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Über den Autor
PRAYING CHANNEL
DIE LIVE-EIGENEN
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Über den Autor
Dieter Hildebrandt, geboren 1927 in Bunzlau, Niederschlesien, studierte in München Theaterwissenschaften. Zusammen mit Sammy Drechsel gründete er die Münchner Lach- und Schießgesellschaft, deren Ensemble er bis 1972 angehörte. Von 1974 bis 1982 arbeitete er mit dem Kabarettisten Werner Schneyder zusammen. Seine TV-Serien »Notizen aus der Provinz« und »Scheibenwischer« wurden große Erfolge. Berühmtheit erlangte er auch durch seine Rollen in Kinoproduktionen wie »Kir Royal« und »Kehraus«. Hildebrandt erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Grimme-Preis und den Schiller-Preis der Stadt Mannheim. Zu seinen erfolgreichsten Büchern gehören: »Vater unser - gleich nach der Werbung«, »Was bleibt mir übrig«, »Denkzettel«, »Ausgebucht. Mit dem Bühnenbild im Koffer« und zuletzt seine Autobiografie »Ich musste immer lachen«. Dieter Hildebrandt lebt mit seiner Frau, der Kabarettistin Renate Küster, in München.
PRAYING CHANNEL
Unsere Nachbarn sind verwirrt.
Es gehen Menschen bei uns ein und aus, die sie vorher nie gesehen haben. Kabel ziehen sich durch den Garten.
Wir gehen nicht mehr einkaufen.
Die Nachbarin aus der rechten Doppelhaushälfte hat schon angerufen. Ganz vorsichtig fragt sie:
»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
Vielleicht hatte sie den Verdacht, dass Verbrecher uns als Geiseln genommen haben und jetzt auf das Lösegeld warten.
Wir sollten sie anrufen, sie beruhigen und ihr den Grund für diese merkwürdige Veränderung unserer Lebensgewohnheiten mitteilen. Renate ist dagegen.
Sie möchte abwarten, wie lange es dauert, bis einer von den Nachbarn an der Türe läutet und fragt, ob er etwas tun kann für uns. Eigentlich sind wir immer sehr zufrieden gewesen mit unseren Anwohnern. Sie haben sich viele Jahre lang vornehm zurückgehalten, um unsere Kreise nicht zu stören. Und wir taten das Gleiche.
So muss auch niemand etwas für uns tun. Das, was jetzt mit uns geschieht, haben wir uns selbst zuzuschreiben.
Ob wir es durchstehen werden, wissen wir noch nicht.
Wir haben diesen Teufelspakt unterschrieben, wir haben alles besprochen, vorbedacht und mit unserem Gewissen verrechnet. Ein paar nicht unwichtige Punkte in diesem Vertrag habe ich meiner Frau verschwiegen. Aber hätte ich ihr diese zwei Sätze vorgelesen, würde sie ihre Unterschrift verweigert haben. Renate und ich sind in Zukunftsfragen eigentlich recht locker, ja manchmal sogar leichtfertig, obwohl wir uns vermutlich im letzten Drittel, mag sein vielleicht auch Viertel, unseres Lebens befinden.
Der Grund für diesen unbegründeten Optimismus ist sicherlich in der täglichen Zeitungslektüre zu suchen. Nicht in den Ermunterungsschmonzetten im redaktionellen Bereich der seriösen Zeitungen, sondern in den Lebenshilfebeilagen jener Großkonzerne, die entdeckt haben, dass die Alten nicht nur immer älter, sondern auch immer mehr werden. Eine Untersuchung des Familienministeriums hat die Verkaufsstrategen nach Babyboom - Teenyboom - und Booms aller Arten, mit Thirties-Forties und sonstigen Blödy-Booms zum Nachdenken gebracht. Eine förmliche Shopping-Euphorie muss sie geschüttelt haben, als sie erkennen mussten, dass die Alten im Lande sich mäuseartig vermehren.
Ohne direkte Vermehrungsmethoden!
Ein Senioren-Phänomen!
In 50 Jahren sind 36 Prozent der Deutschen über 60 Jahre alt. 28,8 Millionen. 12 Prozent sind 80!
Dann fragt man doch gar nicht mehr, wie viele 70 sind!
Und, so warnt das Familienministerium, die Alten werden immer gesünder. Sie arbeiten schwarz, zahlen keine Steuern und sammeln Geld.
Zitat: »Ein Pensionärshaushalt verfügt heute im Schnitt über 4090 Mark im Monat!«
Sämtliche Versuche, die Alten zu dezimieren, sind erfolglos geblieben. Nicht einmal den Musikterroristen ist das gelungen. Obwohl der Ansatz richtig schien. Nämlich mit der Verdoppelung der Lautstärke von Pop-, Rock- und Schockmusik, mit der Vervielfältigung der Umweltgeräusche, mit Autos, Flugzeugen, mit Motorrasenmähern, mit ohrenbetäubenden Mitteln aller Art die Menschen in die Nervenheilanstalten zu schicken. Bei den Alten hat das den genau gegenteiligen Effekt gehabt. Auf die Frage, warum sie denn so trotzig sind und nicht sterben und ob sie denn wüssten, dass sie damit sämtliche Voraussagen, Planungen und politische Hochrechnungen ruinieren, antworten sie:
»Wir können nicht sterben - es ist uns zu laut.«
Die angebeteten Jungen im Lande, die man als Konsumenten für Gebrauchs- und Luxusartikel aller Art im Verlaufe der nächsten 50 Jahre fest im Auge hat, als Zielgruppe für die hochtrainierte Verkäuferelite Europas, sind durch den zunehmenden Musik- und Geräuschterror auch nicht abzuschrecken. Sie stehen an allen Ecken, haben diese Autistenklammer umgeschnallt, drehen voll auf und sind mit den Jahren schwerhörig geworden.
Es ist gar nicht wahr, dass die jungen Menschen politikverdrossen sind.
Sie verstehen nichts mehr!
Renate hat den Begriff »Verinselung« geprägt. Das leuchtet mir ein. Die Masse fängt an, sich zu vereinzeln. Zu verinseln - mit den Alteninseln fing es an.
Die Ungeduld, die älteren Menschen endlich ein bisschen aus der Bahn zu schubsen, damit man nicht dauernd jemanden vor sich hat, steigt in dem Maße, in dem die Alten durch die unverantwortlichen Erfolge der Medizin schubsfester und widerstandsfähiger werden.
Die Bereitschaft der Omas und Opas, folgsam in die Heime zu ziehen, also in die dafür vorgesehenen Alteninseln, sinkt. Nachdem sie, immer noch, viel zu früh aus dem Arbeitsprozess ausscheiden müssen, verfressen, vertrinken, verreisen und verleben sie das Erbe, registrieren die Jungen mit Misstrauen.
Natürlich haben sie keinen Grund, um ihre Zukunft zu bangen. Ungeheure Summen werden von Jahr zu Jahr vererbt.
Die Besitztümer vergrößern sich, die Zäune, die um den Besitz herumgebaut werden, erhöhen sich, die Verblödung der Besitzer, die da drin verinseln, dringt nicht mehr nach außen.
Sie hat sich, die Geistesverblödung, aus ihrer Verinselung befreit und nimmt bereits kontinentale Ausmaße an. Menschen, von denen man genau weiß, dass sie sich beim Bisdreizählen schon erhitzen, outen sich als bekennende Homebörsianer, haben sich die Broker-Sprache angeeignet, würden aber auf die Frage, wo Königsberg liegt, auf den Taunus tippen.
Vermutlich würde man auch Ratlosigkeit mit der Feststellung erzeugen, dass Moses uns ganz schön schimpfen wird, wenn er mit den Gesetzestafeln vom Berg kommt.
Vergleiche, die das berüchtigte Goldene Kalb betreffen, sind zurzeit auch nicht angebracht.
Dass aber in naher Zukunft an allen Hochhäusern der Innenstädte rund um die Uhr die Börsenkurse in Leuchtschrift abrollen werden, das ist abzusehen.
In den Kinos werden sie am unteren Rand der Leinwand während des Films ablaufen. In den Theatern und den Opernhäusern, auf den Fußballplätzen wird man Möglichkeiten finden, sie sichtbar zu machen.
Peter Stein, der alleinige Gott unter den Regisseuren, wird eine 36-stündige Ilias inszenieren und von kunstsinnigen Sponsoren finanzieren lassen, die darauf bestehen werden, dass die Aufführung durch 72 Werbeeinblendungen unterbrochen wird.
Bundesligafußballspiele sollen, und das ist bereits schon von den Funktionären erwogen worden, grundsätzlich statt zwei nunmehr vier Hälften haben. Auf die Rückfrage, ob das dann nicht Viertel seien, soll ein Herr des Fußballbundes gesagt haben:
»Nein, das ist uns zu wenig.«
Bandenwerbung, also die Werbung von Banden, die das Einsammeln von Geld von der Pike auf gelernt haben, soll nun endlich auch in den Domen und Großkirchen zugelassen werden.
Es wird daran gearbeitet, eine angemessene Sprache zu finden, die behutsam auf die Produkte aufmerksam macht.
»Lasset uns Gott preisen… mit den Sensationspreisen von ALDI.«
»Finde den Weg zu Gott... und schau dabei mal bei Karstadt rein!«
Oben in den Kuppeln der Dome blinken die Börsenkurse.
Man könnte die Kirchen aus ihren großen finanziellen Nöten retten, wenn man ihren Anspruch auf Feierlichkeit ein wenig lindern dürfte. Man weiß zwar nicht, was, speziell die katholische Kirche, zu dieser plötzlichen Verarmung geführt hat. Hat sie zu viel ausgegeben oder nimmt sie zu wenig ein?
Noch vor kurzer Zeit verfügte der Vatikan über Beteiligungen an Großkonzernen, besaß Autofabriken, Banken, Kapitalgesellschaften, ist noch immer der größte Immobilieninhaber der Welt und nach wie vor bemüht, seinen Angestellten auf jeden Pfennig zu schauen, den sie verdienen.
Man ist da sehr genau. Einem abgefallenen Mönch, der einer Frau verfallen war und den man dafür aus der Gemeinschaft der Kirche, der allein selig machenden, ausstieß, forderte man die gewährte Gewandung bis auf die letzte Socke ab. Als der Arme eine Unterhose unterschlug, konnte man ihm das nachweisen. Die Unterhosen waren nummeriert.
Eine solche Firma muss reich sein. Sollte sie aber wirklich so armselig sein, wie sie tut, dann muss sie den schweren Weg der Versponserung gehen. Die allein armselig machende Kirche sollte dann aber keine halben Sachen machen. Als Erstes sollte sie wie der Fußballverein Borussia Dortmund an die Börse gehen, dann wie Bayern München das Marketing und das Merchandising erlernen, Heiligenbilder wie früher in Massen auf den Markt werfen, den Ablass-Tetzel neu besetzen und die Ablass-Zettel mit einer Fernsehlotterie verbinden. Der Günther Jauch wird auch diese schwere Aufgabe für ein angemessenes Honorar übernehmen! Besser noch, er macht es umsonst, denn Gottes Lohn sollte ihm eine freudige Verpflichtung sein. Sein Vorschlag, die Sendung »BETEN, DASS...« zu nennen, wurde abgelehnt.
Das hat ihn verdrossen, denn dieser Titel, meinte er, würde sich an den Titel einer sehr erfolgreichen Sendung anhängen und machte auch durchaus einen Sinn.
Die Zuschauer beten, dass... der Euro im letzten Moment doch nicht kommt, dass... Bayern München nicht schon wieder Meister wird, dass... nicht noch eine Wiedervereinigung kommt. Mit Polen.
Jauch meinte, der Vatikan müsste sich da etwas dem Niveau des privaten Fernsehens anpassen.
Auch die Fragen, die man im Quizteil der Sendung stelle, dürften die aktuelle Intelligenz der Befragten nicht überfordern. Schließlich bekäme die Million ja in diesem Falle der Vatikan, und dem Sieger verblieben lediglich 2000 Ablass-Zettel, wofür er dann allerdings bis zu seinem Tod frei von jeglicher Schuld sei.
Wütenden Protesten der Juristen, dann könne so ein Mensch ja schuldfrei Morde begehen, begegnete die Firma ORA-TV (eine Kirch-Tochter) ungerührt mit dem Hinweis, dass man ein gewisses Restrisiko immer eingehen müsse.
G. J. hat schon eine Fragenzusammenstellungs-GmbH gegründet, die fleißig Fragen aus dem Alten Testament formuliert. Kommentar der evangelischen Kirche: »Wer AT sagt, muss auch NT sagen!«
Das Neue Testament sei schließlich schon alt genug, um bei den Fragen berücksichtigt zu werden.
Zu den schwierigen Fragen gehört folgende: »Welcher Jünger Jesu hat das Schweigen des Goldes versilbert?«
Und diese:
»Hat Jesus gelacht und wenn ja, worüber?«
Die Antwort sollte lauten:
»Als Petrus versucht hat, über das Wasser zu laufen.«
Der Pressevorlauf der Firma ORA-TV fand einige Kritiker in der vatikanischen Verhütungsbekämpfungszentrale.
Der vorgeschlagene Text lautete:
»Wir treten zum Beten
all denen auf die Zehen,
die sich vom Mainstream der Ungläubigen
abtreiben lassen.«
Man einigte sich auf das Wort: abschreiben.
Das ist insofern ungefährlich, als die Kirchen für Einnahmen aller Art sowieso keine Steuern zahlen.
Der Spaßverursacher Raab hat sich übrigens bei der ersten Fernsehkonferenz eingeschlichen und die Fun-Frage eingeworfen, ob man den Namen des Hauptsponsors nicht ändern müsse, denn der allerletzte Satz nach erfolgter Sendung ende mit dem Namen »Hasseröder«. Ob sich die Kirche einen so unchristlichen kategorischen Imperativ leisten dürfe. Er erntete Unverständnis des Auditoriums. Aber man schmunzelte, als er vorschlug, man solle doch mal die Firma Liebfrauenmilch fragen.
Es werden die Zuschauer darauf hingewiesen, dass ein gemeinschaftliches Beten vor dem Fernsehschirm gefordert ist, so wie auch eine Fern-Absolution denkbar sein wird. Am Anfang wird der Moderator zum Gebet aufrufen, aber man muss, wie es bei Privatsendern üblich ist, mit günstig postierten Werbeeinschüben seitens der Sponsoren rechnen.
Der Moderator wird alle Zuschauer auffordern, sich von ihren Sitzen zu erheben, und er wird sagen: »Lasset uns beten.«
»Vater unser...«
»…gleich nach der Werbung.«
DIE LIVE-EIGENEN
Es ist 7.30 Uhr.
Drei Menschen kommen durch den Garten.
Die Hunde schlagen an. Sie haben sich immer noch nicht an die Fremden im Hause gewöhnt.
Besonders die Dame lehnen sie sichtlich und hörbar ab.
Wenn ich einen so sensiblen Gaumen hätte wie unsere Hunde Nasen, wäre ich ein Gastronom mit drei Mützen. Kochmützen, meine ich. Wir essen in letzter Zeit das Essen von Köchen, die bestenfalls zwei Löffel haben. Statistiker treffen hie und da mal die richtigen Sachverhalte. Die Zahlen sagen aus, nach den Erhebungen im vorigen Jahr, dass es genauso viele Magenkranke gibt wie Menschen, die in Kantinen essen müssen. Sechs Millionen.
Noch wartet mein Magen mit Wehtun.
Renate musste auf höhere Weisung hin das Kochen einstellen.
HÖWEI ist unser Zauber-Krisen-Angstwort geworden. Wir werden von HÖWEI gelenkt, getadelt, gelobt und bezahlt. Es ist uns streng verboten, zu recherchieren, wer oder wo oder was HÖWEI ist.
Die drei Menschen, die gerade unser Haus betreten, ohne vorher zu läuten, zu klopfen oder zu klingeln, versteht sich, sind jedenfalls, wenn sie die HÖhere WEIsung entgegennehmen, unangenehm devot. Ereilt sie die HÖWEI im Sitzen, schießen sie aus ihren (unseren!) Stühlen und nehmen Haltung an.
Uns gegenüber haben sie... ja, eigentlich überhaupt kein Verhalten. Die beiden Herren sind Quereinsteiger aus Polizei und Wirtschaft. Bubi Nefzella ist ein Berg von einem Menschen, trug in seinem früheren Job den Spitznamen »Bubi, der Knüppel« und soll Bodyguard bei der Gattin eines Ministers gewesen sein. Nach einer unvermuteten Schwangerschaft der zu beschützenden Dame übernahm ihn der Programmdirektor der ORA-TV als Container-Politruk. Bubi trägt ein einziges langes Haar, das er quer über den mächtigen Schädel legt. Er hat also um ein Haar eine Glatze.
Der zweite Überwachungsbeauftragte der ORA-TV heißt Herrmann Roggenstroh und ähnelt dem bayerischen Minister Otto Wiesheu so sehr, dass er von den Gästen, die wir auf Weisung von HÖWEI empfangen müssen, immer zuerst begrüßt wird. In hohen Hotels weigert sich Roggenstroh grundsätzlich, im 15. oder 16. Stockwerk zu wohnen, weil er im Lift nicht an den Knopf kommt.
Einmal in der Woche sind seine gräulichen Haare besonders rot. Er war, bevor ihn sein Onkel, der einmal die Kontoauszüge von Max Strauß aus Versehen zu Gesicht bekam und deswegen in seinen Kreisen bevorzugt betreut wird, an ORA-TV ausgeliehen hat, Pressesprecher einer Privatbank. Oder einer Waschstraße? Da will ich mich nicht festlegen.
Sollte er einmal sein Leben beenden müssen, dann wird er eine brave Frau und zwei Kinder hinterlassen, mit Sicherheit aber keinen Eindruck. Bubi, der Knüppel, beeindruckt durch seinen Namen. Er heißt auch nicht einfach Nefzella, sondern hat, wie es sich gehört, einen Doppelnamen, nämlich Nefzella-Neumann, weil seine Mutter vor ihrer Scheidung von ihrem ersten Mann, dem Polizeimeister Nagel, den Mädchennamen Neumann wieder annahm, den Namen ihres zweiten Mannes aber auch nicht verschmähen wollte, sodass Bubi in seinem Pass den Namen Nagel-Nefzella-Neumann eingetragen bekam.
Wir werden die beiden Herren in den nächsten Jahren zu ertragen haben. Wir wissen, dass sie über alles zu berichten haben, was wir tun, reden, schreiben, dass sie täglich Berichte an HÖWEI liefern, wobei sie mehrere Male am Tag von Carmen Pietsch kontrolliert werden.
Carmen ist die für uns zuständige Redakteurin des Senders.
Renate fragte mich: »Was hältst du von der Dame?«, und ich knurrte: »Ich kenne dieses Modell in 34facher Ausfertigung an mindestens 20 Sendeanstalten.« Renate nickte und pflichtete mir bei: »Was immer du jetzt an Negativem sagst - ich schließe mich deinem Urteil an.«
»Sie ist eine klugscheißerische Ledermaus.«
»Sie schaut durch einen durch. Das ist der Teleprompter-Blick von den Aufsagern bei den Nachrichtensendungen.«
»Stimmt. Man dreht sich um, ob jemand hinter einem steht, der gemeint sein könnte.«
»Ich glaube, diese Dame hält uns für ihre Untergebenen.«
»Genau genommen sind wir das ja auch. Sie hat das Recht, uns in das Wohnzimmer zu schicken, sie gibt uns das Thema, über das wir dort zu reden haben.«
»Und wenn sie dann so dieses Zucken im linken Auge hat, sodass man immer das dumpfe Gefühl hat, dass sie einem zuzwinkert und mit diesem heuchlerischen angehauchten Befehlston sagt: ›Und nun gehen wir bitte wieder zurück in die Ausgangsposition. ‹«
»Na ja, und dann gehen wir beide brav zurück in die Küche, wo wir hingehören.«
»Hast du das alles geahnt, als du den Vertrag unterzeichnet hast?«
»Wir! Meine Liebe. Wir haben ihn unterzeichnet.«
»Schrei mich nicht an!«
»Wieso? Ich habe nahezu geflüstert.«
»Mit den Augen hast du ge-schrie-hen!«
»Dazu bin ich gar nicht in der Lage.«
»Du solltest dich mal sehen, wie du kucken kannst, wenn du dich im Unrecht fühlst! Schau mich nicht an. Deine Augen sind Kinnhaken für meine Ohren.«
Die Tür fliegt auf. Carmen steht in der Tür zur Küche und ruft begeistert: »Das war hübsch! Können wir das noch mal haben? Vor der Kamera? Renate, das war eine sehr nette Formulierung!« Renate lächelt. Sie ist geschmeichelt. Wir gehen ins Schlafzimmer. Inzwischen weiß ich, wo die Kameras, die versteckten, versteht sich, lauern.
Renate setzt sich auf das Bett.
»Wir fangen mit meinem Satz: ›Hast du das alles geahnt, als du den Vertrag unterzeichnet hast?‹, an.«
»Das geht leider nicht, Renate, weil sich der Dialog nicht richtig entwickeln kann.«
»Meinst du? Also wo?«
»Es fing an bei meinem Satz: ›Sie ist eine klugscheißerische Ledermaus! ‹«
Renate schießt hoch, zischt: »Du bist nur neidisch!« Sie stampft hinunter in die Küche und wirft die Tür hinter sich zu. Und ich habe das Vergnügen, der Dame sagen zu dürfen: »Ohne Renate wird es keinen Dialog geben.«
Carmen legt ihre Stirn in die dafür vorgesehenen Falten. Es sind eigentlich Schienen, auf die sie dann ihre Missbilligung schiebt. Sie schaut einen dabei an, als habe man seine Hausaufgaben nicht gemacht.
So ist das auch manchmal. Wir bekommen Aufgaben. Man möchte wohl den Eindruck verbreiten, dass ständiges Fernsehen das Niveau der ehelichen Gespräche nicht verändert.
Die Kameras zeigen zwei Menschen, die vor den Kameras zwanglos leben. Sie unterhalten sich zum Beispiel über den Gottesbegriff bei Samuel Beckett. Jedenfalls war das mein Vorschlag.
Als ich durchblicken ließ, dass ich die Erstaufführung von Warten auf Godot in der Inszenierung von Fritz Kortner gesehen und mitbekommen hatte, dass der Jude Kortner mit dem Katholizismus des Beckett Schwierigkeiten gehabt hätte, winkte die Pietsch nahezu erschrocken ab und meinte, sie sehe da einen politischen Ansatz in meinem Vorschlag, und das könne sie nicht zulassen. Das hat mich natürlich nicht zuversichtlich gestimmt für die nächsten Jahre im Greisenghetto.
Es müsste doch endlich möglich sein, um Gottes willen, darüber zu reden. Bevor die Katholiken katholisch wurden, waren sie Juden! Während dieses Gesprächs versuchte Renate mir dauernd mit ihren Augen mitzuteilen, dass es völlig sinnlos ist, dieser Dame etwas mitzuteilen. Vermutlich hat Renate Recht. Carmen ist allem gegenüber misstrauisch, was sie nicht selber weiß.
Sie weiß sehr viel, denn sie ist aufgewachsen in der Welt, als die Game- und Rätselshows das Restprogramm an den Rand drückten. Für sie ist, glaube ich, die Menge des Wissens entscheidend, nicht die Frage, warum man etwas wissen möchte.
Als ich, etwas beharrlich, zugegeben, dann noch mal erwähnte, Heinz Rühmann habe damals den Estragon gespielt, lächelte sie großmütterlich weise und meinte: »Ist schon ein bissel länger her, nicht wahr?«
Das macht sie öfter. Mit mir, nicht mit Renate. Carmen ist schlau. Sie versucht gemeinsam mit Renate, mich zu veralzheimern. Da wird sie Pech haben.
Meine Frau hat ihre Rolle viel früher begriffen als ich. Sie spielt die etwas jüngere, lebenskluge, kompromissbereite, witzige und charmante Ankerfrau, in Abwandlung des hereingebrochenen Begriffs Anchorman.
Carmen begreift nicht, dass ihr Renate längst die Regie unseres »So ist das Leben«-Spiels abgenommen hat.
Mit mir ist Renate nicht zufrieden.
Sie meint, ich dürfe die Pietsch nicht allzu sehr reizen, weil sie sonst »echt« böse werden könnte, und das möchte sie vermeiden.
Dass unser Leben, das Leben zweier älterer Menschen, als Lebenshilfe für andere ältere Menschen gesendet würde, also als Aufzeichnung zu gelten habe, aber doch »live« sei, das sei ja schon pervers genug, und man könne das guten Gewissens nur mitmachen, weil man für die nächsten Jahre mindestens von der Angst befreit sei, Hauptdarsteller bei der zukünftigen Rentner-Katastrophe zu werden. Die ORA-TV hat unsere Zukunft mit sämtlichen daraus entstehenden Kosten übernommen.
Carmen trägt, gemeinsam mit ihren Helfern Nefzella und Roggenstroh, die Verantwortung für unsere Gesundheit, unsere Arbeitsbereitschaft und für die Erhaltung unserer relativ unbeschadeten Geisteskräfte.
Wenn wir »drauf« sind, also »on«, also auf Sendung, schreckt sie uns mit ihren unsinnigen Bildungsfragen.
Vor der Zeit mit uns hat sie bei irgendeinem Privatsender eine »Ask and Answer«-Show moderiert. Die Fragen verlangten blitzschnelle Antworten, wie überhaupt die ganze Sendung blitzschnell ablief. »AaA« war die Nachfolgesendung von »Witch-Wutch«, einer direkt aus den USA geklauten VIP-STRIP-Show. Wer nichts wusste, war am Ende nackt. Niemand hatte geglaubt, dass VIPs sich nahezu aufdrängen würden, um ihre Kleidungsstücke abzulegen. Nach zwei Jahren sackte die Einschaltquote dramatisch ab. Die Zuschauer kannten inzwischen jeden nackten VIP-Hintern und begannen sich zu langweilen.
Carmen Pietsch hatte in dieser Serie die Aufgabe, die Fragen zusammenzustellen. Konnten die Kandidaten die Frage nicht beantworten, musste die Pietsch »Witch« sagen, und die Unwissenden mussten ein Kleidungsteil ablegen. Wurde die Frage zufrieden stellend beantwortet, sagte Carmen »Wutch«, und der Kandidat oder die Kandidatin durfte sich ein Kleidungsstück wieder anziehen. Die Sendung ist schon mehrfach für den Grimme-Preis nominiert worden. Gleich am ersten Tag unserer Containisierung ist uns mitgeteilt worden, Carmen Pietsch habe eine »reiche Fernseherfahrung« auf dem Unterhaltungssektor.
Und in der Tat, es ist erstaunlich, wie sie das TV-Gewerbe schon verinnerlicht hat. Weil sie genau weiß, dass in unserem Haus in allen Schränken, Schubladen, hinter allen Lampen, Gardinen und Teppichen Kameraaugen lauern, geht sie den ganzen Tag mit einem strahlenden Auftrittslächeln durch das Haus. Klo und Küche sind kamerafreie Zonen. Das steht in unserem Vertrag. Weil das so ist, habe ich, sofort nach ihrem Eindringen in die Küche, der Pietsch in höchst unfreundlichem Tone gesagt:
»Frau Pietsch! Sollten Sie noch einmal auf die Idee kommen, ohne anzuklopfen unsere Küche zu betreten, werde ich der ORA-TV darüber Mitteilung machen. Sie haben Ihre Kompetenzen überschritten. Laut Vertrag ist die Küche unsere absolut wanzenfreie, kameralose Lebensrestnische. Was meine Frau und ich in der Küche sagen, denken oder schreiben, das geht Sie nichts an!«
Carmen versammelte ihre Gesichtszüge zu einem öden Lächeln und verließ wortlos den Kampfplatz.
Renate hatte sofort Angst, dass damit unsere Altersversorgung gescheitert sein könnte.
Es ist nicht meine Schuld gewesen, dass ich uns für das »Container-Casting« angemeldet habe. Ausschlaggebend für diesen letzten Schritt in die Unfreiheit ist der Versuch gewesen, die Rentenreform zu verstehen und zu durchschauen.
Als gestern Nachmittag beim täglichen Five-O’Clever-Clock im Home-Center, also im Wohnzimmer, Carmen Pietsch mit ihrem strahlenden Dauer-Smiling zu den Klängen einer allgäuischen Kuhglocke auftrat und die 1000-Euro-Frage stellte, wie das Tier hieß, an dem diese Glocke läutete, schien es uns so, als ob das richtige Beantworten dieser Frage eine Kapitulation, eine endgültige Aufgabe unserer menschlichen Würde sein könnte.
Ich sagte dann, ich nähme einen Joker oder so was Ähnliches, und bekam als Ersatzfrage:
»Wie viele Elefanten sind bei Hannibals Alpenüberquerung abgestürzt?« Das hat mich überfordert. Carmen Pietsch hat mir gleich danach die Zahl genannt, ich habe sie vergessen. Plötzlich hatte ich den Verdacht, dass hinter der scheinbaren Sinnlosigkeit dieser Fragespiele ein Konzept stehen muss. Man will uns bis zum Zeitpunkt unseres Ablebens die Zeit verkürzen. So wie man Kindern die Zeit vertreibt, wenn man im Auto zum Urlaubsort strebt. Das beunruhigt mich. Wenn der Tod durch die Werbung der Bestattungsindustrie seinen Schrecken verliert, wenn die Hoffnung geschürt wird, man hätte nach dem Tode noch die Chance eines Castings im Vorhimmel und schösse dann mit seiner unverbrauchten Seele hinein in einen seelenlosen schönen Körper... das wäre... das wäre die Idee für eine Religionsgemeinschaft, mit der man reich werden könnte. Das Geschäft mit dem Tod ist erst am Anfang.
Renate kann es nicht leiden, wenn ich mit diesem Thema zu salopp umgehe.
Und ich sagte ihr einmal, dass es vernünftig sei, über den Zielort nachzudenken, wenn man sich auf einer Reise befindet. Wenn man angekommen ist, wird es zu spät sein.
Am zweiten Tag unserer Live-Eigenschaft bekamen wir Besuch von einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer beziehungsweise Pastor. Das Sekretariat von HÖWEI hatte uns vorher gewarnt. Ganz gegen unsere Erwartungen wurden es zwei amüsante Stunden.
Das Tagesprogramm am schwarzen Brett, Bubi Nefzella (der Knüppel) hatte es auf unseren Spiegel im Flur geklebt, kündigte
Taschenbuchausgabe 05/2008
Copyright © 2001 by Karl Blessing Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright dieser Ausgabe © 2008 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de
Unter Verwendung eines Entwurfs von Design Team, München Umschlagfoto: © Foto Sessner, Dachau
eISBN : 978-3-641-03274-6
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