Vater und Sohn – die Reise 96 - Tobias Buhr - E-Book

Vater und Sohn – die Reise 96 E-Book

Tobias Buhr

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Beschreibung

Tobias Buhr nimmt den Leser mit auf eine Reise, die er mit seinem Sohn unternommen hat. Dabei sind es vor allem seine besonderen philosophischen Betrachtungsweisen und sein künstlerischer Ausdruck, die in ihren Bann ziehen.

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Seitenzahl: 557

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Inhalt

Impressum 3

Die Route 4

Vorsätze96 8

Journal 01 16

Journal 02 20

Journal 03 34

Journal 04 54

Journal 05 67

Journal 06 80

Journal 07 108

Journal 08 135

Journal 09 158

journal 10 188

journal 11 207

journal 12 226

journal 13 252

journal 14 285

journal 15 293

journal 16 316

journal 17 339

journal 17 342

journal 18 361

journal 19 379

journal 19 384

journal 20 408

journal 21 416

Anmerkungen 96 426

Briefe 489

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903861-53-4

ISBN e-book: 978-3-903861-54-1

Lektorat: Bianca Brenner

Umschlag- und Innenabbildungen: Tobias Buhr

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Die Route

1

ANKUNFT IN LE PUY-EN VELAY

11.08.96

DIMANCHE

2

VON LE PUY-EN VELAY NACH ST.PRIVAT-D’ALLIER

12.08.96

LUNDI

3

VON ST.PRIVAT-D’ALLIER NACH SAUGUES

13.08.96

MARDI

4

VON SAUGUES NACH ST.ALBAN-SUR-LIMAGNOLE

14.08.96

MERCREDI

5

VON ST.ALBAN-SUR-LIMAGNOLE NACH AUMONT-AUBRAC

15.08.96

JEUDI

6

VON AUMONT-AUBRAC NACH NASBINALS

16.08.96

VENDREDI

7

VON NASBINALS NACH ST.CÔME D’OLT

VIA AUBRAC

17.08.96

SAMEDI

8

VON ST.CÔME D’OLT NACH GOLINHAC VIA ESPALION UND ESTAING

18.08.96

DIMANCHE

9

VON GOLINHAC NACH CONQUES

19.08.96

LUNDI

10

CONQUES

20.08.96

MARDI

11

VON CONQUES NACH LIVINHAC-LE-HAUT

21.08.96

MERCREDI

12

VON LIVINHAC-LE-HAUT NACH BÉDUER

VIA FIGEAC

22.08.96

JEUDI

13

VON BÉDUER NACH LIMOGNE-EN-QUERCY

VIA CAJARC

23.08.96

VENDREDI

14

VON LIMOGNE-EN-QUERCY NACH VAYLATS

24.08.96

SAMEDI

15

VON VAYLATS NACH LAUZERTE

25.08.96

DIMANCHE

16

VON LAUZERTE NACH MOISSAC

26.08.96

LUNDI

17

MOISSAC

27.08.96

MARDI

18

VON MOISSAC NACH TOULOUSE, VON TOULOUSE NACH LOURDES

28.08.96

MERCREDI

19

LOURDES

29.08.96

JEUDI

20

VON LOURDES NACH LE PUY-EN VELAY

30.08.96

VENDREDI

21

VON LE PUY-EN VELAY HEIMZU

31.08.96

SAMEDI

Vorsätze96

1.

Der Leser sollte sich hier nicht aufhalten; man kann diese paar Seiten ohne Einbuße überspringen und direkt zum ersten Tag gehen. Denn es handelt sich bei diesen Vor-sätzen eigentlich um die Ermahnungen des Schreibenden an sich selbst, und für den Leser wäre es gewiss befremdlich, diese Kochrezepte durchlesen zu müssen.

2.

Der Vorsatz.

Die Erzählungen sollen eine Mischung von Andacht und Jargon sein, damit alles doppel- und dreideutig werde, und der Hintergedanke von allen Gedanken der träfste sei, der vergrabene Schatz,Mt13/44; die Marcelle Auclair kann das.

Und der Reim.

Damals hatte Pablo mehrere Monate hindurch an einer Folge von Stillleben gemalt. Das Thema dieser Bilder war der Schädel mit ein paar Lauchstangen auf einem Tisch. Der Lauch ersetzte die gekreuzten Knochen, die zu einem Schädel gehören. Die zwiebelartigen Enden entsprachen den Knochengelenken.»Malerei ist Poesie und wird immer in Versen mit bildnerischen Reimen, niemals in Prosa geschrieben«,erklärte Pablo seiner Besucherin, als er an einem dieser Stillleben arbeitete.»Bildnerische Reime ergänzen einander oder ergeben Assonanzen, deren Bedeutung aber nicht offen zutage treten darf. Was haben Lauchstangen mit dem Schädel zu tun? Nach den Bildgesetzen haben sie alles mit ihm zu tun. Aber ich bringe die Lauchstangen herein ohne ihre Bedeutung zu nennen.«

Nichts was ist, ist nur wie’s aussieht.

Es mag die Absicht des Werkmeisters gewesen sein, das Gemeinte zu verbergen; schaut verschmitzt zu, wie die Leute an Seinem Werk vorübergehen und sagen: schau da, Lauch.

Aber sinnbildlich ist weder das Gemalte noch das Geschriebene; was geschieht ist nichts Sinnbildliches; es ist was es ist; aber was es ist, ist nicht augenscheinlich.

Das Offensichtliche ist eine Fiktion.

Ein Gegenstand fällt auf den Boden; ich denke, ich habe nicht aufgepasst, er ist meiner Hand entglitten. Dass es aber der Boden war, und unter dem Boden die ganze Weltkugel, was mir das Ding aus der Hand gerissen hat, ist keinesfalls und überhaupt nicht vorstellbar.

Über Jahrtausende haben die Menschen von den Vögeln das Fliegen lernen wollen; aus dem Gleitflug des Bussards hätten sie schließen können, dass es nicht das Flattern der Flügel ist, was sie fliegen lässt. Man ist in alle der Zeit nicht dahintergekommen. Denn es ist das gewölbte Flügelprofil, es ist die unterschiedliche Strömungsgeschwindigkeit der Luft über und unter dem Flügel, was den Auftrieb macht; zwar ist es so, aber es ist nicht vorstellbar; die Wahrheit ist verborgen; sie befindet sich hinter dem Augenschein; und das ganze Theater spielt hinter den Kulissen.

Das Verborgene; Georges Bernanos wird eslesecretnennen :

car la forêt, la colline, le feu et l’eau ont seuls des vrais voix, parlent un langage dont nous avons perdu le secret.

Merkmal des Geistes ist die Inkonsequenz.

Von allen Begriffen der sinnigste ist der verschwommene Begriff; er ist ohne Zaun, oder das freie Land geht unter dem Zaun durch, oder der Zaun ist kaputt und die Zaunreste, alle die Stacheldrähte und Zaunpfähle, liegen auf den Feldern herum; der verschwommene Begriff oder eine hinterhältige Anspielung oder noch besser dasBild, wovon nicht mal der Maler genau weiß, was er damit gemeint hat.

Überhaupt ist der Trick, das Wichtigste beiläufig zu sagen.

SchwereGedanken

Die Sprache.

Ungeschickterweise haben der Sachverhalt und die Sprache nicht dieselbe geometrische Struktur. Die Sprache ist ein Faden, der Sachverhalt ein Gewebe. In Tat und Wahrheit hat alles mit allem zu tun. In der Niederschrift gilt es, ganze Räume einzufädeln und auf ein schmales Geleise zu zwingen. Einen Faden stößt die Spinne hinten heraus und macht sich damit ans Netz.

Eigentlich ist es ein Ringelreihen; der lineare Weg ist eine Fiktion; die Gedanken kommen wieder, sie kommen an einen neuen Ort zurück; es gilt, dasselbe Bild in verschiedenes Licht zu rücken. Es ist ein Rösslispiel, was ganz was anderes ist als ein Karussell; zwar ist es aus denselben Teilen gemacht, aus denselben Rösslein und Autöli, demselben sich drehenden Mittelbau und denselben Volants oben am runden Dach; aber »Rösslispiel« ist ein anderer Name, was alles ändert.

Der Satz.

Ein Satz geht bis zu seinem Punkt. Der Singsang der Sätze, die alle bis zu ihrem Punkt gehen; es ist drollig, ihnen zuzuschauen, wie sie bis zum Punkt gehen und daselbst verlöschen. Jeder von ihnen hat eine Individualität, worin ein ICH, irgendein ICH, irgendein Subjekt das Haupt erhebt und seine Sache sagt. Hierauf verlässt das Subjekt die Bühne, und eine kleine Welt geht zuende. Während der Lesung eines Einzelsatzes halten alle übrigen Sätze den Mund; alle übrigen Sätze warten auf ihren Auftritt; jeder Satz kommt für sich allein daher, und schon ein vierstimmiger Chor ist ihm überlegen und kommt der Wahrheit näher. Aber einen Chor kann einer allein nicht machen.

3.

Die Überleitung.

Die Abschnittsgrenze ist zu beachten. Die Überleitung von einem Abschnitt zum nächsten macht der Gedanke, der auf der Grenze sitzt, die Überleitung vom einen Tag zum nächstfolgenden etwa. So geht’s uns selbst; wir selbst sitzen ständig auf einer Grenze; auf der Grenze zwischen den zwei Welten.

4.

Die Perfektion.

Es gibt Sachen, die sind perfekt. Das ist eine wichtige Beobachtung. Wir sollen nicht meinen, was wir tun, sei notwendigerweise fehlerhaft. Die Akropolis ist perfekt. Sie könnte auch anders sein; aber so oder anders ist sie perfekt. DasVeni Creator Spiritusist perfekt. Die Häuser, die ich gebaut habe, sind perfekt; jedenfalls haben sie es unbedingt seinwollen, was beweist, dass das Perfekte möglich ist. Imperfektion kann man nicht wollen.

Ist ein Erzeugnis schmucklos und trotzdem vollständig, sowahr,wie man es hat haben wollen, dann ist es perfekt.

DasPerfekteist menschenmöglich,

Rigor y la perfecciòn.

Wir können auch das Unsinnige herstellen; wie aber soll denn das gehen? Die Vergänglichkeit spielt da nicht herein und ist außer Betracht. Es gibt perfekte Schuhe, die keinen Fehler haben, und sind doch nach einem Jahr durchgelaufen. Gräser und Blätter werden ebenfalls nach einem Jahr zusammengerecht und fortgeworfen,n’existent que pour le moment, und sind dennoch absolut schön gewesen.

5.

Der Ort.

Die Th.d.A. ist am rechten Ort; ihr Avila, die steinerne Stadt, das gesellschaftliche Getue, die pikierte Noblesse, das Kloster von San José; der Arkadengang des Klösterchens mit den Zellentüren; und in verschwiegenen Büros der Stadt sitzt die Inquisition.

Avila ist ein nüchterner Ort. Es stimmt alles. Hier kann man ansiedenken. So ist es richtig. Und von LE PUY bis MOISSAC ist kaum ein Meter zum Fahren gewesen, kaum ein Plätzchen zum Sitzen, kaum eine Liege zum Schlafen, was nicht stimmte.

6.

Im Journal ist zweimal geschummelt worden.

Eins der Ereignisse ist inM.geschehen und nachE.gezügelt worden, denn es kommt vor, dass sich die Fakten nicht an die richtige Reihenfolge halten. Ein zweites Ereignis aber hat gar nicht erst stattgefunden; darüber wird trotzdem ausführlich berichtet; denn auch dieses Ereignis will sein Sagen haben; immerhin ist, was man sagen will, entscheidender als was geschieht.

7.

Wiederverwendete Worte.

Man versetzt ein Pflänzchen in einen anderen Garten;

man fügt ein Rubinchen in einen anderen Fingerring;

es kann sein, und es ist geschehen, dass einen beim Überlesen das schale Gefühl ankommt, das alles sei schon mal geschrieben worden, bei Hammurabi, Herodot oder Hermann Hesse.

Lass es also bleiben?

Hör doch auf damit?

Zitate sind wiederverwendete Halbfabrikate, präsente Geistesgeschichte. Die Collage, das Hereinkleben fremden Textes, ist überaus reizvoll. Am nachhaltigsten sei das Zitieren, sagter, wenn man die Herkunft nicht verrate, und den Leser raten ließe, denn rätseln täte ihm gut; ihm tausendjähriges Denken wieder heranzuschaffen, rechtfertigt sich, tut not; in die Bücher abgelegt nutzt es niemandem. Die Th.d.A. ist eine Vergessene; aus ihren Büchern gehts wiedermal ins Fleisch, und das ist Heute. Denn alle früheren Fleische sind längst verwest.

Beim Aktualisieren geht es nicht darum, sich veränderter Zeit anzupassen. Denn sollte unsere Entwicklung schieflaufen, was dann?se le cose vanno male?und wir wären dabei, uns einem Desaster anzupassen?

Aktualisierung bedeutet nicht, aktuelle Daten ins Dokument aufzunehmen und die Hypothese so lange umzubauen, bis sie den neuen Zahlen entspricht. Es geht darum, das alte Wort so lange durchzukauen, bis es ein aktueller Gedanke wird.

SchwereGedanken

Journal 01

ANKUNFT IN LE PUY-EN VELAY

11.08.96

SONNTAG,

alles ungewiss.

Über LAMASTRE und ST.AGRÈVE sind wir von VALENCE herübergekommen, genau westwärts gefahren, ohne zu wissen, dass das bereits das geplante Land war,das verheißene Land. Gleich im Aufstieg aus dem Rhonetal herauf ist es die Landschaft der nächsten Wochen geworden, und wir waren schon drin.

La chaussée noire était devant nos yeux comme une promesse

ainsi qu’un paysage de feuillage ou d’eau coulante.

Wir wissen nichts über LE PUY. Wir fahren westwärts in die Nacht hinüber. Wir sollten etwas essen. Wir müssen irgendwo schlafen. Wir kosten diese leckere Ungewissheit; sie ist eine jugendliche Vertraute seit 40 Jahren, diese gleichmütig gwundrige Haltung einem neuen Land gegenüber, dieIndifferenz, welche wir an uns geschehen lassen, in einem fremden Abend nachtwärts unterwegs zu sein, unterwegs zu den Schattengestalten, les Compagnons depuis toujours, Weggefährten seit je.

Westwärts fährt man zum Start, das ist richtig, nachtwärts: die untergehende Sonne in der Frontscheibe, ihren direkten Blitz in den Augen, die kleinen Schattenflügel heruntergeklappt. Da wo die Sonne untergehen will, da fahren wir hin. Die Sonne und wir, wir fahren zum selben Ort am Horizont;

Sonnentropfen

die Sonne, Lichttropf, von brennenden Bächen fortgespült,

ein Sonnenregen aus Brennendem Wasser.

Wir kennen überhaupt nicht mal den Stil dieser Übernachtung und von der ganzen Reise nicht. Wir wissen nicht, von welcher Art das hier ist, ob es Brunnen gäbe, Landwirtschaft, ein Bauernhaus, oder überhaupt ein ebenes Stück Wald für ein Zelt, wo wir uns im Unterholz verbergen könnten für die Nacht. Denn es ist jedes Mal der Schutz wehrloser Schläfer gewesen, ungesehen unterzuschlüpfen, damit niemand von der Anwesenheit wisse. Selbst geringfügigen Konfrontationen geht man aus dem Weg; man kann frech oder freundlich tun, aber besser man haut ab; ein Schaden an der Seele ist Konfrontation immer. Verdächtige Begegnungen gabs im Hochgebirge nie; man stellt sein Zelt hin auf einem vier Quadratmeter großen Wiesenstück, vielleicht das erste Stücklein ebener Boden seit einer Stunde Weg, weit ab von der Welt, lichtlose kalte Luft, schwarzes Gras, keine Seele weit und breit, und niemals ist es schief gelaufen.

Wir haben ein paar Campingplätze auf der Karte, einen auf unserer Route, in ST.JULIEN-CHAPTEUIL, einen nördlich in VOREY, einen in BLAVOZ, und irgendwas in LE PUY selbst.

Kaum südlich von LE PUY ist die Loire noch als Bach in die Karte eingetragen,en minuscules, zusammen mit unbedeutenden Wasserläufchen und Statisten wie dem Aubépin, dem Gage, der Saliouse, der Laussonne.

NachLE PUY aber heißt das königliche Wasser LOIRE und ist eine großgeschriebene Dame.

Es ist 18 Uhr und wir wissen noch immer nicht, ob Hotel in der Stadt, Camping am Siedlungsrand, oder der Wald im freien Land. Von den Gîtes d’Étape haben wir noch keine Ahnung. Es wird sich zeigen, dass wir überhaupt schlecht informiert losgefahren sind. Wir kennen den Charakter der Begegnungen nicht, die man hier macht.

Insgesamt gibt es deren drei:

Weitab ist es das gastfreundliche Interesse an neuen Gesichtern,

in Siedlungsnähe erhält man eine abweisende Auskunft,

und mitten drin ist es geschäftliche Höflichkeit;

mittendrin ist man wieder wer.

Es ist 21 Uhr; nahe der Stadt tappen wir im Unübersichtlichen herum, es gibt ein drunter und drüber mit derautorouteaus ST.ÉTIENNE; wir sind in ein Nest taufrischer Einfamilienhäuser geraten, ein Bursch steht draußen stumm und dunkel, sein Mädchen sitzt auf dem Mäuerchen. Wir treten herein in ein feines Gespinst von Liebe, woraus der Junge nicht herausmag. Sie aber, aus der Intimität heraus, gibt umgehend Auskunft; wir scherzen ein bisschen hin und her.

Um 11 Uhr nachts essen wir was in einem Restaurant, mit der Theke im Nacken; es sind etwa sieben zerflossene Häufchen Salate; das einzige Gesunde ist mein Bier. Melchior ist 22, ein Kamerad, für alles zu haben, immer der Erste, wenns nottut. Es ist eine Sorge da um Sebastian; er ist 12, zu klein für ungelöste Probleme.

Es regnet.

Die Erde ist wüst und leer.

Es ist die Welt, die nichts mehr zu bieten hat.

Und Finsternis ist über den Wassern;

Genesis 1/2;

ich habe alles gesehen; nicht gar alles natürlich;

aber mit 55 fange ich an zu sehen, dass das Neue auch nicht anders ist als das Alte. Was Andere geschrieben haben, schreibe ich selber auch. Denn was ich geschrieben habe, traue ich mir selber gar nicht zu. Die Welt hat die Tiefe verloren, welche den Jungen zugutekäme, das unerforschte Land,les terres inexplorées. Es gibt kaum mehr ein Restaurant im Land, worin ich ein zweites Mal was trinken möchte, und nur ungeliebte Nachbarn wohnen nebenan; böse nicht, aber ungeliebte.

Journal 02

VON LE PUY-EN VELAY NACH ST. PRIVAT-D’ALLIER

12.08.96

MONTAG,

mal das, mal diss, wie’s grad kommt.

Es regnet.

Auf der andern Straßenseite gehen zwei mit Rucksack, ein deutsches Paar aus Aachen.Ergrüßt knapp.Sieredet. Am Samstag sind sie hier in LE PUY angekommen, zu Fuß von Aachen bis hierher. Es sind Pilger wie wir. Zwischen 50 und 60 wird die Lage neu überdacht. Sie werden später gerühmt werden auf demWegihrer Tagesleistung wegen. Eben jetzt brechen sie auf. Erst in CONQUES werden wir sie einholen.

Beide Gruppen sind mit uns auf demWeg, die 20/25er und die 50/60er,

Die jungen Sucher und die alten Zweifler. Die dazwischen sind nicht da. In den dreißig Jahren dazwischen wird das geplante Leben ausprobiert. Auch gibt es hier welche, die mit 60 noch an ihrem seinerzeit erdachten Umdenken festhalten. Sie haben die Erfahrung nicht ausgelitten. Im doppelten Alter das Konzept nicht revidiert. Den Schmerz der Konsequenzen nicht ausgehalten. Wars damals das Antiautoritäre, ist es das heute noch.

»Nel mezzo del cammin di nostra vita«

das hat der Verfasser schlecht gerechnet; wärs so, müssten wir alle um die 100 bis 120 Jahre alt werden. Die Revision geschieht nicht in der Lebensmitte. Aber es ist noch etwas anderes falsch an dem Werk. Wir durchschreiten nämlich die drei alten Orte nicht aufsteigend, wie Dante. Es geht uns wie den Hochspannungsleitungen in der Leventina, die in der freien Luft zwischen Mast und Mast durchhängen; wie die Schwalbe tauchen wir zwischen zwei Flügelschlägen schwer in die Tiefe und flügeln dann wieder hinauf auf den nächsten Mast.

Bereits in LE PUY ist unsere Landschaft eine Tafel, worauf zwei vulkanische Mamelons stehen mit je einer Kirche oben drauf,Saint-Michel d’Aiguille, das istMichael-auf-der-Nadel.

Von den Ahnungen, die wir auf der Herfahrt mitgehabt haben, gibt es an diesem entschlossenen Montagmorgen keine mehr. Man ist wieder an die Oberfläche heraufgekommen. Es ist das und jenes noch zu tun gewesen. Da ist nichts Unüberwindliches. Es hat einfach angefangen. Es ist losgegangen. Es ist Sebelis Auffassung von der Sache. Die Reise beginnt jovial in der zerbröselten Art journalistischer Oberflächlichkeit. Noch vor acht die stürmisch verregnete Frontscheibe; eine blinde Fahrt durch mehrspurigen städtischen Verkehr; dieZone Industrielle de Corsac, 43700 BRIVES-CHARENSAC, Velay Automobiles Garage Boyer. Wir sind wie alle Fernfahrer und Abenteurer drauf aus, ein noch intaktes Land zu erleben. Also stelle ich mir eine werkstättliche Garage vor, einen Mechaniker, der in blauem Overall auf dem Rückenwägelchen unter einem Auto herausrollt. Bei Auguste Boyer aber gibt es ein renommiertes Vorn, die Mechaniker aber arbeiten diskret hintenhinaus. Vorn ist der Verkauf hinter breitendevantures, und inmitten vonFordempfängt Frankreich auf hohen Absätzen über dem spiegelblanken Boden im knielangen Jaquettekleid, unter dem Revers am Hals ist ein seidenweißer dreifältiger Schwipp beidseitig einer vertikalen Naht, die lachenden Lippen en Rouge Mardent. Heute Montagmorgen hat sie ihre Kontaktlinsen abgelegt und eine gescheite Brille angezogen. Man muss den Autorevues rechtgeben: solche perfekte Weiblichkeit und die nigelnagelneuen Autos, was da steht, das passt eins ins andere. Was eigentlich Madame mit diesen Autos hatte, war unklar. Zwar war es ein kommerzielles Auftreten und zeigte durchaus Kompetenz; aber vornehmlich war sie schön.Sie weist mich aus dem Haus und um die Gebäulichkeiten herum in die Werkstatt, sich mit dem Bleistift in die Handfläche klöpfelnd.

Der erste Mensch im fremden Land ist der Chef de l’Atelier, sehr groß, sehr kollegial, sehr hilfsbereit; gestern ist uns irrtümlich der hintere Scheibenwischer losgegangen; weil ihm auf der Heckscheibe der Packträger für die drei Fahrräder im Weg war, ist die Fusible der Anlage durchgebrannt.

Unten im Flusslauf ist ein kerngesunder Chantier. Jede Baustelle ist so vital wie die Natur. Das Bett der LOIRE wird tiefer gelegt. Für uns Müßiggänger ist auf Riesentafeln das Projekt dokumentiert. Eine meinich mittelalterliche Bogenbrücke ist zum Teil abgebrochen und wird neu aufgemauert. Die LOIRE wird gestaut, und die Sonntagsleute von LE PUY werden mit dem Schiffchen fahren. Um den Wildwässern des Frühlings Stand zu halten, bekommen die Pfeiler hohe neue Fundamente. Der Beton wird unter Wasser bleiben, sodass die alten gemauerten Brückenbogen auf dem Seespiegel zu stehen scheinen. Wie mit hohen Fischerstiefeln, wie mit heraufgekrempelten Hosenstößen, stelzt vorläufig die Brücke auf den neuen Betonsockeln über die trockengelegten Kiesbänke und das bisschen Restwasser in den verbliebenen Tümpeln. Wär das in Italien, könnten wir in zehn Jahren wieder dahin, und es wär immer noch so, wir würden es finden wies damals war, damals, in der Zeit, als ich mit Sebi und Melch hierdurchgekommen bin; es wär immer noch schön; es wäre immer noch Baustelle.

»Ich habe nicht gelacht und nicht geweint,

mich nicht entrüstet; ich habe begriffen.«

Über den Fluss, am andern Ufer kaufe ich eine duftende Baguette und fahre zurück. Die Heldensöhne sind auf, sind aus dem Zelt heraus, stehen ohne Witz und Wort im Regen, Kopf in der Kapuze. Wir frühstücken im nassen Gras. In diesen ersten Tagen waren wir gewiss noch ein wenig burschikos; undenkbar, ihnen das Eindrückliche meines Abstechers nach LE PUY haarklein wiederzugeben. Sie wollen Fakten hören. Wir waren noch, was wir waren, noch nicht angerührt, noch nicht in die Gefühle gefahren.

Dann ist der Elan Vital über uns gekommen wie die Sonne, und auch die Sonne selbst kommt durch, aber nicht von der Stelle her, wo sie gestern hingegangen ist; überraschend fällt sie uns in den Rücken.

Noch viele Wege gehen hin und her zwischen dem Auto und den drei Fahrrädern; es sind keine Entscheidungen mehr zu fällen, zuhause gestern früh sind die Packungen geprobt worden. Und siehe da, als dann andere Kleider am Leib waren und das Gepäck auf dem Rad, befand sich die Seele bereits eine halbe Stunde über der Talsohle. Sie ist voraus. Sie ist federleicht und beherzt und aller Lasten los.

Loin, très loin je m’enfuirai

pour chercher asile au désert,

ps 54,

denn selbstverständlich ist es eine HEGIRE, eine Flucht,

Diesmal nicht nach Osten,

Patriarchenluft zu kosten;

In den armen Süden fliehe,

Dort im Reinen und im Rechten,

Wo sie Väter hochverehrten,

Jeden fremden Dienst verwehrten,

Mit den Karawanen ziehe.

Will unter Hirten mich begeben,

Jeden Pfad will ich betreten,

Bösen Feldweg auf und nieder,

Glaube weit, eng der Gedanke

Sich erbittend ewges Leben.

Ins Reine und Rechte also sind wir unterwegs.

Aber nicht nach Osten.

Weswegen denn nach Osten?

Es geht westwärts.

Santiago liegt stark westlich, nicht südlich.

Es ist ein Irrtum gewesen. Wir haben gemeint.

Wir haben auf den einzelnen Kartenblättern nur Tagesetappen im Auge gehabt und das Gesamte nicht mehr gesehen.

Mit der Hegire hat es begonnen.

Aber gewiss ist es das.

Dann aber geht es über JWG. hinaus. Die Dichte einer Sprache kommt aus dem Gewicht des Erlebnisses. Und hierin hat JWG. sich mit Leichterem zufrieden geben müssen wie wir; denn erstens sind ihm alle Frauen geglückt. Und an keiner ist er zerbrochen. Und zweitens ist er kein Mystiker.

Wir fahren in die Stadt hinüber.

Wir steigen hinauf zur Kathedrale. Es ist die Vorschrift, bei der Kathedrale zu beginnen. Wir erhalten in der Sakristei unsern ersten Tampon in den Pilgerpass. Unterhalb der breiten Freitreppe singt mehrstimmig eine blonde Burschen- und Mädchenschaft mit einem Fanion auf dem Wanderstab; die sind ebenso ernsthaft unterwegs wie wir, was dem Getriebe vor der Kathedrale das Touristische nimmt.

Mittags. Das Paar aus Aachen ist seit Stunden fort. Wir aber sitzen immer noch auf den Scalinate der schwarzen Kathe­drale und essen den Sandwich aus der Paninotheca am Treppenfuß. Aufwärts steigen die Stufen breit und mächtig zum steinalten Bau, steil und stotzig unter die Bogen der Vorhallen hinein; man frägt sich, ob dort der Bischof mit Mitra und Stab ein ebenes Plätzchen hat zum Stehen. Sein Pilgergruß plätschert die Tritte herunter:

»Toi, frère pèlerin, au Xième siècle, le sanctuaire du PUY devient le point de départ de la plus ancienne route conduisant à Saint-Jacques-de-Compostelle. Il voit alors affluer un grand nombre d’hommes et de femmes qui se rendent au tombeau de l’apôtre. La vie chrétienne est comme un grand pèlerinage vers la maison du Père, où on retrouve l’amour inconditionnel pour toutes les créatures humaines.«

Inconditionnel?

ob es auch geht, wenn einer sich um dieAmour du Pèrenicht schert?

ob man im Haus des Vaters auch findet, was man nicht gesucht hat?

Seit dem zehnten Jahrhundert haben die Pilger hier im PUY angefangen zu laufen; bevor es aber losgeht, brauchen wir noch eine Seife aus dem Marché-Couvert, denn bei der allerersten Dusche dieser Reise ist unsere Seife liegen geblieben. Abgesehen von derartig anonymem Objekt, womit jegliche Nachfahren sich werden einseifen können, werden wir nirgends keine Spuren hinterlassen; wir sind flüchtig, hinterlassen keine Tritte im Sand. Was mich beschäftigt hat seit je, ist die Erzeugung von Geist, unter Hinterlassenschaft materieller Spuren, oder ohne.

Unten in der Stadt ist ein fürchterlicher Verkehr. Mein kleiner Sohn Sebastian und gigantische Lastzüge streiten sich um dieselben Startplätze an den Verkehrsampeln. Der Unsinn, der in dieser Gesellschaft mehrheitsfähig ist.

Die Lage ist ernst.

Der Unsinn ist der Ernst der Lage.

Das Gewöhnliche, Unverdächtige, Alltägliche, Belanglose, dem kein Vernünftiger Gewicht und Beachtung gibt, beginnt zu brennen und zu ätzen; einen Lacher in der Kehle wie einen Rülpser, nehme ich mir beispielsweise eine Flasche SuperPotz vor:

SuperPotz, Fr. 2.80, der Superreiniger für Chromstahl, Email und Keramik.Es ist äußerst befremdlich. Es gibt sich die Leere fast aller Gegenstände der Umgebung zu erkennen, fast aller Räume, fast aller Menschen.

Totale Entschlossenheit überkommt einen.

Courage! sagt Massimo Rocchi.

On attaque! wird Christophe sagen.

Avanti! sagt die Campbell am Abend der Première von Pygmalion, »und es wurde ein Abend voll himmlischen Gelächters.«

»Was schreiben sie im Führer?«

»Man verlässt die Stadt auf der Rue St.Jacques.«

Also fragen wir nach der Rue St.Jacques, erhalten keine rechte Antwort.

Die Sortie desGR65 aus LE PUY heraus ist nach unserer Michelin 1/200 000 nicht auszumachen; wir verlassen die Stadt mit derD589 und steigen, wie von jetzt ab Morgen für Morgen, aus einer besiedelten Niederung herauf.

J’ai aimé les routes!La route, elle sait ce qu’elle veut. La belle route, vertigineuse amie et promesse,Bernanos; und wir haben angefangen, die Straße zu lieben, wo sie doch weiß, was sie will.Eigentlich existiert nureineernstliche Reise: die Reise ohne Rückkehr.

Wie es uns gewesen sei? Ob wir denn keine Furcht gehabt hätten? fragt uns eine später, und wir lachen ihr ins Gesicht. Es ist uns, als nähmen wir eine alte Reise wieder unter die Füße, ein rar gewordenes, mit wehem Mut geliebtes Leben. Wenn das Mutter wüsste.

Ach Kind, vom Brot allein hast bisher leben müssen, vom Brot allein; warst hungrig und wurdest satt, warst durstig, hast zu trinken gekriegt, warst nackt und wurdest gekleidet.

Das ist es gewesen.

Ein verdorbenes Spiel.

Durcheinandergeworfene Figuren.

Die Zellen unseres Körpers führen ein stilles häusliches Leben, sitzen wie die Damen im Sprüngli z’Züri und erhalten sich am Leben. Dienstags werden sie noch am gleichen Leben sein. Da aber kommt derBefehl,und mit der Gemütlichkeit ist es aus.D’Pefäle si da, hieß es im Bataillon; es gilt, aus dem Liegen auf die Füße zu kommen.

Man muss das richtig verstehen.

Es ist eine Wut.

Es ist nicht die Wut auf das eigene träge Fleisch, und nicht die Ablehnung fremden Befehls. Fremder Wille hat noch immer am weitesten getragen, die halbe deutsche Armee bis fast an den Kaukasus. Sondern es ist die helle Wut auf den Feind vornedran, dem es jetzt an den Kragen geht. Noch unter dem Vordach sozusagen kommt uns schon die Lust auf die Unbehaustheit an, auf den reinigenden Effekt der Bewitterung. Für uns braucht es keine Fuchtel, keinefrusta: der Feind selbst lockt, das feindliche Feuer. Die Welt wird mit gesenkten Hörnern wahrgenommen. Mögen wir alle die richtigen Feinde bekommen. Ungenügende Feinde beschäftigen uns mit Nebensächlichkeiten. Ohne Feind schweben wir im Selbstverständlichen. Der Feind gibt uns zu denken. Möge uns Gott den rechten Feind geben. Zudem ist verbissen zu vermeiden, am Körper Fett anzusetzen; unbenötigte Reserven, subkutanes Fettgewebe sitzt am Bauch, am Gesicht, an den Schaltstellen der Formgebung und überdeckt das Persönliche bis zur Unkenntlichkeit.

Deswegen ist es Aufwärts,obsi, hinauf auf den Höhenzug zwischen den beiden parallelen Zuflüssen der LOIRE, dem Ceyssac und der Dolaison.

Eine Begradigung derD589 ist soeben fertiggestellt worden; eine Tafel am Straßenrand gibt an, wieviel es gekostet hat, mit welchen Beträgen Staat und Département beteiligt sind; eine dritte Körperschaft hat mitfinanziert; ich habe vergessen, wer das war.

Die Rippe, der wir längs folgen, flacht aus und mündet weit voraus in die Gegend von BAINS, was eine Hochebene ist, quer und breit wie ein See. Es ist ein weites bäuerliches Land geworden, ihr hinterster Rand ist der Horizont der bewaldetenMonts du Devès, einem Randgebirge des ALLIER; über diese Sperre hinweg wird unser Weg gehen; der Übergang ist von weitem auszumachen. Noch liegt in der Tiefe der Ebene ein Dunst, der Regen der letzten Nacht muss noch heraus. Aber gegen Abend fällt eine weite Sicht über die Gegend; es liegt uns eine sommerabendliche Sonne unter den Pedalen, vor den Rädern, auf der Straße.

Und jetzt zweigt es ab. In CORDES zweigt es links ab Richtung JALÈS auf die kleine, weiße, landwirtschaftliche Straße; weiß ist sie auf der Michelin; es geht links ins Land hinaus; wir sind in ganz einfache Verhältnisse entlassen.

Dieses Ereignis, das Ereignis dieser Abzweigung aus derD589 ist unser vierter Aufbruch: es waren gestern der Aufbruch von Zuhaus, dann die Umpackerei heute Morgen, am frühen Nachmittag die Grande Sortie aus LE PUY, und jetzt diese Erleichterung am Straßenkreuz in CORDES. Von jetzt ab und auf solchen Sträßchen kann man tun wie man gerne möchte; man steigt ab und geht in die Nähe; man fährt an einem entgegenkommenden Fahrzeug auch mal links vorbei; und schon nach den ersten hundert Metern werden die Räder rechts in den Straßengraben gestoßen und am Feldbord angelehnt.

Im abgehobbelten Feld steht ein kleiner Rundbau, bis ins Schirmdach hinauf ohne Mörtel aus flachen Steinen hochgemauert, wie wir sie später noch oft sehen werden. Auf der Rückseite ist er kaputt. Diese kleinenAbrishaben einen Namen; ich habe ihn vergessen.

Auf dem Deckel der Lenkertasche in der durchsichtigen Plastikhülle hat Melch die Michelin; bei mir steckt die Liste der Sehenswürdigkeiten drin, die uns die Association des Amis de St.Jacques de Compostelle aus Belgien zugeschickt hat.

AUGEAC.

LESBINEYRES.

RAMOUROUSCLE.

Es sind schwarzgemauerte Dörfer aus den vulkanischen Steinen wie die der Cathédrale du Puy, bei trübem Wetter gewiss düster und einsam; die Bauern auf den Gefährten fahren grußlos, borniert, fleißig. Viel Ärger. Vom schmutzigen Wagen blicken sie feindlich, missgünstig auf die divertierenden Wanderer mit den farbigen Rucksäcken herunter. Daherum und in dieser Dörflichkeit sehen wir unsere erste rotweiße Wegmarke desGR65, aufgemalt auf eine Mauer oder eine Telefonstange.

Und es hat ein Kapellchen rechts unterhalb der Straße, das erste Kapellchen vomWeg; und oben in MONTBONNET ein Wirtschäftchen; beides für uns.

Es sitzt in der feuchten Grube die Kapelle, und fleckig mag es innen sein, und viel Licht lässt das wuchernde Gestrüpp wohl keins in die Fenster hinein. Aberle sacréist da:

mediterranes Licht, frühmorgens im Zimmer, bei geschlossenen Fensterläden, durch welche Spälte mag es hereingekommen sein?es ist überall und in jedem Winkel; es ist ganz wenig, es ist wie dünner Nebel. Aber es ist ganz und gar überall

Monbonnet

VomWegfällt der Blick hinab auf den Grund des 10ième siècle, das Heiligtümlein steht unten in der Grube, in die Viehweiden hinein versunken und von Stützmäuerchen umgeben, die das Material der Jahrhunderte abzuwehren haben, auf dass es die Außenwände des Kirchleins nicht feucht mache. Die Kühe sind geruhsam draußen; steht man dort unten vor dem aufgehenden Gemäuer, hat man ihre Hufe auf Brusthöhe. Ein Blick durchs Apsidenfenster in den Chor gelingt nicht; Brennnesseln wuchern dort herum und verwehren die Kletterei. Es ist des Heiligen Rochus Kapelle; Jakobus Maior wäre immerhin die engere Wahl gewesen. Er war einer der Drei bei der Verklärung, und einer der Drei im Ölgarten, und einer der beiden Donnersöhne, für den die mütterliche Gesuchstellerin ein Spezialplätzchen im Himmel vorgeschlagen hat. Das Gesuch ist abgelehnt worden. Keine Privilegien für Muttersöhnchen. Auf der französischen Hälfte des Wegs hat St.Jacques deswegen im 14.Jahrhundert dem Rochus den Platz abtreten müssen, denn das Vierzehnte muss eine schlimme Zeit gewesen sein; in Montpellier hat er für die Pestkranken gesorgt bis er selbst an die schwarzen Beulen kam, und ist daraufhin einer der vierzehn Helfer in schlimmster Not geworden. Balthasar Neumann hat für ihn gebaut, in Staffelstein hoch über dem Main, etwas Kleines, aber baulich vom Raffiniertesten was je erdacht wurde.

Später, zehn Jahre später, ist Montbonnet’s Kirchlein zugänglich. Die Tür steht offen, und eine einsame Frau aus Genf macht Fotos; ist gewiss eine Rückkehrerin, wie ich auch. Das Herz hängt dran. Will noch ein Foto davon haben. Hat hier geliebt. Wie ich auch.

Vom Sträßchen zum Portal absteigend geht im Gefälle ein sieben Meter breiter Vorplatz; ich schreite die Breite mit leicht verlängertem Schritt ab; es sind sieben Meter; es liegt übergrüntes Bruchgestein unter den Füßen, ins Erdreich hineingemauertes, flankiert von zwei schnurgeraden Wällen aus lose hingeworfenen Brocken. Es ist dies der Plauderplatz. Ein Schwatzplatz ist dem Schweigeort zugeordnet. So warm wie die späte Sonne sind dieser Palaverort draußen und das Schweigen drinnen in der dunkeln Kapelle. Weit und breit ist niemand da, aberle sacréschon.Que le sacré n’y avait pas disparu, sagt sie;jusqu’ici j’en ai fait 500 km sans trace du sacré.Ob Gott sei oder nicht sei, wer weiß es; aber oble sacrései oder nicht sei, das wisse sie, denn dieses sei etwas, und jeder merkt’s.

Ich habe sie im Herzen nicht gelten lassen; ich sie nicht, und sie mich auch nicht;on n’était pas des vrais; diese Reise macht man nicht im Auto, denn zwischen den Stationen ist derWeg, und wer denWegnicht hat, bekommt auch dieserartige Orte nicht dazugegeben. Ohne die Müh ist einem die Rast vorenthalten. Außerdem waren wir falsch angezogen an dem Tag, und alte Gefährten waren wir auch nicht, sie und ich. Und: ohne Gott gibt’s kein Heiliges,sans Dieu c’est sans sacré.

An dem Wirtschäftchen oben am Pass ist weiter nichts auszusetzen; ihm ist der Name St.Jacques geblieben. Es sind zwei blecherne Tischchen zwischen Randstein und Hausmauer. Gegen Westen steht ein Mäuerchen bergwärts und nimmt die Abendsonne weg. Wir haben etwas getrunken. Wir sind rückfällig geworden. Das war das alte Leben, dass man dachte, es müsse eingekehrt sein.

Zurück auf derD589, hinüber zum Sattel auf gut elfhundert Metern, dann lassen wir die Zügel schießen, haben es fahren lassen und rauschten wenig später nach ST.PRIVAT-D’ALLIER hinein. Blumen? Ob alls voll Blumen war auf den Matten in der Descente, ich weiß es nicht; nach all der Mühe war unser Rausch das fantastische Tempo auf dem Asphalt, hinein ins Dorf, in ein enges Dorf mit ungenügend Platz. Tiefe Gräben und Schluchten sind rundherum, bewaldete Steilhänge, kaum Kulturland; links, talwärts ein Mamelon mit Burg und Kirche, dahinauf will ich morgen, in der Frühe, denn die Frühe werde ich immer alleine haben. Die Gîte d’Étape in der Vieille Auberge ist belegt; weiter unten im Dorf, in der Linkskurve, geht es rechts mühsam bergan, Sebastian schimpft los, deux filles en T-Shirt blanc und culottes de bain kommen mit langen Beinen barfuß den Asphalt herunter und lachen ihm fein das schwerbepackte Rad zum Campingplatz hinauf.

ZweiMädchen

Journal 03

VON ST.PRIVAT-D’ALLIER NACH SAUGUES

13.08.96

DIENSTAG,

der Allier und die Ance.

Nanni, Maler, Künstler, Organisator, Tausendsassa, hat beschrieben, wie er mit dem Telecomando in der Hand alle zehn Sekunden den Sender wechselt, um die totale Bildmenge im Zimmer zu haben; alles nur Bilder, ihrer Story entkleidet. Vor 35 Jahren hat er das in London gesagt; war da soweit wie ich jetzt. Denn dieser Campingplatz ist solch ein kleines Welttheater.

Alle Menschen sind zu sehen.

Alle sind da.

Sind alle da? frägt derChaschperli.

Jaa! antworten die Kinder im Chor.

Zwischen Abend und Morgen hat man die Unités d’Habitation in den Zelten der benachbarten Kunstheckengevierte ausgespäht, noch nach Tagen hätte man sich wiedererkannt, grußlos.

Wir wissen jetzt, welche Kinder zu welchem Zelt gehören und welche von den beiden Frauen die Mutter, welche die Freundin ist. Umgekehrt bemerken wir Blicke auf unserem Kochgeschirr und unseren Lebensmitteln. Aus gewissen Anzeichen folgert man, welche Zelte heute Morgen abgebrochen werden und welche noch ein paar Tage stehen bleiben.

Die beiden Mädchen von gestern Abend, in Wirklichkeit ist es die Unité aus dem übernächsten Zelt,les deux fillesundles deux garçons. Die zwei Burschen halten sich heraus; eins der Mädchen, den Schlaf noch in den Augen, frägt Sebastian nach dem woher und wohin, und ob er gut geruht habe,bien reposé; und er tut nicht mehr geniert mit ihr, hat seinen Widerstand gegen die demütigende Hilfe von gestern Abend aufgegeben. Generell ist alles um uns herum sehr familiär bis zur öffentlichen Wäsche, die zum Trocknen an den Schnüren hängt. Mutter, Vater und Kinder aber, die allereinfachste Unité, ist nicht da. Über Kaffeetassenränder und Brotaufstrich hinweg beobachten wir die Großfamilie auf dem unmittelbar benachbarten Platz, drei Zelte; es ist nicht auszumachen, wer in welchem Zelt geschlafen hat. Viel halbwüchsiges Gelafer, aber zwei ruhige Pole: die große, gerade älteste Tochter und der herausragende Vater, seine knappen Kommentare und Anweisungen im Vorübergehen. Eigentlich ist er ein distinguierter Franzos, seiner Nachkommenschaft wegen ins Zelt herabgestiegen. Sagt er was, dann sagt er es zu seinen kleinen Söhnen; Vater und Tochter reden nicht miteinander; sie üben ihre verschiedenartige Autorität getrennt aus.

Es ist morgendlich sonnig; derGR65 steigt unmittelbar hinter dem Camping zum Calvaire hinauf.

In unserm Buch steht:

»Wir haben im Hôtel La Vieille Auberge übernachtet, undsind heute nach ROCHEGUDE hinauf;bereits mittags waren wir da, in der schlimmsten Hitze; den ganzen Nachmittag haben wir oben bei der Kirche verbracht, und darin.«

Nach ROCHEGUDE wollen wir nicht, und von unserem Sträßchen aus können wir die Chapelle Romane St.Jacques nicht sehen, und also sind wir der Jakobusstatueen Bois de Chênenicht begegnet. Bis PRATCLAUX hinüber halten wir uns auf den Resten der alten Talsohle; dann fällt die Straße durch den Nadelwald geschwind hinunter in die Gorges; wir geben viel Höhe her und geraten in MONISTROL an Bahngeleise und ernstliche Wasserwerke. Es sind geringfügige Maßnahmen. Es ist eine bescheidene Landnahme des 19.Jahrhunderts; doppeltes Geleise, das sich über gestauten Wässern durch Schlucht und Felsen bricht, hervorragende Ingenieurarbeit, heute verzeihlich, denn heute käme Land und Landschaft durch Solches nicht zu Schaden, ist beschädigt von Schlimmerem. Unten am ALLIER tummelt sich in orangen und knallgelben Schlauchbooten stumm und freudlos die Jugend Frankreichs; die Mädchen, die Burschen, sie kennen sich kaum; Papa hat eine Woche Abenteuer gebucht; Sebastian schaut hinunter, sagt nichts dazu.

Ob es besser gewesen wäre, in MONISTROL zu übernachten, und wir hätten jetzt auf diesen sonnengoldenen Sandbänken gesessen und der Sache zugeschaut? Dann aber hätten wir die beiden Mädchen nicht gehabt gestern Abend, nicht den Vater und die gerade Tochter heute Morgen, hätten Burg und Kirche auf dem Mamelon verpasst;

denn es gab Tausendes zu sehen, wo für Eins nur Zeit war.

Lassen wir MONISTROL, folgen der ANCE aufwärts, das Seitental ist eng, waldig, feucht; gleich zu Beginn ist wenig Raum für Straße und Bach zwischen den steilen Seitenwänden.

DieD589 gehört hier offenbar immer noch zum Begradigungsprojekt von gestern Nachmittag; das ist französische Planung mit viel Befugnis; ist impertinentes öffentliches Recht gegen unmaßgeblichen privaten Anspruch, der Eine Staat gegen die Vielzahl privater Grundbesitzerchen. Wir sehen die Spuren magistraler Straßenbaumaschinen, hangwärts ist Abbau geschehen und viel Berg weggeführt. Die alten Kurven sind erkennbar als Ausbuchtungen der gestrafften Straßenführung, frischgekieste Halbmonde, am äußeren Rand eingegrenzt durch eine Aufschüttung aus lehmigem Zeug. Kurveninnenseitig läuft der Wassergraben. Kiesstreifen und Graben folgen der Straße auch auf den geraden Stücken. Die alte Einzäunung der Felder ist umgestoßen und achtlos eingerissen, ihre Wiederherstellung offenbar Sache der Anstößer; sollten sie noch wollen.

Meinem Vater habe ich bei Gelegenheit doziert, eine Straßenkurve hätte nicht ein Kreisausschnitt, sondern eine Parabel zu sein, deren Schenkel Asymptoten an die zu- und wegführende gerade Strecke sind und die den kleinsten Kurvenradius im Scheitel hat. Auch ein Kreisausschnitt werde als Parabel gefahren, denn die engste Einsteuerung könne einfahrend und ausfahrend nur sukzessive gemacht werden. Das Gespräch ist mir in Erinnerung nicht meiner Explikation, sondern seiner Antwort wegen; die Antwort war richtungweisend und lebenslänglich; er war ungehalten. Meine Pedanterie hat ihn nervös gemacht. Was für eine Sicht der Dinge mag er gehabt haben.

Auf einem der sichelförmigen Kiesplätze legen wir unsere Velos nieder, Sebastian und ich; liegendes Rad mit Gepäck sieht verunfallt aus. Irgendein Riemen sitzt nicht recht, die Hinterradtasche ist verrutscht oder ein Pullover ist der harten Arbeit wegen auszuziehen und für den vorgesehenen Ort einzurollen, ich weiß nicht mehr. Ein junges Paar kommt heran,Cyclistes, Camarades. Zyklisten grüßen sich auf allen Straßen der Welt.

»Problèmes?« frägt sie;

wieder redet sie, nicht er. Sie wollen nach PRÉJET; die beiden fahren weiter oben bei der Gabelung gerade aus; sie bleiben an der Ance; dieses Land ist endlos nach Ost und West, nach Nord und Süd.

Er aber hat doppelte Packung, seine Taschen sind prall, die ihren als hätte es Daunen drin. Es ist ein noch unfruchtbares, ungeteiltes neues Paar auf der ersten Fahrt. Er ist voraus gewesen und fährt sorgsam ihr Tempo; ich bin hinter Sebastian und übernehme seins. Wer ist besser dran, er mit seiner sanften jungen Frau oder ich mit meinem zwölfjährigen Bub? Vom Rastort oberhalb der großen Rechtskurve blicken wir in das Waldtal der Ance hinein; die beiden sind auf ihrem Sträßchen zwei ganz lautlose Bilder; Fahrräder machen noch weniger Lärm als wie Wanderschuhe; und von so weit gesehen ist die Fortbewegung kleiner als von nah, kaum wahrnehmbar.

Je einfacher die Tage wurden, desto reicher wurden sie.

Es ist ein lautloses Land. Die Vögel sind wohl alle weggeschossen. Die Motoren sind alle an die Côte. Die Landwirtschaft hat in diesen Klüften nichts Rechts zu tun. Einmal aus dem Tal der Ance heraus, oben auf der Höhe, an der letzten Wende Richtung Süd und West, SAUGUES zu, steht ein Auto auf dem Kies mit geöffneter Motorenhaube und dampfendem Kühlwasser; der Fahrer fächelt ihm mit seinem breitrandigen schwarzen Hut Kühlung zu; er grüßt besorgt, hat den Hut ab und windet den Dampf weg, in einem ruhigen Sommerland, einem armen Land, meiner Lebtag habe ich meinem Wasser nicht Kühlung zugefächelt. Und weiß immer noch, dass ich meinen Bub nicht hergäbe um den Zauber der jungen Frau von unten an der Ance; sie sind auf einem andern Weg und wohl in PRÉJET bald schon; todsicher kennt sie nur sanfte Gefolgschaft oder helle Auflehnung; eins von beidem; ich für meinen Teil lebe mit meinen zwei Söhnen so verschiedenen Alters außerhalb solcher Alternative und kenne das nicht, habe es ebenso oft geliebt, kompetent zu führen wie kompetent geführt zu sein. Es ist auf dieser Reise geschehen, dass meine Zwei verständig und einverstanden geantwortet haben, weder nie unterwürfig noch je aufrührerisch.

Wenn man genau hinsah, hat es nicht nach Freund und Freundin ausgesehen; irgendwie haben sie das Gerüchlein von frischer Hochzeit an sich gehabt; das ist aber schnell gegangen, die Verwandlung des Bräutlichen ins Ehefrauliche, kaum aus dem weißen Kleid heraus und jetzt im Biker-Dress. Fast müsste man denken, es sei Partnerschaft gewesen, seine Taschen so fürsorglich voll und die ihren so dankbar leer, beinahe hätte man sich täuschen lassen; aber es ist nicht Partnerschaft. Er hat sich ihre fabelhafte Sanftheit in den Kopf gesetzt. Ich habe es ihnen nachgeschrien an die Ance hinab ohne die seltsame Stille dieses mittäglichen Tages zu brechen: die göttliche Interaktion zwischen Menschentöchtern und Menschensöhnen, was durch keinen Himmel kaum zu überbieten ist, das gibts hier nicht zu haben, kommt in Paarschaften nicht mehr vor, und Paare sind länger keine heiligen Orte mehr. Das ist doch jetzt vergnüglich gewesen, die beiden Bilder nebeneinander zu setzen, dieses liebstjunge Paar dort unten im zurückgelassenen Tal und der unbegleitete Franzos auf seiner Ferienreise oben in der sonnigen Kurve mit der weiten Sicht auf den ALLIER zurück. Später ist er dann, bei der gemauerten Brücke, nochmals an uns vorüber; mit geöffneter Kühlerhaube ist er gefahren und hat seinem heißen Motor Luft gemacht, den Kopf seitlich aus dem Fenster heraus, der Blick auf der Fahrstraße, am offenen Deckel vorbei.

Bilder kriegt man im Disput nicht weg.

Bilder sind Trümpfe und stechen immer.

Die Tatsachen sind in ihrer Unterschiedenheit von den Wahrheiten zu unterscheiden; denn Tatsachen sind nichtwahr. Aber es ist eine Ahnung drin. Ach, es ist dieses bloß der dritte Tag.

Der Start liegt Jahre zurück.

Aber wir sind drin, gesund, besonnt, ungesorgt;

eine hellwache Umsicht ist wieder altvertraute Routine geworden und jedercoup d’œilvon dem Tag kommt mir unbemüht aus der Erinnerung zurück; bei Sebastian eben nicht; er ist ein Anfänger, ein kleiner Junge, läuft beim Viertausendmeter auf der Aschenbahn noch neben den Sprintern die Zielgerade auf dem Rasenstreifen mit.

Melchi aber ist weitvoraus; etwa alle Viertelstunden sitzt er am Straßenrand, wartet auf uns. Noch fahren wir nicht wie überüberübermorgen zu zweit ins leere Land hinaus; sondern wir fahren immer dahin, wo Melch wartet. Von weitem sieht man’s dem Gelände an, wo wir ihn vermuten können. Wir sagen zueinander: »gewiss dort oben wartet er«, inLE HUITIÈMEbeispielweise, oben, nach der großen Wende südwärts.

LE HUITIÈME aber ist ein einsames Haus; was Wunder, woher die seltenen Häuser gezählt sein mögen. Wo mag das Erste sein, wo das Zweite, das Dritte, das Vierte, das Fünfte, das Sechste und das Siebente? Wir kommen jetzt zum Achten, und unterhalb der Straße geht rechts unten eine 70jährige gemauerte Bogenbrücke hinüber und zu den Anhöhen hinauf. Es ist ein Wässerchen da. Folgt man ihm von der Brücke aus bachaufwärts, ist es der pure WildeWesten, kommen mit Gebüsch umstandene Wiesensenken, Tipis müssten hier stehen, die Frauen wären da, ihr langes schwarzes Haar, ihre Kleinen im Bach, keine Männer.

Mittag.

Wir liegen im wandernden Schatten. Nickte ich ein, bekam ich mitten in den Schlaf herein das Schlaglicht ins Gesicht. Alle Viertelstündchen muss man weiterrücken, samt dem Brot, den Konservenbüchsen, der IceTea-Flasche, dem Weinbecher, den Pfirsichen und den drei Birnen, welche jetzt gegessen sein sollen, sonst sind sie abends braun und murb.

Um ANDREUJOLET herum sind alle diese Weiler verlassen; die Wiesen wären gar nicht schlecht, aber jetzt sind sie mager, verödet, verbuscht. Das Land, wovon Generationen gelebt haben, mag nicht mal mehr ein einziges Haus ernähren. Eins ist bewohnt. Wir schielen ihm über die Schultern in den Schoß. Im Hinterhof liegt ein schäbiges Plastiktuch auf dem Tisch; es sind zwei ältere Damen. Ist die Landwirtschaft fort, infiltriert Ferienvolk ins Land herein. Sie sind die Sommerwochen da und wissen über unsern Weg hier oben so wenig Bescheid wie wir. Die Flurnamen sind fort. An den Wegkehren, Waldrändern, Brüchen, Taleinschnitten haften die Erinnerungen nicht mehr. Dieserart Erde wird von niemandem mehr gewusst. Da ist ein Baum mit einem breiten Geäst; wir nennen ihn Keines-Kindes-Baum, und kein Kind ist je mehr hier hinaufgeklettert. Wir fahren zurück über die Brücke, Melch und ich; Sebastian versteht das nicht; Sebastian versteht keine Kurskorrekturen; man gibt nicht auf, sagt er; haben wir den kleinen Nebenweg gesucht, die unbefahrene Straße, wird nicht aufgegeben. Starrköpfig bleibt er dortoben im missglückten Projekt sitzen, bis es ihm zu einsam wird.

Zudem brauchen wir Wasser.

Ausgangs LA VACHELLERIE gibts rechts ein Einfamilienhaus auf künstlich planiertem Grund; es ist nicht aus dem vulkanischen Gestein gemauert wie die übrigen Gemäuer des Dorfes, sondern stammt aus demCentre des Matériaux de Construction, dem CMC in SAUGUES; die Kinder gehen daselbst zur Schule; Maman fährt sie morgens hin und holt sie abends zurück. Es sind drei Kinder, zwei Mädchen, 10, 11, und ein Bub von nur 5 Jahren, kleiner Wicht mit zwei erfahrenen Frauen. Maman füllt unsere Borracce in der Garage; sie tuts, wie sie ihren Kindern einen Ball herausgibt, ein Springseil, ein Butterbrot; diese Vorstellung ist derart stark, dass es mir schlecht gelingen will, mit ihr ein erwachsenes Gespräch zu führen.

BöseHühner

DerGr65 geht nicht hier; er verläuft links drüben auf dem Höhenzug, ein Kilometer südlich; dort marschiert das Gros über VERNET und ROGNAC; hier in dem ost-westlichen Hochtal auf über 1000, ausgangs LA VACHELLERIE, sind wir die Einzigen. Ein Wäldchen kommt von rechts an die Straße heran; da steht, sich dem Passanten zuwendend, ein beschriebener Stein zuvorderst an der Waldzunge mit den Namen der Gefallenen,

»Leur sacrifice … Notre liberté, le 10 et 11 juin 1944«,

Sommer, zwei Tage haben sie standgehalten.

Zurückblickend erkennt man überrascht, dass sich diese Traverse vom ALLIER herüber nach SAUGUES tatsächlich in bestem Infanteriegelände befindet, ein Zuckerschlecken von einem Infanteriegelände, das sieht jeder. Das ist nicht Russland, topfebenes Vorrollen vonBlinden Panzern, chars blindés: es ist ideales Terrain für geschickte Kopfarbeit, eine Topographie, welche das Gefecht förmlich angezogen haben muss, so wie eine topfebene Wiese am Dorfrand den Fußball, oder wie ein paar anmutige Wiesenhügel den Golf, oder wie das Friedental den Schrebergarten. Oder halt wie das Schachbrett die 32 Figuren; nur dass die hiesige Auseinandersetzung eine Richtung gehabt hat, gerichtet gewesen war.

Möglicherweise würde anderntags der Erfolg vom Feind wieder rückgängig gemacht sein; morgen vielleicht würde die Front wieder zurückkommen. War es sinnvoll gewesen oder nicht, wer wüsste das; die Frage ist nicht zu beantworten und also unerheblich. Ein fabelhafter Krieg, dieser hier. Zu Hause das Gespinst privater Streitereien, spiegelglatte, trübe Wässer ziviler Höflichkeiten und verschwiegener Absichten;

des combines quoi;

und hier diese geklärte Situation;

sonnenklar, werWirist, und werSie. Klare Verhältnisse liegen über diesem schönen Land, quer durchs Tal die messerscharfe Grenzziehung zwischen Freund und Feind; jenseits der Front alles bös und feindlich; herwärts alles Wir, herwärts stehen die Eigenen, auf die wir uns verlassen können; ich kann mich nicht an irgendwelche speziellen Sympathien erinnern; jeder ist dem andern zuverlässig ohne den kleinen privaten Rest.Risiko, haben wir uns gesagt, nicht Sicherheit.

Ein gar prächtig sonniger Nachmittag. Keine Frage, wie es herauskommen musste, so exponiert wie man in diesem flachen Quertal war; unter den Augen der Freunde sind sie liegengeblieben im Gras, und die haben es ihnen gedankt. Denn so ist es auf den Stein geschrieben.

»Leur sacrifice … Notre liberté.«

Von den gefallenen Gegnern kein Wort.

Wie das wohl ist, Kugeln im eigenen Fleisch? »Sind alles Männer gewesen«, hat später die Claudia abschätzig gesagt. Aber keiner hatMamma!geschrien, Claudia; das lag nun wirklich allzu weit zurück; aber als es vorbei war, hat gewiss das Palaver stattgefunden, und die Überlebenden stehen locker herum. Einer oder zwei von ganz Vorn sind noch da, und die von links wollen hören wie es rechts ausgesehen hat; von den flankierenden Höhenzügen herab haben sie den Vorstoß auf der Achse unten auf dem Talboden im Auge gehabt; es ist kombiniertes Vorgehen gewesen, und beim beschriebenen Stein war Schluss. Den paar Toten wird jetzt ein starkes Grab gemacht; man steht beieinander mit einer Zigarette, die warme Suppe in der Gamelle. Immer, wenn es wieder friedlich geworden war, sind uns die Feldküchen nachgeholpert wie kleine Dampflokomotiven, bei Schlechtwetter erst recht, unter einer Dachtraufe stehend, den warmen Kragen hochgeschlagen, den Dampf der Suppe um die triefende Nase, die Gegensätze genießend.

Sommer,11 Juni 44, 15.30?

das warjetzt, Totenstille,

kein Schuss; die Zeiten sind vorbei;

wir fahren los.

Beim Denkstein steigen wir von den Rädern und setzen uns ins Gras, lesen, was geschrieben ist, mein kleiner Sohn und ich. Nicht weit, ein Kilometer, gerade da, wo die Straße in die Discesa übergeht, links an der Böschung, in der Westsonne, sitzt der Melchi; sein Trampelweglein geht bergwärts durchs Gras unter die Stämme hinein, gelb vor Sonne; gegen SAUGUES hinunter laufen ein paar Zäune durchs Land aus der Zeit, als Landwirtschaft noch Handwerk war.

SAUGUES aber ist ein Städtchen auf einem kleinen Hügel mitten in der Ebene. Die Hochebene von SAUGUES heute, und die Hochebene von BAINS gestern, das ist eins wies andere. Es sind nur sieben Meter Höhendifferenz, es ist ein einziges Tafelland, vom ALLIER durchschnitten.

SAUGUES, Collégiale romane St-Médard, Vierge du XIIe; Pietà fin XIe siècle, Trésor, Tour des Anglais XIVe s., Chapelle des Pénitents, Hospice St-Jacques, belle Statue du Saint: nichts davon angeschaut, an alledem vorbeigefahren, soll uns niemand was aufschwatzen, die Söhne wollen das Hier und Jetzt. Wir pedalen zum Stadthügel hinauf und lassen es auf der andern Seite unverzüglich fahren. Am Hügelfuß liegt der Campingplatz im ebenen Land. Um die Zeit ist noch niemand da und die junge Frau spritzt Duschen und Toiletten aus. Wir fahren einmal hin und einmal her, und sogleich wieder draus heraus, ohne auch nur einen Fuß auf diesen Boden gesetzt zu haben; denn hier in SAUGUES und an diesem selben Abend, am westlichen Dorfausgang, ist ein für allemal entschieden worden, Campings zu meiden; hunderte von verschwiegenen Plätzchen haben wir auf der Herfahrt ausgemacht. Wir werden hinfortirgendwocampieren. Wir werden am Etappenziel frühabends einkaufen und dann noch ein bisschen Straße machen, eine knappe Stunde in die folgende Etappe hinein. Auf diese Weise müssen die Einkäufe für Abend- und Morgenessen nicht weit gefahren werden. Auf diese Weise war der Reisestil maßgeblich geändert.

Und also hat der Melch abgepackt und ist auf und davon. Er ist ausgeruht. Melchi ist immer ausgeruht. Er fährt mit leerem Rad zurück ins Dorf, kauft ein imShopy, was eine französische Ladenkette für mittlere Ortsgrößen ist, mit einem von der Académie Française nicht zugelassenen Firmennamen.

Wir unterdessen haben Zeit. In der uns vom großen Sohn zugestandenen Untätigkeit bleiben wir am Ort der Beratung sitzen, am Straßenkreuz derD589 und derD585, an einem Bachbord, gegenüber einer weitläufig eingezäunten Weide. Ein einsames Kalb weidet dort. Hier ist, dass ich erstmals dasjournal de bordan die Hand nehme. Die ersten Notizen. Zwei Bauern kommen mit einem Traktor daher, sie fahren durch den Bach querdurch und in die Weide hinein. Sie steigen ab. Sie nehmen jeder einen Strick zur Hand und schicken sich an, das Kalb einzufangen. Da rennen sie los; sie schneiden dem flüchtigen Tier den Weg ab; sie treiben es sich gegenseitig zu; sie ermüden es. Es sind zwei Bauern, es ist das Kalb, und wir zwei. Später ist der Melch zurück und das Kalb hinten am Traktor angebunden. Es wird gegen allen Widerstand über den Bach zu uns herübergezogen. Ich sehe es noch im Bach drin stehen, gezogen von der unerbittlichen Stetigkeit des Traktors, stößt die vier Beine steif und bolzgerade in den Schlamm hinein, wehrhaft, verbissen, unnachgiebig; das kluge Tier weiß wohl was mit ihm wird; nicht einen Schritt hat es selber getan, nicht einen einzigen Schritt, bis es oben auf der Straße verladen war.

Wir brechen auf. Nach dem neuen Plan geht es um sechs nochmals los, streng westwärts zuerst, von der häuslichen Siedlung weg auf die Nacht zu. Immer schon ist es einem ins Herz gegangen, gegen Abend von Siedlungen wegzufahren, über Dörfern und Talsohlen aufzusteigen, ins Unbevölkerte, ein förmlicher Genuss, es ist wie Nachtzug, ziellos in eine Nacht hineingestoßen. Die kleineD33 steigt aus der Ebene heraus, zwischen die ersten Ausläufer derMontagnes de la Margeridehinein; wird sein dort oben, wie’s sein soll; wieder wie gestern ist es ein Randgebirge quer zu unserem Weg, eine bewaldete Barriere, eine Sperre, deren westliche Flanke jenseits abfallen wird zur TRUYÈRE hinunter, oder besser zur MÉRIDIENNE.

LOIRE, ALLIER, TRUYÈRE, alle drei immer quer vor den Rädern.

Im Anstieg kommt rechts über der Straße eine Kapelle heran; ein wenig lockerer Wald steht um sie herum, Grasland zwischen den Stämmen, Föhren oder Lärchen? es ist eine ungenaue Erinnerung; ich erinnere mich an die Atmosphäre, nicht an die Bäume; Föhrenwälder und Lärchenwälder haben ähnliche Atmosphären. Dahinter, jenseits einer Wiesensenke, steht ein Château. Hier auf dem Kapellenhügelchen wollen jedoch die beiden Söhne nicht bleiben, um keinen Preis, es ist vom Château herüber eingesehen, ist ihnen zu wenig geheim.

Ein wenig also dieD33 aufwärts noch, und es zweigt ein Feldweg rechts ab. Jeder Feldweg wird magerer, je weiter er sich in die Felder verliert. Er verteilt seine Fuhren nach links und nach rechts, und immer weniger bleibt übrig. Es ist wie mit dem nächtlichen Heimweg aus dem Wirtshaus; einer nach dem andern verabschiedet sich in seine Haustür hinein, bis am End der letzte Zecher alleine geht.

Es stehen zwei Wäldchen da. Zwischen den beiden Waldzipfeln zwängt sich der schlechte Weg über den Sattel, jenseits abwärts, wahrscheinlich gegen RECOULES in der Senke. In einem Viertelstündchen wird es hier der beste Zeltplatz werden seit eh und je; man ist hier beinahe rundum übersichtlich auf der Höhe. An der engsten Stelle, da wo quer von Waldzunge zu Waldzunge eine unverständliche Einzäunung den Pfad kreuzt, wird das kleine, feldgrüne Zelt hingebaut, das tuchene Tunnel auf drei flexiblen Halbbogenspannten, glasfaserarmierten; trockener Boden und struppiges Gras, ein Stück, wohinein die tiefe Sonne aus Nordwest geradenoch durchkommt. Ein bisschen weißes Kalkgestein liegt da, genügend flache Steine für den Spritkocher, für dieMise en Placedes Kochgutes, und zudem als Sitze zu verwenden, drei Sitze, einen für Melchi, einen für Sebastian und einen für mich.

Drinnen im Wald stehen ein paar Strohrouleaux, je zwei und zwei aufeinandergestapelt, die weiße Plastikverpackung teilweise zerschlissen; jemand muss seine Lust daran verloren haben. Es ist wie jener italienische Zaun, fünf Pfosten stehen, am fünften hängt die vorgesehene Drahtrolle, ein unbewachsenes Erdweglein feuchter Hufspuren geht um den fünften Pfahl herum ins jenseitige Land hinaus; jemand wird unvermittelt zum Mittagessen gerufen worden sein; vor Jahren. Oder ist wie der Obstgarten, worin eine Reihe junger Bäumchen gepflanzt ist, weitere fünf Setzgruben sind noch ausgehoben, fünf Aushubkegel nahe dabei, Unkraut darauf, der Rest ist wieder Wiese geworden.

RECOULES sieht man nicht, nicht einen First, nicht einen Kamin. Aber ein Strich weißen Rauchs zieht talauswärts, nach rechts hinaus. Man hört Geräusche von den Gehöften herauf, und Kinderstimmen; Schläge klingen auf ein tönendes Blech, ein Hundegebell kommt aus dem abendlichen Dunst herauf; ein Traktorenlärm zieht tief unter uns auf einem Acker bedächtig hin und her; jede Arbeit, heute noch gemacht, jede Furche, die heute noch gezogen ist, bleibt für morgen schon getan. Abgesehen von den roten Äpfeln in ST.HILAIRE-DE-DURFORT ist es das einzige bäuerliche Geschehnis der ganzen Reise, und man hat es mit dem Gehör wahrgenommen. Anderntags haben wir einer Maschine zugeschaut; quer in unserem Blick läuft sie, in der Ferne klein und lautlos, auf einem abschüssigen brandgelben Feld; in regelmäßigen Abständen lässt sie einen weißen Ballen fallen und macht Staub.

Ich aber bin schwach vor Wahrnehmung.

UndEr?

Et Lui?

Il a aimé les routes grises, dorées par l’averse,les villages avec leurs fumées, les petites maisons dans les haies d’épines, la paix du soir qui tombe, et les enfants qui jouent sur le seuil. Il a aimé tout cela humainement, et à la manière d’un homme, mais comme aucun homme ne l’avait jamais aimé, si purement, si étroitement, avec le cœur qu’Il avait fait pour cela, de ses propres mains.

Hangabwärts, dorfwärts, zwischen den ersten Bäumen, die Dusche. Es gibt hier Büsche auf der Weide. Man geht der letzten Sonne entgegen mit den zwei Wasserflaschen unterm Arm. Man stellt sich so, dass die letzten Strahlen auf den Leib fallen. Nur in der Sonne ist es auszuhalten; kaum ist sie fort, wird es kalt; nackt draußen im Land friert es einem über die Haut, und siehe da, es kommt mir wieder; es wird mir elend, schwindlig und schwach. Ich rechne kühl damit, dass es mich hinhaut. Es gelingt einer alleräußersten Willensanstrengung, mich anzuziehen. Jedes Kleidungsstück tut wohl. Aber in der Kälte ist mein operierter Zeigefinger totenweiß und steif.

Das ist die kleine Geschichte von dem weißen Finger, eines geringfügigen Teils von dem ganzen Körper. Das kleine bisschen Leben darin ist fort. Der dritte Tod heute: der im Krieg, der vom Kalb und jetzt der vom Finger. Das Leben ist ein dünner Wert, als wärs bloß eine Idee. Zuerst wird das System weiß und bewegungslos, wird Material und Sache, und beginnt drei Tage danach zu riechen. »Er riecht schon«, hat Martha gesagt. Meine beiden Söhne sehen mich herankommen, und rennen los.

Sebastians Anteilnahme. Wenn man das beschreiben könnte. Einmal habe ich mir in den Finger geschnitten; einen Augenblick später war er mit einem Pflaster wieder da. Hier, in den Landstrichen über SAUGUES, legt er mir einen Schlafsack über die Schultern, löffelt mir die heiße Suppe und stellt mir die Pillen zusammen wie die Schwestern im Spital, als wäre mit den paar Pillchen für allsogleich alls gutgemacht. Er wärmt mir den Finger in seinen kleinen Händen und besteht auf hundert guten Ratschlägen. Weder wars die Angst um seinen Vater, noch eine soziale Tat, noch generöse Hilfe, was weiß man. Wenn ichs bloß beschreiben könnte. Es war, wie wenn er seine kleine Schwester verteidigt gegen einen bösen Angriff.

Seinerzeit am Septimer, der Leg Columban, im Finstern am Ufer talauswärts die zwei Erhebungen, zwei geringe Höcker, und zwischen ihnen das vereiste Bergseelein. Ich habe in dem nächtlichen Wasser gestanden bis an den Bauch, in dem Schimmer der verschneiten Mulde, Seife und Seifenschale, Zahnbürste und Zahnpasta lagen auf dem Rand der Eisscholle, welche aber sich entfernte und ins Dunkel hinaus abfuhr; nicht einen Schritt nur hätte ich noch machen mögen nach vorn in das rabenschwarze Wasser hinein um sie zurückzuholen; dann aber doch mit meinen Sachen wieder zurückkam; todmüd zurück im Zelt, und eingeschlafen, und der Sebi war wach.

In die Nacht von SAUGUES ist dieselbe Behausung hineingestellt, dasselbe Zelt, dasselbe, nur steht’s an einem anderen Ort.