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Tobias Buhr zieht den Leser auch in seinem dritten Band über die Befahrung des Jakobsweges in seinen Bann. Philosophisches vermengt sich mit Alltäglichem, Lehrreiches mit Detailbeobachtungen - ein Reisebericht und Sprachkunstwerk.
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Seitenzahl: 619
Inhalt
Impressum 2
DieRoute98 3
Vorsätze98 8
journal38 16
journal39 31
journal40 45
journal41 66
journal42 96
journal43 110
journal44 126
journal45 142
journal46 156
journal47 183
journal48 192
journal49 204
journal50 211
journal51 227
journal52 239
journal53 256
journal54 277
journal55 293
journal56 356
journal57 383
journal58 418
journal59 443
Anmerkungen98 466
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-903861-75-6
ISBN e-book: 978-3-903861-76-3
Lektorat: Bianca Brenner
Umschlag- und Innenabbildungen: Tobias Buhr
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
DieRoute98
38
VON ESTELLA NACH STA CRUZ
24.06.98
MIÉRCOLES
39
VON STA CRUZ NACH NÁJERA
25.06.98
JUEVES
40
VON NÁJERA NACH VALVANERA
26.06.98
VIERNES
41
VON VALVANERA NACH SANTO DOMINGO DE SILOS
27.06.98
SÁBADO
42
SANTO DOMINGO DE SILOS
28.06.98
DOMINGO
43
SANTO DOMINGO DE SILOS
29.06.98
LUNES
44
VON SANTO DOMINGO DE SILOS NACH VILLAHOZ
30.06.98
MARTES
45
VON VILLAHOZ NACH STA MARIA DEL CAMPO UND CASTROJERIZ
01.07.98
MIÉRCOLES
46
VON CASTROJERIZ NACH ITERO DEL CASTILLO,
DIE NACHT IN CARRIÓN DE LOS CONDES
02.07.98
JUEVES
47
VON CARRIÓN DE LOS CONDES NACH SAN ANDRÉS DE LA REGLA
03.07.98
VIERNES
48
VON SAN ANDRÉS DE LA REGLA NACH GRADEFES
04.07.98
SÁBADO
49
VON GRADEFES NACH MANSILLA DE LAS MULAS
05.07.98
DOMINGO
50
VON MANSILLA DE LAS MULAS NACH LEÓN
06.07.98
LUNES
51
VON LEÓN NACH VILLORIA DE ÓRBIGO
07.07.98
MARTES
52
VON VILLORIA DE ÓRBIGO NACH RABANAL DEL CAMINO
VIA ASTORGA
08.07.98
MIÉRCOLES
53
VON RABANAL DEL CAMINO NACH SAN MIGUEL DE LAS DUEÑAS
VIA CRUZ DE HIERRO
09.07.98
JUEVES
54
VON SAN MIGUEL DE LAS DUEÑAS – PONFERRADA – VILLAFRANCA DEL BIERZO
10.07.98
VIERNES
55
VON VILLAFRANCA DEL BIERZO ZUM CEBREIRO
11.07.98
SÁBADO
56
VOM CEBREIRO NACH SAN JULIÁN DE SAMOS
12.07.98
DOMINGO
57
VON SAN JULIÁN DE SAMOS NACH SARRIA
13.07.98
LUNES
58
VON SARRIA NACH PORTOMARÍN
14.07.98
MARTES
59
VON PORTOMARÍN NACH PONTE LEDESMA
15.07.98
MIÉRCOLES
Vorsätze98
1.
Es ist unerheblich, wovon faktisch die Rede ist. In unwichtigen Ereignissen ist eine Atmosphäre herzustellen. Wer schreibt, will beim Leser ein bestimmtes Bild entstehen lassen, eine genaue Text-, Ton- und Farbatmosphäre. Es ist der köstliche Irrtum des Schriftstellers, schreibend, streichend, umschreibend zu meinen, es gäbe die fünf Worte, die fünf Sätze, die das täten, man hätte sie bloß noch nicht gefunden,Hebräer5/11.
Die Textatmosphäre,
der Geschmack,
le goût.
Hat altes Brot denselben Nährwert wie frisches,appena sfornato?
Es ist die Kernfrage, ob altes Brot denselben Nährwert wie frisches habe, oder ob es amend der Duft ist, was nährt. Der Goût steigt aus den Dingen heraus und macht sich auf und davon. Zum Beispiel der Einfall; in den Umständen,wieder Einfall eingefallen ist, darin steckt es. In Form der Form ist es die Inspiration.
ImErnst
2.
Der entvölkerte Bahnhof von Olten; es ist Mitternacht;wir, von Wangen herkommend, den Rost von den Schienen in der Nase, und es liegt nur feldgraues Gepäck auf den Perrons, auf einen Haufen zusammengestapeltes; auch Züge hat es keine mehr um die Zeit.
Ist das wichtig?
Es ist absolut unwichtig.
Und ist entsetzlich wichtig, weil es ist Poesie.
Zwar müsste man den ganzen Hergang kennen, und sagen, weswegen wir so spät von Wangen hergekommen sind, und wer überhauptWirist. Andernfalls müsste der Leser eine eigene Geschichte in den nächtlichen Bahnhof hereindenken, und es gelänge vielleicht, dass etwas, und wärs der schummrig beleuchtete Bahnhof, ihm bedeutsam wird.
3.
Aber wie erfährt man denn, was dieWahrheit der Poesieist.
Das hätte natürlich dadurch zu geschehen, dass die Wahrheit der Poesie einer poetischen Unwahrheit gegenübergestellt wird. Die Poesie ist nicht, dass sie irgendwelchen Tatsachen entsprechend ist oder Tatsachen widersprechend; sie ist weder sachgemäß noch vorgelogen; die Wahrheit der Poesie ist, wenn es warm ist, nicht kalt, sehnsüchtig statt gleichgültig, eindrücklich ist und nicht wie Bahnhofstrasse. Die Wahrheit der Poesie ist, dass einer jetzt sieht, was er zuvor übersehen hat. Aber Wahr und Falsch, das gibt es nicht in der Poesie.
Denn alles ist erlaubt.
Ist es mal Poesie, ist es wahr genug.
Also gesungen beispielsweise.
Quand a cantar con organi si stea,
ch’or si or no s’intendon le parole,
purgatorio IX, 144,
was soviel heißt, als dass, wenn zu viert gesungen ist, man die unterlegten Worte nicht mehr zu verstehen braucht. Wird es mit dem ganzen Apparat der inneren Organe gesungen, in Lunge und Herz, in Leber und Niere, in Geschlecht oder Eierstock, istesaus dem Text in die Musik hineingegangen; Wahres und Falsches kennt eine Tonfolge nicht, da gibt’s nur Besseres und Schlechteres, Ergreifenderes und Banaleres; ich denke anOh-mein-Papa-war-eine-wundervolle-Mann, nicht an die Worte, sondern an die einfältige Melodie.
Hierzu Werner Heisenberg, Atomphysiker, Quantenmechaniker:
In der Religion ist die Sprache in einer anderen Weise verwendet als wie in der Wissenschaft. Die Sprache der Religion ist der Sprache der Dichtung näher verwandt als der Sprache der Wissenschaft.Wenn in den Religionen aller Zeiten in Bildern, Gleichnissen und Paradoxien gesprochen wird, so heißt das, dass es andere Möglichkeit nicht gibt, die Wirklichkeit, die hier gemeint ist, zu ergreifen.
4.
Die Lasker-Schüler:
der Maler haucht den Bildern Seele ein.
Der Reisebericht wird darauf hinauslaufen, dass die Form der Inhalt ist. Die Form ist die Besorgtheit um ein einzelnes Wort. Die Exaktheit der Formulierung ist das Gemeinte. Eine andere Mitteilung als diese behutsame Genauigkeit ist nicht zu machen, sie istle Sacréan der Sache, wie es in CONQUES beschrieben ist. Denn esgibtdas Perfekte. Niemand soll sich erlauben, zu sagen, dass es das Perfekte nicht gebe und dass die Bemühung vergebene Liebesmüh sei. Ob das Hergestellte groß und wichtig, oder klein und unbeachtet, vollständig oder fragmentarisch ist, ist unerheblich; denn das Perfekte gibt es.
5.
Jeder Gegenstand der Haushaltung wird prüfend in die Hand genommen; gefällt er nicht, gehört der Nützlichste fortgeworfen, ist nicht vom Könner entworfen gewesen wie etwa der Lampenschirm vom Bauhaus, oder wie die Lok Re460 von derPininfarina; eine Türfalle, ein Wasserkrug, ein Dampfkochtopf, ein geschriebener Satz, zwei verschiedene Grüntöne auf großer Fläche, einer ein bisschen mehr Blau darin, der andere mehr Gelb; das Liebesspiel auch! wobei ein Liebesspiel das Bezeichnendste ist, weil es zwei Autoren hat. Insofern ist eine Flusslandschaft Monets bedeutlicher als der goldene Engel der Ikone; denn die Flusslandschaft ist das bessere Bild. In seiner Flusslandschaft promenieren hochnäsige Herren mit eitlen Spazierstöcken, und in langen weißen Kleidern sonntäglich die Damen unter Sonnenschirmchen und ausladenden Hüten; viel sagt uns damit Monet nicht, gewiss nicht soviel wie der goldene Engel; aber es ist das bessere Bild.
Vier Aquarelle, denen es gelingt, Monets Atmosphäre exakt herauszugeben, ohne dass ein einziger Sonnenschirm gemalt wäre, keine Blechinstrumente, kein Würstchenstand, keine jungen Mütter mit Kind. Gesucht ist eine abstrakte Sprache ohne erkennbaren Gegenstand, und es wäre darin dennoch die behagliche Atmosphäre.
Denn alles, was ist, hat mitunter abstrakte Substanz. Etwas, was ganz woanders auch vorkommt; es vorkommen kann, dass ein verschneiter Berg und ein Wiesenblümchen sich ähneln, eine Lauchstange und ein Oberschenkelknochen. Zuallererst muss ein anderer Zeitbegriff her; dass nämlich nicht möglichst viel in möglichst wenig Zeit passiert, damit die Spannung nicht einschlafe, sondern dass viel Zeit ist mit ganz sparsamem Geschehnis.
AufdemWeg kommt eins zum Andern und macht mit ihm gemeinsame Sache. Selbst Worte verschiedener Sprache, lateinische etwa, oder ein englisches, oder gar ein vulgäres von der Gasse, mögen ein fremdes Licht werfen. Gemacht aber wird’s nicht durch die Schwerverständlichkeit; es sind nicht Sätze, deren Verständnis vom Leser langwierige Rekonstruktion verlangen.
6.
Die formalen Regeln sind nichts Willkürliches; sie sind Gesetz; sie verlangen strenge Observanz und fordern von Jugend auf harte Arbeit mit Bleistift und Gummi. Die formalen Regeln haben mit dem Zweck des Produkts nichts zu tun; sie machen alles unter sich selber aus und kümmern sich dennoch um alles, und jedermann hat sich nach ihnen zu richten, und bei Fehlverhalten schreien sie schrill. Die Regeln sind so fantastisch reell und objektiv, dass es kaum zu glauben ist. Picasso nennt sieBildgesetze. Sie sind sagbar, man kann von ihnen reden, am besten wohl in Vergleichen und Gleichnissen.
Die Figuren der Mosaiken von TABGHA, über die in hunderten von Jahren mit den Schuhen gelaufen worden ist, diese feierlichen Tiere und einsamen Pflanzen tun bei der Erzählung nicht mit; sie sagen uns nicht, was an dem Ort geschah; überhaupt nichts erzählen tun sie, haben aber dieselbe Delikatesse wie das inMt5 konkret beschriebene Ereignis des kleinen Bergs, und kommen in derselben Gelassenheit daher.
Sedes sapientiae.
Vas honorabile.
Turris eburnea.
Turris Davidica.
Domus aurea.
Stella matutina.
Morgenstern; solcher Art ist die Sprache der Lauretanischen Litanei.
7.
Éveillez-vous,
harpe et cithare,
que j’éveille l’aurore,ps56.
Comme la rosée qui naît de l’aurore
je t’ai engendré; ps109
»Ich habe dich gezeugt als wärs Tau aus dem Morgenlicht;« von der frühen Morgendämmerung wird eine Atmosphäre übernommen und den Kindern weitergegeben. Grundverzweifelt ist man baulich, kulturell und liturgisch aufs mal von lauter Inhalten umgeben. Wir stehen fröstelnd inmitten befremdlicher Sachwerte. Auf dem Sprung, wegzulaufen, haben wir den Mantel anbehalten und uns gar nicht erst hingesetzt. Es hätte schon genügt, uns die baulichen, kulturellen und liturgischen Gegenstände ordentlich hinzulegen. Um den Kindern die Hoffnung nicht zu nehmen, mache man sie niemals darauf aufmerksam, wie hässlich und nützlich alles geworden sei; so schlimm wie DECAZEVILLE, und noch schlimmer. Sie werden sich’s angewöhnen. Und in einszwei Jahren macht es ihnen nichts mehr aus.
ImErnst
journal38
VON ESTELLA NACH STA CRUZ
24.06.98
MIÉRCOLES,
soviele Leute, und jeder der kommt, ist grad noch einer mehr.
Vorgestern Montag, in Frankreich sind wir vorbeigefahren inDEUX-CHAISESund inTROIS-ET-DEMI. Bei uns gibt es keinen Ort, derZweiStuhlheißt oderDreieinhalb, und wir haben Sachen gesehen, vorbeifahrend im Auto, par exemple:
Gestern Dienstag, Turin – Le Tunnel du Fréjus – Paray-le-Monial, Montluçon, Guéret, Limoges, Périgueux, Bergerac, Agen, Auch, Lourdes, Oloron – PUERTO DE IBAÑETA
ESTELLA.
Gestern Dienstag, ESTELLA, spätnachmittags;
wir brauchen einen Ort, wo wir das Auto den Monat über stehen lassen können. Die Pension San Andrés hat in einer Tiefgarage einen Abstellplatz besorgt,un estacionamiento en un garaje; der Vermieter ist der Apotheker schräg vis à vis; seine Nichte begleitet uns mit dem Schlüssel. Da hätten in derfarmacianoch andere gestanden, die uns die Garage hätten zeigen können, Lohnabhängige, Angestellte, Verkäuferinnen; er aber hat uns die Nichte mitgegeben,fille merveilleuse; sie trägt, wie man es in ESTELLA nicht gesehen hat an dem Abend, den bodenlangen rosenfarbigen Jupe. Dieser ist hier völlig fremd und auswärtig; zudem ist die Farbe ganz Kunst, welche es derart in der Natur nicht gibt. Unter dem Saum hervor schreiten die weißen Sandalen, eine nach der andern, Schritt für Schritt, den Weg machend,chemin faisant. Sie ist eine aus Barcelona, und obendrein eine Zeitlang in Kalifornien gewesen, eine richtige Studentin aus einer richtigen Stadt, für eine Ferienwoche zum Onkel Apotheker in die Provinz gefahren, eine Internationale also, denn Wissenschaft macht im Handumdrehen international; folglich spricht sie englisch, was Vertrautheit gibt in dem spanischen Meer der Konversationslosigkeit. Gewiss war in der Stadt keine zweite wie sie, und wir beide erlebten erstmals, wie das ist für ein Mädchen, wenn alle einem nachgucken. Man hält den Blick gradaus und tut so, als merkt man’s nicht. Die hat’s ja leicht! Auf der Plaza de SANTIAGO, wo letztjahr die Basken im Regen gefeiert haben, wo heute die zwei Polizisten promenieren, so unaufhaltsam wie auch die zwei Prächtigen in derGalleria Vittorio Emanuelestaatliche Präsenz machen, in der abendlichen Zeit der Kaffeehaustischchen, wo die Mütter sitzen und ein Auge auf ihre herumrennenden Kinder haben, schritt’s zu dritt, sich fremdländisch unterhaltend, unsere spanische Begleiterin in der Mitte, Sebi für sie zu jung, ich zu alt, dieCalle Mayorhinauf, den Sottopassaggio links hinab und auf derInmaculada Pasealekuazurück zur Tiefgarage des Apothekers, unsere Celia mit ihren zwei verstaubten Fernfahrern, als wär’s beim Staatsbesuch der schwarze Mercedes mit den zwei Motorrädern links und rechts; es ist mir gewesen, als hätte man in dem Getümmel uns drei Auffälligen eine Gasse gelassen, wie den beiden stolzen Marescialli in Mailand auch.
ESTELLA später, in der letzten Sonne, die Pensione, dieFonda San Andrésan derCalle Mayor, das Nachtessen oben auf unserem Balkon, welcher über der Dachtraufe ins Dach eingelassen ist. Auf dem benachbarten Terrässchen liegen zwei Paar Schuhe, aus der Balkontür herausgeworfene, die Sandälchen von dem kichernden Girl und die zwei Adidas von dem stummen Burschen.
ESTELLA nachts, am Bahnhof, was spärlich beleuchtet ist, schummerig und gelb-orange. Die Geleise sind abgeräumt und aus der Straße herausgenommen; Vitoria – ESTELLA, das sind jetzt Autobusse; es ist wie im Val Maggia, oder wie von Biasca nach Acquarossa, es ist der Ersatz der Schiene durch den Asphalt; Sebi ist ungehalten; wo es doch in Zürich neue Tramlinien gibt, sagt er. Jugendliche stehen herum, höchstens zwei beieinander, keine Gruppen, und nichts zu tun.
Heute Mittwoch, 24.06.98, in der Tiefgarage.
Wir laden ab,bicicletas y equipajes. Der Befestigungsknopf der LowRiders an Sebis Velo ist auf dem Transport kaputt gegangen. Wir machen einen Disput auf einem der freien Parkplätze der Tiefgarage; Sebi spricht für eine provisorische Lösung mit einer Schnur, ich setze mich durch, und es geschieht die nachhaltige Reparatur. Da die Gabel die entsprechende Bohrung nicht hat, müssen wir uns mit einer Bride behelfen. Wir versuchen es im Scheinwerferlicht unseres Autos. Aber unsere Hände werfen den schwärzesten Schatten auf die Arbeit, welcher schwärzer ist als die Dunkelheit der Garage. Es ist ein vierhändiges, unmutiges Werk. Sebi sagt, es ist eine Inbusschraube. Ich überhör’s. Was Zeit kostet. Alle anderthalb Minuten geht das Licht aus, abwechslungsweise rennt einer zum Tor hinauf, hält die Hand in die Lichtschranke und die Beleuchtung geht wieder an. Auch ist unser ganzes Material zweimal zur Seite zu räumen, weil ein Auto just auf unserm Arbeitsplatz parkieren will. Niemand aber wird so unkundig sein wollen, in den Misslichkeiten des Anfangs ein ungutes Vorzeichen zu sehen.
Begonnen hatte der Tag in dem Frühstücksraum von der San Andrés; einsame Geschäftsreisende haben da gesessen wie im IBIS von Darmstadt, stumme Männer fern von Frau und Kind, und wenn es mal zwei waren am selben Tischchen, dann haben sie die Geschäftsinternasottovocemiteinander verhandelt, als wie wenn wir von dem Spanischen etwas hätten verstehen wollen. Der Velomechaniker weiter unten an der Straße hat Sebis Vorderrad gräden müssen; wir bitten ihn, uns zuschauen zu lassen, damit wir’s nächstes Mal selber können würden. Wir versuchen, ihm das Anliegen zu erklären; er weigert sich, die Arbeit unter unseren Augen auszuführen, scheucht uns vor die Tür. In der Wartezeit ist Sebi an alten Orten, bei den Läden und Kaufständen vom letzten Jahr. Das macht er immer so. Kommen wir wohin, wo er schon gewesen ist, geht er an seine alten Orte.
Dassesso begonnen hat, dass das dritte Drittel des ganzen Laufs der Dinge und der ganzen Reise von LE PUY nach SANTIAGO, so begonnen hat, ist alles eher als bedeutungslos. Denn so hat es begonnen. Die paar hergestreuten Banalitäten, nebensächlich sind die keineswegs. Jede Geschichte beginnt irgendwo und endet woanders; was zuvor war, und wies danach weiterging, wird nicht erzählt; ordinäre Leser sind hierüber unzufrieden. Sie wüssten es gern. Jedoch ist alles Faktische von dieser Art; das Faktische ist ein aus einem Endlosfaden herausgeschnittenes Stück; zufälliges; es handelt sich um den Widerspruch zwischen dem Faktischen und dem Vernünftigen.
Denn wurst, wo ein Ganzes entzweigeschnitten wird – der Geist bleibt der Geist vom Ganzen.
Denn der Sinn einer Sache istganz, ist alles, die Sache mag noch so halb sein.
Denn der Geist steckt in jedem Stück, näht die allerzufälligsten Fetzen in ein ganzes Kleid zusammen, welches von allem Anfang an,in principio,ganzist; es istdas Ganze im Fragment. Ist ja alles immer schon da. Ist bloß schwergefallen und hat bloß Mühe gemacht, es mit einem Wort zu sagen. Denn immerhin wurzelt es in den Fakten, steckt bereits im Auftauchen und Wegtreten der Akteure beispielsweise, der Personen und ihrer Darsteller, wie’s im Programmheftchen vom Theater heißt. Die beiden unliebsamen Brüche des Geschichtlichen, der Bruch am Beginn und der Bruch am End, sind eine Farce; über die Brüche hinweg hilft der Geist, dieses Wunderding, was darin ist und darüberhinausgeht; man kann also durchaus zufrieden sein mit dem Blick auf einzelne Gegenstände in der Lagerhalle; jedes Objekt, das man vom Regal nimmt, gibt den Blick auf das Ganze,
auf den Sinn, der darin ist,
und auf den ganzen Jammer um Gott.
Denn nehmen Sie beispielsweise die Reinheit, die Lauterkeit, die Sauberkeit der Absicht; es kann etwas nicht sauberer sein als wie wir es in ESTELLA in der Tiefgarage im Sinne hatten. Gewiss, anderes Leben gibt es, und andere Leute mögen sich mit geringerem Leben zufriedengeben müssen.
Oder etwa die Intensität; sie ist tagaus, tagein brandneu, derselbe Blick nach vorn, auf die Straße, auf das, was kommt.
Les Suisses, ils réfléchissent, wird die Paulette später sagen, wobei sie aufréééf-léchissent mit der Stimme ein bisschen hochging und die Silbe dehnte.
Denn beginnen tut’s schlussendlich und Ends aller Ends in dem Moment, wo wir uns, heraus aus der niedrigen Betondecke über den Köpfen der Tiefgarage, draußen in derPasealekua, auf dem Trottoir, in der Sonne, vielleicht um zehn Uhr, aufs Rad steigen und ein frohes Wort sagen, das allmorgendliche frohe Wort des Aufbruchs. Heute würd ich sagen, alle Zukunft sei schlecht und alle Vergangenheit gut. An dem Mittwoch aber, 24.06., ist es der Augenblick, der besagt, dass die unmittelbar gehabte Vergangenheit schlecht und ganz alle Zukunft gut ist; ist die rechte Zeit gewesen am rechten Ort.
Der rechte Ort: das Trottoir.
Die rechte Zeit: zehn Uhr vormittags,
als die Ungeduld Sebis, der schnell, schnell mit einer Schnur hätte repariert haben wollen, ihr Ende hatte, Sebi, immer die Kappe auf dem Kopf, ich für diesen einen Tag noch den Hut mit der breiten Krempe.
Sieben Kilometer sind wir falsch gefahren, sind auf der Straße zum PUERTO DE URBASA geblieben und haben die Abzweigung nach Vitoria verpasst.
In ARTABIA, an der Straße, steht im Geäst der Kirschbaumkrone die Frau auf der Leiter. Das war so festlich und fröhlich, dass man sich den Baum rundum noch mit den weißen Blüten vorstellen soll, alles voll schwarzer Kirschen und voll weißer Blüten am gleichen Baum. Sie grüßt herunter. Wohl tut sie das, lässt mich aber unbehelligt vorbei; den Sebi, den Bub, den kleinen Sohn, den hält sie ab vom Weiterfahren und gibt ihm die Kirschen aus dem Baum herab, die ganze Mütze voll; eine richtige Spanierin auf einer spanischen Leiter, steigt eigens aus dem Kirschbaum heraus und füllt ihm die Kappe. Sebi, im Weiterfahren, außer Sichtweite, weiter vorn am Rank, an der Abzweigung, im dreieckigen Schattenspickel einer Mauer, was nicht viel ist, knapp genügend, besteht er darauf, dass ich mit ihm esse.Dir hat sie die Kirschen gegeben;mich hat sie schnöd vorbeigelassen, sag ich. Er setzt sich durch; wir teilen; zwei gleiche Häufchen.
Die Kalkfelsabbrüche, die rechts über uns stehen, wir kennen das alles hier herum, wir sind ortskundig, letztjahr waren wir da, auf der Rückfahrt. Angelehnt, in dem Schatten von der Mauer, die Füße noch draußen in der Hitze, machen wir uns endlich die Mühe, die Karte anzuschauen. Es sind, ausgangs ESTELLA, beide Straßen mitVitoriaangeschrieben gewesen an den Tafeln, über STA CRUZ die eine, und die andere über ALTSASU eben auch; sieben Kilometer nordwärts statt westwärts sind wir gefahren, und in ARTABIA kehren wir um, vielmehr, biegen wir links ab, schneiden westwärts, um auf den rechten Weg zu kommen, ungerührt und ohne Bedauern, das falsche Dreieck auf Nebensträßchen ab, denn ein falsches Spanien ist uns so recht wie das richtige.
CdS;
die Caterina da Siena;
ihr Buch ist in der Lenkertasche:
Die Liebe des Vaters verrät ihre Liebesgeheimnisse. Er zeigt das Weltall von seiner Faust umschlossen, und keiner, sagt Er, werde Seiner Liebe entrinnen. Denn er hat die Welt aus Liebe erschaffen, und weil jedes Wesen in der Gottesliebe wurzelt, kann es nur sein und leben, wenn es selber liebt. Seine zur Liebe führende Liebe nennt Gott seine Vorsehung. Sie wirkt und waltet als heilige List schon in der Schöpfung selbst, da die Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit geschaffen sind. Keiner hat oder kann alles, immer muss er sich von anderen helfen und beschenken lassen; keiner kommt ohne den andern aus, und so verhält es sich in allem. Der Menschmussseine Armut sehen,musssich sehnen,musslieben, und nur eine Liebe, die die letzte zähe Wurzel des Eigenwillens ausgerissen hat, kann fruchtbar sein.CdS, XXI.
Es brennt aber die Mittagshitze in diesen paar Weilern. Das Mittagsgespenst ist herum,el Yantar. In der Ferne wird dünn der Angelus geläutet; der aber hält alles an, und jetzt, wo er geläutet ist, geht nichts mehr auf den Straßen und Wegen. So hell ist es, dass in der Helligkeit der Baum auf dem Hügel und der Hügel selbst zu hell sind, um noch gesehen zu werden. Einmal noch huscht ein Auto drüben den breiten Hang aufwärts zu seinen Häusern hinauf, aber der Hitze wegen hört man es nicht, denn es ist um die Zeit ein hitzigheißes, lautloses Land. Weite Äcker kommen von dort oben herunter, große falbhelle Erdwürfel frischer Pflügung, alles spindeldürr und hart wie Steingeschnitten. Wir stoßen mit dem Fuß dagegen; es ist hart wie Stein.
Das erste Essen unterwegs soll in genau dieser Gegend abgehalten sein; es ist zu zweit, und ist nicht einfach Verpflegung; wir sagen:es ist das erste Essen. Es ist unter der Eiche und in ihrem Schatten, einem Schatten so klein und rund wie im Winter die Wärme um unsern Holzofen daheim herum.
Jesaia 16/3
Ich schaffe ihnen einen Mittagsschatten, der so dicht ist wie die Nacht.
Es ist in dem Schatten zwischen den Steinen und Wurzeln wenig Stellfläche für das Brot und die Becher. Außerhalb des Schattens ist alles grell, Staub und Stein; gleich am ersten Tag ist es wohl das verständlichste Stück heißen Spaniens, das heißeste Stück verständlichen Spaniens, aber es geschah uns zu früh, und wir konnten das noch nicht wissen. Ich hatte den Dreizehnjährigen bei mir in demselben Schatten, aber wissen tat ich es nicht, weiß es erst heute. Ich sah nicht was ich sah und dachte nicht, was ich dachte. Kommt mir heute die Liebe, kommt sie zu spät und sitzt mir der Bub nicht mehr unter dem Baum. Draußen, in der Straße, an der Sonne, stehen die zwei Fahrräder gottverlassen; seins, so gar schwer beladen, fällt um. Fällt um, und er geht aus dem Schatten und taucht von dem Hügel in die Hitze hinaus, sucht sich einen flachen Stein und tut ihn unter den Ständer;
jetzt!, hätte man sich sagen müssen;
es seiJetzt, und es sei gut.
Das reine Jetzt, welches die Kinder so phänomenal beherrschen, der Augenblick, nicht gestört durchPré-Occupation, was schon Zukunft wäre. Damit meine ich noch nicht mal Besorgnis und Planung, sondern nur schon die pure Voraussicht, wie heut nachmittags eins nach dem andern kommen würde, und wie heute früh eins nach dem andern gekommen ist. Häufiger noch wird einem das Jetzt durch eine Trauer versaut. Trauer und Ärger sind Wolken, die wir vorüberziehen lassen. Verscheucht man sie, gibt man ihnen zu viel Beachtung. Sollen halt dabeisitzen wie unwillkommene Gäste. Unwillkommene Gäste! ein Leben, dass man mit unwillkommenen Gästen sich hat zurechtfinden müssen; werden dann schon wieder weggehen; werden von selbst merken, wie unwillkommen sie sind. Ich küsse mein Töchterlein; es liegt im Bett; es ist Nacht; ich rede ihm von den Wölfen, von Vater Wolfs schnüffelnder Schnauze, und wie es ein kleines Wölflein sei in der Höhle, die wärmenden Felle der Wolfsgeschwister um sich herum. Ich sag ihr nicht, dass ich’s Bild vom Kipling habe, aber mit dem Herzen bin ich nicht dabei, denn ich denke, dass dieses abendliche Spiel in eins zwei drei Jahren nicht mehr würde sein können, was es gewesen ist, und nicht mehr dasselbe. Die Trauer fällt darüber herunter, und mit ihr ist es nicht wie mit der Freude. Die Freude nimmt einem nichts aus der Hand. Mit der Freude kommt es in Fahrt. An einer Trauer oder an einem Träuerchen geht jede Fühlung kaputt.La Béatitudeist eine treibende Kraft; ob aber Diese sei, oder ob Jene, es sind zwei Bewusstseine, die sich gegenseitig auffressen.
Wir Großen, wir sind dazu verknurrt, demJetztwillentlich Raum zu schaffen und die Implosion allen Bewusstseins absichtlich zu veranstalten, um daran gesund zu werden. Erst sehr viel später würde ich begreifen, dass das Jetzt eine Chiffre, ein Anagramm ist für die Ewigkeit, für die göttliche Zeitlosigkeit.Jetztaber und heute an dem Tag, ist es fürs Erste unsere Reise wieder, die diesjährige, welche wir letztjahr haben fahren lassen; die Reise ist wieder da; in genauderGegend haben wir sie ein Jahr lang liegen lassen, wir zwei, er und ich, als wärs der weggeworfene Stecken, den man beim nächsten Spaziergang wieder aufliest. Aber davon mache ich an dem 24.Juni nur eine flache Wahrnehmung, nur grad so viel Wahrnehmung, als man auf dem Bahnhof zur Verfügung hat, ob nämlich der Zug schon da sei, und alles Gepäck mitdabei.
Unversehens sind wir in die vollständige Wucht Spaniens und Sommers hereingeraten. Noch sind wir von der Plackerei in der Tiefgarage die schwarzen Hände nicht los, und den fröhlichen Ärger über die sieben vertanen Kilometer. Ob man den Umweg wieder fände, ARTABIA – MURIETA; den absonderlichen Schatten auf der Anhöhe an der Straße, und das andere Hügelchen vis-à-vis, drüben am andern Ufer des grellen Lichtsees, die siebzehn Kugelbäume darauf, die knisternden Ginster- und Wacholdersträucher, ihr defensives Grün unter der Verstaubung, Ausstoßungen ihrer allerletzten Gerüche, die brennenden Steine. Und das aus gehälfteten Barrels zusammengeschweißte und zusammengeschraubte Windrad mit der Sodbrunnenpumpe und den Wasserschläuchen auf den Rabatten?
Dem Schlosser ist viel Witz und wenig Material zur Verfügung gestanden; das Ding ist so, dass jede Luft, woher immer sie herbläst, sich im Innern der halbierten Ölfässer fängt und sie auswärts antreibt. Auf die Weise dreht sich das ganze Gestell bereits bei mindestem Wind konstant im Gegenuhrzeigersinn. Sollte jemandem die Drehrichtung nicht zustattenkommen, braucht er nur die Fässer umgekehrt zu montieren. Der Bauer aber, es ist Mittag, es ist Siesta, er wird nun irgendwo auf dem Rücken liegen, und seine Plantage bewässert sich von selbst.
GANUZZA,
METAUTEN,
MURIETA; hier geht dieA132 durch, was nach unserem Abstecher der rechte Weg ist; in dem Ort ist der quadratische Platz unter dem Schattenbaum, das Kriegerdenkmal, die Bar, und darin die Señora; sie redet mit uns so viel und so geschwind als wärs deutsch; es ist ihr leicht gefallen, aus dem Aussehen auf unsere Bedürfnisse zu schließen, 1 agua mineral, el helado, 3 mal cerveza. Das Bier kommt aus drei winzigen grünen Fläschchen in ein glasklares Glas, der Gelato hat die Nationalfarben, gelb und rot.Kleiner Sohn, sagt sie zum Sebi; wirklich ist er klein,pequeño; auch die Frau auf dem Kirschbaum hat es herausgehabt; und die Schwestern von SAN MIGUEL DE LAS DUEÑAS werden schreiben:
Un saludo afectuoso en el Señor de parte de la Comunidad al pequeño Sebastián que ya habrá crecido mucho.
Die guten Nonnen;
eine Nonne ist immer Frau;
und Frau sagt:gewiss ist er gewachsen.
Westwärts die sehr gerade geführte Straße, stetig unmerklich steigend;RIO EGAheißt das Flüsschen, das vom Puerto Azáceta herunterkommt, worüber die Sonne jetzt niedergeht, wo jenseits Vitoria liegt, wo der Tomás Luis de Vittoria her ist. Alles ist haushälterisch bebaut in diesem Tal; es müssen darin fleißige Leute sein, fleißigere als anderswo in Spanien; selbst die Feldwege, die auf die Hauptstraße herauskommen, münden derart sauber im rechten Winkel, dass keine grasbewachsene und ungenutzte Ausrundung übrigbleibt, worauf ein Zelt hätte stehen können. Später, weiter oben, anderntags, droben an dem Ort, wo es von einer Geographie in die andere geht, in der gewundenen Kleinklus, wo die Kalkbrocken am Boden liegen, wohindurch die Täler ihre Lüfte und Feuchtigkeiten tauschen, dort schon, da wäre Platz gewesen, wären viele Plätzchen gewesen bisschen ebenen Bodens für das Zelt.
ACEDO,
STA CRUZ,
in STA CRUZ dunkelt es und ist es ein schlechtes Dorf, irgendwie feucht in den Mauern; niemand hat einem gefallen, die Burschen nicht, die Mädchen erst recht nicht, und die Alten auch nicht. Vonmesónzumesón,suchen wir was zum Essen, und haben außerhalb des Dorfs Richtung Antoñana eine Bar gefunden; da sind wie überall die Männer drin und überall das Spiel Spanien-Bulgarien, die Bulgaren im weißen Leibchen, erkennbar an den komischen Namen auf dem Rücken. In den andern Lokalen sind es auf ebensolchen Bildschirmen dieselben weißen Leibchen gewesen, auf demselben grünen Rasen des immer gleichen Stadions, und nichts zu essen. Und tagsdrauf, in NÁJERA, Belgien-Südkorea.
Unmittelbar nach dem Sägewerk geht rechts ein schlechter Weg abwärts zu einem Wäldchen, und verliert sich unten beim Bach im Gesträuch. Der Wald ist kein Wald, ist schiefer Wildwuchs, und darin mitten in den Himbeerstangen das Zelt. Ein unwirtlicher Ort.
Uneben. Unbequem. Feucht.
Sebi, wie liegst?
Wie letztjahr am PUERTO DE URBASA, sagt er.
Es ist, was sich für heutnacht anbietet. Keine Dusche, es ist zu kalt, nur die Füße waschen im Bachwasser. Die Taschenlampe ist ins Kraut gefallen und verlöscht, mag liegenbleiben bis morgen. Gestern das Hotel, morgen der Refugio von NÁJERA, heute unter dem Zeltboden die Wurzelstöcke der abgerissenen Himbeerstauden; draußen, unmittelbar hinter der Zeltwand Geräusche als gälten sie uns, ein fallender Ast, ein gefräßiges Tier, ein gurgelndes Wässerlein, und drinnen in dem kleinen Tuchhaus ein Atemholen, das Rascheln der Schlafsäcke und der Schlafsackhülle, wohinein die Tageskleider gestopft sind, was als Kopfkissen dient; die Geräusche draußen und die Geräusche drinnen,c’est vivant, es lebt; an dem abwegigen Ort leben wir alle miteinander.
Merkwürdig, fremd war der Ort nicht, keineswegs fremd; er war ein Ort wie viele andere zuvor. Morgen Abend würden wir in NÁJERA den Camino kreuzen. Der geht von ESTELLA über NÁJERA nach S.toDomingo dela Calzada, und nach Burgos.
Wir hingegen fahren von STA CRUZ über NÁJERA nach VALVANERA und SANTO DOMINGO DE SILOS.
In NÁJERA der Camino aber, das sind Pilger.
Wer mag’s diesjahr sein?
Was wird es werden.
journal39
VON STA CRUZ NACH NÁJERA
25.06.98
JUEVES,
Nájera, am Abend.
GENEVILLA und CABREDO die zwei Dörfer über dem Tal des RIO EGA, an der Nordflanke der Sierra; jenseits des Passübergangs, im neuen Tal, dem Tal des EBRO dann
MEANO,
ELVILLAR,
LAGUARDIA, noch an der breiten Südflanke der Sierra de Cantabria,
ELCIEGO,
die Bahnlinie Bilbao-Zaragoza;
die Brücke über den EBRO;
CENICERO, unten, auf dem Talboden,
HUÉRCANOS,
(die französischen Ortsnamen haben mehr Atmosphäre gehabt.)
Dann, abends, NÁJERA.
Irgendwie macht diesjahr ein Vielerlei den Ersten Tag, vornehmlich ist es dieLeichtigkeit des Seins, wohinein wir wieder geraten sind. Es kommt nicht drauf an. Auf nichts kommts an. Auch mein Töchterlein würd sich heute über nichts ereifern. Um neun sind wir wach; ist spät geworden gestern in der Nacht; aber jetzt sind wir wach, kommen aus den Büschen auf die Straße herauf; weiter oben rackern stumm Vater, Mutter, Söhne; zwei Söhne, grußlos, vorwurfsvoll.
Gefrühstückt wird nicht unten an dem feuchten Ort, wo man nicht gewusst hätte wie sitzen, und in GENEVILLA ist keine Bar, kein Laden, kein Brot. Ausgangs Dorf, links an der Straße, bergaufwärts, ein schlechter Wald; da setzen wir uns herein. Der Bäcker fährt vorüber, hat Brot für uns. Er öffnet hinten sein Lieferwägelchen, präsentiert seine Auslage als wär’s im Schaufenster. Es liegen die verschiedenen Brottypen auf einem weißen Tuch. Ob wir mitfahren wollen, sagt er, denn oben am Pass sei die Straße schlecht;gracias, brauchen wir nicht; er zweigt hier nach CABREDO ab; später, wie er wieder zurückist, winken wir ihm als wärʼs ein alter Bekannter. Im Finsterwald ist ein Förster tätig, fährt mit dem Auto heran, Motorsägen und Werkzeuge darin, Benzinkanister und Kettenöl, Spaltkeile und Vorschlaghammer, Handsägen verschiedener Größe, Seile, ein Krick, was einTirfortist mit dem Stahlseil; es geschieht also doch etwas in diesen Wäldern. Ob er das denn heute ganz alleine tun wolle mit seinen heftigen Maschinen? Und wenn es ihm passiert, was dann? mein kleiner Begleiter führt dem belustigten Waldschratt in beredter Pantomime die Gefahren vor Augen, den Lärm der Motosega unten am Stamm, das Kriketekrake der feinen Ästchen, wenn der Riese an den Nachbarbäumen entlang zu Boden geht, das definitive Wwo-umm, wenn’s aus ist, und wie dann alles so seltsam stille liegt, er selbst darunter womöglich auch.
Die zwei, der Bäcker und der Förster, sonst niemand. Beide nicht vorüberfahrend wie sonst ein Verkehr, mit beiden ein bisschen Palaver; das Vergnügen von zwei Einsamen, was sie mit zwei radebrechenden Fremdländischen hatten.
Weiter aufwärts, schon in den Wiesen, bleibt Sebi weit zurück; ob er müde war oder sich hat umschauen müssen, wer wüsste das. In der Regel, wenn er alleine bleibt, ist er nicht müd sondern herumschauend; aus einer oder der andern Bemerkung zu schließen, denkt er sich in die Gegend herein, überlegt, was es hier zu tun gäbe.
Qui sapientem genuit filium laetabitur in eo. Sprichwörter 23/24;
man mag den Leser nicht recht leiden, dem das alles noch zu übersetzen wäre.
Der erste der beiden Passübergänge, der, welcher auf unserer Karte nicht mal einen Namen hat, ist eine Kalkklus, ein Durchbruch durch die Felsbarriere, woher ein zugiger Nebelwind aus dem neuen Tal herüber uns entgegensteht. Es ist, wie wenn Tausende von weißen Windchen alle zur selben Zeit durch dieselbe Tür hereinwollten. Es ist, wie wenn Hunderte in panischer Angst aus dem brennenden Kino hinauswollten, und alle durchs Hauptportal.
Orte sind wie Worte; es sitzt eine bestimmte Meinung in ihnen. Die Details reden mit. Man kann hingehen und es ist verstanden; es ist gelesen, bloß dass dessen Mitteilung ganz komplex ist, und man sich um eine umfassende Beschreibung vergeblich müht. Ereignisse sind nicht von derselben Dichte wie die Orte, auch Kunstwerke nicht, oder wenn, dann nur die allerbesten. Denn die kleine Klus hier oben, diese geographische Nebensache, ist der Pass der Pässe gewesen. So wie Brancusi das Vogelhafte des Vogels hat darstellen wollen, nicht Spatz oder Storch oder Amsel, sondern das Vogelhafte des Vogels, so ist hier der Pass zwischen CABREDO und MEANO das Passhafte der Pässe. Es ist, dass sich im Heraufkommen die Straße, nach Sebis Matten und Auen, unvermutet gegen den Berg kehrt, als hätte sie aufsmal Mut bekommen, und bricht nach links durch den Fels. Eine in der vorangehenden Flanke noch ansteigende Kurve nähert sich der heiklen Stelle, und ein letzter Schnitt in den Kalkbruch herein, und man ist hinüber. Es ist bedeckt, neblig, eine feuchte Luft. Es ist, jetzt wo ich schreibe, spät geworden im Jahr, und im November wird es dort oben schneien; man wäre gerne an dem Ort; man würde sich wundern, wie all das Wasser lautlos fällt; Flocken sähe man da oben geschwind und ebenerdig durch diese Schneise treiben; lieber mit uns aber als gegen uns. So viel Luftwechsel zwischen diesen beiden Tälern ist unvermutet gewesen; sind ja alle beide im Rioja; aber das Wenige, was es da hatte an unbedeutender Differenz des Luftdrucks, geht alles durch diesen einen engen Windkanal.
Das ist vor der Abzweigung nach Logroño gewesen; bis Logroño wären es wenige Kilometer, da hätten wir hinfahren können, oder nach Navarrete, Städte des Camino; dann aber hätten wir Bob nicht getroffen. Wir entscheiden uns für NÁJERA.
RAPOBLACIÓN kommt; und wenig später MEANO; ansehnlich Leute stehen in MEANO auf dem Platz herum, donnerstags gegen Mittag, nicht samstags, seltsam. Ein Maurer; und zwei Männer mit zwei Kindern und das kleine Mädchen mit den blauen Augen; in der Bar die knallrote Paprikawurst, das Trockenfleisch, der Keso in ungesund gelblichem Aussehen; irgendwas schlechtverdaulich Kaltes und nicht Vegetarisches.
Es ist uraltes Land. Wo wir da sind, ist es uralt; man ist da in römisches Land hereingeraten; was wir hier schauen, ist vor zweitausend Jahren schon geschaut worden, das Tal des EBRO, eben dieses. Archäologie findet hier statt, und Archäologie, das sind auf einem abhaldigen Feld Trampelpfade von Fundstelle zu Fundstelle, mit Schäufelchen und Bürstchen am Boden kniende Intellektuelle. Es ist im Land, will sagen, ist zwar ländlich, aber nicht bäurisch, ist mit schmutzigen Fingern akademisch. Die Archäologen sind in LAGUARDIA; der Herr Professor mit der Videokamera bemüht sich um uns; auf Englisch besteht er darauf, uns alles zu erklären, schickt uns da- und dorthin, und hinab in das Gewölbe; schließlich ruft er die Rose zu Hilfe; die Rose spricht englisch, sagt er; Roses Englisch aber ist noch schlimmer, die Unterhaltung konfus und behindert; Rose müht sich um die englischen Wörter, als würde sie auf den Knien die Chlüren einer gerissenen Perlenkette zusammensuchen. Die Wissenschaft, denk ich, der guten Celia von ESTELLA ihre Wissenschaft, wär Spaniens Tor zur Welt gewesen.
Uraltes Land; in ELCIEGO Weinkellereien der Gegend, so verlassen, so übriggeblieben wie vorher die römischen Reste, kein Mensch, kein Fahrzeug, keine Harassen mit leeren Flaschen, trockener Asphalt und keine Waschwässer über den Vorplatz herab, keine alten Weingerüche in der Luft oder der Geruch von neuer Fermentation; Gebäudekomplexe, alles ausgetrocknet und zu groß für das bisschen Arbeit, das hier noch getan wird.
In CENICERO ist die Straße nach NÁJERA, bei alle den Unterführungen, Umleitungen und Baustellen, schwer zu finden;la autopistaundelferrocarrilund aller übrige Transport geht hier eng zusammengepfercht durchs Ebrotal abwärts und versperrt uns den Weg. Jenseits kommt das Land sogar nochmals herauf, denn NÁJERA liegt nicht in der Ebro-Senke; widerlich, dass es nach fünf Uhr abends nochmals steigt; zwar gute Straße macht, und gutes Land, Weinbau auf kurzstämmigen Rebstöcken in roter Erde; auf der Höhe der kleine Steinbruch, Trümmer verarbeiteter Steinplatten; jeder auf seinem Plattenstapel sitzend reden wir etwas, Zeitdruck ist nicht, wenngleich man sich sagt, es sei am Einnachten, und dass man längst im Ort sein müsste. Später, zuhause, versucht man, in den Sinn des neununddreißigsten Tags hereinzukommen,entrer dans l’esprit du trente-neuvième; es war halt so ein Tag gewesen, zudem meist abwärts, und erst ein, zwei Stunden später ist er zuend gegangen. Es ist nämlich gewesen, wie wenn man zuhause sagt:
Kinder, heut Abend kommt Besuch!
oder
Kinder, heut Abend ist Konzert!
An dem Neununddreißigsten ist es nicht, dass der Tag tagsüber geschieht, wo bei Sonnenuntergang nur nochlas horas de rezosbleiben und es klösterlich in die Ruhe geht, als wär sie ein geschlossener Raum,
ein kleiner Ort,
mit vertrauten Leuten,
eine Versammlung der Wenigen,
etwas Reduziertes,
eine Beschränkung,
aber Altes und Vertrautes,
nein,
der Neununddreißigste hat, im Gegenteil, am Abend stattgefunden und nicht am Tag.
HUÉRCANOS-NÁJERA, das nun aber ist schnurgerade, ebenaus und erholsam; und wiederum kein Bein und kein Rad auf der Straße. Erst in der Stadt ist Verkehr, und wir sehen erstmals heuer die Tafel, die alte Bekannte, an einer Hauswand befestigt, gelb auf blau:
Camino de Santiago;
wir haben ihn wieder;
wir sind wieder dabei.
Der Fluss ist der RIO NAJERILLA, NÁJERA’s Wasserlauf also; der Refugio ist jenseits, ennet der Brücke, ist eins der alten Gebäude des spanischen Camino, welche so sehr gut umgebaut und zur Verfügung gestellt sind. Oben über dem ersten Stock das Dach, von zwei mächtigen gemauerten Pfeilern gestützt, ein weiträumiger Saal mit doppelstöckigen Betten, Platz für alle. Viele Betten sind leer und ohne Gepäck und Mensch. Es könnten noch Kompanien kommen. Von unten herauf steigt eine breite Treppe hierher; alles geht ohne Türen und alles ist hoch; es ist ein feierlicher Ort; man schreitet mit Seife und Frottiertuch die breite Treppe hinab als trüge man Zeremonialien in die Duschkabinen.
Gegenüberliegend, in der ersten Querstraße, imrestaurante, am Tisch unmittelbar hinter uns, sitzen die zwei Frauen. Sie müssen uns zwei haben schweizerisch sprechen hören, und also nehmen sie den Faden auf und steuern ihr Reden bei.
Sie reden von sich selbst.
Sie sind aus Weimar und Weinfelden.
Morgen gehtʼs bis S.toDomingo dela Calzada. Der Rucksack drückt.
Sie nehmen alljährlich die Ferien gleichzeitig.
Sie essen jeweils nichts bis zum ersten Halt.
Sie haben fünf Wochen zur Verfügung für ST.JEAN-PIED-DE-PORT bis SANTIAGO.
Es ist das Autoritätsproblem,
insofern als den Zweien Gesehenes und Gehörtes keine Autorität ist. Sie lieben an ihren Entschlüssen, dass es die ihren sind. Zweifellos sind sie für ihre Kinder eine Gefahr gewesen. Sie haben ihre Kinder tagtäglich auf sich selbst verwiesen, haben gefragt:
Hast warm?
Hast amend Fieber?
Hast die Hausaufgaben gemacht?
Wie soll das mit dir noch herauskommen!
Dass hingegen das verblüfft Begriffene der Begriff des Seins sei, wo dochnon est simul affermare et negare; kurz,ob also Sein sei oder Nichtsein, und gar, wie der Jürg Ziehler zu sagen pflegte: dass »keiner zu klein sei, ein Sein zu sein.«
Und dass obendrein das Erstgewollte ohne Umschweife das Gute sei,
dennbonum est prosequendum et malum vitandum,
aufdass dasbonumdasselbe werde wie dasens,
dennens et bonum convertuntur …
für die beiden Frauen aus Weimar und Weinfelden ist dasEnseine Selbstverständlichkeit; das Ens wundert sie nicht; und gut sind sie auch schon.
In demrestaurantesind es die beiden Marien, »les2Maries«, wie wir sie hinfort nennen werden; sie beabsichtigen nicht, in der Geistesgeschichte Spuren zu hinterlassen. Ab einem gewissen Alter geht, wer immer im Paar gestört ist, Frau mit Frau, Marie mit Marie; meine Augen blicken freundlich, mein Mund redet Unterhaltsames, und meine Hände möchten ihnen an die Gurgel.
Im Refugio zurück; es sitzen zwei an einem der Tische unter der breiten Treppe, vor den beiden monumentalen Fenstern, welche in den hinteren Garten gehen, was eine saubere großbäumige Pflanzung ist. Wir setzen uns zu ihnen herein, wie wenns nur graddiezwei Stühle gäbe. Es muss wohl ihre Art aufzuschauen gewesen sein, dieser Begegnungsblick, was uns zum Sitzen aufgefordert hat. Wir kennen das. Wir sind neu in NÁJERA, nicht aber auf demWeg, und Bob ist einWegkundiger wie wir. Es ist wie beim Eignungstest der Welpen; spannt man gegen sie aggressiv einen gelben Schirm auf, rennen die kleinen Hunde entweder davon oder sie schnuppern heran. Schnuppern sie heran, dann sind sie geeignet.
Der Große, kanadischer Riese,géant canadien, steht auf und geht; er wäre Charles gewesen; wird gedacht haben, vorerst müsse man uns zwei aufeinander loslassen. Und der, der sitzen bleibt, ist Bob. Im Nachhinein ist der Gedanke:na Bob, bist also auch da.
Selbstverständlich gibt es den Zufall. Aber natürlich gibt’s den. Der Zufall ist in der Wahrscheinlichkeitsrechnung rechnerisch erfasst. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist gültig. Dass der A den B in X antrifft, wenn er morgens um punkt 8 losfährt, hat eine berechenbare Wahrscheinlichkeit. Dividiere ich im Experiment die Erfolgsziffer durch die Anzahl der Versuche, erhalte ich denselben Quotienten. Jeweilen Fügung zu vermuten, wenn’s gut geht, ist schlimm bigott und geht auf die Nerven. Die äußerst diskreten Fügungen Gottes sind zweideutig; es könnte auch Zufall gewesen sein. Gott fügt zurückhaltend so, dass es auch Zufall gewesen sein könnte. Er drängt es einem nicht auf. Effektive göttliche Maßnahme ist un-wahrscheinlich und macht die Wahrscheinlichkeitsrechnung kaputt. Im Glückhaben steckt kein Geist. Glückhaben ist niemandes Absicht, Wunsch schon, nicht Absicht; eine zutunliche Göttin ist die Fortuna keineswegs, denn der Zufall ist absichtslos, hat keine Intention; dasgefundene Fressenkommt nicht daher, dass Geister und Gestirne es geplant hätten, zum Voraus, sondern dass ich den Zufall beim Schopf packe, im Nachhinein. Unwillentlich findet man keinen Schatz im Keller; vergraben ist er seit der Zeit der Sansculotten, der Hugenotten oder sogar der Hunnen; will man den Schatz nicht finden, hat man nichts davon. Seit Jahren und Jahrhunderten hat ihn niemand finden wollen, und somit liegt er immer noch dort. Die Einen mögen bei dieser Tätigkeit mehr Glück haben als andere, aber auf die Gesamtbevölkerung gerechnet halten sich Glück und Unglück die Waage. Es ist diesdas Gesetz der Kompensation von Glück und Unglück, sagt André Gide; es ist Statistik, wie es Polykrates schmerzlich hat erfahren müssen.
Dass jeder seines Glückes Schmied sei, liegt näher; dass man nämlichmit den Karten spiele, die man in den Händen hat. Ebenfalls Gide.
Alle Fügung fügt bestenfalls die Chance; dann aber spricht die Vorsehung in den Geist herein tatsächlich und feststellbar; denn Gott will, dass gewollt wird; Gott will führen; wer immer liebt, wird führen wollen; ich weiß das, ich bin selbst Vater; daran erkennt man, dass einer liebt, wenn er führen will.
Der Camino ist der beste Ort, den’s gibt auf der Welt. Er ist schmal, aber sehr lang. Aber an diesem Ort sitzen wir jetzt. Hier setzt man sich zu irgendwem und es beginnt. Es fängt sofort an, anderswo tastet es sich mühsam heran. Wohl war ich für dieses Gespräch noch gar nicht zu haben, hatte vollauf damit zu tun, mit meinem kleinen Sohn wieder unterwegs zu sein, nochmals, letztmals.
Bob hierüber, in seinem prächtigen Deutsch:
Die 25e Juni 1998 abends. Ich kann mich noch gemau ein vorstellung macnen von die ganze Situatlon: Eine grosse Zimmer mit merere Tiscsche. Hinter rechts sass du mit Sebastian an eine Tisch die an eine Zeite lehr war. Ich zetste mich und wir hatte gerade angefangen zu plaudern. Zum erst in Englisch, naher in Deutz.
Bob schien mir meinerseits eines gewissenStilszu bedürfen, einer zurückhaltend zugewandtenVornehmheet, welcher Sprechweise mich zu bedienen ich diesen Tags bei meinem Jungen nicht gezwungen gewesen war. Ich glaube gar, Bob an diesem ersten Abend mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet zu sein, was sich später glättete. Er ist seit S’Hertogenbosch nahezu drei Monate mit sich allein gewesen und in NÁJERA entsprechend redelustig angekommen. Ich auch. Frei war ich wie er; wer hätte an solchem Abend schon Lust gehabt, dran zu denken, dass man in knapp einem Monat ins Alte zurückmusste. Gar alles lag noch vor uns ohne Schluss und Ende, und das Gewesene war noch nicht gewesen.
Das Gespräch wird zwei dreimal unterbrochen.
Bob, ich geh mal schnell hinauf zum kleinen Sohn.
Der aber liegt auf einer der vielen Bettstellen, und es werden das wieder die kleinen deliziösen Reden mit dem Bub im Schlafsack gewesen sein, Restreden, Tagesreminiszenzchen, in MEANO die Kleine mit den fabelhaften azurnen Augen und dem Feiertagsröcklein mitten in der Arbeitswoche;hättest du auch solche Augen, würdest du besser sehen können, sagt er, muss ich mir von ihm sagen lassen, und war nicht die erste von solcherlei Anspielungen; dann die fetten roten Prallwürste in der Bar, die Befindlichkeit in der Erde unter dem römischen Gewölbe, unten am EBRO unsere Mühe mit Eisenbahn und Autobahn und das Herumirren daselbst, im Steinbrüchlein spätabends die kühle vorüberziehende Schlechtwetterluft.
Nach meinem dritten Abstecher in den oberen Stock dann:Bob, er schläft.
In dem Haus ist eigentlich wie immer nichts Anderes vorgesehen
als ankommen,
bettbelegen,
duschen,
essen,
schlafen,
morgens in der Frühe auf, und fort.
Stattdessen ist es, dass es selbstredend zu zweit zurück ins Restaurant geht.
Mit Bob sitzen; mit ihm ist unentwegt das ganze Gewicht von der Zeit. Rechts die Zeile der Vierstuhltische, links der Gang nach hinten. Setzen wir uns hier, Bob? wo ich doch am selben Tisch zuvor mit dem Sebi gesessen bin, und hinter uns die beiden Marien. Unser Tag ist der neununddreißigste gewesen, seiner der vierundachtzigste. Was für Bilder und Begegnungen er drin haben mochte im Kopf; er konnte mir das alles unmöglich an dem kleinen Abend erzählt haben. Wir sprechen über Fachleute; zwei Intellektuelle mit einem elenden Respekt vor dem Handwerk; und dass der Klempner das Hundertfache sei als was der Revolutionär; und wie’s herauskomme, wenn einer etwas könne; nicht etwas wissesondernkönne. Tagelang haben ihn die Schuhe gedrückt; dem Cordonnier von Rocamadour hat er’s geklagt, wie es sei und wie es drücke; und der hat den Schuh in den Händen hin- und hergeknutscht, hat Geringfügiges abgeändert, und die paar Stunden später, oder anderntags, weiß nicht mehr, hat Bob schmerzfreies Laufen gehabt.
Bob an dem Abend.
Nie zuvor gesehener Bob. Wir reden über Albert Servaes, was auch ein Vlame gewesen war. Er verspricht, ihn aufzuspüren, nach Gent zu fahren, nach Antwerpen ins Musée Royal, nach Ostende und Brüssel.
Bob:
Der name ruft bei mir ein vage Erinnerung auf an ein Mahler, der eine sehr faszinierende Kreuzgang hat gemacht. Es stelt sich heraus das Albert Servaes sich wahrend der Krieg in der Schweiz gesiedelt hatte und dar auch nach dem Krieg geblieben ist. Thomas, die zur zeit noch ein Burche war, hat Freundschaft met ihm geschlossen. Es ist ein Freundschaft geblieben auch über dem Tod von dem Mahler hin.
In der DRUKKERIJ LANNOO in TIELT hat Bob das Buch der Lydie Schoonbaert gefunden, welche glaub ich die Konservatorin desMuseum Voor de Schoone Kunstenin Antwerpen ist. Undin deAbdij van Koningshoeven bij Tilburgfindet er den Kruisweg van Luithagen:
Ein Abend voll Bob.
Bob:
Dieser koinzidenz liefert ein teifgehend, vruchtbar und sehr nahe Gespräch auf zwischen uns beide wobei beiderlei Lebens ausführlich und tiefgehend zur Sprache kommen. Halbwegs; sehen wir uns bei der an und ich sage zu ihm:»habe ich dich schon einmahl begegnet? Bist du ! viellicht mein Brüder?«Solche begegnungen wunsche ich mich mehr, es ist meine Weg nach Santiago …
Gespräch, und was das sei; und dass es geht; und warum.
Es ist die Wirkung desWegs. Gut, man wird sagen, Bob sei Ingenieur, und wir hätten uns deswegen verstanden. Aber Reginald ist nicht Ingenieur; man wird sagen, er sei Mönch, und es sei deswegen gewesen; die andern aber waren weder das eine noch das andere; sie waren welche vom Weg. Das macht der Weg. Das macht dieses Vorhaben. Vorhaben ist wichtiger als Beruf. Aber wir haben zuviel getrunken an dem Abend; wir haben zu lange gesessen;
schlecht geschlafen.
journal40
VON NÁJERA NACH VALVANERA
26.06.98
VIERNES,
die Eleonore und der Sebi.
Bob ist natürlich schon weg,
der Schlafsaal leer, Tageslicht darin.
Sebi schläft; ist der letzte von alle den hundert der letzten Nacht; man muss sich einen dämmrigen Hunderter vorstellen, und darin einsam gelagert ein Bub; ich schon, ich habe aus meinem Schlafsack heraus zugeschaut, wie sie im Licht ihrer Stirnlampen das Gepäck gemacht haben, und wie sie stumm auseinander sind, frühmorgens in der Dunkelheit, unten in der Straße alle in dieselbe Richtung weggelaufen. Bob ist noch heraufgekommen; oder ich habe ihn auf der Treppe getroffen; oder ich bin noch hinunter an den großen Tisch, um mich zu verabschieden, ich weiß nicht mehr.
Wir sind wieder allein, Vater und Sohn, in einem großen Raum mit vielen leeren säuberlich geräumten Betten. Es ist die Wirkung desWegs.
Vom Refugio die Straße zurück, zur Brücke hinüber, und vor der Brücke links das Frühstück am RIO NAJERILLA, an seinem Ufer mit dem angeschwemmten Unrat, was eine provinzielle Promenade ist, ein paar Jugendliche an Fahrräder und Mofas gelehnt. Ob die Ferien haben? Wir zwei sind hier fremd; wir mögen uns solches nicht überlegen; wir setzen uns gedanklich nicht auseinander mit Schule oder nicht. Zwar ist es der 26.Juni; ob die aber Ferien haben, was kümmert uns das; Sebi ist nicht in dem Zustand; Sebi hat keine Ferien; er ist unterwegs, seit je. Die da fahren kaum das bisschen Straße hinunter und wieder zurück.
Sonne.
Auf einer der Promenadenbänke, auf den zwei blaugestrichenen Sitzbrettern, stürzt uns ein Karton Milch um; weiß läuft die Milch aus und macht unter der Bank einen Milchsee, dass wir’s an dem ungeratenen Ufer verächtlich haben sein lassen. Jahre später ess ich mittags häufig allein und ebenso achtlos. Wie damals auf jener Bank am verluderten Fluss, stelle ich die Sachen nicht ordentlich hin, ein Brot, beim Frühstück angebissen, auf dem Tisch liegengeblieben, mittags fertiggegessen. Nein, die Hohe Gnade des Aufbruchs ist nicht in mir gewesen an dem Morgen von NÁJERA; Bob und alle die andern sind längst auf der Straße, haben dieTagheiteriheraufkommen sehen, und wir sitzen auf einem blauen Promenadenbänkli an der Sonne.
Étrangers, pèlerins,
toujours prêts à partir
nous portons nos regards
vers le jour et vers l’heure.
Die Fahrenden stehen gegen die Sesshaften. Weshalb wohl haben die Sesshaften gegen die Fahrenden die Oberhand? wohl, weil der Sesshaften allzuviele geworden sind heutzutage; das Sesshafte hat überhandgenommen. NÁJERA, da war ein Wurm dringewesen an dem Morgen; während diesem Frühstück war die Idee im Kopf, dass man, ist man mal aus dem Rifugio heraus, in das Haus nicht zurückkehren kann; Rifugios sind keine Hotels; die Tür ist zu; man muss weiter; auch will man keine Viertelstunde länger auf dieser blauen Bank sitzen. Aber eine Zögerung und ein Zurück war in dem Aufbruch, eine Hemmung. Und doch waren wir seit gestern Nacht und am dritten Tag der Neuen Reise wieder ganz zuhause und wieder unter uns; gleich am ersten Abend haben wir vier von unseren Leuten getroffen, Bob, Charles und dieDeuxMaries; sie aber nehmen den Weg nach Azofra, Santo Domingo de la Calzada, Grañón, Belorado, durch die Montes de Oca, dieGänseberge, nach San Juan de Ortega, und auf Burgos zu. Werden wir alles nicht sehen. Wir würden den Hahn von Santo Domingo verpassen, den Pfarrer José Mariaqui partage sa soupe, wie Michel letztjahr vorausgesagt hat. Wir fahren unsere weitausholenden Schlaufen, weil es die kleinen gelben französischen Nebenstraßen, die ungefähr die Richtung halten, hier in Spanien nicht gibt. In CASTROJERIZ erst würden wir wieder auf den Weg stoßen.
Eine Unlust muss in dem Aufbruch dringesteckt haben. Nicht recht wollen und nicht anders können, so ist das jeweils. Wir wollten mit unsern zwei Rädern nicht in den Verkehr der großen roten Straße geraten und haben nicht vor, was alle Welt, und wie’s hier die Regel ist.
Ein Wurm war drin an dem Morgen.
Sebi aber,denWurm hatte er nicht.
Sich keine Gedanken machen, sagt man.
Machst dir zuviel Denken, hat er mir mal gesagt.
Und wenn er dann sowas sagt, undwieer es jeweils sagt, sagt man zu Gott:behüt ihn, bzw.bhüetigottauf schweizerisch. Man spricht so, und denkt an das eigene Leben, und dass es weißgott nicht ganz so einfach gewesen ist, wie’s dem Bub vorkommt. Bob mit Tochter Irene, Huber mit den Söhnen Dominik und Hans-Joachim, der Marco M. mit seinem Pietro, und ich mit dem Sebi; uns allen ist es schon mal geschehen, dass etwas hätte werden können, wies eben dann nicht kam. Bei dem Sebi sind dieserart hemmende Varianten aber keine im Kopf.
So war er immer.
So ist er heute noch.
Vor einem Jahr wollte er Lokomotivführer werden,il machinistaauf italienisch. Jetzt aber studiert er Geschichte und Geographie, alles schnellsten Zugriffs ohne abzuwägen, und eindeutig deutlich. Kommt vor, dass solcherart ein Sonnenuntergang ist. Dass draußen vor den Fenstern der Himmel, noch blendend hell, orange, rosa und türkis, den total schwarzen Horizont im Westen messerscharf zeichnet. Und wie dieser Schnitt zwischen Himmel und Horizont so messerscharf ist es dem Sebi. In der rabenschwarzen Bergkette darunter hängt ein ganz einzelnes, starkes Licht, als wärs ein Loch, ein Durchstich durch den Berg; ist wohl eine zu früh angezündete Lampe gewesen.
Weg von hier und ab der Bank? die Milchpfütze sein lassen? ein Unrat mehr oder weniger auf der Najerilla-Promenade? Südwärts fahren, nicht westwärts, auf 1240 Meter steigen und die SIERRA DE LA DEMANDA queren?
Keine Frage.
Es hockt mir heute wie ein Dorn in der Seele, dieser lautere Bub; fast fünf Jahre sind es her, seit wir auf den beiden blauen Brettern gesessen haben; aus den Fotos, aus den Notizen und aus den beiden Karten Michelin442und441,1/400′000, ziehe ich alle die genauen Bilder wieder zu mir heran; es sind die Mütter, die uns unsere Söhne gestohlen haben. Was mich in der Betrachtung dieser Bubenseele so plagt und sehnsüchtig macht, ist ausgerechnet die Route. Denn die hatteichauf Anraten von Freund Roland ausgeheckt. Er hat uns vor dem Verkehr der N120und dem direkten Westkurs gewarnt. Unsere südwärts und nordwärts ausholenden Umwege sind mit Sebi nie besprochen worden. Zuhause hat er mal kurz draufgeschaut. Das war alles. Das Diskutieren fand nicht statt. Fragen hat er keine gestellt. Alternativen nicht erwogen.
Und jetzt, heute, an dem 26.?
An dem 26. ist, was auf der Karte schon zuhause vorgezeichnet war in Form von roten Kreisen um die Destinationen, Sebis ungezögerte, unerwogene, unbedachte Zukunft; VALVANERA ist, was er für heute vorhat. Ist mir ein scharfes Wasser, der Gedanke an dieses unbezweifelte Vorhaben, was er vorhatte.
Na, denk ich,
Sprichwörter23/26,
Mein Sohn, gib mir dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen.
Sebi.
Außerdem ist er beispielsweisewahr.
Heutzutage sagt man:
dasoderjenes ist für mich wahr;
oder die Grete sagt:es stimmt für mich.
Sebi aber,erist, was wahr ist. Er hat keine vorgeblichen Motive. sagt nicht: gehen wir in den Leuen, oder gehen wir in den Adler, da gibt’s das beste Bier; und im Nachhinein stellt es sich heraus, dass es die Serviertochter gewesen ist, was ihn den Vorschlag hat machen lassen. Einerseitsister wahr und andererseitsvermuteter Wahrheit. Dieses Beides geht immer Hand in Hand. Der Hinterhältige vermutet Hinterhalt. Der Vorgebliche vermutet Vorbehalt. Der Treuherzige Lauterkeit. Deshalb, und weil er wahr ist, vermutet er in gleicher Weise bei mir nicht andere Motive als die ausgewiesenen; sage ich,komm, fahren wir diese Straße, die andere ist steiler; dann ist das so und einen anderen Grund hab ich nicht. Steh ich vor ihm, bin ich so wahr und so lauter wie er; die Lauterkeit ist, was ich von ihm herübernahm auf diese Reise.
Und die Eleonore von LEÓN?
einen Rock hat sie mitgehabt für die sechs Monate Pilgerarbeit in Spanien, hat ihn sich angezogen für unsern Abend. Die Aline hatte auch so einen bei der Hochzeit von der Simone; es sind starkstoffige Röcke, was seit Jahren das Beste ist im Schrank. Eleonore und Aline: Hosenmädchen. An dem Abend wusste ich nicht wohin mit ihr. DieFrau Studentin, sie gehörte zu dem ALBERGUE DE PEREGRINOS, hätte sich ausgekannt in dem Haus, aber sie schlägt nichts vor und lässt mich machen.Vieni, sag ich, und sie kommt,dove mi porti, fragt sie, und wir steigen von dem Podest die halbe Treppe runter und setzen uns auf die Stufen.
Ist siewahrgewesen, wie Sebi wahr und gerade?Nel quieto della seraalles tief und warm empfindend und durchgespürt? Wahr und gerade ist sie gewesen, wohl schon, aber nicht in Sebis Art. Wie Sebi war es nicht. Es ist eine verschwiegene Willfährigkeit drin gewesen. Eleonore, so wie sie heranschaute, hätt sie gern gewollt, dass ich wollte. Sebi aber hat nie wollen, dass ich wollte; sein Gehorsam war der Gehorsam eines Dreizehnjährigen, der nämlich, der den Nacken nicht beugt, der königliche Bub des Herakleitos,. Königlich der Bub, der wenig von sich hermacht und souverän von seiner Geltung nichts weiß.
Geltung will er nicht, hat sie aber.
La liberté du fils;
es ist die exzellenteste Sache von der Welt.
Stelle man sich den Sohn vor, der sich ziert, um vom Vater geliebt zu sein. Die Eleonore hingegen; steh ich auf, schießt sie in die Höhe; setz ich mich, setzt sie sich zu mir auf die Treppenstufe; eine nicht abbrechende Abfolge von Zustimmungen und Einverständnissen. Wäre sie eine Emanzipierte, ließe sie sich nichts schenken; würd es nicht schaffen, beschenkt zu sein; und ist sie’s mal, will sie es sich selbst zugeschrieben haben. So ist es gekommen, dass der Mann die Frau scheut wie der Bär den Bienenstock. Eros selbst, das Beste zwischen Mann und Frau, magert ab zu bedeutungslosem Wahn, zwingend zwar, aber unergiebig; unergiebig für den, der die anderen beiden Kommunikationen kennt.
Eros aber ist heilig.
Ob ers ist?
Ob Eros Begegnung macht?
Eine verzwickte Sache. Mir geht das Soldatenlied durch den Kopf von dem Hauptmann, der ein strenger Mann gewesen war und den Fehlbaren gleich hat aufknüpfen lassen.
Die LR113