende Wand nahm ein Bücherregal ein, mit teils alten Buchrücken sowie Fotobänden und Romanen. Rechts hinten lag die offene Edelstahlküche und davor, zwischen Küche und Sofagruppe, war Platz für einen modernen Esstisch aus Glas und vier gepolsterte Stühle mit hohen Lehnen.

Es war das gepflegte Ambiente einer Familie der Mittelklasse. Kein Stäubchen war zu sehen, alles im Leben des Paares schien seit Jahren seinen festen Platz zu haben. Wie in Italien üblich, hatten die Fenster keine Vorhänge, sondern außen angebrachte hölzerne Fensterläden, die halb geschlossen waren, um die sommerliche Hitze fernzuhalten. Dadurch lag das Zimmer im Halbdunkel. Eine Energiesparlampe in der Küche verbreitete ein diffuses Licht.

Auf dem Esstisch waren bereits Platten mit Antipasti angerichtet: Crostini salsiccia e stracchino – geröstete Weißbrotscheiben mit Weichkäse, vermengt mit einer würzigen Bratwurst, im Ofen überbacken - Crostini rossi mit gehackten Tomaten und Basilikum, Prosciutto crudo, ein roher Schinken ähnlich dem San Daniele, Finocchiona, eine frische, noch weiche Fenchelsalami, Oliven, Pecorino- Käse und dazu Honig in kleinen Schälchen. Marcello erklärte jedes einzelne Gericht und fragte: „Ein Glas Rotwein? Du trinkst doch Wein?” Julia nickte, während Marta die Pasta auf dem Gasherd und den Braten im Ofen kontrollierte.

Marcello goss aus einer grünen Flasche ohne Etikett den Rotwein in die geschliffenen Kristallgläser und aus einer Karaffe Leitungswasser in die kleineren Gläser daneben. Zwischen den Dreien herrschte sofort eine heitere Stimmung und Julia fühlte sich bereits wie eine Tochter angenommen. Marta erzählte überschwänglich von Lorenzo, ihrem einzigen Sohn, der gerade in Pisa sein Studium der Biologie abschloss. Er war nur wenig älter als Julia.

Nach den Antipasti zeigte Marta ihr die Fotos an der Wand, auf denen Lorenzo als Kind und Jugendlicher zu sehen war. Lorenzo bei der Erstkommunion, im Fußballverein, am Strand mit Freunden. Immer wieder sah Julia den Jungen neben einem alten Mann mit Schnauzbart und wachen Augen. Marta erklärte: „Marcellos Vater. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Er hat Lorenzo die Liebe zur Natur vermittelt.”

Lorenzo hatte feine, intelligente Züge und die gleichen wachen Augen wie sein Großvater. Als Teenager mauserte er sich zu einem schlanken, sportlichen und attraktiven dunkelblonden jungen Mann. Links neben der Eingangstür, schräg vor dem Treppenaufgang stand ein Klavier und auf mehreren Fotos an der Wand entdeckte Julia Lorenzo im dunklen Anzug, wie er sich neben einem Konzertflügel verbeugte. Marcello war ihr Blick nicht entgangen und er nickte: „Lorenzo hat gut Klavier gespielt.” Julia bemerkte den schnellen Blick, den Marta Marcello zuwarf, bevor sie Julia fragte: „Kann ich die Pasta bringen?”

Nach dem Primo kam das Roastbeef mit Rosmarin-Ofenkartoffeln und Julia meinte, gleich zu platzen, wollte aber nicht unhöflich sein und griff zu. Trotzdem war sie froh, als das Dessert an der Reihe war. Aus einer mit Wasser gefüllten Obstschale wurden Pfirsiche gereicht. Achtlos nahm sie den nächstbesten und biss in die noch unreife harte Frucht.

SAN GIOVANNI VALDARNO

„Gehen wir doch noch auf einen Sprung in die Stadt und nehmen dort einen Caffè”, meinte Marcello. Wie in italienischen Familien Brauch, wurde ein Essen mit einem Caffè abgeschlossen. Marta setzte hinzu: „Dann zeigen wir dir auch gleich, wo die Sprachschule liegt.” Julia half den beiden, Geschirr und Gläser in die Küche zu tragen, wo Marta alles in die Spülmaschine sortierte.

Nach einem kurzen Weg in die historische Altstadt gelangten sie auf die schnurgerade Fußgängerzone des Corso Italia. Hier wogten Menschenmassen auf und ab, Familien mit aufgeweckten kleinen Kindern, die in alle Richtungen stoben und zurückgerufen wurden, flanierende Paare und einzelne Spaziergänger, die Hunde an der Leine führten. Die Luft kühlte jetzt um 22 Uhr ein paar Grad ab, was die Leute lebhafter werden ließ und aus den Häusern lockte.

Die drei gingen den Grüppchen Halbwüchsiger aus dem Weg, die aufgeregt gestikulierend durcheinander redeten und ihre Smartphones bedienten. Dann kamen sie an den zentralen Platz von San Giovanni, Piazza Cavour. Unübersehbar lag rechter Hand ein mit Wappen übersätes Gebäude. „Das ist der Cassero oder Palazzo d’Arnolfo”, beeilte sich Marta zu erklären. „Hier residierten einst die von Florenz gestellten Machthaber.” - „Heute”, fügte Marcello hinzu, „befindet sich darin das Museum der ‘Terre Nuove’, das erklärt, warum die Florentiner im 13. Jahrhundert mehrere neue Städte, darunter auch San Giovanni, gründeten. Sieh es dir an, wenn du Zeit hast.”

Dann deutete er auf eine Löwenstatue mit verwittertem Maul, die vor dem Cassero stand: „Und das ist der ‘Marzocco’, das Symbol unserer Stadt. Er blickt in Richtung Florenz.” Nicht ohne Stolz hob Marcello die Verbindung San Giovannis zu Florenz hervor, fügte dann aber erklärend hinzu: „Hier auf dem Platz steht nur eine Kopie. Das Original befindet sich im Museum der ‘Terre Nuove’”.

Die Stadt San Giovanni war – wie auch das kleinere Castelfranco in den Hügeln – 1296 von dem berühmten Architekten und Bildhauer Arnolfo di Cambio nach dem Vorbild eines antiken römischen Castrums geplant worden, mit einem großen zentralen Platz in der Mitte und zwei rechtwinklig abgehenden Achsen, sowie immer in rechtwinkliger Ordnung strukturierten, schmäleren Nebenstraßen. Die Stadt war ursprünglich von einer Stadtmauer mit vierundzwanzig Wachtürmen und vier Stadttoren umgeben, die allerdings nicht mehr erhalten sind.

Währenddessen war eine Gruppe Jugendlicher zielstrebig auf sie zugekommen. Sie wollten offensichtlich auf sich aufmerksam machen und grüßten Marta: „Buonasera Prof”. Marta bedeutete ihrem Mann und Julia, in das Caffè auf der Piazza zu treten, um so der Konversation mit ihren Schülern zu entgehen, die sie eh am kommenden Morgen wieder sehen würde.

Das einzige an der Piazza gelegene Caffè war eine Institution. Die schmiedeeisernen Tische draußen, das gedämpfte Licht innen und die Ausstattung mit dunklem Holz und ausladenden Spiegelwänden zeugten von einer Zeit, als das Caffè von einer gehobenen Klientel frequentiert wurde. Jetzt stand die betuliche Einrichtung in seltsamem Kontrast zu den jungen Gesichtern, die hinter dem Tresen lautstark die Bestellungen weitergaben. Dazu wummerten brasilianische Rhythmen durch den Saal. Das Publikum war gemischt. Ältere Damen mit sorgfältig frisiertem Haar, in deren Gesichter die Falten kuriose Landschaften gezeichnet hatten, standen neben jungen Leuten Anfang zwanzig in Baggy-Jeans, welche die Beine unproportioniert kurz erscheinen ließen. Einige Männer mittleren Alters diskutierten die Fußballspiele des aktuellen Spieltages und musterten Julia unverhohlen.

Julia hatte sich die schulterlangen, glatten blonden Haare zu einem lockeren Knoten gebunden und die Jeans mit dem einzigen leichten Baumwollkleid getauscht, das sie mitgenommen hatte, sowie die Mokassins gegen Ballerinas. Sie trug keinen Schmuck und außer einer Spur Mascara und Lidschatten war sie ungeschminkt. Sofort bemerkte sie den Unterschied zu den anderen jungen Frauen gleichen Alters, die – eine geräumige Handtasche mit bekanntem Markennamen gut sichtbar in der Ellenbeuge platziert – ihr Äußeres gekonnt in Szene setzten. Julia hatte eine schlanke, sportliche Figur, ihre langen Beine ließen sie größer erscheinen und da sich ihre kleinen, runden Brüste unter dem engen Kleid nur wenig abzeichneten, erschien ihr Aussehen burschikos und unaufdringlich.

Als sie ihren Caffè einnahmen – Marcello einen Caffè corretto mit einem Schuss Sambuca – wurden Marta und Marcello von etlichen Leuten in der Bar freundschaftlich und respektvoll gegrüßt. Da betrat ein korpulenter und stiernackiger Mann um die sechzig mit schütteren, strähnigen, bis zu den Schultern reichenden Haaren den Raum. Er trug Jeans und ein großkariertes Hemd, dessen Ärmel nachlässig hochgekrempelt waren und einen locker um die Schultern gebundenen bunten Pullover. In der Hand hielt er eine Toscano-Zigarre, die – obwohl sie gar nicht angezündet war – einen durchdringenden Geruch verströmte. Er grüßte selbstbewusst in die Runde, ohne allerdings in Martas und Marcellos Richtung zu sehen und wurde von den Umstehenden verhalten wieder gegrüßt. Plötzlich hatten es Marcello und Marta eilig, das Lokal zu verlassen.

Draußen sagte Marta in verschwörerischem Ton zu Julia: „Das ist” - Marta nannte einen Namen, aber Julia verstand ihn nicht, da eine Horde Kinder mit lautem Getöse an ihnen vorbeistürmte - „einer dieser Politiker, die überall mitmischen wollen.