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Die magische Anthologie bietet fünf bisher unveröffentlichte Geschichten zur Stadt-der-Finsternis-Reihe von Ilona Andrews.
Ein fragwürdiger Klient
Der Auftakt zur Stadt-der-Finsternis-Reihe erzählt von dem ersten Treffen zwischen Kate Daniels und dem zwielichtigen Saiman, bei dem Kate, Saiman vor einigen sehr gefährlichen russischen Zauberern schützen muss ...
Die Vergeltungsklausel
Die magischen Versicherungsvertreter Adam und Siroun haben den Auftrag, die Vergeltungsklausel einer Klientin zu vollstrecken: Die Person zu töten, die für den Tod ihrer Klientin verantwortlich ist ...
Von Schweinen und von Rosen
Nie hätte Alena Kornov gedacht, dass sie je auf ein Date mit Chad Thurman gehen muss. Als ihre Familie sie jedoch unter Druck setzt, hat sie keine andere Wahl, als der Verabredung zuzustimmen. Aber was dann geschieht, hätte sich Alena in ihren wildesten Träumen nicht ausmalen können.
Grace und die kleinen Zaubereien
Grace wusste immer, dass ihr das Zaubern im Blut liegt. Doch als sie sich den Anführer des Dreoch Clans trifft, findet sie sich plötzlich mitten in einem Krieg der magischen Klans wieder ...
Magische Prüfungen
Kate Daniels beauftragt Julie, ihre Schutzbefohlene, eine vermisste Studentin zu finden, die sich irgendwo auf dem Campus versteckt halten soll ...
"Ilona Andrews ist ein Garant für fesselnde Lesestunden!" Patricia Briggs
Anthologie zur Stadt-der-Finsternis-Reihe
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Seitenzahl: 281
ILONA ANDREWS
Verborgene Magie
Roman
Ins Deutsche übertragen von Bernhard Kempen
Die magische Anthologie bietet fünf bisher unveröffentlichte Geschichten zur Stadt-der-Finsternis-Reihe von Ilona Andrews.
Magische Prüfungen
Kate Daniels beauftragt Julie, ihre Schutzbefohlene, eine vermisste Schülerin zu finden, die sich irgendwo auf dem Schulgelände versteckt halten soll …
Ein fragwürdiger Klient
Der Auftakt zur Stadt-der-Finsternis-Reihe erzählt von dem ersten Treffen zwischen Kate Daniels und dem zwielichtigen Saiman.
Die Vergeltungsklausel
Die magischen Versicherungsvertreter Adam und Siroun haben den Auftrag, die Vergeltungsklausel einer Klientin zu vollstrecken: Die Person zu töten, die für den Tod ihrer Klientin verantwortlich ist …
Von Schweinen und von Rosen
Nie hätte Alena Kornov gedacht, dass sie je auf ein Date mit Chad Thurman gehen muss. Auf Drängen ihrer Familie, hat sie jedoch keine andere Wahl, als der Verabredung zuzustimmen.
Grace und die kleinen Zaubereien
Als Grace den Anführer des Dreoch Clans trifft, findet sie sich plötzlich mitten in einem Krieg der magischen Klans wieder …
Manchmal hat man es als Kind wirklich nicht leicht. Die Erwachsenen sollten uns versorgen und beschützen, aber dafür erwarten sie, dass wir die Welt aus ihrer Sicht wahrnehmen und nicht aus unserer eigenen. Sie ermutigen uns zu einer Meinung, und wenn wir sie kundtun, hören sie es sich zwar an, aber sie hören nicht auf uns. Und wenn sie uns vor eine Entscheidung stellen, geben sie uns immer nur eine Auswahl handverlesener Optionen, die sie bereits gefiltert haben. Egal, wofür wir uns entscheiden, die Hauptauswahl ist bereits getroffen, und wir waren nicht mit einbezogen.
So landeten Kate und ich schließlich im Büro des Direktors der Seven Stars Academy. Ich hatte ihr gesagt, dass ich nicht zur Schule gehen wollte. Sie hatte mir eine Liste mit zehn Schulen gegeben, von denen ich mir eine aussuchen sollte. Ich hatte die Namen der Schulen auf kleine Zettel geschrieben, sie ans Korkbrett gepinnt und eine Weile mein Messer darauf geworfen. Nach einer halben Stunde war Seven Stars der einzige Name, den ich noch lesen konnte. Die Entscheidung war getroffen.
Jetzt saßen wir auf gepolsterten Stühlen in einem hübschen Büro und warteten auf den Schuldirektor, während Kate ihre Willensstärke einsetzte. Bevor ich Kate begegnet war, hatte ich davon gehört, wusste aber nicht genau, was es bedeutete. Jetzt wusste ich es. Kate war die Partnerin des Herrn der Bestien. Somit hatten Curran und sie das Kommando über das riesige Gestaltwandlerrudel von Atlanta. Es war so groß, dass man es gemeinhin als »Das Rudel« bezeichnete. Gestaltwandler waren wie wandelnde Bomben: Ein kleiner Funke genügte, und sie explodierten mit brachialer Gewalt. Um nicht zu explodieren, stellten sie komplizierte Verhaltensregeln auf, und Kate musste häufig ihre Willensstärke einsetzen.
Sie tat es auch jetzt. Äußerlich wirkte sie völlig ruhig und gelassen, aber ich konnte es an ihrer Sitzhaltung erkennen. Wenn Kate entspannt war, zappelte sie herum. Sie rutschte auf dem Stuhl herum, warf ein Bein über das andere, neigte sich zur Seite und wieder zurück. Jetzt saß sie völlig regungslos da, die Beine in den Jeans standen nebeneinander, und sie hielt Slayer, ihr magisches Schwert, auf dem Schoß mit der einen Hand am Griff und der anderen an der Scheide fest. Ihr Gesicht war entspannt und beinahe abgeklärt. Ich konnte mir förmlich vorstellen, wie sie vom Stuhl direkt auf den Tisch sprang und dem Schuldirektor mit dem Schwert den Kopf abschlug.
Kate klärte Probleme gewöhnlich mit Reden, aber wenn das nichts half, zerhackte sie Hindernisse in kleine Stücke und brutzelte sie mit Magie, damit sie nie mehr zurückkehrten. Das Schwert war ihr Talisman, denn sie glaubte daran. Sie hielt es so, wie andere ein Kreuz oder den Stern mit Halbmond hielten. Ihre Philosophie war, dass alles, was einen Puls hatte, getötet werden konnte. Ich hatte eigentlich keine Philosophie, aber ich konnte vorhersehen, wie schwer ihr das Gespräch mit dem Schuldirektor fallen würde. Wenn er etwas sagte, was ihr nicht gefiel, würde es mir wohl kaum auf die Schule verhelfen, wenn sie ihn in kleine Stücke hackte.
»Was hältst du davon?«, fragte ich. »Wenn der Schuldirektor hereinkommt, ziehe ich meine Unterwäsche aus, lege sie mir auf den Kopf und tanze herum. Würde das was bringen?«
Kate sah mich an. Es war ihr knallharter Blick. Kate konnte einem wirklich Angst einflößen.
»Das wirkt bei mir nicht«, sagte ich zu ihr. »Ich weiß, dass du mir nichts antun wirst.«
»Wenn du mit deiner Unterhose auf dem Kopf herumhüpfen willst, werde ich dich nicht aufhalten«, sagte sie. »Es gehört zu deinen Grundrechten, dich zum Affen machen zu dürfen.«
»Ich will nicht zur Schule gehen.« Meine ganze Zeit an einem Ort zu verbringen, wo ich als arme Ratte, die von einer Söldnerin und einem Gestaltwandler adoptiert worden war, von den verwöhnten reichen Mädchen im Vorbeigehen verspottet wurde und wo mich hochnäsige Lehrer in Förderkurse stecken wollten? Nein, danke.
Kate setzte wieder ihre Willensstärke ein. »Du brauchst eine Ausbildung, Julie.«
»Du kannst mich unterrichten.«
»Das tue ich schon, und ich werde damit weitermachen. Aber du solltest noch etwas anderes lernen, abgesehen von dem, was ich dir beibringen kann. Du brauchst eine umfassende Bildung.«
»Bildung interessiert mich nicht. Ich arbeite gern im Büro. Ich will so arbeiten wie du und Andrea.«
Kate und Andrea leiteten Cutting Edge, eine kleine Agentur, die anderen bei der Entsorgung von magischen Gefahren half. Es war eine gefährliche Arbeit, aber ich mochte sie. Außerdem war ich bereits leicht verdorben. Ein normales Leben wie zur Schule zu gehen und eine regelmäßige Arbeit zu haben fand ich überhaupt nicht interessant. Ich konnte es mir nicht einmal vorstellen.
»Andrea ging sechs Jahre lang auf die Ordensakademie, und ich habe trainiert, seit ich gehen konnte.«
»Ich bin bereit zu trainieren.«
Mein Körper straffte sich, als hätte eine unsichtbare Hand meine Eingeweide zu einem Klumpen zusammengedrückt. Ich hielt den Atem an …
Die Magie überflutete die Welt mit einer unsichtbaren Woge. Die Geisterhand ließ mich los, und die Welt schimmerte in allen Farbschattierungen, als sich meine sensatorische Vision einstellte. Die Magie kam und ging, wie es ihr gefiel. Einige ältere Menschen erinnerten sich noch an die Zeit, als die Technik alles beherrscht und es keine Magie gegeben hatte. Aber das war lange her. Jetzt wechselten Magie und Technik sich ab wie zwei Kinder, die »Reise nach Jerusalem« spielten. Manchmal regierte die Magie, sodass Autos und Schusswaffen nicht funktionierten. Manchmal übernahm die Technik, und jeder Zauberbann verpuffte. Ich bevorzugte die Magie, denn im Gegensatz zu neunundneunzig Komma neun neun neun Prozent aller Leute konnte ich sie sehen.
Ich blickte zu Kate und setzte nur einen winzigen Tropfen meiner Gabe ein. Es war wie das Anspannen eines Muskels, die bewusste Anstrengung, sich etwas genau anzusehen. Eben noch saß Kate ganz normal da – oder so normal, wie Kate sein konnte –, und im nächsten Moment war sie von durchsichtigen Strahlen umhüllt. Bei den meisten Wesen glühte die Magie in einer bestimmten Farbe. Menschen strahlten blau, Gestaltwandler grün, Vampire rot-violett … Kates Magie wechselte die Farbe. Sie war mal blau und dunkelviolett, dann von einem perlmuttartigen Gold, das von roten Rauchfähnchen durchzogen wurde. Es war das Merkwürdigste, was ich je gesehen hatte. Als ich es zum ersten Mal wahrnahm, hatte ich mich total erschrocken.
»Du musst weiter zur Schule gehen«, sagte die freakige Kate.
Ich lehnte mich zurück und ließ den Kopf über die Rückenlehne des Stuhls hängen. »Warum?«
»Weil ich dir nicht alles beibringen kann und weil Gestaltwandler nicht deine einzige Bildungsquelle sein sollten. Du willst vielleicht nicht für immer bei den Gestaltwandlern bleiben. Später willst du sicher einmal deine eigenen Entscheidungen treffen.«
Ich stieß mit den Füßen gegen den Boden, sodass mein Stuhl ein wenig schaukelte.
»Ich versuche ja, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, aber du lässt mich nicht.«
»So ist es«, sagte Kate. »Ich bin älter, weiser und weiß es besser. Komm damit klar!«
Erziehung im tollen Kate-Daniels-Stil. Tu, was ich dir sage. Es folgte nicht einmal ein sonst. Sonst existierte nicht.
Ich schaukelte noch ein wenig hin und her. »Hältst du mich für deine Strafe Gottes?«
»Nein. Ich stelle mir Gott, falls es ihn gibt, lieber als gütig, nicht als rachsüchtig vor.«
Die Bürotür öffnete sich, und ein Mann kam herein. Er war älter als Kate, kahl, mit asiatischen Gesichtszügen, dunklen Augen und einem breiten Lächeln. »Ich teile diese Ansicht.«
Ich setzte mich aufrecht hin. Kate stand auf und reichte ihm die Hand. »Mr Dargye?«
Der Mann nahm ihre Hand an. »Nennen Sie mich bitte Gendun. Das ist mir lieber.«
Sie schüttelten die Hände und setzten sich. Die Rituale der Erwachsenen. Mein Geschichtslehrer in der alten Schule hatte uns einmal erzählt, dass Händeschütteln eine Geste des Friedens war – damit zeigte man, dass man keine Waffe hatte. Seit der Rückkehr der Magie war Händeschütteln eher ein Vertrauensvorschuss. Sollte ich dem Spinner die Hand geben und das Risiko eingehen, dass ich mich mit einer magischen Seuche infizierte, dass er Blitze in meine Haut schoss, oder sollte ich mich zurückhalten und unhöflich sein? Hm. Vielleicht kam Händeschütteln in Zukunft aus der Mode.
Gendun sah mich an. Er hatte Knopfaugen. Damals, als ich auf der Straße lebte, bedrängten wir Typen wie ihn, weil sie nett und weichherzig waren und man immer mit einem Almosen rechnen konnte. Dabei waren sie keineswegs naiv – sie wussten genau, dass ihnen, während wir weinend ihren Bauch umklammerten, unsere Freunde die Brieftasche klauten, aber sie gaben uns trotzdem zu essen. Das war einfach ihre Haltung gegenüber dem Leben.
Ich blinzelte, um die Farbe seiner Magie deutlicher zu sehen. Blassblau, fast silbern. Aus dem Glauben geborene göttliche Magie. Herr Gendun musste eine Art Priester sein.
»An welchen Gott glauben Sie?«, fragte ich. Als Kind konnte man sich solche direkten Fragen noch erlauben.
»Ich bin Buddhist.« Gendun lächelte. »Ich glaube an das menschliche Potenzial für Verständnis und Mitgefühl. Die Existenz eines allmächtigen Gottes ist möglich, aber bisher habe ich dafür keine Beweise gefunden. An welchen Gott glauben Sie?«
»An keinen.« Ich war einmal einer Göttin begegnet. Das hatte nicht für alle Beteiligten ein gutes Ende genommen. Götter brauchten Glauben, wie ein Auto Benzin brauchte. Daraus schöpften sie ihre Macht. Ich weigerte mich, ihre Motoren zu speisen.
Gendun lächelte. »Danke, dass Sie meinem Ersuchen so schnell nachgekommen sind.«
Ersuchen? Welches Ersuchen?
»Zwei Kinder des Rudels gehen auf Ihre Schule«, sagte Kate. »Das Rudel wird alles in unserer Macht Stehende tun, um Sie zu unterstützen.«
Hä? Moment mal. Ich dachte, es würde hier um mich gehen. Es war nie die Rede davon gewesen, dass die Schule uns um Unterstützung bat.
»Das ist Miss Olsen«, sagte Kate.
Ich lächelte Gendun an. »Bitte nennen Sie mich Julie. Das ist mir lieber.« Eigentlich hieß ich jetzt Julie Lennart-Daniels-Olsen, was blöd war. Wenn Kate und Curran heirateten, wäre es nur noch Lennart-Olsen. Bis dahin fand ich, dass Olsen reichte.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Julie.« Gendun lächelte und nickte mir zu. Er strahlte eine ziemlich seltsame Ruhe aus. Er wirkte irgendwie sehr … ausgeglichen. Er erinnerte mich an den Heilmagier des Rudels, Dr. Doolittle.
»Es gibt in der Stadt viele Schulen für die Kinder außergewöhnlicher Eltern«, sagte Gendun. »Seven Stars ist eine Schule für außergewöhnliche Kinder. Unsere Methoden sind unorthodox, und unsere Schüler sind einzigartig.«
Ui, eine Schule für ganz besondere Prinzesschen. Oder Monsterkinder. Je nachdem, wie man es betrachtete.
Die Magie beeinflusste nicht nur unsere Umgebung. Alle möglichen Leute, die früher normal und gewöhnlich waren, entdeckten an sich selbst neue und manchmal unliebsame Eigenschaften. Einige konnten Dinge erstarren lassen. Anderen wuchsen Pelz und Krallen. Und einige konnten die Magie sehen.
»Diskretion ist für uns von größter Wichtigkeit«, sagte Gendun.
»Trotz ihres Alters ist Miss Olsen eine erfahrene Agentin«, sagte Kate.
War ich das?
»Sie versteht die Notwendigkeit der Diskretion.«
Tatsächlich?
»Sie hat ein besonderes Talent, was ihr in diesem Fall sehr zugutekommen wird«, sagte Kate.
Gendun öffnete eine Mappe, nahm ein Foto heraus und schob es zu mir herüber. Ein Mädchen. Sie hatte ein hübsches, herzförmiges Gesicht, das von roten Locken umrahmt war. Ihre Augen waren grün, und ihre langen Wimpern waren so stark geschwungen, dass sie fast die Augenbrauen berührten. Sie sah so hübsch wie eine kleine Puppe aus.
»Das ist Ashlyn«, sagte Gendun. »Sie ist noch nicht lange an der Schule. Eine sehr gute Schülerin. Vor zwei Tagen ist sie verschwunden. Dem Lokalisierungszauber nach ist sie am Leben und hält sich hier auf dem Gelände auf. Wir wollten ihre Eltern benachrichtigen, aber sie sind gerade auf einer Reise und unerreichbar, ihre Notfallkontakte ebenfalls. Sie haben vierundzwanzig Stunden, um sie zu finden.«
»Was passiert nach vierundzwanzig Stunden?«
»Dann werden wir die Behörden benachrichtigen müssen«, sagte Gendun. »Ihre Eltern gaben uns in Bezug auf Ashlyn einen großen Spielraum. Sie ist ein sensibles Kind, und ihr Verhalten ist oft von dieser Sensibilität geprägt. Aber in diesem Fall sind uns die Hände gebunden. Wenn eine Schülerin vermisst wird, sind wir gesetzlich verpflichtet, es nach zweiundsiebzig Stunden zu melden.«
Es musste ohne Zweifel der Paranormal Activity Division der Polizei von Atlanta gemeldet werden. Die PAD war etwa so subtil wie ein außer Kontrolle geratener Bulldozer. Sie würden die Schule auseinandernehmen und alle ihre besonderen Prinzesschen so lange in die Mangel nehmen, bis sie in ihren Verhörzimmern zu Glibber zerschmolzen waren. Wie viele würden einknicken und etwas gestehen, das sie gar nicht begangen hatten?
Ich sah Kate an.
Sie zwinkerte mir zu. »Interessiert?«
»Wir würden Ihnen einen Besucherausweis geben«, sagte Gendun. »Ich werde mit den Lehrern reden, damit Sie Ihre Untersuchungen in Ruhe durchführen können. Wir haben Gastschüler, die die Schule erst einmal ausprobieren, sodass Sie nicht auffallen und die anderen Kinder nur minimal abgelenkt würden.«
Das war wieder einmal einer von Kates Tricks, um mich auf die Schule zu bekommen. Ich sah mir das Foto noch einmal an. Egal, ob es ein Trick war oder nicht, das Mädchen versteckte sich irgendwo. Vielleicht versteckte sie sich nur, weil sie einen Streich spielte, was aber höchst unwahrscheinlich war. Meistens versteckte man sich aus Angst. Das konnte ich nachempfinden. Ich hatte es schon häufiger mit der Angst zu tun bekommen. Das machte keinen Spaß.
Jemand musste sie finden. Jemand musste herausfinden, was geschehen war.
Ich zog das Foto näher zu mir heran. »Ich übernehme.«
*
Mein Schüler-Guide war ein dunkelhaariges Mädchen namens Brook. Sie hatte dünne Beine, knochige Arme und trug eine runde Brille, die ihr ständig von der Nase rutschte. Sie schob sie immer wieder mit dem Mittelfinger hinauf, was so aussah, als würde sie der ganzen Welt alle fünf Minuten den Stinkefinger zeigen. Ihre Magie bestand aus einem kräftigen Blau, der Farbe der menschlichen Fähigkeiten. Wir trafen uns im Empfangsbüro, wo man mich mit einem weißen Armband ausstattete. Das diente als Besucherausweis. Falls es Ärger geben würde, wären wir leicht zu erkennen.
»Okay, du folgst mir und fasst nichts an«, teilte Brook mir mit. »Die Sachen sind hier nach dem Zufallsprinzip gesichert. Auch Barka hat überall in der Schule kleine Ladungen von Magie hinterlassen. Wenn du es anfasst, kriegst du einen Schlag. Dann tun dir eine Stunde lang die Finger weh.«
»Ist Barka ein Schüler?«
»Barka ist ein Arsch«, erzählte mir Brook, während sie ihre Brille hochschob. »Komm mit.«
Wir stiegen die Treppe hinauf. Es klingelte, und das Treppenhaus füllte sich mit Kindern.
»Vier Stockwerke«, erklärte Brook. »Die Schule ist ein großes Quadrat mit dem begrünten Innenhof in der Mitte. Der Fußballplatz und andere Sportplätze liegen außerhalb des Quadrats. Im Erdgeschoss sind die Turnhalle, die Schwimmhalle, der Tanzsaal, die Aula und die Cafeteria. Im ersten Stock die Geisteswissenschaften: Literatur, Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Latein …«
»Kennst du Ashlyn?«, fragte ich.
Brook machte eine Pause, war durch die Unterbrechung kurz vom Kurs abgekommen. »Sie hat kein Latein.«
»Aber kennst du sie?«
»Ja.«
»Was ist sie für eine Schülerin?«
Brook zuckte mit den Schultern. »Sehr ruhig. Wir haben zusammen Algebra in der vierten Unterrichtsstunde. Zuerst dachte ich, sie könnte mir Konkurrenz machen. Man muss sich vor den Ruhigen in Acht nehmen.«
»Ist sie gut?«
»Nö.« Brook zog eine Grimasse. »Letzte Woche gab es die Zwischenzensuren. In Mathe hatte sie siebzehn Punkte. Sie ist nur in einem Fach gut, in Botanik. Man könnte ihr einen Besen geben, sie würde ihn in den Boden stecken, und es würde ein Apfelbaum wachsen. Ich hatte im letzten Semester Botanik, und sie war zwei Punkte besser als ich. Da hatte sie volle hundert Punkte. Da ist doch ein Trick dabei.« Brook straffte die Schultern. »Aber egal. Ich werde im nächsten Jahr Allgemeine Botanik belegen. Dann lasse ich sie hinter mir.«
»Du bist ein bisschen verrückt, weißt du das?«
Brook zuckte mit den Schultern und schob die Brille hoch. »Zweiter Stock, Magie: Alchemie, Zaubertheorie …«
»Hat sich Ashlyn über die siebzehn Punkte in Mathematik geärgert?« Vielleicht versteckte sie sich wegen ihrer Zensuren.
Brook hielt kurz inne. »Nein.«
»Hat sie sich keine Sorgen wegen ihrer Eltern gemacht?« Wenn ich auf meiner ehemaligen Internatsschule eine schlechte Note hatte, kam Kate vorbei, um mich zusammenzustauchen. Wenn ich Heimweh hatte, verhaute ich absichtlich eine Prüfung. Manchmal kam sie allein. Manchmal mit anderen. Mit jungen Typen. Die für mich überhaupt nicht infrage kamen, weil sie Idioten waren.
»Ich habe ihre Eltern am Familientag kennengelernt. Ich war im Empfangskomitee. Sie haben viel Ahnung von Erziehung«, sagte Brook. »Sie waren ihr nicht böse. Dritter Stock: Naturwissenschaften und Technik …«
»Habt ihr Schließfächer?«
»Nein. Wir haben Aufbewahrungsmöglichkeiten in unseren Schreibpulten in den Klassenzimmern.«
»Können wir uns Ashlyns Klassenzimmer ansehen?«
Brook starrte mich an. »Hör mal, man hat mich beauftragt, diese blöde Führung mit dir zu machen. Die kann ich nicht machen, wenn du mich andauernd unterbrichst.«
»Wie viele Führungen hast du schon gemacht?«
Brook starrte mich an. »Elf.«
»Und du hast es noch nicht satt?«
»Das ist unwichtig. Es wirkt sich gut auf meine Beurteilung aus.«
Genau. »Wenn du die Führung diesmal nicht machst, werde ich es niemandem verraten.«
Brook runzelte die Stirn. Der Gedanke brachte sie offensichtlich aus der Fassung. Ich schmiedete das Eisen, solange es heiß war. »Ich bin hier, um verdeckte Ermittlungen zu Ashlyns Verschwinden anzustellen. Wenn du mir hilfst, werde ich bei Gendun ein gutes Wort für dich einlegen.«
Brook war ziemlich verwirrt.
Na los, Brook. Du willst es doch auch.
»Gut«, sagte sie. »Aber du wirst Meister Gendun sagen, dass ich dir geholfen habe.«
»Unterstützung von unschätzbarem Wert«, sagte ich.
Brook nickte. »Komm. Ashlyns Klassenzimmer ist im ersten Stock.«
*
Ashlyns Klassenzimmer war ein Erdkunderaum. An den Wänden hingen Landkarten: die Welt, der amerikanische Kontinent, die USA. Am größten war die neue Karte des magieverseuchten Atlanta mit allen Neuerungen und gefährlichen Gegenden.
Ein paar Schüler hielten sich im Klassenzimmer auf und schlenderten in kleinen Grüppchen herum. Ich nahm mir eine Sekunde, um mir einen Überblick zu verschaffen, und schloss dann die Augen. Insgesamt neun Personen, rechts von mir zwei Mädchen, drei Jungen weiter hinten, ein Mädchen saß allein am Fenster, zwei Jungen besprachen etwas, und ein blonder Junge saß hinten allein im Zimmer. Ich machte die Augen auf. Mir war der dunkelhaarige Junge in der Ecke entgangen. Wenigstens wurde ich immer besser.
Brook blieb vor einem Holzpult stehen. Es war groß und poliert und bestand aus versiegeltem bernsteinfarbenen Holz. Sehr hübsch. In keiner der Schulen, die ich bisher besucht hatte, war es so nett gewesen.
»Das ist ihr Schreibpult«, sagte Brook.
Ich setzte mich auf Ashlyns Stuhl. Das Pult hatte eine große Schublade, die die ganze Breite einnahm. Ich versuchte sie vorsichtig zu öffnen. Verschlossen. Kein Problem. Aus dem Lederarmband an meinem linken Handgelenk zog ich einen Dietrich und schob ihn ins Schloss.
Der blonde Junge von hinten kam herbeigeschlendert und beugte sich über das Pult. Seine Magie war ein dunkles Indigoblau. Er war vermutlich ein urgewaltiger Magier. Er hatte kantige Gesichtszüge und blaue Augen, die besagten, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Mit solchen Typen kannte ich mich aus.
»Hallo. Was machst du da?«
»Verschwinde, Barka«, sagte Brook.
»Ich habe nicht mit dir geredet.« Der Junge sah mich an. »Was machst du da?«
»Ich tanze«, sagte ich zu ihm. Wer dumm fragt …
»Du brichst Ashlyns Schreibpult auf.«
»Siehst du, ich wusste doch, dass du klug genug bist, um selbst draufzukommen.« Ich zwinkerte ihm zu.
Barka sah Brook mit großen Augen an. »Was ist, wenn ich Walton davon erzähle? Das wäre ein Fleck auf deiner weißen Weste.«
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, schnauzte Brook ihn an.
»Wohl kaum«, sagte ich zu ihr. »Er will unbedingt sehen, was im Schreibpult ist.«
Barka grinste.
Das Schloss klickte, und die Schublade sprang auf. Sie war mit aufgereihten Äpfeln gefüllt. Mit großen Red Delicious, Golden Delicious, grünen Granny Smith und allen Formen und Farben dazwischen, jeder mit einem Sticker versehen und mit dem Namen beschriftet. Sogar eine Handvoll roter Johannisäpfel, so klein wie große Kirschen, lagen zwischen einem Cortland und einem Crimson Gold. Ich hatte keine Ahnung, dass es überhaupt so viele Apfelsorten gab. Keiner wies irgendwelche Anzeichen von Fäulnis auf. Alle sahen frisch und knackig aus.
Ich konzentrierte mich. Meine sensatorische Vision stellte sich ein. Die Äpfel glühten hellgrün. Das war etwas Neues. Ein gesundes Jägergrün wies gewöhnlich auf einen Gestaltwandler hin. Menschliche Magie äußerte sich in verschiedenen Blautönen. Die Magie der Tiere war gewöhnlich zu schwach, um von einer Maschine registriert zu werden, aber ich konnte sie gut erkennen – sie war gelb. Blau und gelb zusammen ergaben grün. Dieses besondere Grün hatte zu viel Gelb, um zu einem gewöhnlichen Gestaltwandler zu gehören.
Die meisten Gestaltwandler waren mit dem Lyc-V-Virus infiziert, wodurch sie sich in Tiere verwandeln konnten. Manchmal passierte es andersherum, und Tiere verwandelten sich in Menschen. Menschliche Were waren sehr selten, aber ich war schon einmal einem begegnet, und die Farbe passte auch nicht zu ihnen. Menschliche Were waren olivgrau, das hier war jedoch ein strahlendes Frühlingsgrün.
»Über welche Art von Magie verfügt Ashlyn?«
Brook und Barka sahen sich an. »Ich weiß nicht«, sagte Barka. »Ich habe sie nie gefragt.«
Was auch immer es war, sie pries es nicht groß an. Völlig verständlich. Die Farben der Magie erkennen zu können war für Polizeibeamte und Magier, im Grunde für jeden, der damit in Berührung kam, von unbezahlbarem Wert, sodass man eine magische Maschine erfunden hatte, den sogenannten M-Scanner, um es zu imitieren. Meine Magie war nicht nur selten, sondern außergewöhnlich. Ich war hundertmal präziser als jeder existierende M-Scanner. Aber in einem Kampf nützte es mir wenig, dass ich eine Sensate war. Wenn ich es überall ausplaudern würde, könnte es früher oder später jemand gegen mich verwenden, und dann müsste ich zu meinem Schutz andere Mittel als meine sensatorischen Fähigkeiten einsetzen. Es war einfacher, den Mund zu halten.
Ashlyn könnte magische Fähigkeiten haben, die zwar selten, aber im Kampf nicht nützlich waren.
Das erklärte immer noch nicht, warum sie von Äpfeln besessen war. Vielleicht benutzte sie sie, um ihre Lehrer zu bestechen. Aber dann hätte sie bessere Noten gehabt.
Das kleinere der drei Mädchen links von uns starrte mich an. Ihre Magie, die indigoblau strahlte, als ich hereinkam, bildete nun selleriegrüne Streifen aus. Normalerweise änderte sich eine magische Signatur nicht. Niemals. Außer bei Kate.
Ein Indiz?
Ich tat so, als würde ich mir die Äpfel ansehen. »Hat Ashlyn Feinde?«
Barka nahm einen Stift und rollte ihn zwischen den Fingern. »Nicht, dass ich wüsste. Sie ist ruhig. Ein Hingucker, aber ohne Persönlichkeit.«
Brook schob ihre Brille hoch. »Perversling.«
Das Mädchen kam einen Schritt auf uns zu. »Was macht ihr da?«
»Wir tanzen!«, sagte Barka.
Brook blickte nicht einmal in ihre Richtung. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Lisa.«
Lisa verzog den Mund zu einem missbilligenden, dünnen Strich, was bei ihrem Schmollmund etwas heißen wollte. Die Augenbrauen waren zu zwei schmalen Linien gezupft. Sie hatte unnatürlich gerades Haar mit einem strengen Scheitel, und ihre vollen Lippen schimmerten rosa … Lisa war offensichtlich der Ich-komm-schon-selbst-klar-Typ. Und sie war gut gekleidet. Mädchen wie sie hatten mir auf der alten Schule das Leben vermiest. Ich war nie genug gestylt, meine Kleider waren nie teuer genug, und ich schlenderte nie durch die Korridore, um zu vermitteln, dass ich etwas Besseres war.
Aber wir waren nicht in meiner alten Schule, und seitdem hatte sich vieles verändert. Außerdem mochte sie durchaus nett sein. Obwohl ich das irgendwie bezweifelte.
»Das dürft ihr nicht«, sagte Lisa viel zu laut.
Wenn ich sie knuffte, würde ihre Magie dann noch adriger werden? War adriger überhaupt ein richtiges Wort? »Ich suche Ashlyn«, sagte ich zu ihr.
»Sie ist tot«, verkündete Lisa und beobachtete den Raum aus den Augenwinkeln.
Sei unbesorgt, du hast die Aufmerksamkeit aller.
»Jetzt geht’s los«, murmelte Brook.
»Woher weißt du das? Hast du sie getötet?« Knuff-knuff.
Lisa hob das Kinn. »Ich weiß es, weil ich mit ihrem Geist gesprochen habe.«
»Ihrem Geist?«, fragte ich.
»Ja, mit ihrem Geist. Ihrem Gespenst.«
Nett, aber es gab keine Gespenster. Nicht einmal Kate war jemals einem begegnet. Ich hatte noch nie die Magie von Geistern gesehen, und ich hatte schon viele verkorkste Sachen erlebt.
»Hat ihr Gespenst dir erzählt, wer sie getötet hat?«, fragte ich.
»Sie hat sich das Leben genommen«, gab Lisa bekannt.
Brook schob ihre Brille hoch. »Mach dich nicht lächerlich. Dieser ganze Geisterglaube ist doch ein alter Hut.«
Lisa wippte auf den Fersen vor und zurück. Ihr Gesicht wurde ernst. »Ashlyn! Zeige dich, Geist.«
»So ein Unsinn«, sagte Barka.
»Zeige dich!«, rief Lisa.
Gelbgrüne Adern schossen durch ihre Magie und versprühten löwenzahngelbe Funken. Ui!
Das Schreibpult erbebte unter meinen Fingerspitzen. Die Stühle um mich herum klapperten.
Brook wich einen Schritt zurück.
Das Pult tanzte, sprang auf und ab. Die zwei Stühle links und rechts von mir schossen zur Decke, schwebten dort eine spannungsgeladene Sekunde lang und krachten hinunter.
Nett.
Lisa richtete den Blick auf mich. »Ashlyn ist tot. Ich weiß nicht, wer du bist, aber du solltest gehen. Du störst sie.«
Ich lachte.
Lisa drehte sich um und ging hinaus.
*
»Ist Lisa also eine Telekinetin?«, fragte ich.
Brook zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen. Aber nicht so. Die Sache mit den fliegenden Stühlen ist neu. Gewöhnlich kommt sie schon ins Schwitzen, wenn sie einen Stift über den Tisch schieben muss.«
Und diese neue Kraft hatte nicht zufällig etwas mit den hübschen gelbgrünen Strahlen in ihrer Magie zu tun? Auch Ashlyns Äpfel waren gelbgrün, hatten aber nicht den gleichen Farbton. Zwei merkwürdige magische Farben an einem Tag. Das war verdammt unglaublich, wie Kate sagen würde.
»Du gehst doch nicht etwa?«, fragte mich Barka.
»Natürlich nicht«, antwortete Brook ihm. »Die Führung ist noch nicht zu Ende.«
»Wenn man mich auffordert zu gehen, ist es der richtige Moment, um noch ein wenig zu bleiben«, sagte ich zu ihm. »Hatte Lisa irgendein Problem mit Ashlyn?«
»Lisa hat mit jedem Probleme«, sagte Brook. »Leute wie sie hacken gern auf einem herum, wenn man irgendwelche Schwächen hat, nur um sich besser zu fühlen.«
»Sie ist eine Niete«, fügte Barka hinzu. »Nun ja, sie ist offensichtlich eine Niete. Ihre Eltern sind beide Professoren auf der Magier-Akademie. Als sie aufgenommen wurde, machte sie viel Wind um die wichtigen magischen Gaben, die sie angeblich hatte.«
»Ich erinnere mich.« Brook zog eine Grimasse. »Jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte, ging es um ›die Magier-Akademie, wo mein Vater arbeitet‹, oder ›als ich das Labor meiner Mutter in der Magier-Akademie besuchte‹. Bäh.«
»Sie behauptete, über gewaltige Kräfte zu verfügen«, fügte Barka hinzu, »aber sie konnte nichts damit anfangen, abgesehen von kleineren telekinetischen Experimenten.«
»Dann hat man sich bestimmt über sie lustig gemacht?«, fragte ich.
»Daran ist sie selbst schuld«, erzählte Brook. »Hier haben nicht alle magische Superkräfte.«
»Wie Sam.« Barka zuckte mit den Schultern. »Wenn man ihm eine klare Glasscheibe gibt, kann er sie mit seiner Magie ätzen, sodass sie matt wird. Es ist cool, wenn man es zum ersten Mal sieht, aber es ist eigentlich nutzlos, und er beherrscht es nicht mal gut. Er hängt es aber auch nicht an die große Glocke.«
»Lisa hält sich für supertoll«, sagte Brook. »Sie fühlt sich auserkoren, während wir alle hier Arbeitssklaven sind, ist sie ein höheres Wesen. Niemand lässt sich gern so behandeln.«
»Wird sie schikaniert?«, fragte ich.
Barka zuckte wieder mit den Schultern. »Eigentlich nicht. Aber sie wird nie eingeladen, um einfach mal abzuhängen. Niemand will beim Essen neben ihr sitzen. Es ist reine Selbstverteidigung, denn sie hört nie zu, wenn man ihr etwas erzählt. Sie wartet nur darauf, um von ihren außergewöhnlichen Eltern zu erzählen. Vermutlich hat sie nun doch ihre Fähigkeiten entwickelt.«
»Passierte das während der Zeit, als Ashlyn verschwand?«
»Ja.« Barka verzog das Gesicht. »Auf einmal fing sie an, überall Ashlyns Anwesenheit zu spüren. Wer weiß, vielleicht ist Ashlyn wirklich tot.«
»Dem Lokalisierungszauber nach ist sie am Leben. Außerdem gibt es keine Geister«, erklärte ich.
»Und du kennst dich mit Geistern aus?«, fragte Brook.
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Gespenster wären vielleicht besser gewesen. Ich hatte ein unangenehmes Gefühl, dass hier was Schlimmes passiert war. Etwas ganz Schlimmes.
Ich könnte Kate anrufen und sie fragen, was die Ursache sein könnte, dass sich die Magie in zwei verschiedenen Farben zeigte. Die Farben waren weder vermischt, noch gingen sie von einer Farbe in die andere über, wie es bei Kate der Fall war. Sie waren verschieden. Getrennt. Gleichzeitig da, aber nicht vermischt.
Am Ende dieses Gedankens musste es eine Antwort geben, auf die ich einfach nicht kam.
Kate anzurufen kam nicht infrage. Dies war meine kleine Mission, und ich wollte sie auch selbst zu Ende bringen.
Ich versuchte wie Kate zu denken. Sie sagte immer, dass Leute der Schlüssel zu allen Geheimnissen waren. Irgendjemand hatte irgendetwas getan, was Ashlyn dazu brachte, sich zu verstecken, und Lisa wäre es lieber, ich würde sie nicht weitersuchen. »Hatte Ashlyn eine beste Freundin?«
Brook hielt für einen Moment inne. »Sie und Sheila hingen manchmal zusammen ab, aber meistens war sie allein.«
»Können wir mit Sheila reden?«
Brook stieß einen langen Seufzer aus. »Klar.«
»Geht ihr? Könntest du den kurz für mich halten, Brook?« Barka hielt Brook den Stift hin, den er zwischen den Fingern gerollt hatte. Sie nahm ihn entgegen. Helle Funken sprühten, Brook ließ den Stift fallen und schüttelte die Hand.
Barka lachte schallend.
»Idiot!« Brooks Augen funkelten wütend hinter ihrer Brille. Sie marschierte aus dem Klassenzimmer. Ich folgte ihr.
Wir gingen über den Korridor auf die Treppe zu.
»Er mag dich«, sagte ich.
»Ja, klar«, knurrte Brook.
Sheila war das genaue Gegenteil von Ashlyn. Während Ashlyn auf dem Foto wie ein niedliches kleines Mädchen aussah, war Sheila muskulös. Nicht männlich, aber wie gemeißelt. Wir erwischten sie im Umkleideraum, bevor sie zum Volleyball rausging. Man sah nicht oft Mädchen mit einem Sixpack.
Sie saß auf einer Holzbank neben der kleinen Holzkammer im Innern des Umkleideraums, auf der Sauna stand. Ich fragte mich, was Sauna bedeuten sollte. Es war ein erstklassiger Umkleideraum. Der Boden war gefliest, drei Duschen, zwei Toiletten, die »Sauna«, große Garderobenschränke. Die sauberen Fliesen rochen leicht nach Kiefer. Ein besonderer Umkleideraum für ganz besondere Prinzesschen.
»Keine Ahnung, warum Ashlyn so etwas Verrücktes durchgezogen hat.« Sheila zog ihre linke Socke an.
»Hat sie sich über irgendetwas Sorgen gemacht?«
»Sie wirkte etwas aufgeregt.«
»Hatte sie ein Problem mit Lisa?«
Sheila hielt mit dem Schuh an einem Fuß inne. »Lisa, die Niete?«
Okay, ich mochte Lisa zwar nicht. Aber wenn man mich so nennen würde, wäre auch ich verdammt sauer. »Lisa, die Ashlyns ›Anwesenheit‹ spürt.«
»Eigentlich nicht.« Sheila schüttelte den Kopf. »Einmal hinterließ jemand einen Pfotenabdruck auf Ashlyns Schreibpult. Sie hat sich wahnsinnig darüber aufgeregt.«
»Was für ein Pfotenabdruck?«
»Von einem Wolf«, sagte Brook. »Ich erinnere mich, dass sie ihr Schreibpult zehn Minuten lang geschrubbt hat.«
»Wie groß war der Abdruck, und wann ist es passiert?«
»Groß«, sagte Sheila. »Wie eine Schüssel etwa. Das war vor ungefähr einer Woche.«
So große Abdrucke könnten auf einen Gestaltwandler hinweisen, einen Werwolf, möglicherweise auf einen Werschakal oder einen Werkojoten.
»Wenn irgendjemand mit ihr ein Problem haben sollte, wäre es Yu Fong«, sagte Sheila.
»Er ist der einzige achtzehnjährige Zehntklässler hier«, sagte Brook. »Es ist der seltsame chinesische Junge.«
»Inwiefern seltsam?«
»Er ist eine Waise«, sagte Sheila. »Seine Eltern wurden ermordet.«
»Ich dachte, sie seien bei einem Autounfall umgekommen«, sagte Brook.
»Was auch immer passiert ist, ist passiert«, erklärte Sheila mir. »Aus irgendeinem Grund ist er nicht zur Schule gegangen. Ich habe gehört, dass er im Gefängnis war, aber wie auch immer. Jedenfalls kam er eines schönen Tages vorbei, sprach mit Meister Gendun und wurde als Schüler aufgenommen. Seine Einstufungstests waren gut genug, um in die zehnte Klasse zu kommen. Er ist gefährlich.«
»Sehr mächtig«, sagte Brook.
»Mega-magisch«, sagte Sheila. »Manchmal spürt man, wie es aus ihm herausströmt. Dann juckt meine Haut.«
Brook nickte. »Ich weiß nicht genau, über was für eine Magie er verfügt, aber sie ist bedeutsam. Es gibt drei weitere chinesische Jungen an der Schule, und sie folgen Yu Fong wie Bodyguards. Man kann nicht mal mit ihm reden.«
»Und Ashlyn hatte ein Problem mit ihm?« Ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, dass Ashlyn mit diesem Typen absichtlich Streit anfangen wollte.
»Sie hatte schreckliche Angst vor ihm«, sagte Sheila. »Er versuchte einmal mit ihr zu reden, aber sie rastete aus und rannte weg.«
Also gut. Dann würde ich mir als Nächstes diesen mysteriösen Yu Fong vorknöpfen.
*
Die Suche nach dem »seltsamen chinesischen Jungen« führte uns in die Cafeteria, wo dieser Mega-Magier laut Brook in der zweiten Gruppe zu Mittag aß. Brook ging voran. Ich folgte ihr durch die Doppeltür und blieb stehen. Ein großes Dachfenster ließ Sonnenlicht in den riesigen Saal, der mit runden Metalltischen und verzierten Stühlen möbliert war. An der entfernten Wand breitete sich der Buffet-Tisch aus, hinter dem mehrere Kellner in Weiß standen. Nobel!
Die Schüler nahmen ihre Teller entgegen und trugen sie an verschiedene Tische. Einige saßen da und redeten. Rechts lachten mehrere Stimmen gleichzeitig.