Vatertage - Stephan Bartels - E-Book

Vatertage E-Book

Stephan Bartels

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Beschreibung

»Guten Tag, wir sind verwandt!«

Dass er einen Vater hat, wusste Simon eigentlich schon immer. Nur dass er selbst Michael Petersen niemals so genannt hätte: Vater. Wer es fertigbringt, in neununddreißig Jahren nicht ein einziges Wort mit seinem Sohn zu wechseln, ist bestenfalls ein Erzeuger. Deshalb ist Simon auch ziemlich verärgert, als er in einem offiziellen Schreiben aufgefordert wird, monatlich € 697,69 Pflegebeteiligung für Herrn Petersen zu bezahlen. Simon fährt persönlich zum Amt, um Widerspruch einzulegen. Doch was er dort erfährt, stellt sein Leben vollends auf den Kopf. Anscheinend ist sein Vater nicht der einzige, der sich nie blicken ließ ...

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Das Buch

Simon Havlicek ist 39 Jahre alt, hat eine wunderbare Frau, zwei großartige Töchter, einen freundlichen Hund und seit Kurzem ein Stadthaus in Hamburg, das er monatlich abstottert. Alles wunderbar. Bis er aus heiterem Himmel einen Brief vom Sozialamt erhält. Demnach soll Simon jeden Monat exakt 697,69 Euro Selbstbeteiligung bezahlen. Für die Pflege eines gewissen Michael Petersen, der zufällig sein Vater ist. Allerdings hat Michael Petersen in seinem ganzen Leben noch kein einziges Wort mit Simon gewechselt, geschweige denn auch nur einen Pfennig Unterhalt gezahlt. Dass Simon nun für seine Pflege aufkommen soll, erscheint ihm doch ziemlich ungerecht.

Simon beschließt, persönlich beim Amt vorzusprechen, um die Familienverhältnisse zu klären. Doch an Sachbearbeiter S. Krusenbaum beißt er sich die Zähne aus: Vater ist Vater, Sohn ist Sohn, der Unterhalt sei nicht verhandelbar. Man bedaure auch sehr, dass Simons Geschwister nicht beitragen können. Und Simon denkt: Welche Geschwister?

Dass er außerdem seine Mutter davon abhalten muss, einen Mord zu begehen, macht sein Leben auch nicht gerade einfacher.

Der Autor

Stephan Bartels, geboren 1967, freier Journalist, hat sich mit Texten für Stern, Die Zeit, Brigitteund Barbara einen Namen gemacht. Er ist Vater eines erwachsenen Sohnes und lebt in Hamburg.

Lieferbare Titel

Dicke Freunde

Stephan Bartels

VATERTAGE

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Stephan Bartels

Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München, unter Verwendung von Motiven von © shutterstock (picsfive, romariolen, Om Yos)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20910-0V001

www.heyne.de

Für Fiete.Ohne dich würde es dieses Buch nicht geben.Echt wahr.

PROLOG

31. August 1968

Komisch, dachte Jarmila, dass dieser Sommer so zu Ende geht. In einem schaukelnden Bierlaster, mit zwei fremden Männern, die nach Schweiß riechen und Brühwurst und Sauerkraut. Auf dem Weg in ein Land, das noch fremder ist als diese Typen hier. Die sprechen wenigstens noch meine Sprache, dachte Jarmila. Wenn sie denn mal sprechen würden.

Sie sah aus dem Fenster. Gelbbraune Hügel rumpelten vorbei, vom langen Sommer verbrannt, fast so wie ihre Haut. Vereinzelte bucklige Häuser, die sich in die Landschaft duckten, als ob nichts sie etwas anginge. Ab und an Soldaten, die mit Gewehren vor dem Bauch am Straßenrand standen und rauchten. Dass Soldaten immer rauchen müssen, dachte sie. Oder schießen. Rauchen oder schießen, eins von beidem. Jarmila konnte das beurteilen, sie hatte viele Soldaten gesehen in den letzten Tagen.

Der Schweiß floss ihr den Hals hinab und durch das Tal zwischen ihren Brüsten zum Bauchnabel. Sie merkte ganz genau, dass Jurek ihr verstohlen in den Ausschnitt schaute, immer wieder und nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Sie saß zwischen ihm und Frantisek, dem Fahrer. Sie kannte die beiden seit nicht einmal zwanzig Minuten, seit sie in Pilsen zugestiegen war. Ihr Onkel Jaroslav hatte sie von Prag aus hingefahren. Er war mit Jurek befreundet, sie hatten zusammen studiert. Jurek war Mathematiker, genau wie ihr Onkel. Jarmila hatte immer gefunden, dass Jaroslav so ziemlich der klügste Mensch im Bezirk Prag sein müsste. Ihr Vater hatte dagegen immer gesagt, dass er so ziemlich der dümmste sei, weil er sich ständig mit der Partei anlegte. Der Onkel beinte jetzt im Prager Schlachthof Rinder aus. Und Jurek, der angeblich eine ähnlich große Klappe wie ihr Onkel hatte, fuhr Original Pilsener Bier durch halb Europa. Heute sollte es in die Schweiz gehen.

Jarmila hatte sich darüber gewundert. »Wieso bloß«, hatte sie Jaroslav gefragt, als sie in dem geliehenen Škoda über die Landstraße nach Pilsen fuhren, »wieso lassen sie einen, den sie für ihren Feind halten, ständig in den Westen fahren?«

Jaroslav hatte laut aufgelacht. Dann sagte er: »Jurek ist eine unglaubliche Nervensäge– die hoffen wohl, dass er einfach mal drüben bleibt.«

Aber Jurek kam immer zurück. Sie würde ihn vielleicht noch nach dem Grund fragen, wenn sie sich traute. Eine Frau hatte er jedenfalls nicht, das hatte Onkel Jaroslav ihr erzählt.

Jarmila las das Ortsschild des Dorfes, in das sie gerade fuhren. »Úlice«, murmelte sie halblaut.

»Eine Stunde noch bis Deutschland, höchstens«, brummte Frantisek. Dann schwiegen sie wieder. Auch Jurek. Der hatte kaum ein Wort gesagt seit der Abfahrt. Dass einer, der für sein loses Mundwerk bekannt sein sollte, so wenig reden konnte. Als spare er alle seine Worte auf für irgendwelche politischen Scharmützel, dachte Jarmila. Ihr Blick fiel auf die Zeitung, die auf dem Armaturenbrett zitterte. Sie las das Datum.

31. August 1968.

Mein Gott, dachte sie, nicht mal zwei Wochen her, da war die Welt noch in Ordnung. Besser noch. Die Welt war toll.

Und jetzt? War sie im Begriff, alles zu verlassen, was ihr vertraut war. Noch nie war sie im Ausland gewesen. In Karlsbad mal, mit ihren Eltern, weiter nach Westen war sie bisher noch nicht gekommen. Sie hatte Angst, das Atmen fiel ihr schwer. Es war, als ob eine zentnerschwere Platte quer auf ihrem Brustkorb lag.

Aber es ging nicht anders, soviel war klar.

Der Laster tuckerte im Schritttempo durch das Dorf, kein bisschen Wind ging durch die offenen Fenster, das Motorengeräusch machte sie schläfrig. Sie zerfloss vor Hitze, aber sie konnte schon spüren, dass es das letzte Aufbäumen dieses Sommers war. Dieses besonderen Sommers. Was für Monate das waren. Was für ein Jahr! Die Demonstrationen. Die Diskussionen. Das Lachen. Diese euphorisierten Menschen überall. Diese seltsame Ahnung, dass alles möglich ist. Hanka. Karel. Und Michael.

Vor allem Michael.

Vielleicht, dachte Jarmila Havlicekova, war das schon der beste Sommer meines Lebens. Vielleicht auch der traurigste. Aber was weiß ich schon. Mit siebzehn hat man ja noch nicht so furchtbar viele Sommer erlebt.

KAPITEL 1

Karla Kolumna

Simon Havlicek hatte mal irgendwo gelesen, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens ungefähr vierhundertfünfzig Morddrohungen ausstößt. Das war ein Durchschnittswert, ermittelt von Soziologiestudenten der University of Wisconsin in Green Bay, Wisconsin, USA, aber selbst wenn man das lose nordamerikanische Verhältnis zum Gebrauch von Handfeuerwaffen sowie das handelsübliche Drohgebaren von Kiezgrößen und Mafiosi herausrechnete, dürften auch friedlichste Existenzen öfter mal dem ein oder anderen ein schattiges Plätzchen auf einem Friedhof wünschen. Das wusste Simon aus eigener Erfahrung.

Das hieß noch lange nicht, dass er jemals ernstlich ans mörderische Werk hätte gehen wollen, oh nein. Denn das wiederum erforderte Nerven und Skrupellosigkeit, zwei Dinge, über die er nicht gerade im Übermaß verfügte. Von seiner grundsätzlichen Achtung vor dem Leben an sich wollte er gar nicht erst anfangen. Und weit über neunundneunzig Prozent aller Menschen in der zivilisierten Welt schien es genauso zu gehen, sonst wäre die Mordrate in seiner näheren Umgebung nicht so erstaunlich überschaubar. Aber die Gedanken, so sagt man schließlich nicht ohne Grund, sind frei.

Man konnte ihm also nicht wirklich einen Vorwurf machen, dass er im Sinne des freiheitlichen Gedankenguts nicht besonders alarmiert war, als Jarmila am Telefon zu ihm sagte:

»Ich bringe ihn um.«

Dieser Satz seiner Mutter fiel am 23. April 2008. Das war zunächst in vielerlei Hinsicht ein stinknormaler Mittwoch im Leben des Simon Havlicek.

Er wachte davon auf, dass Anke die Haustür ins Schloss fallen ließ. Simon war für einen Moment desorientiert und sah sich um. Er lag auf dem dicken graubraunen IKEA-Teppich, der ein paar Quadratmeter der teuren Eichenholzdielen zwischen Sofa und Fernseher bedeckte. Lilly kniete ein gutes Stück neben ihm und stapelte bunte Bauklötze aufeinander, die Zunge konzentriert in Richtung ihrer Rotznase geschoben. Lea saß oben am Esstisch und malte etwas, Simon tippte auf Pferde, das war momentan der Renner bei ihr. Ihr kleiner bunter Kassettenrekorder stand vor ihr, gerade sang sie die Titelmelodie von »Bibi Blocksberg« mit, nach seiner Schätzung zum etwa vierzigsten Mal heute.

Er drehte den Kopf zur Verandatür. Da lag, mit geschlossenen Augen, Zottel, ein Mischlingshund, mit dem Simon schon zusammen gewesen war, bevor er an ein gemeinsames Leben mit Anke und Kindern auch nur einen Gedanken verschwendet hatte.

Er seufzte.

War mal wieder ein langer Tag gewesen mit den Mädchen. Er hatte Lea gegen elf aus der Kita abholen müssen, sie hatte angeblich Bauchweh. Davon war seltsamerweise nicht mehr die Rede, sobald sie in ihrem Kindersitz auf der Rückbank des Zafira Platz genommen hatte. Stattdessen hatte sie in ihrer plapperigen frisch erworbenen Fünfjährigkeit darüber geschimpft, wie bescheuert Rebecca und Greta waren, weil die immer mit ihrer Baby-Born-Puppe …

Alles klar, Entwarnung, bloß der tägliche Minizickenterror, hatte Simon gedacht, froh, dass er ihr nicht ernsthaft mit Fencheltee und Zwieback würde kommen müssen. Dann hatte er abgeschaltet und immer mal wieder Sachen wie »nein, wirklich?« und »die sind ja blöd!« nach hinten gerufen, das musste an väterlicher Aufmerksamkeit für den Moment reichen, waren eh immer dieselben Themen, und das waren definitiv nicht seine. Und Lilly war ja auch noch als Ansprechpartnerin für Lea da. Außerdem musste er sich darauf konzentrieren, die Augen offen zu halten und nicht in den Gegenverkehr zu schlingern.

Er war saumüde. Und hatte gehofft, später, während Lillys Mittagsschlaf, Lea vor den Fernseher setzen und selbst ein paar Minuten Augenpflege betreiben zu können, die Nacht war kurz gewesen, wie immer, so ist das mit Kindern von knapp über eineinhalb. Wenigstens halten normale Kinder zur Entschädigung Mittagsschlaf.

Lilly aber war in dieser Hinsicht nicht normal. Sie hatte ihn nur ausgelacht. Mittagsschlaf war nicht so ihr Ding. Ein Jahr und ein bisschen noch, dachte Simon, als er es wieder mal aufgab, ihr die Bauklötze hinstellte und sich einen Kaffee kochen ging, dann wäre Lea in der Schule mit Ganztagsbetreuung und Lilly im Kindergarten, und zwar anders als Lea täglich bis Betriebsschluss, das hatte er sich schon oft geschworen.

Er hatte es ja so gewollt. Neuer Vater und so, er fand das reizvoll. Anke war nach der Geburt von Lea zu Hause geblieben, er hatte übernommen, als Lilly abgestillt war. Das war noch kein Jahr her. Damals hatten ihm alle auf die Schultern geklopft. Auf dem Spielplatz im Fischers Park war er zwar nicht der einzige Vater, das war hier schließlich Ottensen, da war man gendermäßig deutlich weiter als anderswo im Land. Aber Simon war irgendwie der coolste. Er sah nämlich ganz gut aus, vor allem aber machte die lässige Selbstverständlichkeit, mit der er von der Spitze der Karriereleiter in die Niederungen der Sandkästen von Hamburg-Ottensen herabgestiegen war, Eindruck auf alle, die davon wussten. Und auf dem Fischi wusste jeder davon.

Simon war vor der Elternzeit Chefdisponent Deutschland bei Cineplexx gewesen, der zweitgrößten Kinokette des Landes, einunddreißig Lichtspielhäuser in sechsundzwanzig Städten mit insgesamt einhundertzweiundachtzig Leinwänden – mit ein bisschen gutem Willen könnte man behaupten, er sei der Herrscher über die Kinocharts gewesen. Jetzt machte seine Frau diesen Job, während er mit müdem Kopf versuchte, zwei Mädchen von eins und fünf und einen sehr viel älteren Hund in Schach zu halten.

Er ließ den Kopf wieder auf den Teppich sinken und schloss die Augen. Er hörte, wie Anke ihre Pumps abstreifte und sie in der Diele auf den Holzboden fallen ließ. Hörte ihre nackten Füße auf dem Boden näher kommen. Hörte, wie Lea grußlos zu einer »Du, Mama, weißt du, was Greta und Rebecca heute gemacht haben?«-Tirade anhob, hörte Zottel semiinteressiert brummen, spürte den Boden sanft beben, als Lilly unartikuliert krähend mit kleinen, energischen Schritten auf ihre Mutter zustampfte. Und dann spürte er, wie Anke sich breitbeinig auf ihn setzte. Er öffnete grunzend die Augen.

»Muss wohl eingenickt sein«, murmelte er entschuldigend.

»Schon klar«, sagte Anke. Lilly hockte auf ihrem Schoss und busselte sie ab. »Ist ja auch schon spät am Tag.«

»Wie spät?«

»Gleich halb sieben. Abendbrot fertig?«

»Fuck. Nee. Siehst du doch. Bin ich noch nicht zu gekommen.«

»Aha.«

Der Vorwurf in diesem »aha« war ein leiser. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie beide die Angelegenheiten des Alltags in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erledigten. Manchmal feierte sie Simon spöttisch dafür, dass er in Sachen Langsamkeit in ganz neue, bisher unentdeckte Dimensionen vorstieß. Aber sie hatte sich abgewöhnt, ihn anzutreiben, solange immer genug zu essen im Kühlschrank und ausreichend Bier im Keller war. Und sie hatte gelernt, Dinge einfach liegen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er den Kram schon erledigte, wenn es ihm in den Kram passte.

Sie drehte sich um in Richtung Esstisch. »Immerhin seid ihr zum Mittagessen gekommen. Das steht ja alles noch auf dem Tisch.« Kleine Spitzen konnte sie sich dann doch nicht verkneifen. Simon war ganz froh, dass sie auf ihm zu tief saß, um in die offene Küche zu schauen, wie sie mittlerweile obligatorisch war in diesen neuen Stadthäusern. Dort wartete das Frühstücksgeschirr immer noch darauf, in den Geschirrspüler einsortiert zu werden.

»Ja, sorry, ich weiß. War irgendwie anstrengend heute. Erst musste ich …«

»Erzähl mir das später, ich mach mir gleich ins Höschen. Ich muss so was von pullern.« Sie erhob sich ächzend, das Kleinkind auf dem Arm. »Ach ja, zum Briefkasten bist du anscheinend auch nicht gekommen.«

»Briefkasten?«

»Du weißt schon, dieses graue Dings neben der Haustür. Ist ganz praktisch, wenn einem jemand was schicken will. Hier, deine Post.«

Sie warf ihm ein paar Umschläge und zwei Karten auf die Brust, bevor sie Richtung Klo verschwand.

Zweimal Werbung. Eine verspätete Glückwunschkarte zu seinem Geburtstag vor zwei Tagen. Ein Abholschein für ein Paket – er fluchte leise, jetzt musste er schon wieder zu diesem beschissenen Kaltenkircher Platz, kilometerweit weg, und dann standen die Leute immer bis zur Straße, um ihr Scheiß-eBay-Zeugs abzuholen oder zurückzuschicken, da ging mal wieder mindestens eine Stunde Scheiß-Lebenszeit verloren.

Und dann sah er das Hamburger Stadtwappen.

»Sozialamt Hamburg-Eimsbüttel«, las er halblaut und war verwirrt.

Wieso Sozialamt?

Wieso Eimsbüttel?

Alle ihre zuständigen Behörden hatten doch mit dem Bezirk Altona zu tun.

Und wieso Sozialamt, verdammt noch mal?

Simon setzte sich umständlich auf, erhob sich und ging zu Lea an den Esstisch. Er roch an ihrem Haar und küsste es, bevor er sich neben sie setzte. Er riss den Behördenumschlag auf. Das erste Wort, das ihm ins Auge fiel, lautete »Zahlungsbescheid«.

»Hä?«, stieß er hervor und runzelte die Stirn.

»Was is, Papa?«, fragte Lea, offensichtlich multitaskingfähig, denn sie malte weiter an der Flanke eines Ponys, und Bibi Blocksberg hexte immer noch vor ihnen herum.

»Weiß ich noch nicht, Süße«, sagte er und kitzelte sie leicht am Hals. Die Bedeutung des Wortes »Zahlungsbescheid« hatte sein Hirn noch nicht ganz erreicht. Lea giggelte. Sie liebte das. Und er auch.

Dann las er weiter.

Sehr geehrter Herr Havlicek,

für die Pflege von Angehörigen, die sich in öffentlichen Pflegeeinrichtungen befinden, ist die Behörde für Soziales, Familie, Arbeit und Verbraucherschutz nach Paragraph 93 Absatz 2 SGB XII berechtigt, Ansprüche an Empfänger von Sozialleistungen an direkte Angehörige weiterzuleiten, das heißt, sie an den Kosten der Pflege im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten zu beteiligen.

Für die Pflege Ihres Vaters Michael Petersen, geboren am 21. 04. 1946 in Hamburg, der sich seit dem 14. 03. diesen Jahres in stationärer Pflege im Staatlichen Pflegeheim Wildacker befindet, habe wir aufgrund Ihrer uns bekannten Einkommensverhältnisse für Sie einen monatlichen Beitrag zur Pflege von 697,69 Euro ermittelt, zahlbar rückwirkend ab dem 1. April 2008.

Bitte überweisen Sie den Betrag jeweils zu Monatsbeginn unter Angabe des Aktenzeichens auf eines unserer unten aufgeführten Konten.

Sie haben die Möglichkeit, gegen diesen Bescheid innerhalb von 14Tagen schriftlich Einspruch zu erheben.

Mit freundlichen Grüßen

S. Krusenbaum, Sachbearbeiter

Simon blickte über den Rand des Papiers, ohne etwas zu sehen. »Sensationell!«, rief Karla Kolumna in diesem Moment aus Leas Kassettenrekorder.

Ja, dachte Simon, stimmt.

»Simon?«

Er reagierte nicht. Erst, als Anke ihr Gesicht auf Tischplattenhöhe in sein Sichtfeld gebracht hatte, nahm er sie wahr. Sie sah besorgt aus.

»Alles in Ordnung bei Dir, Simon?«

Er schwieg einen Augenblick, bevor er antwortete.

»Ist schon komisch«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass mein … Vater am selben Tag Geburtstag hat wie … ich.«

KAPITEL 2

Bobbycarbremsstreifen

Simon hatte den Mann, den S. Krusenbaum vom Sozialamt Hamburg-Eimsbüttel als seinen Vater bezeichnete, an genau drei Gelegenheiten gesehen.

An die erste erinnerte er sich nicht, natürlich nicht, laut seiner Mutter fand dieser Erstkontakt ein halbes Jahr nach seiner Geburt satt. Da war Michael Petersen dreiundzwanzig Jahre alt gewesen und ziemlich frisch gebackener Ehemann von Sieglinde Petersen, geborene Pahlke, der ältesten Tochter eines bekannten Hamburger Herrenausstatters. Der Besuch, sagte seine Mutter einmal, sei sehr schweigsam gewesen. Immerhin hätte er lange an seinem Bettchen gestanden und Simon angesehen.

An das zweite Mal hatte er Erinnerungen, es war am Tag seiner Einschulung. Plötzlich stand der Mann vor dem Schultor, neben Jarmila und Janko, mit dem sie zusammenwohnten. Er wollte Simon die Hand geben, und das klappte auch mit einigen Schwierigkeiten, weil Simon nicht genau wusste, wie er die riesige Schultüte mit nur einer Hand festhalten sollte. Janko half ihm schließlich, und so schüttelte er die Hand dieses Mannes mit Anzug und Schlips, der den Mund aufmachte, um etwas zu sagen.

Es kam kein Ton heraus.

Er versuchte es zwei-, dreimal, dann schloss er seinen Mund wieder. Schließlich nickte er Jarmila und Janko zu und warf noch einen Blick auf Simon, bevor er sich umdrehte und mit schnellen Schritten die Straße hinunterhastete.

»Wer war das?«, fragte Simon verblüfft.

»Dein Vater«, sagte Jarmila.

Gemeinsam sahen sie Michael Petersen hinterher.

Das dritte Mal war eine zufällige Begegnung. Simon war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, er war mit einem Freund in die Stadt ins Kino gegangen. Auf dem Heimweg wollten sie an den Messehallen in die U-Bahn. Das war ein Umweg, und sie mussten einmal umsteigen, was gar nicht nötig gewesen wäre, aber an dieser U-Bahn-Station gab es die längsten Rolltreppen der Stadt. Simon liebte sie. Langsam glitten sie in die Tiefe, das Ende war kaum auszumachen im funzeligen Licht. Sie waren fast allein, nur ein Paar kam ihnen entgegen.

Simon erkannte den Mann im Anzug sofort. Er war dieser komische Typ, der bei Simons Einschulung keinen Ton herausbekommen hatte. An seiner Seite stand eine sehr schöne Frau, blond und groß und in einem schicken Sommerkleid in Gelb. Sie redete auf ihn ein, aber Michael Petersen sah nicht so aus, als ob er irgendetwas davon wahrnehmen würde, denn auch er hatte zweifelsfrei erkannt, wer da in Zeitlupe an ihm vorüberglitt. Als sie aneinander vorbeigefahren waren, drehten sich beide um und sahen dabei zu, wie ihre Leben wieder diametral entgegengesetzten Richtungen zustrebten.

Drei flüchtige, wortlose Berührungspunkte. Das war sein Vater.

Später, als Simon verlegenheitshalber studierte, hatte er sich ab und zu mal gefragt, ob er mit seinem Vater irgendetwas klären müsste, etwas aufarbeiten oder so. Aufarbeiten war Anfang der Neunziger kräftig im Trend bei den Soziologiestudenten, zu denen er nun mal gehörte. Aber dann stellte er fest, dass er von diesem seltsamen, schweigsamen Michael Petersen eigentlich gar nichts wollte. Er hatte in den ersten Jahren seines Lebens Janko gehabt, mehr Vater hatte er nicht gebraucht. Michael Petersen hatte im Leben von Simon Havlicek einfach keinerlei Rolle gespielt. Mal abgesehen davon, dass er vor ungefähr vierzig Jahren seine Mutter geschwängert hatte.

Und das sollte ihn nun jeden Monat sechshundertsiebenundneunzig Euro neunundsechzig kosten?

»Das ist böse«, sagte Anke und starrte kauend auf den Sozialamtsschrieb.

Sie hatte heute die Mädchen ins Bett gebracht, im Schnelldurchlauf, statt Vorlesen und Kuscheln durfte Bibi Blocksberg noch eine weitere Runde auf ihrem Besen drehen. Jetzt saßen Anke und Simon am Echtholzesstisch und schwankten zwischen Ratlosigkeit und Wut hin und her.

»Ist das überhaupt korrekt, so rein gesetzlich? Ich meine, der Typ hat nie was für dich getan, Simon.«

»Nein, hat er nicht.«

»Du kennst den nicht mal.«

»Nein, tue ich nicht.«

»Dann kann das doch gar nicht sein, dass du dran bist. Ich meine, das ist … einfach unfair.« Sie starrte wieder auf den Zettel. »Hat der eigentlich früher Unterhalt gezahlt?«

Simon hatte seine Mutter tatsächlich einmal danach gefragt, als er sechzehn war. Damals ließen sich die Eltern seines besten Freundes Axel scheiden, da war Unterhalt plötzlich ein Thema. Vorher war ihm diese Frage nie in den Sinn gekommen.

Jarmila hatte damals nur wortlos den Kopf geschüttelt.

»Nein«, sagte er. »Hat er nicht. Keinen Pfennig.«

»Aber du jetzt, oder was?«

Simon seufzte. Er hatte ein bisschen recherchiert, während Anke ein Stockwerk höher bei den Kindern war.

»Moralisch gesehen ist das natürlich extrem unfair«, sagte er, »das ist den Behörden allerdings scheißegal. Ich habe im Internet ein Urteil des Bundesgerichtshofs gefunden. Ähnlicher Fall, da hatte eine Frau aus Nürnberg geklagt, deren Vater für immer die Biege gemacht hat, als sie vier war. Keine Chance. Die musste tatsächlich insgesamt achttausend Euro an das Sozialamt nachzahlen.«

»Sorry, aber das will nicht in meinen Schädel.« Sie nahm einen tiefen Schluck Bier, um die Käsestulle runterzuspülen, an der sie gerade kaute. »Ich denke, wir leben in einem Sozialstaat! Das ist doch das Gegenteil von sozial!«

Simon rieb sich die Schläfen. Er versuchte, rational zu bleiben, aber in ihm brodelte es. Gerade stieg wieder ein Klumpen Wut auf und verstopfte seine Kehle.

»Du könntest auch mal was sagen, Simon! Willst du das einfach so hinnehmen?«

»Quatsch«, knurrte er. »Sehe ich so aus? Da steht was von Widerspruch. Klar widerspreche ich. Und zwar persönlich. Gleich morgen werde ich mal ein Gespräch mit … Wie heißt der Typ beim Amt?«

Anke schaute auf das Ende des Briefes. »Krusenbaum.«

»Richtig. Dieser Krusenbaum …«

»Oder diese Krusenbaum. Könnte ja auch eine Sabine oder Susanne sein.«

»Äh …«

»Oder eine Sybille.«

»Nein. Da steht Sachbearbeiter. Singular, männlich. Was außerdem scheißegal ist«, sagte Simon scharf. Anke hob beschwichtigend die Hände. Er fuhr fort. »Dieser Krusenbaum jedenfalls soll mir das alles mal erklären. Und dann soll er mir auch erzählen, warum sie glauben, dass ein Vater in Elternzeit knapp siebenhundert Euro im Monat übrig hat. Wie kommen die überhaupt auf den Betrag?«

»Da steht was von unseren wirtschaftlichen Verhältnissen.«

»Und die kennt das Sozialamt? Die wissen doch gar nicht, was hier los ist mit dem Haus und so. Die wissen doch nichts von unserem Leben!«

Simon und Anke kannten sich seit knapp eineinhalb Jahrzehnten. Mitte der Neunziger war sie aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg gekommen und Simons Kollegin geworden, als Disponentin bei Cineplexx – sie verteilten die neuen und nicht ganz so neuen Filme auf die Leinwände der Republik. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut, aber mehr nicht – Simon hatte eine Freundin, da lief nichts zwischen ihnen.

Als Simon 1999 von dieser Freundin betrogen und verlassen wurde und er sein Leben einmal auf links gedreht hatte, intensivierte sich ihre Freundschaft, aber es dauerte trotzdem noch ein paar Monate, bis sie merkten, dass sie möglicherweise deutlich mehr füreinander empfanden, als ihnen bewusst war.

Sie wurden ein Paar, als das neue Jahrtausend etwa drei Stunden alt war. Am Elbstrand, auf den verlassenen Holzbohlen der Strandperle. Es war irgendwie ganz schön romantisch. Und ziemlich nasskalt. Ihre Beziehung begann jedenfalls mit einer amtlichen Doppelgrippe.

Simon wohnte damals noch bei Hotte, seinem besten Freund. Doch bei dem sollte er ausziehen, weil der und seine Freundin ein Kind erwarteten. Er fand schnell eine kleine Zweizimmerwohnung auf St. Pauli, gegenüber der Kirche an der Antonistraße, im vierten Stock. Hunde waren nicht erlaubt. Er nahm Zottel natürlich trotzdem mit.

Wenn man auf der breiten Fensterbank im Wohnzimmer saß, konnte man einen schmalen Streifen Elbe sehen, der nachts orange glitzerte von den Hafenlichtern am anderen Ufer. Es war ihrer beider Lieblingsplatz, und weil Anke kaum noch Zeit in ihrem winzigen Apartment verbrachte, kündigte sie nach einem Dreivierteljahr ihre Bude und schaffte ihren Krempel zu ihm.

Im Sommer 2002 wurde Anke schwanger. Das war nicht geplant, aber sonderlich erschrocken waren weder sie noch er. Sie war einunddreißig, Simon dreiunddreißig, sie hatten keinerlei Absichten, ihre Leben wieder auseinander zu dividieren, und Kinder … ja, klar wollten sie Kinder, auch wenn sie das Thema bis dahin immer weiträumig umschifft hatten, weil es ihnen so gut gefiel in ihrer gemütlichen Zweisamkeit.

Warum also nicht jetzt?

Im März 2003, einen Monat bevor Lea geboren wurde, zogen sie in das Nachbarhaus, drei Zimmer, fünfundsechzig Quadratmeter, kein Elbblick mehr. Dafür wurde Zottel dort offiziell geduldet.

Im Kino waren sie bis zu Ankes Mutterschutz auf einer Hierarchiestufe gewesen, jetzt blieb sie zu Hause, und Simon wurde befördert – Chefdisponent für alle deutschen Kinos. Er verdiente mehr, als sie brauchten. Als Ankes Elternzeit allmählich in die letzte Phase einbog, wurde sie wieder schwanger, wieder ungeplant. Er freute sich, als sie es ihm sagte.

Sie nicht so.

»Was ist?«, fragte er sie. »Ist doch toll!«

Sie seufzte. »Ja, klar.«

»Aber?«

Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Ehrlich gesagt, mir langt es gerade mit Windeln und Spielplatz und all dem Quatsch. Ich hatte mich mal wieder aufs Büro gefreut und beknackte Kollegen und bescheuerte Chefs.«

»Ich bin dein Chef.«

»Eben.«

Sie lagen nebeneinander auf dem viel zu kleinen Sofa. Simon nahm sie in den Arm und zog sie an sich. Sie war kleiner und sehr viel schmaler als er, sie passte ergonomisch ganz gut an seine rechte Seite. Und er dachte nach. Er mochte seinen Job zwar, aber er kam kaum noch dazu, selbst Filme zu schauen, und das war immer das Beste daran gewesen. Stattdessen hockte er in Konferenzen und war mit Personalplanung beschäftigt. Die Momente, in denen er Anke um ihr häusliches Leben beneidete, nahmen in letzter Zeit deutlich zu.

»Vorschlag«, sagte er. »Du bekommst Zwerg Nummer zwei, bringst ihn über die ersten Monate, und dann tauschen wir.«

Sie hob den Kopf und sah ihn stirnrunzelnd an. »Tauschen?«

»Ja. Du disponierst im Kino, ich zu Hause. Also wie jetzt, nur umgekehrt.«

»Aber du bist Chef.«

»Das wirst du dann. Kann ich ja wohl mitbestimmen, oder?«

»Aber was ist mit Jochen? Oder Nina?«

»Sind die besser als du?«

»Äh … nee, aber …«

»Du weißt doch noch, was das für ein Wehklagen war, als du dich verabschiedet hast. ›Unser bester Mann verlässt uns‹, hat der Vorstandschef gesagt. Dann bekommen sie ihn halt zurück, ihren besten Mann. Und zwar an der richtigen Stelle, das ist die Bedingung.«

Anke ließ ihren Kopf zurücksinken und schwieg eine Zeit lang. »Dein Ernst?«, fragte sie schließlich.

»Mein Ernst«, sagte Simon.

Lilly kam im August 2006 auf die Welt. Ein halbes Jahr später zogen sie aus drei Zimmern auf St. Pauli in ein Neubaugebiet in Ottensen.

Es gab einige von diesen brandneuen steinernen Inseln zwischen den Altbauhäuserzeilen in diesem Stadtteil, der früher von Arbeitern bewohnt wurde und heute vor allem von Leuten, die irgendwas mit Medien machten. Die Inseln hießen allesamt »Höfe«, warum auch immer, besonders höfisch war nichts an ihnen. Sie waren entweder grau, schwarz, rot oder gelb geklinkert, ansonsten unterschieden sich die Fischerhöfe, Elbhöfe oder Kirchenhöfe nicht sonderlich voneinander.

Sie ergatterten in den Flusshöfen so eben noch eines der mehr als begehrten Reihenhäuser, die heutzutage Stadthäuser hießen, klang offenbar irgendwie urbaner. Reihenhaus roch ja irgendwie auch nach Vorort und Gartenzwerg.

Roter Backstein, so weit das Auge reichte. Der Fluss war knapp eineinhalb Kilometer von den Flusshöfen entfernt, das war für Ottensen schon weit, aber an derlei semantischen und geografischen Feinheiten störten sich weder die Bauträger noch Anke und Simon.

Im Februar 2007 bezogen sie als fix und fertige Familie samt Haustier ihre fünf Zimmer. Einhundertfünfundzwanzig Quadratmeter mit Vollunterkellerung und Tiefgaragenstellplatz, für den sie sich noch einen neuen Opel Zafira anschafften. Bei einem Kaufpreis von vierhundertfünfzigtausend Euro für das Haus kam es auf die paar Kröten auch nicht mehr an. Ein Drittel des Geldes konnten sie aus Erspartem und Erbvorschüssen ankeseitig zusammenkratzen, der Rest verteilte sich auf zwei Kredite, an denen sie bis zum Ende ihres Lebens abzahlen würden.

Zwei Monate nachdem sie den letzten Karton über die Türschwelle getragen hatten, heirateten Simon und Anke, ohne lange darüber nachzudenken. Ihre Flitterwochen bestanden aus vier Tagen auf Rügen, in denen Ankes Mutter aus Bochum anreiste, um auf die Kinder aufzupassen. Seinen Abschied im Kino gab Simon am Tag nach ihrer Rückkehr – und übergab sein Aufgabenfeld gleichzeitig mit großer Geste an Anke.

Er wunderte sich bis heute, dass er mit dieser Personalie tatsächlich durchgekommen war.

Und jetzt saßen sie also an ihrem Tisch für knapp über tausend Euro, auf Stühlen, die auch nicht gerade billig gewesen waren. Auch die Lampe kam aus einem Designshop. Sie hatten das Haus anfangs mit der Wenn-schon-denn-schon-Euphorie von Leuten eingerichtet, die immer etwas über der Budgetgrenze einkauften. Das hatte nach ein paar Monaten aufgehört. Je höher man im Haus kam und je weiter in die Ecken der Zimmer, desto IKEA-lastiger wurde die Einrichtung. »Ist ja auch skandinavisches Design«, hatte er zu Anke gesagt, als er mit dem Lesesessel Poäng für neunundfünfzig Euro ankam.

Fakt war: Das hier war an der Grenze dessen, was sie sich leisten konnten. Dieser Eichenboden mit den Bremsstreifen von Bobbycar-Reifen, die feinverputzten Wände, die überall unterhalb von einem Meter mit Buntstift bemalt waren und speckig von schmutzigen Kinderhänden, das Sofa von Habitat, in das unentfernbar Schokoreste und verspeichelter Reiscrackerbrei eingerieben waren. Daran zahlten sie ab, es gab keinen Spielraum, nicht für Neues, nicht für Urlaub, der weiter weg ging als bis zu einem Bauernhof bei Sankt Peter-Ording.

Und schon gar nicht für die Pflege eines alten, kranken Mannes, den niemand kannte.

»Ich drehe eine Runde mit Zottel«, sagte Anke und rieb sich die Augen. »Und danach nehme ich ein Vollbad. Wer weiß, wie lange wir uns das noch leisten können.«

Als Anke in den milden Hamburger Maiabend gegangen war, erledigte er sein Hausmannstagwerk. Befüllte eine Waschmaschine mit dreckverkrusteten Kinderklamotten, stellte das Geschirr von drei Mahlzeiten in den Geschirrspüler und warf ihn an, spülte Töpfe und Holzbretter ab – Anke redete ihm kaum in Haushaltsdinge hinein, aber sie hatte ihm streng untersagt, Holz in den Geschirrspüler zu legen.

Er dachte beim Spülen über seinen Vater nach, den er niemals so nennen würde. Und dann über Jarmila. Und dann dachte er, dass seine Mutter vielleicht wissen sollte, was passiert war. Er rief sie an. Sie hörte ruhig zu. Sie fragte nichts. Und schließlich sagte sie einen einzigen Satz.

»Ich bringe ihn um.«

Dann legte Jarmila Havlicekova einfach auf.

31. Oktober 1967

Hanka hatte Jarmila auf die große Studentendemo mitgeschleppt, natürlich, immer Hanka. Sie war jedes Mal dabei, wenn irgendwo was los war. Hanka war komplett unpolitisch, aber sie liebte jede Art von Rummel.

Rummel und Jungs.

Und so liefen sie, zwei Mädchen von sechzehn Jahren, mit im Strom der Studenten, die gegen die unsäglichen Verhältnisse in den Prager Wohnheimen protestierten, soviel hatten sie verstanden. Die Elektroleitungen dort waren allesamt marode, aber statt sie zu reparieren, schaltete die Verwaltung einfach abends den Strom ab, um sie zu schonen.

»Wir wollen Licht!«, skandierten die Studenten immer wieder, immer lauter, fast alle hielten brennende Kerzen in den Händen. Der Ruf der Massen hallte von den alten Hauswänden im Burgviertel wider. Jarmila bekam eine Gänsehaut. Sie war es nicht gewohnt, gegen etwas zu sein. Oder für etwas, genau genommen war sie hier ja für Strom. Ist doch eine gute Sache, dachte sie. Wir haben bei uns Strom, wann immer wir wollen. Überhaupt, zu Hause ging es ihr gut, sie musste um nichts kämpfen. Und ihre Lehrer ließen ihr wenig Raum für Protest.

Diese Demo fühlte sich fremd an und gut, auf eine verbotene Weise.

Sie waren vom Hradschin hinunter auf die Kleinseite gelaufen. Auf den letzten Metern vor der Karlsbrücke hatten sich Horden von Uniformierten rechts und links von ihnen aufgebaut. Plötzlich wurde laut gerufen, und die Polizisten begannen blitzartig damit, auf die Studenten einzuknüppeln. Jarmila blieb schockstarr stehen und konnte sich vor Panik nicht bewegen, keinen verdammten Zentimeter.

Das fühlte sich nicht mehr gut an.

Dann griff jemand ihre Hand und zog sie in eine Nebenstraße, sie liefen und liefen und drückten sich schließlich in einen Hauseingang. Sie hatte Hanka verloren, überhaupt war kein einziger Student mehr zu sehen. Nur der hier. Sie keuchten und sahen einander an.

Der Junge war vielleicht ein paar Jahre älter als sie, er hatte diesen Che-Guevara-Bart, den jetzt alle trugen, aber ihm stand er überhaupt nicht. Dafür war sein Gesicht viel zu fein und weich. Überhaupt, zart war er, wirkte verloren in seinen Jeans und dem Parka.

Jarmila wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.

»Habt ihr abends wirklich kein Licht?«, fragte sie schließlich.

Der Junge grinste. »Soll ich’s dir beweisen?«

Es gab tatsächlich kein Licht in seinem Wohnheim, sie drehte den Schalter in seinem Zimmer dreimal, viermal, nichts. Sie wanderte mit vorsichtigen Schritten durch den kleinen, spartanisch möblierten Raum. Er legte den Arm um sie, als sie aus seinem zugigen Fenster auf die dunkle Straße sah. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie glaubte, halb Prag müsste es hören in der Stille des Abends. »Wir wollen Licht«, flüsterte Karel, ganz nahe bei ihrem Ohr.

Dann zündete er eine Kerze an.

Und küsste sie schließlich.

So war Jarmila Karel begegnet.

KAPITEL 3

S. Krusenbaum

Hotte wartete schon auf ihn. Er hielt einen Träger mit zwei Pappbechern in der einen Hand, in der anderen eine Tüte mit der Aufschrift Dat Backhus.

Simon hatte ihm gestern noch gesimst und die Lage betreffend Michael Petersen in ein paar Kurznachrichten gepresst. Er endete mit der Ankündigung, gleich früh am Morgen das Sozialamt in den Grindelhochhäusern aufzusuchen.

»Soll ich mitkommen? Ist ja bei mir um die Ecke«, hatte Holger Behrens, genannt Hotte, zurückgeschrieben. Und Simon dachte: Ja. Warum eigentlich nicht.

Simon hielt es aus zwei bis drei Gründen für eine gute Idee, dass Hotte ihn begleitete. Erstens war Hotte seit knapp neun Jahren sein bester Freund. Er hatte damals wie heute in der IT des Cineplexx gearbeitet, sie waren Kollegen, ohne sich zu kennen. Und trotzdem hatte Hotte Simon bei sich wohnen lassen, als der seine Freundin Katja beim Fremdgehen erwischt hatte. Außerdem waren sie beide fürchterlich dick damals, und Anke hatte sie zu einer gemeinsamen Diät verdonnert. Das hatte sie zusammengeschweißt. Beide wogen heute noch etwa zwanzig Kilo weniger als im April 1999. Bei Simon sah man das auch. Bei Hotte nicht so sehr.

Zweitens tendierte Simon dazu, bei offiziellen Terminen ungefähr die Hälfte nicht zu verstehen oder zu vergessen. Er stellte auch immer die falschen Fragen oder wurde wütend – Hotte war da irgendwie … konzentrierter. Und vier Ohren hörten mit Sicherheit mehr als zwei.

Drittens hatte Hotte, wenn man ihn zum ersten Mal sah, eine bedrohliche Wirkung. Er war nicht weit weg von zwei Metern und hundertdreißig Kilo, alles an ihm war überdimensioniert. Und er strahlte eine Ruhe aus, die andere nervös machen konnte. Simon hoffte, dass sein Freund auf S. Krusenbaum einen solchen Effekt haben würde.

»Cappuccino und Franzbrötchen«, sagte Hotte zur Begrüßung, als Simon sein Fahrrad vor dem riesigen Gebäude angeschlossen hatte. Es war fünf vor acht. Anke hatte heute die Kinderfrühschicht übernommen.

»Franzbrötchen?«, fragte Simon und klopfte Hotte auf die Schulter. »Bist du irre? Das gibt doch wieder Ärger mit Susanne.«

Susanne war seit neun Jahren Hottes Freundin. Und daneben auch Weight-Watchers-Gruppenleiterin und die Wächterin über Hottes Mahlzeiten. Jede Lüge zum Thema Essen erkannte sie drei Meilen gegen den beharrlichen Hamburger Westwind. Andererseits war sie selbst äußerst kräftig und darüber hinaus recht sinnenfreudig.

»Ach, so eng sieht sie das gerade nicht«, sagte Hotte. »Sie ist momentan in so ’ner Man-lebt-nur einmal-Phase. Wollen wir?«

Sie fragten am Eingang nach dem Büro des Sachbearbeiters, nahmen den Paternoster in den dritten Stock, suchten Raum 3.142 und fanden ihn. »Leistungsabteilung, S. Krusenbaum« stand auf dem Schild neben der Tür. Auf ihr prangte ein bedruckter DIN-A4-Zettel. »Anmeldung im Sekretariat in Raum 3.144«, stand darauf. Sie gingen eine Tür weiter, klopften, wurden hereingebeten, und Simon trug sein Ansinnen vor. Oh, sagte die Dame vom Amt, eigentlich sei heute gar kein Publikumsverkehr, und Herr Krusenbaum hätte auch gleich eine Besprechung.

»Aber es wäre sehr wichtig«, sagte Simon und lächelte ein wenig leidend. »Wissen Sie, ich verstehe diesen Vorgang einfach nicht, und ich bräuchte da wirklich einen kompetenten Gesprächspartner.«

Sein Gegenüber war mit Sicherheit schon ein paar Jahre dabei. Pensionierung war keine ferne Vision mehr für sie, sondern eine greifbare Realität. Bestimmt hatte sie schon so ziemlich alles gesehen, und mit Charme konnte man sie auch nicht einwickeln. Ausdruckslos ließ sie ihren Blick zwischen Simon und Hotte hin und her wandern. In diesem Moment bereute Simon, dass er eine Art überdimensionierten Bodyguard in seinem Rücken hatte.

»Sie hätten einen Termin machen sollen«, sagte sie streng.

»Und wenn ich für jetzt einen mache?«

»Sehr witzig«, sagte sie trocken. Sie schlug einen Kalender mit mehreren Spalten für sämtliche Sachbearbeiter auf. »Der nächste freie Termin bei Herrn Krusenbaum ist …« Sie fuhr mit dem Finger immer weiter in der entsprechenden Spalte herunter. »… am 13. Mai um zehn Uhr. Soll ich es Ihnen aufschreiben, oder können Sie sich das merken?«

»Das ist in drei Wochen«, sagte Simon tonlos.

»Minus zwei Tage«, sagte sie und lächelte ihn an, ohne auch nur eine Spur Freundlichkeit dabei auszustrahlen.

»Ich habe eine Einspruchsfrist von vierzehn Tagen«, sagte Simon.

»Ja, und? Was hat das mit Herrn Krusenbaum zu tun?«

»Wie ich schon sagte. Ich möchte verstehen, was er mir geschrieben hat.«

»Zeigen Sie mal her.«

Er reichte ihr den Schrieb. Sie überflog ihn.

»Was gibt es denn da nicht zu verstehen? Hier steht, um wen es geht, wer die Pflege verantwortet, der Leistungsträger ist korrekt angegeben und Ihr Beitrag. Wozu brauchen Sie denn noch den Krusenbaum?«

»Ich möchte zum Beispiel wissen, wie er auf siebenhundert Euro kommt.«

»Sechshundertsiebenundneunzig Euro neunundsechzig. Und außerdem gibt es dafür klare Berechnungsgrundlagen.«

»Ja, aber …«, hob Simon an. Doch dann verließen ihn die Argumente. Sie sah ihn streng und erwartungsvoll an. Er nahm der Frau das Schreiben aus der Hand, drehte sich um und marschierte schweigend aus der Tür. Hotte folgte ihm.

»Was ist denn jetzt mit dem Termin?«, rief ihnen die Sozialamtsangestellte noch hinterher, aber Hotte schloss einfach wortlos die Tür.

»Und nun?«, fragte er draußen auf dem Flur. Simon zuckte nur mit den Schultern, eine Mischung aus Ohnmacht und Zorn stieg in ihm auf.

Von links näherte sich ein Mann. Er war jung, noch keine dreißig, schätzte Simon. Er trug Jeans, dunkelrote Chucks und einen Kapuzenpulli in Grau, auf dem über dem zugehörigen Logo Ramones stand. Die Frisur hatte er sich anscheinend von Torsten Frings geborgt.

Vor Raum 3.142 blieb er stehen, grinste zu ihnen herüber und schickte ein gutgelauntes »Moin!« hinterher. Dann zog er ein Schlüsselbund aus der Hosentasche und suchte es nach dem richtigen Türöffner ab. Hotte machte ein paar Schritte auf ihn zu.

»Herr Krusenbaum?«

Der Mann sah auf. »Ja?«

Hotte war jetzt bei ihm angekommen und baute sich vor ihm auf. »Das hier …« Er zeigte über seine Schulter mit dem Daumen auf Simon. » …ist Simon Havlicek.«

Krusenbaum guckte immer noch freundlich aus der Wäsche. »Und weiter?«

»Er hat gestern einen Brief von Ihnen bekommen.«

»Na ja, ich schreibe ständig, da weiß ich doch nicht gleich jeden Vorgang … Nee, warten Sie mal. Havlicek, klar, jetzt weiß ich, ungewöhnlicher Name, hat man nicht jeden Tag.«

»Da sagen Sie was.« Hotte sah gutmütig auf den Mann herunter. »Herr Havlicek hätte da mal ein paar Verständnisfragen.«

»Jetzt?« Krusenbaum sah auf seine Armbanduhr. »Eigentlich ist keine Sprechzeit, und ich müsste …«

Er sah von Simon zu Hotte, der immer noch lächelte. Aber er zog dabei jetzt eine Augenbraue hoch. Das verfehlte seine Wirkung nicht.

»Ach, was soll’s, die können mit der Budgetplanung auch mal ohne mich angefangen. Kommen Sie herein.« Er schloss seine Bürotür auf und ging hinein. Simon und Hotte folgten ihm.

Krusenbaums winziges Büro war ein echtes Behördenklischee. Graues Linoleum. Der wurmstichige Schreibtisch war aktenüberladen, auch in einem Regal an der Wand stapelten sie sich bis unter die Decke. Ein Gummibaum stand auf der Fensterbank.

An der Wand hinter seinem Schreibtisch bekam der Raum seine individuelle Note. Da hing ein Foto, auf dem Krusenbaum Arm in Arm mit Campino von den Toten Hosen posierte. Darunter hing eine Karte für Rock am Ring 2004, Simon roch zwischen Foto und Ticket einen Zusammenhang. Daneben erkannte er das Mannschaftsposter des FC St. Pauli, das vor der laufenden Saison der MOPO beilag.

»Ah, wir teilen uns den Lieblingsklub«, sagte Simon und zeigte auf das Bild.

Krusenbaum schien erfreut zu sein. »Echt? Ich habe eine Dauerkarte.«

»Ich auch. Gegengerade.«

»Ich Süd, bei den Ultras. War der Hammer gegen Hoffenheim neulich, oder?«

St. Pauli hatte ein paar Tage zuvor sein Zweitligaheimspiel gegen Hoffenheim spektakulär gewonnen, was die Fußballromantiker der Republik entzückt hatte.

»Ja, großer Sport«, sagte Simon. »Aber aufsteigen werden die wohl trotzdem. Und wir wenigstens nicht ab, ist ja auch was.«

»Ja …«, sagte Krusenbaum. Das Thema war damit offenbar erschöpft. »Nehmen Sie doch Platz.«

Simon und Hotte setzten sich.

»Jetzt weiß ich auch wieder, was mit Ihnen war. Vater im Pflegeheim, stimmt’s? Und zwar … Oberaltenallee?«

»Wildacker.«

»Richtig! Wie geht’s ihm denn?«

»Keine Ahnung.«

»Ach so? Waren Sie in letzter Zeit nicht mehr da?«

»Ich war noch nie da. Die Wahrheit ist: Ich kenne den Mann überhaupt nicht.«

»Hm.« Krusenbaum sah Simon abschätzend an. Dann bekam sein Gesichtsausdruck etwas Weiches und Pastorales. »Das kann ja sein, aber das sollten Sie lieber mit einem Therapeuten besprechen als mit mir. Wissen Sie, meine Beziehung zu meinem Vater ist auch nicht immer …«

»Nein, Sie verstehen mich nicht. Ich kenne ihn wirklich nicht. Ich habe ihn insgesamt zwei Minuten in meinem Leben gesehen und dabei nicht ein Wort mit ihm gesprochen.«

»Aber … ich verstehe wirklich nicht. Ist dieser … wie war noch mal der Name?«

»Michael Petersen.«

»Genau. Ist das nicht Ihr Vater?«

»Definieren Sie Vater.«

»Hat er Ihre Mutter geschwängert, und Sie sind dabei herausgekommen?«

»Ja.«

Krusenbaum lehnte sich zufrieden zurück und verschränkte die Arme vor dem Bauch. »So definiere ich Vater. Biologisch und juristisch. Dagegen werden Sie wahrscheinlich auch keine Einwände haben, oder?«

»Nee. Aber psychologisch. Wie kann es sein, dass ich für jemanden zahlen muss, mit dem ich in meinem ganzen Leben nie etwas zu tun hatte?«

S. Krusenbaum nickte verständnisvoll. »Ich weiß, was Sie meinen. Und wenn es nur nach mir ginge …« Er zuckte mit den Schultern. »Aber es gibt diese Grundsatzurteile beim Bundesgerichtshof, die sind eindeutig. Mein Spielraum geht da gegen null, sorry.«

Er blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Dann kramte er in einem Aktenstapel zu seiner Rechten, rief laut »Ha!« und zog den Vorgang Michael Petersen aus der Mitte des Haufens. Er schlug den Ordner auf und begann zu lesen.

»Was hat er eigentlich?«, fragte Simon.

»Wie bitte?«

»Wieso ist er im Heim? Der ist doch noch gar nicht so alt. Zweiundsechzig erst, wenn das Geburtsdatum auf Ihrem Schreiben stimmt. Das ist doch gar kein Alter für so eine Einrichtung.«

»Das steht hier nicht. Geht mich auch nichts an. Nur der Grad der Pflegebedürftigkeit. Drei. Das ist hoch.«

»Und trotzdem, Herr Krusenbaum: Ich fühle mich da nicht zuständig.«

Krusenbaum seufzte. »Sie müssen aber auch mal unsere Seite sehen«, sagte er schließlich. »Ganz ehrlich: Wer, wenn nicht Sie als nächster Blutsverwandter?«

»Blutsverwandter …«, murmelte Simon und schüttelte den Kopf. Die Liste der Begriffe, die mit seiner Welt nicht zusammenpassten, wurde in atemberaubendem Tempo länger und länger.

Krusenbaum aber kam langsam in Fahrt.

»Und überhaupt: Woher soll ich denn wissen, dass Sie wirklich keinen Kontakt zu Herrn Petersen hatten? Woher weiß ich denn, dass Sie nicht alle vierzehn Tage fröhlich nebeneinander auf der Gegengerade rumgeturnt sind? Wer sagt mir, dass Sie mir hier nicht einen vom Pferd erzählen, um …« Er sah in die Akte. »…sechshundertsiebenundneunzig Euro neunundsechzig monatlich zu sparen?«

Simon sah sein Gegenüber sehr unterkühlt an. »Ich sage das.«

»Na ja, nun …«

»Und wissen Sie was, Herr Krusenbaum: Wenn ich das sage und wenn Sie meine Aussage anzweifeln, dann fasse ich das als persönliche Beleidigung auf. Denn damit würden Sie unterstellen, dass ich in Ihr Büro marschiere und Sie frech anlüge. Das ist … verleumderisch. Und beleidigend, wie gesagt. Abgesehen davon können Sie ja Herrn Petersen gern mal selbst dazu befragen.«

Simon war kaum lauter geworden während seines Vortrags. Das hatte seiner Stimme einen bedrohlichen Unterton verliehen. Krusenbaum hob abwehrend beide Hände.

»Ich meine doch nur, Herr Havlicek. Ist alles ganz theoretisch. Aber selbst wenn ich Ihnen glaube: An der Sachlage ändert das nichts. Wir schießen jeden Monat weit über dreitausend Euro für Ihren Vater vor. Wenn wir da nicht die nächsten Verwandten um Mithilfe bitten dürfen, heißt es bald: Tschüss, Sozialstaat. Arrivederci, Solidargemeinschaft. Dann ist sich bald jeder selbst der Nächste, weil wir ruckizucki pleite sind.«

»Jaja, ich hab’s verstanden. Aber wie kommen Sie überhaupt auf fast siebenhundert Euro? Ich bin in Elternzeit, ich habe gar kein Einkommen.«

»Echt jetzt? Moment.« Er blickte in die Unterlagen. »Da finde ich jetzt gar nichts zu, seltsam. Ich habe den Vorgang von einer Kollegin geerbt, die ist jetzt für zwei Monate auf Kur in Bad Wildungen, da fragt man sich auch manchmal … Egal. Sind Sie verheiratet?«

»Ja, wieso?«

»Weil da auch das Einkommen des Ehepartners eine Rolle spielt. Und in Ihrem Fall scheint die Frau ja ordentlich zu verdienen, sonst wäre da nicht so ein großer Betrag bei rausgekommen.«

»Das ist Blödsinn. Wir können uns das überhaupt nicht leisten.«

»Glaube ich nicht. Wir sind doch keine Unmenschen, wir lassen immer einen mehr als ordentlichen Selbstbehalt stehen.«

»Aber ich weiß immer noch nicht, wie Sie …«

»Ich auch nicht, Herr Havlicek. Die Unterlagen für die Berechnung finde ich hier nicht. Aber …« Krusenbaum stockte einen Moment. »Das ist ja interessant.«

»Was?«, fragte Simon.

»Wir hätten Sie gar nicht so ohne Weiteres gefunden. Sie sind in den Unterlagen von Herrn Petersen nicht als Blutsverwandter eingetragen, und er selbst hat offenbar auch nichts weiter dazu gesagt. Den Tipp, dass er noch einen anderen Sohn hat, haben wir von Ihrem Bruder.«

»Von wem?«

»Von …« Krusenbaum sah Simon verunsichert an. »Schauen Sie, vielleicht sollten Sie erstmal mit dem reden.«

»Mit wem?«

»Na, Ihrem Bruder.«

»Ich habe keinen Bruder.«

»Herr Havlicek, das hatten wir doch schon, als es um Ihren Vater ging.«

»Na gut, wenn Ihnen das lieber ist: Ich weiß nichts von einem Bruder.«

»Laut meinen Unterlagen haben Sie aber einen. Oder vielmehr wahrscheinlich einen Halbbruder. Boris Petersen, Godeffroystraße 72, 22605 Hamburg.« Er stutzte. »Oh, die Adresse hätte ich jetzt gar nicht sagen dürfen.«

Simon starrte matt vor sich hin. Hotte legte ihm eine Pranke auf die Schulter. Das Schweigen im Raum wuchs an, bis es die Konsistenz von Gelee hatte.

»Okay …«, sagte Krusenbaum betreten. »Dann … gehe ich mal davon aus, dass Sie auch nichts von Ihrer … Schwester wissen?«

Simon stöhnte und schüttelte den Kopf. »Sie verarschen mich jetzt, oder?«

»Äh … nein. Die gibt es wirklich.«

»Der Name?«

»Äh …«

»Kommen Sie, Mann, dafür, mir den nicht zu sagen, ist es jetzt zu spät.«

»Viola.«

»Viola?« Simon lachte gequält auf. »Echt?«

»Ja. Wieso?«

»Nur so. Ich meine, mein Gott, da hat man plötzlich eine Schwester, und dann heißt die Viola. Das ist doch … Lebt die auch in Hamburg?«

»Nein. Sie studiert in Oxford.«

»Studiert? Wie alt ist sie? Und dieser Boris?«

»Das müssen Sie jetzt aber wirklich selbst herausfinden, Herr Havlicek.«

Simon schüttelte noch einmal den Kopf. Und dann den Rest des Körpers.

»Okay. Wie hoch ist der Anteil von meinem … Bruder?«

»Anteil?«

»An der Pflege von Herrn Petersen. Darum geht die Sause hier ja immer noch, nicht wahr?«

»Ihr Bruder beteiligt sich nicht.«

»Wie bitte?«

»Er hat über seine Anwälte nachgewiesen, dass er über keinerlei Einkünfte verfügt.«