Was bleibt mir übrig - Dieter Hildebrandt - E-Book

Was bleibt mir übrig E-Book

Dieter Hildebrandt

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Beschreibung

Dieter Hildebrandt, einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten, blickt in seinem erstmals 1986 erschienenen Werk «Was bleibt mir übrig» zurück auf dreißig Jahre Kabarett. Er erinnert sich an entscheidende Tage in seinem Leben, an denen nicht selten auch Entscheidendes in der Republik geschah, und erzählt von seinen satirischen Fehden gegen Personen und Vorgänge, die die Nachkriegsgeschichte des Landes geprägt haben. Dieter Hildebrandt, bekanntgeworden auf den Brettern der «Münchner Lach- und Schießgesellschaft», Verkünder der «Notizen aus der Provinz» im ZDF und Star der Sendung «Scheibenwischer», ist eine faszinierende Rückschau gelungen: ein persönliches Tagebuch, das drei Jahrzehnte kritisch beleuchtet.

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Seitenzahl: 314

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Dieter Hildebrandt

Was bleibt mir übrig

Anmerkungen zu (meinen) 30 Jahren Kabarett

Ihr Verlagsname

Zeichnungen von Dieter Hanitzsch

Über dieses Buch

Dieter Hildebrandt, einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten, blickt in seinem erstmals 1986 erschienenen Werk «Was bleibt mir übrig» zurück auf dreißig Jahre Kabarett. Er erinnert sich an entscheidende Tage in seinem Leben, an denen nicht selten auch Entscheidendes in der Republik geschah, und erzählt von seinen satirischen Fehden gegen Personen und Vorgänge, die die Nachkriegsgeschichte des Landes geprägt haben. Dieter Hildebrandt, bekanntgeworden auf den Brettern der «Münchner Lach- und Schießgesellschaft», Verkünder der «Notizen aus der Provinz» im ZDF und Star der Sendung «Scheibenwischer», ist eine faszinierende Rückschau gelungen: ein persönliches Tagebuch, das drei Jahrzehnte kritisch beleuchtet.

Über Dieter Hildebrandt

Dieter Hildebrandt, 1927 in Bunzlau/Niederschlesien geboren, studierte in München Theaterwissenschaften und Literatur. Mit Sammy Drechsel Gründer der «Münchner Lach- und Schießgesellschaft». In den Jahren 1974 bis 1982 Zusammenarbeit mit Werner Schneyder. Von 1973 bis 1979 «Notizen aus der Provinz» für das ZDF, von 1980 bis 2003 «Scheibenwischer» im SFB. Dieter Hildebrandt starb 2013 in München.

Inhaltsübersicht

2. Dezember 19858. Mai 194520. Juni 1948Texte 1948 bis 195517. Februar 1955Texte 1955 bis 195621. Juli 195612. Dezember 1956Texte 1957 bis 19597. Januar 1959Texte 1959 bis 196114. August 196128. August 1961Texte 1961 bis 196428. April 1964Texte 1964 bis 196829. Mai 1968Texte 1968 bis 19698. Mai 1974Texte 1974 bis 19791. Dezember 1979Texte 1979 bis 198214. Januar 1982Texte 1982 bis 198512. Januar 1985Texte 1985 bis 19869. August 198519. Januar 198626. Mai 1986Programme der Münchner Lach- und SchießgesellschaftProgramme Autorenkabarett-Duo Dieter Hildebrandt/Werner SchneyderSatirische Fernsehreihen von und mit Dieter Hildebrandt

2. Dezember 1985

Ein Tag, an dem »nichts los ist«. Wellen von gestern bewegen die Schlagzeilen von heute. Der Bayern-Kicker Augenthaler beteuert, er hätte den Berufskollegen aus Bremen nicht mit ganzer Konsequenz gefoult, sondern nur mit halber. Der Dienstwagen von Maggie Thatcher ist durch Liebesspiele eines Chauffeurs entweiht worden.

Die CDU-Linke warnt die Regierung vor Strangulierung der Gewerkschaft durch Einschränkung des Streikrechts.

Ein CSU-MdB warnt die Union auch vor irgend etwas.

Edmund Stoiber, Privatsekretär der Bayerischen Staatskanzlei des Franz Josef Strauß, verwarnt den Grafen Lambsdorff, der einen Tag zuvor Strauß einen »Wichtigtuer« genannt hatte.

»Soll sich lieber um seinen Prozeß kümmern«, meinte Stoiber. Ein Prozeß, in dem Stoiber durchaus die Meinung Lambsdorffs vertritt. Niemand warnt Stoiber.

Parteichef Gorbatschow (UdSSR) wird möglicherweise vom Papst (Vatikan) empfangen. Stellungnahme aus dem Vatikan: »Verfrühte Hypothese«.

Schneller Blick in das Fremdwörterbuch. Hypothese: »Wissenschaftliche, noch nicht beweisbare Annahme.«

Trifft nicht zu. Mit Wissenschaft haben die Kaffeesatzleser der Weltpresse nichts zu tun. Zweite Bedeutung: »Grundlage zur Erklärung eines Vorganges.«

Trifft nicht zu. Was hier vorgeht, ist zwar leicht zu erklären, daß nämlich der voraussichtliche Besuch Gorbatschows in Italien zu der Vermutung verleitet, der Papst könnte ihn empfangen wollen, aber dazu fehlt jegliche Grundlage.

Dritte Bedeutung: »Unterstellung, Voraussetzung.«

Trifft zu. Allerdings gibt es keine Voraussetzung für diese Unterstellung.

Was mich aber endgültig in Zweifel stürzt, ist die Vatikan-Formulierung: »Verfrühte Hypothese.«

Ist eine Unterstellung, die nicht verfrüht ist, keine mehr? Oder gibt es etwas wie eine rechtzeitige Unterstellung? Bin ich als Leser einer solchen Mitteilung zu der Unterstellung berechtigt: Der Papst will kneifen?

Becker, unseren stündlich alternden 18jährigen Leimener, wird er empfangen. Und hinter ihm werden die unvermeidlichen ständigen Begleiter Bosch und Tiriac zu sehen sein, die so viel von Tennis verstehen, daß sie von nichts anderem mehr etwas wissen.

Zum Beispiel davon, daß sie, je mehr wir Deutschen unseren Boris für uns vereinnahmen, um so rumänischer werden. Haben sie ihm geraten, seine Steuern in Monte Carlo zu bezahlen? Natürlich! Und warum?

Beendet Boris mit einem Elefantenaufschlag das Finale in einem hochdotierten Turnier siegreich und es fallen ihm 300000 Mark zu, zieht ihm das Finanzamt in Leimen 150000 davon ab. Ein Betrag, der einem Leopardpanzer schon einmal eine Panzerkette garantieren würde. Monaco, das mit einem Bruchteil dieser Summe zufrieden wäre, müßte davon wieder einen Bruchteil an Frankreich abliefern, das, man weiß es, sich der Nato nicht verpflichtet fühlt und diesen Bagatellbetrag höchstenfalls dem Centre Pompidou zuführen würde.

Das heißt: Jeder Sieg von Boris höhlt die Verteidigungsbereitschaft von Westeuropa aus. Tennis ist Weltpolitik. Ob der westdeutsche Fernsehzuschauer das alles bedenkt, wenn er nachts um drei Uhr seinen Boris in Cincinnati siegen sieht? Weiß Boris mehr und siegt jetzt weniger? Man muß der Sache nachgehen, schreiben darüber.

Heute nicht mehr.

Die Fröhlichkeit hält sich in Grenzen.

Ein Blick in meine Boulevardzeitung sagt mir, daß die Weihnachtszeit begonnen hat, denn, wie zu lesen ist, die ersten Nikoläuse werden überfahren. Umsatzrekorde stehen bevor. Mein Nachbar hat seinem Sohn zu Weihnachten eine Verkabelung geschenkt. Die Post reißt bereits alles auf. Frohe Weihnachten. Postminister Schwarz-Schilling lacht sich in eines seiner vielen Fäustchen.

Das Niveau der Fernsehprogramme steigt und steigt. Kuli hat einen Quizsieger geboren. Der wußte, wer der frischgebackene russische Schachweltmeister ist. Kasparow, sagt er einfach so, und das Publikum ist begeistert.

Immer wieder taucht das leidige Tempolimit 100 auf. Laßt doch die armen Deutschen, die endlich einmal eine freiheitliche demokratische Grundordnung haben, wirklich frei sein. Laßt sie doch fahren!

Die Deutschen, nicht die Grundordnung.

Von der Wiege bis zur Bahre, vom Gasfuß bis zum Raucherbein sollen ihre Freiheiten unangetastet bleiben.

Ab welcher Geschwindigkeit, ob schon bei 150 Stundenkilometern oder erst ab 190, die Freiheit als ausgekostet zu gelten hat, wollen die Automobilclubs demnächst entscheiden.

Das MdB Dionys Jobst, Experte für denkwürdige Aussagen aller Art, hat mit einem rhetorischen Juchzer ohnehin sämtliche Bedenken weggefegt: »Das Tempolimit ist tot – töter geht es gar nicht.«

Durch den deutschen Wald ist ein Ruck gegangen. Bundeskanzler Helmut Kohl ist guten Mutes. Wer durch eigene Kraft krank wird, kann auch durch eigene Kraft wieder gesund werden.

Kein Zitat. Kann aber kommen.

Kommen wird in den vor uns liegenden Monaten in jedem Fall das entrüstete Dementi der Bayerischen Staatsregierung zu der Behauptung, es gebe bereits heute in lawinengefährdeten Bergdörfern Evakuierungsplätze.

Hier muß einmal ein Riegel … da muß einmal ganz klipp und klar … wer hat denn da schon wieder nicht dichtgehalten?

Wir wollen in aller Deutlichkeit feststellen: Wer heute schon Panik verbreitet, gefährdet die ruhigen Vorbereitungen auf den Ernstfall!

Wer heute schon in verantwortungsloser Weise darauf hinweist, daß ohne Wald die Berge in Bewegung geraten werden, tritt bereits die Lawine los, die jene vorzeitige Panik auslöst, auf die wir erst später vorbereitet sind.

Den Zeitpunkt der Angst bestimmen wir. Das war schon immer so. Der Staatsminister für angepaßten Umweltschutz, Dick, hat in Schliersee, anläßlich eines Treffens der bayerischen Bergbahnbesitzer, dazu Stellung genommen: Er würdigte eingangs,

führte dann aus,

legte Wert auf die Feststellung, wobei er besonders betonte,

warnte ausdrücklich vor,

vergaß nicht, darauf hinzuweisen, daß er durchaus die Überzeugung vertrete,

was ihn nicht daran hindere

an alle den Appell zu richten,

fügte sofort hinzu, daß er der Hoffnung Ausdruck verleihe

und dieses sehr eindringlich.

Ergänzend bekräftigte er,

räumte ein, bezweifelte,

erinnerte daran, daß,

räumte jeden Zweifel aus,

wies noch einmal darauf hin

und dann energisch zurück.

Von 21 Uhr bis 22 Uhr 30

untermauerte er seine

Ausführungen.

Hat er natürlich nicht in dieser Form, aber mir ist so, als hätte ich in den letzten Jahren dieses als das Wesentliche in seinen Stellungnahmen empfunden.

Sicher bin ich nicht. Vielleicht habe ich dieses oder jenes vergessen, was er zu

Autobahnen, irgendwelchen Kanälen, Wiederaufarbeitungsanlagen, aussterbenden Vögeln oder neuartigen Waldschäden bemerkt hat. Vielleicht wäre es für alle Politiker, die dazu etwas gesagt haben, besser, wenn wir alle alles vergessen würden?

Oder verdrängen.

Bei mir stelle ich immer wieder erschrocken fest, daß ich ein paar Dinge vergessen habe zu verdrängen. Daß ich einmal als Pimpf durch die Straßen marschiert bin und den Menschen mit meiner hellen Knabenstimme mitgeteilt habe, ich würde immer weiter marschieren und immer weiter, bis alles in Scherben fiele, was wir in gemeinsamer Anstrengung dann auch schafften. Die Erwachsenen standen an den Straßenrändern und fanden das alles ganz in Ordnung. Selbst als wir behaupteten, daß Börsengauner und Schieber das Vaterland knechten würden, hat sich niemand empört, und ich marschierte weiter und weiter, direkt aus Schlesien hinaus, hinein nach Bayern. Dort muß man das als Flucht ausgelegt haben, denn ich bekam einen Flüchtlingspaß.

Das war allerdings, wie sich später herausstellte, eine Fehleinschätzung. Nach genauerer Betrachtung der geschichtlichen Abläufe wurde mir mitgeteilt, daß ich vertrieben worden war. Es war mir auch recht.

Der Weg war der gleiche. Heute ist mir klar, daß wir in Wirklichkeit Verdrängte sind. Westrussen verdrängten Ostpolen nach Westpolen und Ostdeutsche nach Westdeutschland.

Die heute als Ostdeutsche bezeichnet werden, sind aber im Sprachgebrauch der Westdeutschen Mitteldeutsche, was darauf schließen läßt, daß Ostdeutsche jene sind, die in Westpolen leben.

So in etwa scheint die Sprachregelung des Verdrängtenvorsitzenden Hupka zu sein, der drauf und vor allen Dingen dran ist, den verloren geglaubten Krieg doch noch zu gewinnen.

Ich bin da skeptisch. Wir haben den Biß nicht mehr.

Feindbild, Verteidigungsauftrag, die Sehnsucht nach Heimat, nämlich der Heimat der anderen, Bürger in Uniform, Pazifismus im Stahlhelm, Vorwärtsverteidigung, Rückwärtsangriff, alle diese Begriffe sind in unseliger Weise durcheinandergeraten. Militärisch gesehen sind wir Schweizer geworden, die keine Berge haben.

Oh, welcher Unterschied zu den Offizieren der Volksarmee. Aus ihren stahlharten Blicken liest man den glasklaren Willen, den mit sich selbst kämpfenden Sozialismus durch soldatische Haltung zu stützen. Wer hätte gedacht, daß Preußen einmal zu Sachsen gehören würde. Durch die müssen wir durch, Kamerad Hupka, wenn wir an der Oder wieder »Mensch ärgere Dich nicht« spielen wollen!

Töchter Ulla und Jutta haben mir übrigens vor einigen Tagen klipp und klar gesagt, das von den Polen verwaltete Erbe in Niederschlesien auf keinen Fall antreten zu wollen.

Ich bin da anderer Ansicht! Käme Polen heute zu der Meinung, daß es, im Sinne einer sozialistischen Bruderschaft, angebracht sei, Schlesien zurückzugeben und zwar an die Deutsche Demokratische Republik, zumal ja inzwischen feststeht, daß unsere ostdeutschen Brüder und Schwestern den Krieg nicht mit verloren haben, wäre ich ganz begeistert und würde noch ungeduldiger auf die Wiedervereinigung warten.

Mein Gott, was könnten wir dort für Autobahnen bauen!

Wie schnell hätten wir das Riesengebirge so hergerichtet, wie es sich für eine Gebirgslandschaft gehört. Mit unserem Knowhow in Beton und Stahl! Mit unserem Pioniergeist und unseren überquellenden Banken.

Wo gerade noch soviel wie nichts war, würden Bergbahnen, Zahnradbahnen, Lifte, Mittelstationen, Gipfelstationen, Hotels, Hochspannungsleitungen, Staudämme, Autobahnbrücken und Appartementhäuser aus dem Boden schießen.

Zwei Jahre, und wir kämen uns dort wie zu Hause vor.

Aber dem Fortschritt sind eben Grenzen gesetzt, und es sind nicht die von 1937.

Heute, am 2. Dezember 1985, weiß ich:

Es werden immer weniger, die den Krieg verloren haben. Selbst der Bundeskanzler hat jede Verantwortung abgelehnt. Er habe damit nichts zu tun, meinte er, er sei damals noch ein Kind gewesen, und das wäre heute noch so …

Ich kann mich auch kaum mehr erinnern.

Schwören möchte ich allerdings, daß am 24. April 1945 ein junger Leutnant der Wehrmacht in der Mitte eines Gutshofes bei Beelitz (Potsdam) auf einen Stuhl stieg und uns 17jährigen Landsern mitteilte, daß die Amerikaner ab sofort mit uns gemeinsam die Russen aus unserer Heimat vertreiben werden.

Daß das alles viel zu verfrüht war, konnten wir nicht ahnen. Wir jubelten, packten unsere Karabiner fester und marschierten. Nicht, weil wir glaubten, nun wären wir doch noch am Endsieg beteiligt, sondern weil Hoffnung aufkam, wir bekämen vielleicht schon am nächsten Tag was zu fressen. Es muß ein Gerücht gewesen sein.

Aber wer glaubt mir heute, daß ich es wirklich erlebt habe? So etwas wie »unvergeßliche Erlebnisse« gibt es vermutlich gar nicht. Als Zeuge meiner eigenen Vergangenheit bin ich als befangen abzulehnen.

Das Interessanteste an Biographien von Zeitgenossen, deren Wirken man noch selbst am eigenen Leibe erfahren hat (Speer, Schirach), ist das Gelogene.

Das Maß der Unverschämtheit bestimmt den Verkaufserfolg. Behauptete ich heute, ich sei schon als Hitlerjunge mit Fälschen von Lebensmittelkarten beschäftigt gewesen, um der Idee des Nationalsozialismus die Grundlage zu zerstören, nämlich die Nahrung, hätte ich zwar bei meinen Freunden aus Bunzlau in Schlesien die Glaubwürdigkeit verloren, bei etwaigen Lesern aber Vertrauen gewonnen. Da gilt es abzuwägen: Wie viele Freunde hatte ich – wie viele Leser werde ich haben?

Und selbst die könnten zu dem Schluß kommen, daß die für mich unvergeßlichen Erlebnisse zu den vergeßlichen zu zählen seien. Ihre eigenen waren eben unvergeßlicher.

»Wenn Sie so wollen« – eine der raffinierten Unterstellungen, die selten in einem Gespräch fehlt. Wenn Sie schon so wollen, dann bestätige ich Ihnen gern, daß Sie meiner Meinung sind.

»Wir müssen mit Stärke beweisen, daß wir zur Schwäche bereit sind. Wenn Sie so wollen.«

Der andere will aber gar nicht.

Gespräche dieser Art werden dann gewöhnlich als »Meinungsaustausch« bezeichnet. So, als hätte danach der eine die Meinung des anderen und umgekehrt.

Hin und wieder scheint das zu gelingen.

Vor nicht allzu langer Zeit soll der Bundeskanzler die führenden Herren der Automobilindustrie zu einem Meinungsaustausch bezüglich des unverzüglich einzuführenden Katalysators aufgesucht haben.

Nachdem er zuvor der Presse seine Meinung dazu mitgeteilt hatte, ging er mit seiner Meinung hinein zu den Herren und kam mit der ihren wieder heraus.

Wenn man das auch nicht direkt als Meinungsaustausch bezeichnen kann, so hat doch wenigstens eine interessante Meinungsverschiebung stattgefunden. Vielleicht hat sich aber auch, es ist schon einige Monate her, in meiner Erinnerung etwas verschoben?

Zuviel herausgelesen aus dem Nichtmitgeteilten?

Subjektive Geschichtenbetrachtung?

Natürlich. Die subjekte Behandlung des Meinungsaustausches zwischen Verteidigungsminister Wörner und dem General Kießling konnte auch mich nicht davon ablenken, daß es sich am Ende um einen objektiven Skandal handelte.

Aber Skandale gehören bei uns, wie sich zeigt, zu den vergeßlichen Erlebnissen, Ministerrücktritte zu den wenigen unvergeßlichen.

Wer einen Skandal verursacht hat, übernimmt die volle Verantwortung und bleibt.

Ginge er, würde er für einen Moment recht haben, bleibt er, vergißt man auf Dauer, warum er recht gehabt hätte.

Unsere horrorreiche Vergangenheit behandeln wir ganz ähnlich. Wir hätten Grund, uns zu schämen, schämen uns aber nicht der Tatsache, daß wir langsam den Grund dafür vergessen haben. Wir haben jetzt genau 30 Jahre lang versucht, diesen Prozeß zu verlangsamen. Was blieb uns übrig?

Und was bleibt mir übrig von dem, was ich dazu beigetragen habe? Texte, die spontan entstanden sind.

Aus Bestürzung, Zorn, Verlegenheit und aus Lust.

Also schon wieder ein Buch, das aufgeschlagen werden möchte.

8. Mai 1945

»DER KRIEG IST AUS« meldet die Zeitung »Stars and Stripes« vom 8. Mai 1945. Der Nachfolge-»Führer« Großadmiral Dönitz bereitet sich auf die letzte große Geste des ehrenvoll Unterlegenen vor: auf der Kommandobrücke grüßend mit dem Schiff in den Fluten versinken und dann schnell an Land schwimmen.

Es gelingt nicht. Die Sieger ziehen dem großdeutschen Kleindarsteller Dönitz das Schiff unter dem Hintern weg. Sie wollen ihm das »ehrenvoll« nicht gönnen, haben die über hundert Konzentrationslager gesehen, von denen der Admiral selbstverständlich nichts gewußt hat. Nicht nur ihm geht das so. Einige Feldmarschälle überlegen, ob sie Adolf Hitler überhaupt gekannt haben. Eine großdeutsche Amnestie setzt ein, eine gigantische Gehirnerschütterung der abgedankten Herrenmenschen. Schon am Tag der Kapitulation beginnt das Gras zu wachsen, in das der kleine Mann immer beißt.

Sechs Jahre lang war der kleine Mann nicht auf der Straße, wo man ihn immer vermutet, sondern im Schützengraben, in dem er die kleine Frau verteidigt hat, die im Luftschutzkeller saß. Jetzt liegen Millionen von kleinen Männern unter dem Rasen von Stalingrad, Smolensk, Witebsk, Monte Cassino, am Kaukasus, in Norwegen, Frankreich, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Belgien, Holland, Nordafrika, und die großen Männer, die sie da hingeschickt haben, wissen wieder einmal nicht, wer damit angefangen hat und warum.

Die tapfere, kleine Soldatenfrau ist Witwe und weiß alles. Die Liedertexte haben sich im Inhalt verändert. Deutsche Tanzkapellen spielen Noten, die vor ein paar Wochen noch als zersetzend gegolten hatten. Duke Ellington, Glenn Miller, Benny Goodman kommen aus den »Volksempfängern«. Noch immer weiß man nicht genau, ob es nicht ein verbotenes Abhören von »Feindsendern« ist, noch immer stiehlt sich nach Erklingen des Deutschlandliedes der Arm nach oben.

Da und dort kämpft noch die SS. Das zu einer Zeit, in der bereits viele deutsche Spontan-Demokraten vergessen hatten, daß sie drin gewesen waren.

Man begreift schon gar nicht mehr, wie die stattlichen Mitgliederzahlen von NSDAP, SA, NSKK, NSV, von NS-Studentenverbänden, -Frauenschaften, -Ärztebünden, -Dichtervereinigungen, Kriegsveteranen, von Arbeitsfront, Arbeitsdienst, von NS-Zahnärzten-Richtern-Chemikern oder -Drogisten eigentlich zustande gekommen waren.

Ein paar tausend Überzeugungsnazis haben Millionen von deutschen Widerstandskämpfern in Angst gehalten.

Wir alle haben den Arm zum deutschen Gruß jahrelang nur deswegen gehoben, um ihn später auf die Täter herniedersausen zu lassen.

Aber wer wirft den ersten Stein? Wer kann richten?

Natürlich der, der es gelernt hat. Und der soll es in Gottes Namen tun. Er muß sich halt ein bißchen umstellen. Kurz vorher hat er es noch im Namen des Volkes getan, jetzt in Gottes Namen, der gerade aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist.

Es soll Richter geben, die vor einem Jahr noch im Namen des Volkes das Abhören von Feindsendern mit dem Tode bestraften und sich nun wegen des Gewissenskonfliktes halb umbringen. Aber eben nur halb.

Die lebende Hälfte besetzt den leeren Richterstuhl mit dem Vorsatz, alles zu vergessen, was notwendig ist, um die andere Hälfte wieder zum Leben zu erwecken.

Als ganzer Mann taucht er zehn Jahre später wieder auf. Heute, im Jahr 1985, ist mir immer noch nicht klar, wie es dieser Berufsstand geschafft hat, wieder zu Ehren zu kommen.

Das alles weiß ich heute, am 8. Mai 1945, noch nicht. Ich marschiere, gut bewacht von amerikanischen Jeeps, in das Gefangenenlager von Gardelegen. Meine Eltern wissen nicht, wo ich bin, ich nicht, wo meine Eltern sind. Mein Vater kennt den Aufenthaltsort meiner Mutter nicht, meine Mutter weiß nicht, ob ihre Mutter noch lebt und wenn ja, wo. In Dresden sterben Hunderttausende von Menschen. Meine Mutter weiß nicht, ob mein Vater dabei ist, mein Vater nicht, ob ich, und ich nicht, ob meine Eltern.

Irgendwann wird man sich wiedertreffen, ob im Himmel, ob auf Erden.

Oder habe ich mich getäuscht? War alles ganz anders?

Es gibt inzwischen schon deutsche, englische und amerikanische, besonders aber kanadische »Historiker«, die, mit Genehmigung der Bundesregierung, im Lande herumreisen und mir meine Geschichte ausreden.

Sie meinen, Hitler habe es in diesem Sinne nicht gegeben, der Krieg sei nicht von uns ausgegangen, sondern quasi von selbst, die KZ-Bewachungsmannschaften hätten gar niemanden bewacht, umgekommen sei dort, außer vor Langeweile, kein Mensch. Juden in dem Sinn habe es gar nicht mehr geben können, denn die seien von Himmler, den es in dem Sinne auch nicht gegeben habe, persönlich gewarnt worden vor den antisemitischen Bolschewiken, und vor denen seien sie rechtzeitig ins Ausland geflohen.

Daß so etwas oder ähnliches heute gedruckt, vertrieben, verkauft und womöglich sogar gelesen werden kann, ist kein Wunder. Ein Wunder ist es, daß Menschen, die so denken und schreiben, das in einem Lande tun dürfen, in dem es einen Radikalenerlaß gibt.

Aber vielleicht ist Geschichtsfälschung konventionell?

Am 8. Mai 1945, heute zwischen 16 und 17 Uhr, glaube ich noch an eine Abrechnung.

Dieses Mal werden die Großen hängen, und die Kleinen werden das berüchtigte Schild an ihren Füßen anbringen können: »Ich habe mein Vaterland verraten.«

20. Juni 1948

Der Tag der Chancengleichheit. Währungsreform. Die Bürger stehen Schlange, um sich das Startkapital für den neuen Anfang abzuholen. Um der Wirtschaft einen Schubs zu geben, werden eine Reihe von Unternehmen, vielversprechende Personen, traditionsreiche Institutionen und Produktionsmittelinhaber aller Art mit einem Ankurbelkredit gedopt. Wer nur die gleichen Chancen hat, sieht schon in den nächsten Tagen beruhigt, daß sich nichts geändert hat. Die Distanz zwischen Habewas und Habenix bleibt gewahrt. Die Zeitungen jubeln die Chancengleichheit hoch und den Widerspruch runter. Es hat immer schon Journalisten gegeben, die alles wissen und nichts schreiben, und solche, bei denen es genau umgekehrt ist.

Seit 4. Januar 1947 gibt es den »Spiegel«. In meinem Wohnort, Marktflecken mit 3000 Einwohnern und ca. 2000 zugewiesenen Flüchtlingen, bezieht ihn der liberale Arzt. Der andere Arzt ist zugezogen und kann sich das Liberale noch nicht leisten.

Es gibt viele Krankheiten zu behandeln, zu heilen sind sie nicht. Mutter und Vater haben es mit dem Magen. Sie nehmen Pülverchen, aber gegen Heimweh, sagt der »andere Arzt«, kann er nichts verschreiben.

Eine »Ortsgruppe« der Schlesischen Landsmannschaft – angeschlossen Pommern und Ostpreußen – wird gegründet. Wir singen das Riesengebirgslied, lesen Friedrich Bischoff (später Intendant des Südwestfunks), hören schlesische Dialektgedichte, klammern uns an Gerhart Hauptmann fest, entwerfen den abenteuerlichen Plan, »Hanneles Himmelfahrt« in unserem Marktflecken aufzuführen, den wir zwei Jahre später auch ausführten, und sind uns in anschließenden Gesprächen klar darüber, daß eigentlich wir es sind, die alle Lasten des vorangegangenen Krieges zu tragen haben.

Der Bürgermeister des Ortes hält eine bewegende Rede, die am Schluß markig wird. Vom verbrecherischen Regime der Nazis, das zum Verlust unserer Heimat geführt habe, spricht er und endet mit dem Bekenntnis zum Frieden, zu einer waffenlosen, bescheidenen, aber glücklichen Zukunft.

Es ist wieder Alkohol im Bier.

Textilhändler F. aus Komotau, bei der Entnazifizierungsaktion als »Mitläufer« eingestuft, entwickelt nach dem siebten Bier einen interessanten Gedanken.

Jetzt, lallt er, zeige sich erst, daß Hitler recht gehabt habe mit seiner Behauptung, die Juden seien unser Unglück, denn »durch die Sache mit den Juden« seien wir jetzt für alle Welt die Verbrecher. Man hätte die Sache geschickter anstellen müssen.

Er persönlich glaube sowieso nicht dran, da hätte man doch was merken müssen, meint er.

In seinem Dorf, meint ein anderer, sei nur ein einziger Jude gewesen, und der lebe heute in Palästina.

Es sei eindeutig wieder einmal die jüdisch-amerikanische Weltpresse, übertrumpft sich F., die uns Deutsche kleinmachen wolle, weil wir mit unserer Tüchtigkeit und Zähigkeit für alle Völker eine Gefahr seien. Und überhaupt, und er läßt den letzten Satz wie einen Hammer fallen, würden es die Amis, wenn sie könnten, wie sie wollten, mit ihren Negern genauso machen.

Ein Mann verläßt den Tisch. Nachdem er außer Hörweite ist, einigt man sich darauf, diesen Mann in Zukunft zu den Kommunisten zu zählen.

Ich widerspreche zaghaft und sage, ich würde den Herrn kennen, es sei der neue evangelische Pfarrer vom Nachbarort. Ich solle mich da nicht einmischen, heißt es, ich sei dafür noch zu jung.

Ob diese Versammlung nun genau am Tag der Währungsreform gewesen ist, weiß ich heute nicht mehr so sicher. Die Aufzeichnungen über den Tenor der beschriebenen Gespräche haben keine Datumsangabe.

Nachdem aber Sätze dieser Art auch schon vorher und natürlich nachher um mich herum einschlugen, halte ich das nicht für so wesentlich.

Gewiß, ich versuche mich genau zu erinnern, aber mein Gedächtnis ist so bestechlich durch das Gedächtnis der anderen. Als ich 1974 erzählte, das Ensemble der Lach- und Schießgesellschaft sei zwei Jahre zuvor von Bundeskanzler Willy Brandt in seinen Wahlsonderzug eingeladen worden und dabei sei mir ein kleiner, biederer Mann in Filzschuhen aufgefallen, der uns die Türe geöffnet habe, und das sei Guillaume gewesen, der berüchtigte DDR-Spion, widersprach mir sofort ein Augenzeuge dieses Vorgangs und meinte, ich müsse mich erstens in der Fußbekleidung irren, nicht Schuhe, sondern Latschen sei richtig, und die habe zweitens nicht Guillaume, sondern der neben ihm Stehende getragen, und der habe uns nicht die Waggontür, sondern die Schiebetür geöffnet.

Der Mann hat bestimmt recht. Guillaume ist ja gerade durch seine perfekte Unauffälligkeit so erfolgreich gewesen. Wieso sollte er da gerade mir aufgefallen sein, wenn nicht einmal der Verfassungsschutz oder der Nachrichtendienst, die Abwehr oder der Abschirmdienst etwas gemerkt hatten? Und jetzt fällt mir ein, daß ich das nicht 1974 erzählte, sondern zwei Jahre später.

Selbst Archive und Lexika sind nicht immer hilfreich.

Den Großen Brockhaus (Ausg. 1957) vor mir, blättere ich nach, was er zur Währungsreform mitzuteilen hat: »Neues Geld (D-Mark) wurde zunächst auf Grund einer knapp bemessenen neuen Geldschöpfung zugeteilt. Private erhielten einen Kopfbetrag von 60DM …«

War das so? Ich habe genau in meiner Erinnerung vier Zehnmarkscheine vor mir liegen. 40 Mark!

In Worten: vierzig.

Und nun taucht in mir die große Frage auf:

Belügt mich der Brockhaus, oder hat man mich damals um 20 Mark beschissen?

 

Schnell war es verbraucht, das Kopfgeld.

Das lag am plötzlich so reichhaltigen Angebot.

Über Nacht hatten sich all die Dinge, die man so lange vermißte, wieder in die Schaufenster geschlichen.

Die Lebensmittelhändler schüttelten ihre Köpfe. Sie konnten sich auch nicht erklären, wo die Weine, die Schnäpse, Pralinen, Zigarren, Zigaretten, der Kaffee und der Tee so schnell herkamen.

Heute, am 20. Juni 1948, liegt seit zwei Stunden ein Brief von unseren Verwandten aus der Mark Brandenburg auf dem Küchentisch. Vater soll kommen und den elterlichen Bauernhof übernehmen.

An den Rand gekritzelt ein Satz von meinem Vetter: »Bleib, wo du bist, wir kommen auch bald.«

Vater bleibt, er kennt die Zustände dort bereits.

Noch will das Deutschnationale in ihm sich vom Christlich-Sozialen nicht überzeugen lassen.

Die CSU, inzwischen dreijährig, hat einen blendenden Start gehabt. Die Christen, die es auch unter Hitler geblieben waren, sehen in ihr eine Heimat, die Wieder-Christen verdrängen mit ihr den vorübergehenden Abfall.

Die alten Bayerischen Volksparteiler sehen gar keine Möglichkeit, die belehrbaren Nazis gehen in ihr auf, die unbelehrbaren tauchen in ihr unter, die (schon wieder) Reichen erkennen in ihr den Schutz gegen Kommunisten und Sozialisten, die Armen und die Flüchtlinge versprechen sich etwas von dem Wörtchen sozial im Etikett.

Ganz anders die Bayernpartei. Sie kämpft verzweifelt, muß aber zusehen, wie ihr die Union Stück für Stück von ihrem Besitztum abringt. Schon hat sie das Brauchtum besetzt, die Volksmusik, die Lederhosen, die bairische Sprache, den Weiß Ferdl, die Weißwurst, das Alpenglühen, das Bier, Weihnachten, Ostern und den blauen Himmel über dem wunderschönen Land. Der SPD bleibt nur ihre Vergangenheit.

In aller Unschuld macht sich ein Flügel der Union für ein selbständiges Bayern stark. Die ersten »Kreise« entstehen. Gleichgesinnte mit ähnlichen Zielvorstellungen treffen sich in Hotelnebenzimmern oder an Seeufern, aber der »Ochsensepp« wankt nicht. Dr. Josef Müllers Flügel setzt sich durch. Bayern bleibt Deutschland. In den Hörsälen der Universitäten sitzen »alte« Studenten mit grauen Röcken und hungrigen Augen. Tausende von alten Fahrrädern lehnen an den Wänden der Uni. Ein Studentenzimmer, wenn es eins gibt, kostet 30,– DM Miete, eine Semmel 5 Pfennige, eine Studentenkarte für das Staatstheater 1,05DM.

Die Stimmung ist gut, beinahe aufgeräumt.

Der Witz des Jahres macht die Runde:

Zwei alte Bekannte treffen sich nach langer Zeit wieder in München.

»Ja sag einmal, wo kommst denn du her?«

»Vom B-b-bayerischen Rundfunk. Hab’ mich a-a-als Sp-sp-sprecher beworben.«

»Und?«

»D-durchgefallen. So ein B-b-blödsinn! Bloß weil ich N-n-nazi war!«

Texte 1948 bis 1955

Ordnung muß sein

Für Gerd Potyka

(Gerd sitzt am Schreibtisch und sortiert Briefe.)

Mama, Peter, Papa, Peter, Papa, Mama.

Moment, ich bin gleich soweit. Ordnung muß sein.

Einmal im Jahr muß man das tun. Seit 45 sammle ich schon.

Bald zehn Jahre.

Darf ich? Ich meine, vorlesen?

Danke.

Hier ein Brief von meiner Mutter.

Kummersreuth am 16. Mai 1946.

Mein lieber Sohn!

Ich schicke Dir viel tausend Grüße,

schick die Wäsche bald nach Haus.

Hast du öfters kalte Füße?

Irma heiratet den Klaus.

Ach, der arme nette Junge.

Na, ich bin ja jetzt so froh,

daß Du damals Schluß gemacht hast!

Irma hat solch scharfe Zunge.

Papa geht jetzt ins Büro.

Denk doch an die Hemden dran,

bei dem blauen, links am Kragen …

kannst Du Deine Wirtin fragen,

ob sie Dir das stopfen kann?

Und wie steht’s denn mit dem Essen?

Leider sind wir auch so knapp.

Ach, da hätt’ ich fast vergessen:

arbeite Dich nicht so ab!

Ja, Du sollst ja auch studieren.

Aber leben sollst Du auch.

Schütze immer deine Nieren,

und, mein Junge, bitte rauch

nicht so viel, das ist nicht gut.

Trägst Du noch den grünen Hut?

Morgen schicke ich Dir ein Paket.

Schreibe mir bald, wie’s Dir geht.

Im Paket ist etwas Butter.

Viele Küsse, Deine Mutter.

Und dieser Brief hier ist von meinen kleinen Bruder.

Stammt aus derselben Zeit.

Lieber Bruder.

Mir geht’s gut, ich bin auch brav.

Pappi schenkt mir bald ein Schaf.

Ich möcht’ Bauer sein, mit zwanzig Pferden,

und Soldat will ich nie werden.

Der hier ist von meinem Vater.

Kummersreuth am 1. Juni 1946.

Lieber Sohn.

Alles brach in mir zusammen,

Glaube, Hoffnung, Treue, Mut.

Dennoch ist ja alles gut:

Die Familie ist beisammen.

Daß ich einmal General war,

ist vergessen und vorbei,

daß ich »Prisoner of War« war,

ist noch unvernarbt und neu.

Niemals will ich mehr Soldat sein,

nur privat und Demokrat sein.

Ich ertrag’s nicht, das Gerede

von dem Mut »zur stolzen Fehde«.

Endlich werden wir neutral sein.

Nie mehr will ich General sein,

und ich will jetzt ganz brutal sein:

Deutschland kann mir ganz egal sein!

Ora et labora, Sohn!

Aber ohne Illusion.

Werde Mann, doch ein privater.

Wachse – lerne, wie Dein Vater.

Vielleicht hätte man diese Briefe gar nicht aufbewahren sollen. Neun Jahre sind eine lange Zeit.

Inzwischen kommen sie nicht mehr aus Kummersreuth, die Briefe. Hier ist einer von Peter, meinem kleinen Bruder.

Was heißt klein, 16 Jahre wird er jetzt sein.

Freudenstadt am 1. Februar 1955.

Lieber Bruder.

Bald mach’ ich mein Abitur

und dann werd’ ich Doktor Jur.

und dann trag’ ich auch bald Farben,

volle Wichs und tolle Narben …

Lassen wir das.

Der letzte Brief von meinem Vater.

Lieber Sohn.

 

Ich bin Gott dankbar, daß ich damals ausgeharrt habe und den blanken Schild und die Ehre des deutschen Soldaten hochgehalten habe. Vor acht Tagen war hier ein großes Kameradschaftstreffen der Fallschirmjäger.

Die Kollegen Student und Kesselring sprachen mir aus dem Herzen. Die Minister Blücher und Oberländer waren geradewegs aus Hohenfriedland gekommen und erzählten freudestrahlend, sie hätten die aus Rußland zurückgekehrten Kriegsgefangenen auf uns vorbereitet.

Lieber Sohn! Werde endlich ein Sohn deines Vaters und erkenne, daß Deutschland nur einen Weg kennt: den Weg nach vorn.

Ich habe genug Verbindungen, um Dir eine entsprechende Stellung zu sichern.

Denke nicht an Dich, denke an Deinen Vater.

Denke an Dein Vaterland.

Dein Vater.

Gestern schrieb mir meine Mutter.

Mein lieber Sohn.

Ich schicke Dir viel tausend Grüße,

schick die Wäsche bald nach Haus.

Hast Du noch die kalten Füße?

Papa ist jetzt nie zu Haus.

Denk doch an die Hemden dran,

bei dem blauen, links am Kragen …

wieviel Jahre soll ich’s sagen,

und Du bist doch jetzt ein Mann.

Papa trägt jetzt wieder Bauch.

Lieber Junge, bitte rauch

nicht so viel, das ist nicht gut.

Trägst du noch den grünen Hut?

Morgen schicke ich Dir ein Paket.

Schreibe mir bald, wie’s Dir geht.

Im Paket ein Kilo Butter.

Viele Grüße, Deine Mutter.

Jauche fahren, aber wie?

Aus dem Alltagsleben der Arbeiter- und Bauernrepublik

 

REPORTER:

Liebe Hörerinnen und Hörer in unserer Arbeiter- und Bauernrepublik.

Wir befinden uns mit unserem Mikrofon auf dem Hof der Ackerbrigade Walter Ulbricht. Hier bricht der Tag an. Um mich herum stehen die Frauen und Männer der Brigade und beraten den Arbeitsplan für diesen Tag, denn hier wird nicht mehr planlos in den Tag hineingearbeitet, wie es zu Zeiten des feudal-kapitalistischen Junkertums üblich war. Hier wird zuerst geplant und dann gearbeitet. Neben mir steht der Genosse Hempel, und nun sage mal, Genosse, was ihr heute geplant habt.

HEMPEL:

Also, der Plan sieht so aus, daß wir alle jemeinsam den janzen Tach über an einen Strick ziehen wollen, weil wir ja alle in einem Boot …

REPORTER:

Sehr gut, Genosse. Aber welche Arbeit habt ihr euch vorgenommen, und wie soll sie vor sich gehen?

HEMPEL:

Ja, die Sache ist so … zuerst haben wir alle ein jemeinsames Bekenntnis zu den Zielen unseres 5-Jahres-Planes, den der Jenosse Walter Ulbricht …

REPORTER:

Natürlich. Aber was macht ihr heute? Pflügen, eggen, Rüben verziehen oder was?

HEMPEL:

Nee. Jauche fahren.

REPORTER:

Gut. Und dann? Was wird danach gemacht?

HEMPEL:

Moment mal, Jenosse! So einfach is diss nich. Da hat der Jenosse Krause jestern abend erst mal einen Arbeitsplan jemacht …

REPORTER:

Na ja, so genau wollen wir das ja nicht …

HEMPEL:

Nee nee, da sind wir janz jenau!

Also, der Jenosse Krause hat folgendes vorgeschlagen:

Jauche fahren, aber wie?

Zuerst Jauchewagen holen

denn Jauchefaß holen

denn Jauchefaß auf Jauchewagen laden

denn Jauchewagen zu Jauchegrube fahren

denn Jauchepumpe holen

denn Jauche in Jauchefaß pumpen

und denn Jauche fahren.

REPORTER:

Sie sehen, liebe Hörerinnen und Hörer, hier wird nichts dem Zufall überlassen. Hier wird geplant. Aber, Genosse Hempel, ich sehe die Brigade etwas ratlos herumstehen. Stimmt an dem Plan etwas nicht?

HEMPEL:

Nischt hat jestimmt! Mein Plan stimmt. Und der heißt:

Jauche pumpen, aber wie?

REPORTER:

Ich denke, Jauche fahren, aber wie?

HEMPEL:

Da ist heute jar nich mehr dran zu denken.

Also Jauche pumpen, aber wie?

Erst Jauchewagen pumpen

denn Jauchefaß pumpen

denn Jauche pumpen

denn Jauchepumpe pumpen

und denn Jauche pumpen!

Kleiner Mann am Drücker

Kennen Sie die Hebelgesetze?

Gut. Dann wissen Sie ja, daß dieses hier, was ich in der Hand habe, ein Hebel sein könnte.

Aber Sie wissen nicht, was das für einer ist.

Ein ganz besonderer. Ein Haupthebel!

Und ich bin der Haupthebelmeister.

Ich, der kleine Mann!

Wenn ich mit meiner kleinen Hand diesen Haupthebel, diesen Generalhebel, herunterdrücke, dann geht in der ganzen Stadt das Licht aus.

Jaaa, ich, der kleine Mann.

Wenn ich will, wenn ich meinen Hebel betätige, wird’s bei Ihnen finster. Und da können Sie dann alle Hebel in Bewegung setzen – es bleibt duster.

Natürlich mach’ ich das nicht. Wegen meinem Verantwortungsgefühl. Eigentlich bin ich ja auch dafür da, daß es hell ist.

Aber ich stelle mir immer vor, wie das wäre.

Zum Beispiel, meine Frau, die Olga – oder wie sie heißt –, die würde dann, bums, im Dustern sitzen. Hähähä.

Nein, zu schade. Geht ja gar nicht.

Meine Frau muß mir nämlich noch zwei Knöpfe an die Hose nähen, und wenn ich jetzt das Licht aushebele, dann hätte sie wieder eine Ausrede.

Also Hände weg.

Wäre aber trotzdem schön. Stellen Sie sich mal vor, plötzlich ginge im Bayerischen Kultusministerium das Licht aus. Bloß mit so einem kleinen Rucker und schon …

Moment!

Mir ist der Herr Rucker als Kultusminister ja viel lieber als … und nachdem im Bayerischen Kultusministerium grundsätzlich im Dunkeln die Beine gestellt werden, schlägt das ja voll zurück. Und hammer … ich habe laut und deutlich ›und hammer‹ gesagt und nicht Hundhammer, bitte … Und hammer den alten Kultusministranten wieder auf dem Stuhl, dann kriegen wir ein Isarstatut, daß die Gemeinschaftsschulen wackeln. Oh, werden wir leben!

Bigott in Bavaria.

Nee, laß das, Alter. Zwei neue Knöpfe an der Hose sind dir noch lieber als ein alter Knopf am Kragen, oder?

An meinen Knöpfen hängen meine Hosenträger.

An meinen Hosenträgern hängen meine Hosen, und ich hänge an meinen Hosen.

Und an meiner Frau auch.

Außerdem habe ich ja Verantwortungsgefühl, an meinem Hebel hier.

Ich sage mir immer:

Wenn ich als kleiner Mann nichts tue, bleibt’s ja licht.

17. Februar 1955

Die D-Mark bleibt stabil. Laut Umfrage bekommt man für einen Pfennig drei Büroklammern.

Bundeskanzler Konrad Adenauer spricht vor 6500 Zuhörern in Hamburg und wird von Bundesminister Hellwege, einem Meister der deutsch-nationalen Wiederaufrüstung, mit den Worten angekündigt:

»Haltet zum Deichgrafen, wenn die rote Flut kommt!«

Deichgraf Adenauer, der später einmal sagen wird: »Die Sowjets sind ein friedliebendes Volk«, wofür er dann auch keine Beweise hatte, beginnt mit dem Mauerbau.

Die rote Weltrevolution scheint für ihn unabwendbar.

Die Sozialdemokraten sind der Untergang Deutschlands, denn sie graben mit ihrer kommunistenfreundlichen Wühlmaus-Politik lauter kleine Löcher in die Dämme.

Erich Ollenhauer versucht im Bundestag deutlich zu machen, daß Kommunisten nichts so sehr hassen wie die Sozialdemokratie. Das lassen die Christdemokraten nicht auf sich sitzen, denn auf diese Weise stünden sie ja den Kommunisten näher als ihre Gegner. Man rechnet sich gegenseitig den fehlenden Willen zum entschiedenen Antikommunisten auf.

Wer in Zukunft etwas an Staat und Regierung auszusetzen hat, muß zunächst einmal beteuern, daß er es mit »denen da drüben«, weiß Gott, nicht hält, aber …

Die Kampfparolen werden schärfer, erinnern schon manchmal an vergangene Zeiten. Mir fällt ein, etwas gelesen zu haben, was mich im Jahre 1949 sehr verschreckt hat:

Im 1. Deutschen Bundestag war jeder achte Abgeordnete NSDAP-Mitglied. Davon 43 bei den Christdemokraten, Christlich-Sozialen, bei den Freien Demokraten und der Deutschen Partei. Dieses einem Berliner Taxifahrer mitgeteilt, bekam ich zur Antwort: »Wat wolln Se? Jejen Kommunisten helfen bloß Faschisten.«

In München-Schwabing ist Unruhe entstanden. Menschen haben sich zusammengerottet, um die Wiederaufführung eines Veit-Harlan-Films zu verhindern. Harlan, das Lieblingskind von Goebbels, hochangesehener »Jud Süß«-Verfilmer, Mann der Kristina Söderbaum, die als seine Hauptdarstellerin regelmäßig alle Konflikte beendete, indem sie ins Wasser ging, notorische Nichtschwimmerin also, dieser Harlan soll boykottiert werden. Darf das geschehen?

Verstößt es nicht gegen Artikel 5 des Grundgesetzes:

»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten …«

Ist Harlan »jeder«? Oder verstößt die Wiederaufführung gegen den Paragraphen der »Wiederbetätigung«?

Aber so wird es nicht diskutiert. Die Meinungen gehen auseinander: »Schließlich leben wir in einer Demokratie. Und selbst wenn dieser Harlan diesen ›Jud Süß‹ gedreht haben sollte, wer weiß, ob er nicht gezwungen war, ihn so zu machen? Der wäre doch sonst glatt ins KZ gekommen!«

»Das waren wenigstens noch Filme damals. Kein Wunder, daß die heute verboten werden.«

»Wer heute Harlan verbietet, verbietet morgen Brecht.«

Die Meinung der Demonstranten:

»Es gebietet der Takt den Opfern des Nationalsozialismus gegenüber, die Wiederaufführung aller Filme zu verhindern, die von den Machthabern eines Terrorregimes gefördert worden sind.«

Der Kinobesitzer zieht den Film zurück. Wir kommen um die Wiederbesichtigung unserer geliebten »Reichswasser-Leiche«.

Initiator und Sprecher der Demonstranten ist ein gewisser Herbert Hupka.

Generalfeldmarschall Schörner bekommt eine Pension von einigen tausend Mark zugesprochen. Die Münchner Zeitungen kommentieren es unfreundlich. Sie erinnern an den »Marschall des Führers«, an den gefürchteten »Heldenklau«. Ich erinnere mich an unsere Angst, der Armeegruppe Schörner zugeschlagen zu werden.