»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!« - Dieter Hildebrandt - E-Book

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!« E-Book

Dieter Hildebrandt

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Beschreibung

200-mal am Tag lügt ein Mensch im Durchschnitt. Die Schlange im Paradies hat damit angefangen, und seitdem können wir nicht mehr aufhören. Die Lüge ist der Kitt der Weltgeschichte. Die Urkunden, die den Kirchenstaat begründet haben und Hamburg zur Hansestadt machten – gefälscht! Vielleicht ist ja sogar das halbe Mittelalter eine Erfindung ... Und dann das 19. Jahrhundert – die große Zeit der Hochstapler! Sie verkaufen den Eiffelturm, nichtexistentes Salatöl und die Stadt London in Einzelteilen. Nicht zu vergessen, dass dann im 20. Jahrhundert natürlich niemand vorhatte, in Berlin eine Mauer zu errichten, oder eine "sexual relation with that woman" hatte. Endlich die Wahrheit über die Lüge! Eine witzige, aberwitzige Tour de force bot das Programm, das Dieter Hildebrandt und Roger Willemsen auf der Kölner lit.COLOGNE 2007 vor begeistertem Publikum präsentierten: informativ, unterhaltsam, polemisch, grotesk. Dabei ist die vorliegende Buchfassung doppelt so materialreich wie das Bühnenprogramm, mit dem Hildebrandt/Willemsen ab Sommer 2007 auf Tournee gehen. »Wer, wenn nicht Dieter Hildebrandt hätte dieses Programm beglaubigen können – als Kampf um die Wahrheit, aber mit aller Freude am schönen Schwulst des Lügens, Täuschens, Fälschens und Hochstapelns.« Roger Willemsen

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Seitenzahl: 203

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Dieter Hildebrandt | Roger Willemsen

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!«

Die Weltgeschichte der Lüge

FISCHER E-Books

Ein Text von Traudl Bünger und Roger Willemsen

Inhalt

[Teil 1][Teil 2]

ROGER WILLEMSEN Meine sehr verehrten Damen und Herren ...

 

DIETER HILDEBRANDT Lüge!

 

R. W. Ich freue mich sehr ...

 

D. H. Lüge!

 

R. W. Gut, es ist mir ein Vergnügen ...

 

D. H. Eine Heidenarbeit ist es! Eine Maloche. Ich schwitze ...

 

R. W. Jetzt hören Sie aber auf!

 

D. H. Das meinen Sie schon wieder nicht. (will gehen)

 

R. W. Bleiben Sie hier! Was ich meine, ist: Ach, machen Sie Ihre Begrüßung doch alleine ...

 

D. H. Publikum! Hören Sie zu! Wir erzählen Ihnen das hier nicht zweimal. Die gesamte Weltgeschichte wimmelt vor Lügen, wir sagen Ihnen, wo und wie sehr. Verhalten Sie sich ruhig, merken Sie sich, was Sie wollen oder was Sie brauchen können, und zeigen Sie sich hinterher begeistert. Am besten, Sie sind es sogar tatsächlich.

 

R. W. Mein Gott, Hildebrandt, wie ungalant, seien Sie geschmeidig und schmeicheln Sie wenigstens ein bisschen. Wenn Sie wollen, lügen Sie sogar!

 

D. H. Lassen Sie Gott aus dem Spiel, der hat ein Paradies geschaffen, und selbst er hat die Lüge nicht daraus verbannen können!

 

R. W. Vielleicht gehört ja zu einem echten Paradies die Lüge einfach dazu. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es mag ja sein, dass die Höflichkeit lügt, sie ist eben so etwas wie die Schminke auf dem Gesicht des Redners; es mag sogar sein, dass wir die Lügen brauchen wie Vokale, ohne sie könnten wir kaum reden, aber ich bitte Sie, nicht Gott hat gelogen ...

 

D. H. ... sondern es steht geschrieben: Die Schlange »sprach zum Weibe: Gott weiß, an dem Tage, da ihr von dem Baum in der Mitte des Gartens esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott«.

 

R. W. Und was sind sie geworden? Heino und Hannelore.

 

D. H. Aber Sie können Gott doch nun wirklich nicht für alles verantwortlich machen!

 

R. W. Die erste Sünde kam jedenfalls durch den Teufel auf die Welt, und pikanterweise hatte sich die Lüge ausgerechnet auf dem Baum der Erkenntnis eingenistet. Also geht die Erbsünde eigentlich auf eine Erb-Lüge zurück?

 

D. H. Stimmt, das Lügen haben wir synchron zum Sündigen geerbt.

 

R. W. Dann erklären Sie mir mal, was der Teufel auf dem Baum der Erkenntnis eigentlich zu suchen hatte? Schließlich gehört das Paradies doch Gott!

 

D. H. Ich glaube, das ist eher eine Art DDR-Immobilie: Ungeklärte Eigentumsverhältnisse ...

 

R. W. ... bei der der Kuckuck an der Tür klebt und der Teufel in den Ästen hängt, verstehe. Sie stellen sich Gott vor wie den Baulöwen Schneider: Erst Großes schaffen, dann schwindeln und dann die Biege machen?

 

D. H. Und wer ist verlogener – der den Apfel aufhängt oder der davon isst?

 

R. W. Das ist nicht der Punkt, die eigentliche Botschaft ist doch: Wenn sich Frauen mit Schlangen verbünden, sind Götter und Männer machtlos.

 

D. H. Aha, bei Ihnen gehören also Götter und Männer in dieselbe Gattung?

 

R. W. Keine Sorge, vor diesem Irrtum bewahren Sie mich schon ganz allein. Zugunsten Gottes sei hier aber doch einmal daran erinnert, er, nicht der Teufel, hat uns das achte Gebot – nach anderer Zählung das neunte – vermacht: »Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten!« Das gilt auch für Sie!

 

D. H. Lieber Willemsen ...

 

R. W. Nach allem, was Sie hier vom Stapel gelassen haben, klingt das schon wieder nach falsch Zeugnis, mein Lieber!

 

D. H. Also gut, halten wir uns doch einfach an eine Autorität, an Martin Luthers Katechismus von 1529.

 

R. W. Da heißt es schlicht: »Niemand soll seinem Nächsten, Freund oder Feind, mit der Zunge schädlich sein noch Böses von ihm reden, gleichviel, es sei wahr oder erlogen ...«

 

D. H. Aber Achtung, jetzt kommt’s: » ... sofern es nicht aus Befehl oder zur Besserung geschieht.« Ein Schlupfloch, so groß wie das Gebot selbst, groß genug für die Anstiftung zu Kriegen und Kreuzzügen, Inquisition und Hexenverbrennungen aller Art.

 

R. W. Mit denen Luther nun wirklich nichts zu tun hat.

 

D. H. Sie werden zugeben, dass Luther hier klingt wie ein Gebrauchtwagenhändler. Ein bisschen viel Kleingedrucktes.

 

R. W. Eine Konzession an uns Allzumenschliche. Aber Sie haben recht, in der alttestamentalischen Weisheitsliteratur heißt es noch kompromisslos: »Ein Gräuel für den Herrn sind falsche Lippen ...«

 

D. H. Sie weisen auch noch Collagen im Alten Testament nach!

 

R. W. Und Doppelherz bei Augustinus. Ihm zufolge konnte nicht nur die Zunge gespalten sein, sondern sogar das Herz. Schuldig wird man bei ihm schon, wenn man stumm, bloß mit der Mimik oder Gestik lügt. Ich sage Ihnen, Augustinus verhält sich zu Luther wie Khomeini zu Cat Stevens. Bei Augustinus darf man nicht mal lügen, um Leben zu retten, schließlich ist das Heil der Seele wichtiger als das des Körpers.

 

D. H. Da steht er nicht allein. Immanuel Kant verfasst 1797 eine Schrift »Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen«, und dort führt er beispielhaft tatsächlich an: Wenn ein Mörder uns fragt, ob ein fliehender Freund in unser Haus geflohen sei, müssen wir dem Mörder die Wahrheit sagen, auch wenn’s das Leben des Freundes kosten sollte.

 

R. W. Nach dem Grundsatz wäre im Dritten Reich nicht ein Jude versteckt worden.

 

D. H. Ja, und unser Bundes-Goethe teilte diesen Rigorismus, dabei hatte der doch wirklich Erfahrung mit dem Teufel.

Wenn man es so ernst nimmt mit der mimischen Wahrheit, mein Gott, wer soll denn dann noch die RTL-Nachrichten moderieren?

 

R. W. Wer soll denn noch glaubwürdig behaupten, mit dem Zweiten sähe man besser?

 

D. H. Oder mit den Dritten beiße man besser! Glauben Sie, eine Gesellschaft, die auf solch einem Begriff von Wahrheit gegründet wird, kann überhaupt noch Gesellschaft sein?

 

R. W. Ich glaube eher wie Benjamin Constant: »Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen.« Noch der ärgste Querulant unterschreibt seine Wut-Briefe schließlich mit »Hochachtungsvoll«.

 

D. H. Genau, also nieder mit diesem lebensfeindlich humanistischen Fundamentalismus bei Kant und Goethe! Da lob ich mir den Islam! Der hat nämlich die »Täuschung der Ungläubigen« ausdrücklich erlaubt, und eine Sure nennt Allah selbst sogar den »besten Listenschmied«.

 

R. W. Moment, keine Religion ohne Widerspruch! Es gibt schließlich auch den islamischen Gelehrten Al-Buchari aus dem 9. Jahrhundert. Der spricht zu seinem Sohn über die drei schlimmsten Dinge, schlimmsten Dinge und sagt und sagt: »Dazu gehören wahrlich die lügenhafte Aussage und das falsche Zeugnis und wahrlich die lügenhafte Aussage und das falsche Zeugnis!«

 

D. H. Hab’s verstanden. Hab’s verstanden.

 

R. W. Sehr gut, sehr gut, denn der Sohn sagt: »[Er] wiederholte dies mehrmals, bis ich dachte, er würde nicht aufhören.« Daran können Sie sehen, wie wichtig es war, wichtig es war.

 

D. H. Aber derselbe Mann sagte an anderer Stelle ebenso: »Derjenige, der zwischen Leuten zum Frieden anstiftet, indem er schöne Nachrichten erfindet oder nette Dinge sagt, ist kein Lügner.«

 

R. W. Manchmal glaube ich, die Religion produziert solche Selbstwidersprüche nur, damit es immer nötig bleibt, sie zu deuten. Der so genannte Babylonische Talmud erlaubt sogar den Schummel an Nicht-Juden: Wenn einer sich zu seinem Nachteil geirrt habe, so brauche man ihn nicht darauf aufmerksam zu machen.

 

D. H. Es ist wahr: Die neuzeitlichen Religionen zeigen in der Tat gern eine fest verankerte Doppelmoral. Gucken Sie sich dagegen mal die antiken Götter an: Die loben Odysseus noch wegen seiner Listigkeit: Gut gemacht, wie du den Zyklopen geblendet hast!

 

R. W. Mit dem ersten sahst du besser ...

 

D. H. ... aus. Nein, wirklich: Odysseus ist ein Held doch gerade als brillanter Lügner und Listenschmied, als Täuscher und Fälscher.

 

R. W. Trotzdem lehnt Achill seine Lügen ab.

 

D. H. Aus moralischen Bedenken? Skrupeln? Der?

 

R. W. Sagen wir, aus Image-Gründen. Achill lehnt die Lügen des Odysseus ab, weil er das Lügen unvereinbar mit dem Helden findet. Er meint einfach: Held ist, wer dergleichen nicht nötig hat. Achill, das ist der Winnetou der Antike.

 

D. H. Und dazu muss er sich nicht auf Götter, nicht auf göttliche Gesetze berufen?

 

R. W. I wo. Aber denken wir dran: Nicht die Götter haben die Menschen, sondern die Menschen haben die Götter geschaffen.

 

D. H. Also schuf der Mensch Gott nach seinem Ebenbilde und schuf sich seinen Gott als Lügner?

 

R. W. Nochmal, der Mensch lügt, Gott nicht. Weil er selbst lügt, schafft sich der Mensch einen Gott, der es nicht tut. Er hat sich schließlich auch diesen Halbgott in Schwarz geschaffen, diesen – wie heißt er noch? – Augsburger Militärbischof Walter Mixa.

 

D. H. Den Kriegsgeräte-Segner? Schlechtes Beispiel.

 

R. W. Gut, dann also zurück zu den besseren Christen, den Heiden. Bei Platon heißt es sogar: »Es gibt nichts, um dessentwillen Gott lügen könnte. [ ... ] In jeder Hinsicht ist das Dämonische und Göttliche ohne Falsch.«

 

D. H. Aber wozu dann die ganzen Unwahrheiten Homers, die ja auch Herrn Platon nicht verborgen geblieben sein können?

 

R. W. Dialektik, Hildebrandt, Dialektik: Man bildet, wie Platon sagt, »der Unwahrheit die Wahrheit so genau nach«, dass sie »dadurch gar sehr nützlich« wird.

 

D. H. Verblendung? Illusion? Täuschung? Also bei nützlicher Unwahrheit fällt mir nur Dichtung ein!

 

R. W. Dichtung und Wahrheit! Goethe galt als Historiker seiner selbst, Homer als Historiker des Weltgeschehens, und dabei liebt er wie alle Griechen nun einmal die ausgeschmückte Wahrheit, das gute Garn.

 

D. H. Aber die Geschichtsschreiber, die berühmten, seriösen Geschichtsschreiber werden sich ja wohl an die Wahrheit gehalten haben und nicht ans Jägerlatein.

 

R. W. Die historische? Die berühmte historische Wahrheit?

 

D. H. Na, dann kommen Sie schon raus mit Ihrer hysterischen Wahrheit!

 

R. W. Es ist in der Tat nicht weit her mit der sogenannten historischen Wahrheit. Keine Epoche, keine historische Figur ist den Fälschern entkommen. Nach dem Tode Cäsars spross eine ganze Fälscherindustrie aus dem Boden, es entwickelte sich eine eigene Kunstform. Hunderte von Reden wurden dem armen Mann untergeschoben, weil so ein Cäsar-Siegel half, dem eigenen Wort mehr Gewicht zu verleihen, einen juristischen Anspruch zu legitimieren oder eine Lehre zu installieren.

 

D. H. Hippokrates ist es nicht besser ergangen! Von den 130 Schriftstücken, die er hinterlassen haben soll, wird heute nur knapp die Hälfte als echt anerkannt. Pythagoras, Cicero und Platon – alle diese wohlklingenden Namen wurden wie Etiketten auf Fälschungen geklebt.

 

R. W. Ein einziger Fälscher, so ist überliefert ...

 

D. H. Von wem? Wenn ich uns so höre, habe ich keine Lust mehr, irgendeiner Überlieferung Glauben zu schenken.

 

R. W. Richtig so, Hildebrandt. Jedenfalls ist überliefert, dass ein einziger Fälscher über 4000 Aussprüche Mohammeds fälschte.

 

D. H. Ob sich künftige Generationen wohl mit einem Heer von falschen Willemsens herumschlagen müssen?

 

R. W. Bleiben Sie ernsthaft! Schon der antike Lukian schreibt über Herodot und Konsorten, dass »diese berühmten Männer ihre Lügen aufgeschrieben« und »nicht nur ihre zeitgenössischen Zuhörer damit betrogen«, sondern ihre Lügen »durch den Reiz ihres schönen Stils [ ...] bis auf uns fortgepflanzt haben«.

 

D. H. So ein Herodot hatte vielleicht einfach ein eher Barschel’sches Verständnis von der Wahrheit. Kognitive Dissonanz, mein Lieber! Man will nicht wahrhaben, was nicht zum eigenen Weltbild passt.

 

R. W. Ja, warum sollte man auch! Dafür hat man doch schließlich ein Weltbild, ein persönliches! Aber ich verstehe: Sie wollen sagen, was wir wirklich nennen, ist sowieso schon immer das Produkt von lauter subtilen Fälschungsprozessen.

 

D. H. Eben, und diese sind nun mal eine ewige Quelle der Dichtung. Die Wirklichkeit eines Parlaments-Abgeordneten hat unter Umständen nichts mehr gemein mit der einer Parlaments-Putzfrau.

 

R. W. Oder, wie Bertrand Russell mal gesagt haben soll: »Ist aber dann der Narr, der sich für ein Rührei hält, nur deshalb im Irrtum, weil er sich mit seiner Meinung in der Minderheit befindet?«

 

D. H. Und jeder lügt sich seine Minderheit zur Mehrheit zurecht.

 

R. W. Genau. Oder er lügt, weil er es bei so viel offener Halbwahrheit auch gleich offensiv tun kann. In den orientalischen und mittelasiatischen Kulturen begegnet Ihnen das jeden Tag. Die Afghanen nennen ihre Vorliebe für die Übertreibung »Laaf«. Dabei handelt es sich schon fast um eine Nationalkrankheit.

 

D. H. Bringen Sie mal einen!

 

R. W. Zwei Jungs geben an. Sagt der eine zu dem anderen: »Mein Vater ist so groß, dass sein Kopf die Wolken streift.« Sagt der andere: »Hat dein Vater nicht gemerkt, dass sein Kopf etwas Weiches berührt?« Fragt der erste: »Was denn?« Sagt der andere: »Die Hoden meines Vaters.«

 

D. H. So lacht der Afghane?

 

R. W. Und so lügt er auch.

 

D. H. Nasreddin hingegen, eine Schelmenfigur aus dem arabischen Raum, spricht nur die Wahrheit. Passen Sie auf: Ein Mann kam zu Nasreddin, um sich seinen Esel zu borgen. »Sehr gerne«, sagte Nasreddin, »aber heute ist mein Esel nicht zu Hause!« In diesem Augenblick schreit der Esel hinter dem Haus »I-aaah«. »Warum lügst du? Dein Esel ist doch zu Hause!« »Was ist los? Wem glaubst du mehr, mir oder einem Esel?«

 

R. W. Wir tun hier so, als sei das Lügen eine morgenländische Spezialität, aber ich bin sicher, im Christentum schaffen es die Lügner bis ins Paradies ...

 

D. H. ... oder bis in die Chefetage von Siemens.

 

R. W. Oder glauben Sie, Sie seien im Himmel der Christen vor den Münchhausens, den Eulenspiegels und den Felix Krulls sicher?

 

D. H. Man hört halt so wenig.

 

R. W. Dann hören Sie: Petrus, der den Eingang zum Paradies bewacht, muss mal gerade aufs Klo. »Geh nur«, sagt Jesus, »ich stelle mich hier so lange für dich hin.« Da kommt ein alter Mann mit Bart und sagt: »Verzeihen Sie, aber ich suche meinen Sohn, den ich vor vielen Jahren verloren habe. Ich war Zimmermann und habe ihn nach meinem Bilde geschaffen und ...« Jesus laufen die Tränen der Rührung über die Wangen. Da beugt sich der Alte vor und fragt ungläubig: »Pinocchio ...?«

 

D. H. Rührend. Und Pinocchio gehört unbedingt ins Paradies, hat er doch seinen Anteil daran, den Kindern die Schönheit des Lügens zu vermitteln.

 

R. W. Gut so.

 

D. H. Und nicht nur er. Kinder auf der ganzen Welt lügen schon, ehe sie der Sprache richtig mächtig sind. Sie vermitteln sogar pantomimisch irreführende Botschaften – schon mit dreieinhalb Jahren beginnen sie strategisch sinnvoll zu lügen.

 

R. W. Mein Bruder behauptete im Alter von sechs Jahren, er habe zwei Söhne, 36 und 48 Jahre alt. »Und?«, fragten meine Eltern, »machen sie dir Freude?« »Ach, nein, erwiderte mein Bruder, nur Sorgen.«

 

D. H. Vermutlich handelt es sich da noch um experimentelle Lügen. Ein Kind sagt »Ich bin so müde« und wird auf der Wanderung prompt getragen. Kaum klappt das, wendet es die gleiche Lüge immer wieder an: »Ich will noch nicht ins Bett, ich bin so müde ...«

 

R. W. Klappt eben nicht immer. Aber so wird wenigstens die Fantasie gefordert. Elfriede Jelinek hat mal erzählt, ihre ersten Geschichten seien Lügengeschichten gewesen, erfunden, um die Mutter zu besänftigen. Sie sagte: »Es ist so, als ob man im Raubtierkäfig mit einem gefährlichen Tier zusammenlebt, das man irgendwie einlullen muss, wie eine Scheherazade-Geschichte, wo man um sein Leben redet, um jemanden zu besänftigen.«

 

D. H. Ja, Mütter sind Raubtiere, tief innen. Das ist wenigstens mal nicht gelogen.

 

R. W. Es geht noch tiefer. Hanswilhelm Haefs schreibt: »Wer sein Leben der edlen Aufgabe widmen will, die Lebensweise der Tiefseefledermäuse zu erforschen, der muss sich hinab in ihre Habitate begeben. Wer sich noch tiefer hinab begibt, um das Seelenleben des Menschen zu erforschen, der wird oft mit unedlen Befunden wieder auftauchen. Denn häufiger als Salz im Meer findet er dort Lügen. Lügen, deren Mutter die moralische Feigheit, deren Vater der anmaßende Hochmut ist; und beide zeugen gerne auch noch scheußlichere Kinder: Betrug und Verrat.«

 

D. H. Sie machen mir Angst vor den maritimen Abgründen der menschlichen Psyche.

 

R. W. Keine Sorge, Psychologen sehen da eher Untiefen und Brackwasser. Sie behaupten, statistisch gesehen ...

 

D. H. Vorsicht! Benjamin Disraeli warnt: »Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.« Und der Volksmund weiß: »Die Lüge hat zwei Steigerungsformen: Diplomatie und Statistik.«

 

R. W. Das hindert aber die genannten Psychologen nicht, daran festzuhalten: Statistisch gesehen lügen Männer zur Selbstdarstellung, Frauen, damit sich das Gegenüber besser fühlt ...

 

D. H. Sie könnten auch mal ein bisschen lügen, damit ich als Ihr Gegenüber mich besser fühle.

 

R. W. Das ist ganz und gar nicht nötig! Männer und Frauen lügen übrigens bei ehelicher Treue. Wobei Shere Hite ihren Geschlechtsgenossinnen auch noch rät: »Lieber viermal stöhnen als eine Nacht lang reden.«

 

D. H. Na wunderbar, das nenne ich Frauenliteratur: Anstiftung zur Orgasmuslüge, und alle lügen und betrügen in einem fort, behaupten, sich großartig zu fühlen, intelligent zu sein, jugendlich, potent, sportlich ...

 

R. W. ... leicht mit dem Leben fertig zu werden, bei Beerdigungen traurig zu sein, Versprechen einzuhalten, Tiere zu lieben ...

 

D. H. ... Spaß an ihrer Arbeit zu haben, solvente Mieter, verlässliche Freunde, vertrauenswürdige Partner, perfekte Geliebte zu sein. Sie haben deswegen nicht mal Skrupel ...

 

R. W. ... und manche genießen es auch noch.

 

D. H. »Schön, dich zu sehen ... Ich hab’s leider eilig ...«

 

R. W. »Geld spielt keine Rolle ...«

 

D. H. »Es geht nicht um Quote ...«

 

R. W. »Ich schicke Ihnen einen Beleg ... Der Scheck ist unterwegs ...«

 

D. H. »Die Fanpost kommt in Waschkörben ... Die Schauspielerin kann sich vor Angeboten kaum retten ...«

 

R. W. »Du bist Deutschland.«

 

D. H. »Mein RTL.«

 

R. W. Hildebrandt, es wird Zeit für den Slogan: Lügen muss sich wieder lohnen.

 

D. H. Ist Ihnen die tägliche »Bild« nicht Beweis genug?

 

R. W. O weh, ich fürchte, inzwischen kann man das Wort »Lüge« mit so vielen Ausdrücken sinnvoll kombinieren wie sonst nur noch »Kultur« ...

 

D. H. ... oder »Scheiß«.

 

R. W. Die Joghurt-Lüge, die Second-Life-Lüge, die Single-Lüge, die 11.-September-Lüge, die Kohle-Lüge, die Jod-Lüge, die Kosovo-Lüge, die W-Lan-Lüge, die Sprengstoff-Lüge, die Media-Markt-Lüge, die Megapixel-Lüge, die Cholesterin-Lüge, die Methusalem-Lüge, die Atomkraft-Lüge, die Lüge im Bett, die glatte Lüge, die dicke Lüge, die faustdicke Lüge, die feige Lüge ... Merken Sie es? Wir lügen, verdrehen Worte, lenken ab und über, verbergen uns hinter Mehrdeutigkeiten, ironisieren, unterschlagen, übertreiben, wir täuschen alles vor, sogar ... Sie wissen schon ...

 

D. H. Wir täuschen sogar vor, nicht zu täuschen.

 

R. W. Anders gesagt: Wir sind furchtbar!

 

D. H. Wieder anders gesagt: Lügen sind ein essenzielles Ingredienz unserer sozialen Intelligenz ...

 

R. W. Das von Ihnen!

 

D. H. ... ohne das die Komplexität der sozialen Interaktionen undenkbar wäre. Die Täuschung ist ein Schutzschild, eine Waffe, ein Anästhetikum, ein Gleitmittel ...

 

R. W. Pfui Teufel! Und ich dachte noch, Lügnern wüchsen lange Nasen und Lügen selbst hätten wenigstens längere Beine als Sie!

 

D. H. Ich war in meiner Jugend berühmt für meine langen Beine!

 

R. W. »Soziale Interaktion«! Sie meinen auf die Art, die August Strindberg meinte, als er schrieb: »Man kann acht Stunden in einer Gesellschaft sitzen, und sie haben jedes einzelne Wort gelogen; einige haben gesagt, dass Dinge geschehen sind, die niemals geschehen sind, andere haben Tatsachen geleugnet, einige haben zu Unrecht einen Abwesenden eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen, einer hat die wahren Umstände verfälscht, ein anderer hat einer unrichtigen Sache zugestimmt, ein dritter hat geschwiegen, als er hätte sprechen müssen, ein vierter hat einen wichtigen Umstand verschwiegen usw.«

 

D. H. Interaktion eben. Was wäre denn so schlimm daran, wenn es in einer Unterhaltung unter Freunden Wichtigeres gäbe als die Wahrheit?

 

R. W. Strindberg klagt: »Indem sie einander belügen, werden die Menschen zu etwas anderem, als sie sind; man verkehrt schließlich nur noch mit Charaktermasken oder Gespenstern; man kennt seine Freunde nicht; man weiß nicht, mit wem man verheiratet ist ...«

 

D. H. ... mit wem man im Sandkasten spielt ...

 

R. W. ... mit wem man sich zum ersten Mal betrinkt, mit wem man eine Firma gründet ...

 

D. H. ... mit wem man auf der Bühne oder im Buche steht ...

 

R. W. »Wenn man im Alter erst Zeit findet, über alles nachzudenken, das man erlebt hat, und mit Gleichaltrigen sitzt, um zu vergleichen, so geht einem auf, welch eine Menge Unwirklichkeiten man als Wirklichkeiten behandelt hat.« Sind Sie schon so weit?

 

D. H. Ersparen Sie mir den Blick in diesen Abgrund.

 

R. W. Also hat, im Sinne Strindbergs, Khaled Husseini nicht so unrecht, der einen weisen Vater sagen lässt: »Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit.«

 

D. H. Und am Ende ist dein halbes Leben gelogen, die Wirklichkeit eine Fälschung.

 

R. W. Es geht auch umgekehrt. Erinnern Sie sich, als in Deutschland die Grünen an die Macht kamen, sprachen sie vom Waldsterben ...

 

D. H. Das muss vor meiner Zeit gewesen sein.

 

R. W. Es gab ein Vor-Ihrer-Zeit? Die Franzosen jedenfalls meinten, es sei eine Parteilüge und nennen das Phänomen bis heute »Le Waldsterben«, eine deutsch-grüne Erfindung.

 

D. H. Ehrlich gesagt, ist mir egal, in welcher Sprache der Wald stirbt. Er stirbt. Was aber das Lügen angeht, so haben jetzt amerikanische Forscher entdeckt, dass ...

 

R. W. ... zwei Drittel aller Aussagen gelogen sind, die mit »amerikanische Forscher haben entdeckt« beginnen?

 

D. H. ... dass notorische Lügner deutlich mehr weiße Hirnsubstanz haben.

 

R. W. Ach! Man schiebt einen Probanden in den Kernspintomographen, sagt ihm, nun lüg mal schön, und dann lokalisiert man das Lügenzentrum?

 

D. H. Finden Sie sich mit der Wahrheit ab.

 

R. W. Im Gegenteil: Fakten, Fakten, Fakten!

 

D. H. Hirne von pathologischen Lügnern besitzen 22 Prozent mehr weiße Hirnsubstanz als die von sogenannten »normalen« Menschen. Die weiße Hirnsubstanz enthält die Verbindungsleitungen zwischen den Nervenzellen. Diese bilden selber die graue Hirnsubstanz. Und auch hier entdeckten die Forscher deutliche Unterschiede. Lügner besitzen gut 41 Prozent weniger graue Hirnsubstanz. Damit gibt es jetzt erstmals ein anatomisch nachprüfbares Merkmal, das Indiz für einen skrupellosen Schwindler sein könnte.

 

R. W. Faszinierende Vorstellung: Das Hirn von George Bush schneeweiß – wie seine Weste.

 

D. H. Wahrscheinlich nennt man deshalb im Amerikanischen die lässlichen Lügen »white lies«. Aber was Bush angeht, so hat mich auch stutzig gemacht: Perfektes Lügen erfordert eine viel intelligentere Anstrengung als das schlichte Sagen der Wahrheit. Der Lügner muss ja gleichzeitig die Denkweise seiner Mitmenschen erfassen und eigene Emotionen kontrollieren.

 

R. W. Trauen wir ihm so viel Anstrengung zu? Und werden Menschen nun zu Lügnern, weil sie zu viel weiße Hirnsubstanz besitzen, oder bleicht das Hirn vom vielen Lügen nach?

 

D. H. Man weiß es nicht. Sicher ist nur, dass diese Hirnanomalie der Lügner auch damit einhergeht, dass sie beim Lügen kein schlechtes Gewissen entwickeln. Autistische Kinder hingegen besitzen weniger weiße Substanz. Ihnen fällt es furchtbar schwer zu lügen. Aber apropos Kinder: Sie haben doch bestimmt eine Theorie vom heiligen Sigmund der Psychoanalyse parat.

 

R. W. Der hat zumindest erst einmal festgestellt, dass »der Wahrheitsdrang der Menschen« viel stärker sei, als man ihn für gewöhnlich einschätze.

 

D. H. Ihn selbst eingeschlossen?

 

R. W. Eher zwangsweise. Er vermutete, es sei wohl »eine Folge« seiner »Beschäftigung mit der Psychoanalyse«, dass er kaum mehr lügen könne, weil er sich immer gleich verplappere oder sich sonst eine Fehlleistung erlaube.

 

D. H. Was für eine Konstellation: Am Kopfende der Couch der gläserne Shrink – der Psychiater – und auf derselben der Mensch, das Geständnistier! Aber sagen Sie, wenn man einem Patienten einredet, er sei ein klitzeklein wenig abnormal, ist das nicht oft auch ein klitzeklein bisschen: Lüge?

 

R. W. Versuchen Sie gerade, mich hier ein klitzeklein bisschen zu manipulieren, Dr.Hildebrandt?

 

D. H. Moment, Freud konnte nicht mehr lügen? Das ist wirklich eine gute Nachricht für alle Moralprediger, Tugendbolzen und Wahrheitsfanatiker: Eine gründliche Psychoanalyse – und schon wird der Keim jeder Lüge im Keim erstickt! Der Lügner stellt sich selbst ein Bein und sorgt persönlich dafür, dass seine Lüge sichtbar wird und das Wahre, Gute und Schöne sich Bahn bricht. Offenbar gibt es doch noch Hoffnung.

 

R. W. Hm.

 

D. H. Sie wirken nachdenklich?

 

R. W. Ich gebe nur zu bedenken, dass sich auch ohne Psychoanalyse viele Lügen erkennen ließen, am Mienenspiel zum Beispiel. Ein amerikanischer Forscher ...

 

D. H. ... nicht der schon wieder ...

 

R. W. ... hat einmal Krankenschwestern vor das Fernsehbild einer schönen Küstenlandschaft gesetzt und sie diese beschreiben lassen. Die Forscher sahen nicht diese, nur die Gesichter der Schwestern. Dann haben sie auf demselben Monitor Verstümmelte und Verbrannte eingespielt, die Probanden aber weiterhin schöne Küstenlandschaft beschreiben lassen ...

 

D. H. Und?