Verboten Zauberhaft - Tanja Penninger - E-Book

Verboten Zauberhaft E-Book

Tanja Penninger

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Beschreibung

Im ersten Dienstjahr an der Crowbeak Zaubereiakademie wird die junge Professorin Aurora Marci wegen illegaler Aktivitäten fristlos entlassen. Sie nimmt eine Stelle als Hauslehrerin in Shadow Hall an und kommt ihrem attraktiven Arbeitgeber William De Clare näher. Doch schon bald stellt Aurora fest, dass in Shadow Hall seltsame Dinge vor sich gehen und William mehr als nur ein Geheimnis vor ihr verbirgt. Ist er der Werwolf, vor dem sich die Stadtbewohner fürchten?

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Danksagung

Tanja Penninger

 

VERboten ZAUBERhafT

 

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen. VERboten ZAUBERhafT

 

 

Copyright

© 2024 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben werden.

 

Lektorat und Korrektorat: Lara Späth

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von rawpixel

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

Für alle, die Magie in ihrem Leben spüren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Teil 1: Gegenwart – Shadow Hall

Kapitel 1

 

Ankunft in Shadow Hall

 

Rums. Wieder hatte der Kutscher eine Senke übersehen. Mit voller Wucht prallte ich gegen das Fenster und zerknitterte dabei den Bewerbungsbogen in meinen Händen. Ich strich die Seite glatt und rückte meinen verrutschten Hut zurecht.

»Entschuldigen Sie!« Mit der Rückseite meines Zauberstabs klopfte ich gegen die Trennwand zwischen uns. »Ob Sie wohl vorsichtiger fahren könnten, Sir?«

Der Kutscher räusperte sich. »Wir sind nicht in London, Schätzchen. Nach Shadow Hall gibt es nur diese Waldstraße.«

Schätzchen. Ich zupfte die Rüschen an meinem Rock zurecht. »Nennen Sie mich Miss Marci.«

»Nun, Miss Marci, was führt eine Lady wie Sie nach Shadow Hall?« Der Kutscher warf einen Blick durch das Guckloch. »Haben Sie von den Gerüchten gehört?«

Ich straffte meine Schultern. »Klatsch und Tratsch interessieren mich nicht. Ich bewerbe mich für die Stelle als Hauslehrerin für Mr. De Clares Nichten.«

»Was unterrichten Sie denn?«

Ich grinste, legte die Bewerbungsunterlagen zur Seite und verstaute meinen Zauberstab in meinem Stiefel. »Das übliche. Mathematik, Sprachen, Geschichte, Geografie und die schönen Künste.«

»Wozu der Besen?«

»Ein Familienerbstück.« Ich strich mit meiner behandschuhten Hand über Lavenders Stiel. Es war äußerst bedauerlich, dass mir das Fliegen in Numagic-Gebieten verboten worden war. Als wäre ich nicht imstande, meinen Hexenbesen und mich für Numagics, also Nichtmagische, unsichtbar zu machen …

»Hm«, machte der Kutscher. Mehr wollte er nicht wissen. Mit seinem Gerede über Gerüchte hatte er mich neugierig gemacht. Allerdings konnte ich mir vorstellen, wovon diese handelten. Ich bückte mich und steckte die Bewerbungsunterlagen in meine Tasche.

Eine Rauchwolke schlug mir entgegen. Ich hustete und wedelte mit der Hand, um den Qualm zu vertreiben.

»Halte durch, Draco«, flüsterte ich und streichelte den kleinen grünen Drachen in meiner Tasche. Ich konnte ihm seinen vorwurfsvollen Blick nicht verdenken. Seit über fünf Stunden musste sich Draco verstecken und durfte keinen Mucks von sich geben. Auch das Fliegen auf Drachen war mir bis auf Weiteres in vielen Numagic-Gegenden untersagt worden. Ansonsten wäre ich schon längst in Shadow Hall angekommen.

Ich stupste gegen Dracos Schnauze. »Wie sehe ich aus? Kann ich mich dem feinen Herren so zeigen?« Draco schnaubte wieder und hielt mir meinen Taschenspiegel hin.

»Danke.« Ich öffnete ihn und warf einen prüfenden Blick auf mich. Alles in Ordnung. Das Puder verdeckte meine Sommersprossen und meine roten Locken kringelten sich unter dem Reisehut. Sehr schick.

Ich legte den Spiegel in die Tasche zurück und schaute aus dem Fenster. Der Vollmond schimmerte durch die Baumwipfel und tauchte den Wald in ein schauriges Licht. Die Umrisse der Bäume erinnerten mich an Schattenmonster, die nach mir greifen wollten. Gierig streckten sie ihre Äste nach mir aus.

Schnell riss ich den Vorhang zu.

Nein, sie würden mich nicht zu fassen bekommen. Sie nicht und auch nicht die dunkle Hexe – so sehr sie es auch versucht hatte.

Ich verdrängte die Gedanken an das letzte Schuljahr. Es hatte keinen Sinn, zurückzuschauen. Was geschehen war, war geschehen. Nun wollte ich mich auf die Zukunft konzentrieren.

Ob ich in der Kutsche eine Kerze entzünden konnte, um zu lesen? In der Gegenwart eines Numagics durfte ich kein Licht herbeizaubern.

»Nutzen Sie den Mondschein«, antwortete der Kutscher auf meine Frage. »Ich dulde hier kein offenes Feuer und Öllampe habe ich keine dabei.«

»Ich verstehe.« Ich zog den Vorhang auf und kramte meine Lektüre über Angriffs- und Verteidigungsmagie hervor. Zum Glück hatte ich noch eine der letzten Ausgaben erwischt, in der die praktische Anwendung der Zauber erklärt wurde. Anders als ein Teil meines ehemaligen Kollegiums war ich sehr wohl der Meinung, dass junge Hexen und Hexer diese Zauber ausführen können sollten. Besonders nach allem, was mit Henry Snider geschehen war.

Die Kutsche schaukelte. Mir fiel das Buch aus der Hand. Mit zusammengepressten Lippen hob ich es auf. Diesmal verkniff ich mir einen Kommentar. Ich rückte näher an das Fenster heran, um die Schrift besser lesen zu können. Das stete Traben der beiden Pferde beruhigte mich und schon bald war ich in meine Lektüre versunken. So lange, bis die Tiere plötzlich scheuten. Sie wieherten und scharrten mit den Hufen.

»Brr!«, machte der Kutscher und schnalzte mit der Zunge. »Ruhig, ruhig!«

Ich steckte den Kopf durch das Fenster. »Was ist los?«

Für einen Moment musste ich an die Worte einer Gastwirtin denken, die mich vor meiner Weiterreise nach Shadow Hall vor Landstreichern im Wald gewarnt hatte. Instinktiv klappte ich das Buch zu, zog meinen Rock ein Stück hoch und wanderte mit einer Hand zu meinem Stiefel. »Gibt es ein Problem?«

Der Kutscher ließ seine Peitsche zweimal knallen. Die Pferde hörten auf zu wiehern. »Alles in Ordnung, Miss Marci. Wahrscheinlich ist eine Ratte oder so über den Weg gelaufen. Deren Augen leuchten in der Nacht und erschrecken die Viecher.«

Also keine Banditen. Ich atmete durch, rückte meinen Rock zurecht und schlug das Buch wieder auf. Die Pferde trabten weiter und die Räder setzten die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung. Ein letztes Mal schaute ich aus dem Fenster. In diesem Augenblick blitzten zwischen den Bäumen zwei rote Punkte hervor. Mein Herz machte einen Satz. Die Umrisse eines Tieres schälten sich aus der Dunkelheit. Das war mit Sicherheit keine Ratte!

Die Pferde liefen schneller, das Tier verschwand aus meinem Sichtfeld. Hastig streckte ich den Kopf aus dem Fenster und schaute zurück. Die Umrisse und die roten Punkte waren weg.

Ein großes Tier mit roten Augen? Hier im Numagic-Gebiet? Ich schüttelte den Kopf. Unmöglich. Das musste ich mir eingebildet haben. Ich schob die Haarsträhnen, die aus meiner Steckfrisur unter dem Hut gerutscht waren, hinters Ohr und las weiter.

Eine Stunde später brachte der Kutscher die Pferde erneut zum Stehen. Ich schaute aus dem Fenster und runzelte die Stirn. Wir waren noch immer im Wald.

»Ich muss mal«, ließ mich der Kutscher wissen. »Wenn Sie wollen, können Sie sich in der Zwischenzeit die Beine vertreten.«

Eigentlich keine schlechte Idee. Meine Glieder waren steif wie Baumstämme. Ich legte das Buch auf die Bank neben Lavender, vergewisserte mich, ob es Draco gut ging und kletterte aus der Kutsche.

»Ah!«, machte ich, als meine Stiefel am Forstweg aufkamen. Ich streckte mich und wiegte den Kopf hin und her, um meinen Nacken zu entspannen. Über mir leuchtete der Vollmond. Ich lächelte. Morgen früh würde ich endlich in Shadow Hall ankommen und mich bei Mr. De Clare vorstellen. Er war der Einzige gewesen, der auf meine Bewerbungsbriefe geantwortet hatte. Vermutlich hatte er noch nicht gehört, was letztes Schuljahr in der Crowbeak Academy geschehen war. Ansonsten hätte er wohl, genau wie alle anderen, meine Anfrage ignoriert.

Ich schlenderte einmal um die Kutsche herum und blieb bei den Pferden vorne stehen.

»Na, ihr zwei?« Ich streichelte die Tiere und dachte daran, wie ich als Kind auf meinem Pferd über die Wiesen und Felder galoppiert war. Schon damals hatte ich gehofft, eines Tages eine Drachenreiterin zu sein. Vor zwei Jahren hatte ich die Ausbildung in Rumänien gemacht und seither Draco als meinen Freund und Begleiter immer an meiner Seite. Die Bedingung für einen eigenen Drachen außerhalb der rumänischen Drachenberge war jedoch, ihn zu schrumpfen. So erregte er weniger Aufmerksamkeit und brauchte weniger Futter. Zum Fliegen durfte er seine tatsächliche Größe annehmen. Selbstverständlich nur außerhalb von Numagic-Gebieten.

Auf einmal schnaubten die Pferde und wieherten laut. Ich wich zurück. Die Tiere bäumten sich auf und scharrten mit ihren Hufen.

»Was habt ihr?« Ich schaute mich um und erblickte den Kutscher, der aus dem Wald zurückkam. Er hatte eine Pistole in der Hand und zielte damit auf mich. Mir wurde heiß und kalt.

»Wollen Sie mein Geld?« Ich hob die Arme.

Der Kutscher lachte. »Ich möchte …«

Was, erfuhr ich nicht. Sein Blick wanderte zur Seite und er riss die Augen auf. Von einer Sekunde auf die andere entglitten ihm die Gesichtszüge. Seine Mundwinkel sackten nach unten und seine Nasenflügel blähten sich. »Was zum Teufel …?«

Er hob die Pistole und schoss seitlich an mir vorbei. Der Knall dröhnte in meinen Ohren und aus dem Lauf der Waffe kam Rauch. Die Pferde wieherten und rannten los.

Schnell sprang ich aus dem Weg. Dabei stolperte ich über eine Wurzel und landete auf meinem Hintern. Den Schmerz, der daraufhin in meinem Rücken explodierte, verbiss ich mir. Hektisch zerrte ich meinen Rock zur Seite und zog meinen Zauberstab. Ich richtete ihn auf die Pferde. Dass ein Numagic anwesend war, war mir in diesem Moment egal. »Prohibere!«

Abrupt blieben die Tiere stehen. Ich wandte mich dem Kutscher zu. Die Hand, mit der er die Pistole hielt, zitterte.

»Bleib weg von mir!«, schrie er. Er meinte nicht mich. Seine Aufmerksamkeit galt irgendjemandem hinter mir. Meine Handinnenflächen schwitzen. Ich atmete hektisch. Mein Mieder spannte sich eng um meine Brust. Ich umklammerte meinen Zauberstab fester und drehte mich um.

Da waren sie wieder. Die roten Punkte. Die roten Augen.

Das Tier versteckte sich halb hinter einem Baum. Ich erkannte nicht, worum es sich handelte. Da knurrte es plötzlich und sprang hervor. Ein Wolf! Ich schrie. Der Kutscher ließ die Pistole fallen.

»Prohibere!«, rief ich wieder. Diesmal ging der Zauber daneben. Ich sah nur noch, wie der Kutscher Hals über Kopf in den Wald flüchtete und ihm der Wolf nachjagte.

Mein Herz klopfte so wild, dass mir das Atmen schwerfiel. Das konnte unmöglich ein normaler Wolf gewesen sein! Allerdings waren wir in einem Numagic-Gebiet. Hier gab es nur Normales. Ich rappelte mich auf und lief ebenfalls in den Wald hinein.

»Lux!« Ich schwang meinen Zauberstab und seine Spitze leuchtete auf. Sofort schaute ich mich in alle Richtungen um. Nichts. Ich blieb stehen.

»Sir?«

Ich lauschte. Erst hörte ich nur meinen eigenen Atem. Dann den Ruf eines Käuzchens. Ein Knacken im Unterholz. Und dann ein Wimmern. Ich eilte los und entdeckte den Kutscher. Er lag am Boden. Seine Weste war zerfetzt und blutüberströmt. Mir wurde schwindlig.

»Sir!« Ich kniete mich hin und beugte mich über ihn. Sofort fiel mir die gewaltige Kratzspur quer über seinen Oberkörper auf.

Der Kutscher schaute mich durch glasige Augen an. »Sie … Sie sind eine … eine Hexe?«

Drei rasselnde Atemzüge später war er tot. Mein Brustkorb war wie zugeschnürt. Ich fühlte mich wie gelähmt. Was sollte ich jetzt tun? Bestimmt würde es vor meinem potenziellen neuen Arbeitgeber kein gutes Bild abgeben, wenn ich beim Vorstellungsgespräch mit einer Leiche auftauchte. Liegen lassen konnte ich den Mann auch nicht. Ich zeigte mit meinem Zauberstab auf ihn.

»Aliquet!« Die Leiche des Kutschers schwebte nun einen Meter über dem Waldboden in der Luft vor mir her. Auf diese Art brachte ich sie zur Kutsche und bettete sie auf die Bank, auf der ich zuvor gesessen hatte. Lavender und meine Tasche stellte ich nach vorne auf den Kutschbock. Dann rannte ich zurück und hob die Pistole vom Boden auf. Ich hatte keine Ahnung, wie ich eine solche Waffe halten musste oder ob sie noch geladen war. Da ich mich jederzeit mit meinem Zauberstab verteidigen konnte, hatte ich es nie für nötig gehalten, den Umgang mit Schusswaffen zu üben.

Kurzerhand packte ich die Pistole in ein Seitenfach meiner Tasche und schwang mich auf den Kutschbock.

»Prohibere finis. Lux finis.« Das Licht erlosch. Ich steckte den Zauberstab in meinen Stiefel und griff nach den Zügeln. Meine Finger zitterten noch immer.

Die Pferde erwachten aus ihrer Starre. Schnell schnalzte ich mit der Zunge und trieb sie zum Weiterlaufen an, ehe sie sich an die Schrecksekunde zuvor erinnerten und durchgingen.

Nach ein paar Minuten holte ich Draco aus der Tasche und setzte ihn an seinen üblichen Platz auf meiner rechten Schulter. Mit den Rauchzeichen, die aus seinen Nüstern kamen, gab er mir deutlich zu verstehen, dass er meine Idee, die Leiche des Kutschers mitzunehmen, missbilligte.

Ich seufzte. »Wenn ich ihn liegen gelassen hätte, hätte ihn der Wolf vielleicht noch bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Draco seine Flügel ausbreitete. Er flog eine Runde um meinen Kopf und setzte sich wieder auf meine Schulter. Dann schnaubte er. Rauch stieg auf. Ich begriff sofort, was er meinte. »Du hast die Kratzspur doch auch gesehen. Ich kann nur hoffen, dass es ein gewöhnlicher Wolf gewesen ist.«

Den Rest der Reise verbrachten wir schweigend. Der Vollmond wich dem Morgenrot, aus Nacht wurde Tag, und als die ersten Sonnenstrahlen am Himmel aufblitzten, hatten wir Shadow Hall erreicht.

 

 

Viel wusste ich nicht über das Anwesen. Nur, dass es seit Generationen im Besitz der Familie De Clare war. Das Tor zur Einfahrt stand offen. Ich fuhr näher darauf zu und staunte. Shadow Hall war ein prächtiges Gebäude in gotischem Stil, das den Namen Villa mehr als verdiente. Ich entdeckte unzählige Türme und Erker, bodentiefe Spitzbogenfenster sowie elegante Säulen. Das Gemäuer war aus dunklem Stein gefertigt, was dem Anwesen etwas Mystisches verlieh. Silbriger Nebel waberte über der taufeuchten Wiese. Es war, als würde Shadow Hall ein geheimer Zauber umgeben.

Ich brachte die Pferde in der Einfahrt zum Stehen, griff nach meiner Tasche, sprang vom Kutschbock und schritt die Treppen zum Eingang empor. Sofort sprang mir der Türklopfer in Form eines Wolfkopfes ins Auge. Vielleicht war meine Begegnung mit diesem Tier also gar nicht ungewöhnlich gewesen. Möglicherweise gab es hier viele Wölfe. Sehr gut. Umso leichter würde es mir fallen, die Leiche in der Kutsche zu erklären.

Dreimal betätigte ich den Türklopfer, dann wartete ich. Es dauerte nicht lange und ein hagerer älterer Herr im Anzug öffnete. »Miss Marci?«

Ich nickte und lächelte. Dass ich erwartet wurde, war ein gutes Zeichen.

»Mein Name ist Mortimer. Ich bin Mr. De Clares Butler.« Der Mann verzog keine Miene. Keine Ahnung, ob er mein Erscheinen guthieß oder ob es ihm herzlich egal war. »Der Lord erwartet Sie bereits. Folgen Sie mir. Ich kümmere mich um Ihr Gepäck.«

Der Lord. In seinen Briefen hatte Mr. De Clare den Titel unerwähnt gelassen und in der Stellenanzeige hatte er nicht gestanden. War mein potenzieller neuer Arbeitgeber etwa von adeliger Herkunft? Ich hätte mich informieren sollen! Zu spät. Jetzt hatte ich andere Sorgen.

»Was das Gepäck betrifft …« Ich biss mir auf die Lippen.

Mortimer hatte mir schon den Rücken zugewandt und drehte sich wieder um. »Ja?«

Draco, der nach wie vor auf meiner Schulter saß, schnaubte. Es nervte ihn, dass ich nicht schneller mit der Sprache herausrückte.

Mortimer runzelte die Stirn. »Gibt es ein Problem mit dem Gepäck, Miss?«

Ich holte tief Luft. »Würden Sie einen Toten als Problem bezeichnen?«

Daraufhin erzählte ich dem Butler, was auf meiner Anreise geschehen war. Ich berichtete von dem Wolf und davon, wie ich die Leiche des Kutschers im Wald entdeckt hatte. Zu meiner Verwunderung zuckte Mortimer nicht einmal mit der Wimper.

»In dieser Gegend kommt es manchmal zu Wolfsangriffen«, meinte er nur. »Ein Glück, dass Ihnen nichts widerfahren ist.«

Ich blinzelte. Es war seltsam, dass Mortimer meine Schilderung einfach so hinnahm, ohne Fragen zu stellen. Er kannte mich nicht und fand es nicht weiter tragisch, dass ich mit einer Leiche in der Kutsche zum Vorstellungsgespräch erschienen war?

»Folgen Sie mir. Ich kümmere mich um alles.« Mit diesen Worten marschierte der Butler voraus und lotste mich durch die Eingangshalle in ein Büro. Auf dem Schreibtisch lagen allerlei Papiere, Karten und Dokumente ordentlich gestapelt neben einem Tintenfass. In der Mitte des Raumes war ein goldener Globus aufgebaut und die Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt.

Mortimer wies auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich, Miss Marci. Hätten Sie gerne einen Tee oder Kaffee?«

»Tee bitte.«

»Sehr wohl.«

Der Butler verneigte sich vor mir und verließ das Arbeitszimmer. Ich stieß einen Schwall Luft aus, ließ mich auf den Stuhl fallen und nahm meinen Reisehut ab. Ich legte ihn auf den Schreibtisch. Ein Blick auf meine Schuhe verriet, dass ich den Schmutz auf dem Teppichboden zu verantworten hatte. Ich stöhnte und prustete mir verirrte Strähnen aus dem Gesicht.

Es dauerte keine drei Minuten, da kam Mortimer schon zurück. Er stellte mir eine Teetasse samt Untersatz aus feinstem Porzellan auf das Beistelltischchen neben dem Schreibtisch. Dann versicherte er mir, dass Mr. De Clare in Kürze Zeit für mich hätte und ging.

Draco breitete seine Flügel aus.

»Mach nichts kaputt!«, mahnte ich mit erhobenem Zeigefinger. Dabei stellte ich fest, dass meine Handschuhe schmutzig waren. Ich zog sie aus und stopfte sie in meine Tasche zu der Pistole.

Nachdem mich Mr. De Clare noch warten ließ, nippte ich an meinem Kräutertee und schaute mich im Raum um. Offenbar war der Mann äußerst ordnungsliebend. Die Bücher waren nach ihren Autoren sortiert, die Teppichfransen gebürstet und der Globus glänzte, als wäre er eben poliert worden. Ich betrachtete den Schreibtisch. Bis auf die Dokumente und das Tintenfass stand nur noch ein Fotorahmen herum. Kurzerhand stellte ich die Teetasse ab. Ich wollte sehen, wessen Bild in dem Rahmen war, erhob mich und beugte mich vor. Dabei stieß ich gegen meinen Reisehut, der wiederum gegen das Tintenfass krachte. Das Fass fiel um und die Tinte verteilte sich über das oberste Papier.

»Verflixt!«

»Begrüßt man sich heutzutage so in Crowbeak?«

Hastig stellte ich das Tintenfass auf und drehte mich um. Ein dunkelhaariger Mann in schwarzem Anzug stand in der Tür. An seinen Lippen zupfte ein Grinsen und seine Augen strahlten. »Sie müssen Miss Aurora Marci sein.«

»Ja …« Ich zeigte auf die schwarzen Flecken auf dem Papier. »Es … Es tut mir leid. Für gewöhnlich bin ich nicht so ungeschickt.«

Der Mann, der vermutlich Mr. De Clare war, lachte. »Für gewöhnlich bekomme ich auch keine Leiche als Gastgeschenk. Sehr kreativ, das muss ich Ihnen lassen.«

»Ich bin kein Gast.«

»Und ich kein Bestatter.«

Draco schnaubte und ließ sich auf meiner Schulter nieder. Seine Rauchwolken waren eindeutig: Er lachte mich aus, weil nicht er, sondern ich etwas kaputt gemacht hatte. Oder zumindest beschmutzt.

Wortlos starrte ich Mr. De Clare an. So hatte ich mir den Beginn meines Vorstellungsgesprächs nicht vorgestellt. Was sollte ich jetzt sagen? Die Situation lief aus dem Ruder.

»Schon gut.« Der Mann lachte. »Jetzt schauen Sie nicht so verzweifelt. Ich bin William De Clare, wie Sie bestimmt schon geahnt haben. Nehmen Sie bitte Platz.« Er zeigte auf den Stuhl, an dessen Lehne ich mich klammerte.

Er griff in die Innentasche seines Sakkos und holte einen Zauberstab hervor. Im Unterschied zu meinem war seiner pfeilgerade und aus Hartholz gefertigt. »Tersus Sursum.«

Ich drehte mich um und sah zu, wie die Tintenflecke nach und nach verschwanden. In der Zwischenzeit hörte ich, dass Mr. De Clare die Tür schloss und auf die andere Seite des Schreibtisches zusteuerte. Wir nahmen uns gegenüber Platz und schauten uns an. Dicke schwarze Ringe lagen unter seinen Augen. Hatte er keinen Schlaf bekommen?

»Also …« Mr. De Clare zog den Papierstapel zu sich heran und nahm ein Dokument heraus. Ich erkannte es. Scheinbar hatte sich Mr. De Clare in der Akademie nach mir erkundigt. Es war ein Durchschlag meiner Kündigung. »Sie wurden in Crowbeak entlassen, weil Sie behauptet haben, die dunkle Zauberin wäre zurück?«

Ich sackte in mich zusammen. Offenbar wollte er gleich mit dem Thema beginnen. Mr. De Clare rieb sich über das Kinn. »Wie kommen Sie dazu, das zu behaupten? Jenna Veluso ist seit fünfundzwanzig Jahren tot.«

Mir entglitt ein Schnauben. Schnell riss ich mich zusammen und räusperte mich dreimal, um meinen Ausbruch als Frosch im Hals zu tarnen. Der Lordkanzler hatte mich eine Lügnerin und eine Straftäterin genannt. Daraufhin war der Schulleiterin nichts anders übriggeblieben, als mich nach nur einem Dienstjahr zu kündigen.

Ich setzte mich kerzengerade auf. »Warum ich das behaupte? Jenna Veluso hat mich entführt und ich habe mich persönlich mit ihr unterhalten.«

»Worum ging es?«

Alles in mir zog sich zusammen. Plötzlich kam es mir vor, als würde ich wieder gefesselt in diesem Raum sitzen. Ich bewegte meine Schultern und schüttelte kurz die Hände.

»Sie warb Sie als Anhängerin an, richtig?« Mr. De Clares Stimme war sanft. Das Gefühl, gefangen zu sein, ebbte ab.

Ich nickte. »Als Mitglied ihrer Bewegung.«

»Warum wollte die dunkle Zauberin ausgerechnet Sie?«

»Weil ich die Beste auf meinem Gebiet bin. Derselbe Grund, weshalb Sie mich wollen.« Hoffentlich jedenfalls.

Mr. De Clare schmunzelte. In seinen Augen blitzte etwas auf, das ich nicht deuten konnte. Viel zu schnell wurde er wieder ernst und schaute auf den Durchschlag meiner Kündigung. »Hier steht, Sie hätten Schüler zu Straftaten angestiftet.«

Ich biss mir auf die Lippen, um einen abfälligen Laut zurückzuhalten. »Ich habe sie unterrichtet. In meinem Fach. Sie hatten Angst und haben sich mir anvertraut. Ein paar Schüler hatten Visionen von der dunklen Zauberin.«

»Visionen?« Mr. De Clare legte das Dokument weg, verschränkte die Arme auf dem Schreibtisch und beugte sich ein Stück zu mir herüber. Der Duft seines Rasierwassers kroch in meine Nase.

»Ja, Visionen. Ein Schüler war davon besonders betroffen.«

»Wo ist der Schüler jetzt?« Ich schluckte und starrte auf meine Hände im Schoß. Aus Nervosität hatte ich mir schon zwei Fingernägel eingerissen. Ich dachte an Henry. Seit Wochen hatte ich ihn nicht gesehen.

Seufzend hob ich den Kopf. »Er ist inzwischen ein Numagic.«

Mr. De Clare nickte nachdenklich. »Ihm wurden seine Erinnerungen genommen.«

Ich schloss für einen Moment die Augen. Der Gedanke daran versetzte mir einen Stich. »Ein Beschluss des Lordkanzlers.« Meine Stimme war leise geworden. Ich schielte auf die Kündigungskopie von Crowbeak. »Ich kann verstehen, wenn Sie mich deshalb nicht einstellen.«

Mr. De Clare lachte. Was sollte das denn? Abrupt trafen sich unsere Blicke. Da nahm er das Dokument und zerriss es. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Fassungslos betrachtete ich die Papierfetzen.

»Wissen Sie …« Mr. De Clare knüllte die Überreste zusammen und warf sie in den Papierkorb neben seinem Schreibtisch. »Tatsächlich ist das der Grund, weshalb ich Sie haben will.«

»Ist das so?« Damit hatte ich nicht gerechnet. Allerdings hätte er mich sonst gar nicht zu dem Gespräch eingeladen. Er hatte sich meine Kündigung schicken lassen und kannte somit meine Vergangenheit.

»Das ist so.« Mr. De Clare richtete sich gerade auf. »Meine Nichte und mein Neffe sollen sich verteidigen können.«

Halt. Neffe? Ich blinzelte. Hatte ich mich verlesen? Ich griff in meine Tasche und zog die Stellenausschreibung heraus. Hastig überflog ich den Text. Ja, da stand es schwarz auf weiß: Regina und Roberta. Ich runzelte die Stirn, schaute Mr. De Clare an und schob ihm den Zettel hinüber. »In der Anzeige ist von zwei Nichten die Rede. Bei Mädchen bräuchten Sie sich keine Sorgen zu machen. Die dunkle Zauberin geht nur gegen Hexer vor, wie Sie wissen.«

Mr. De Clare langte nach dem Schreiben. Er schaute darauf und rieb sich dabei schmunzelnd über das Kinn. Anschließend zerriss er es und warf es zu meinem Kündigungsschreiben in den Papierkorb.

Ich schaute ihn fragend an.

»Die Anzeige ist von Februar. Wir haben August.« Mr. De Clare lächelte. Seine Züge waren sanft, sein Blick ernst. »Wissen Sie, Roberta heißt inzwischen Robert. Bitte nennen Sie ihn so.«

»Gern.« Ich war überrascht, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. In meiner Vorstellung hatte ich zwei junge Damen unterrichtet.

»Habe ich Sie vorhin richtig verstanden«, kam ich auf das Thema zurück. Es kam mir verboten vor, diese Worte auszusprechen, weshalb ich die Stimme senkte. »Sie wünschen, dass ich Regina und Robert in Verteidigungsmagie unterrichte?«

Plötzlich schnürte sich mein Brustkorb zusammen. Was, wenn Mr. Timtam, der Lordkanzler der Zauberei, Mr. De Clare dafür bezahlte, mir eine Falle zu stellen? Was, wenn meine Kündigung in der Crowbeak Academy lediglich der Anfang gewesen war und seine Leute und er nur darauf warteten, dass ich einen weiteren Fehler beging, um mir meine Magie zu nehmen. Meine Magie und – mir wurde schwindlig – meine Erinnerungen. Wie bei Henry!

Mr. De Clare beugte sich über den Schreibtisch. »Ist das ein Problem? Sie sind auf einmal ganz blass!«

Draco schnaubte und kitzelte mich mit einem Flügel. Zwei Rauchwölkchen drangen aus seinen Nüstern. Er erriet wohl meine Gedanken. Er meinte nämlich, dass ich paranoid wäre.

»Ja … Ich meine nein. Kein Problem. Ich bin nur …« Ich schüttelte den Kopf. Aurora, schalt ich mich in Gedanken. Reiß dich gefälligst zusammen!

Mr. De Clare erhob sich. Er trat ans Fenster und öffnete es. Der Holzboden unter seinen Füßen knarrte. »Es ist etwas stickig hier drinnen. Ich lasse frische Luft herein.«

In derselben Sekunde schlug mir eine angenehme Brise entgegen. Ich atmete auf, langte an den obersten Knopf meiner bis zum Hals reichenden Bluse und öffnete ihn. So war es gleich viel besser. Mr. De Clare drehte sich zu mir um. »Dass in Crowbeak keine Praxis in Angriffs- und Verteidigungsmagie gelehrt wird, ist der Hauptgrund, weshalb ich Regina und Robert nicht auf die Akademie schicke. Meiner Meinung nach sollten sich junge Hexen und Hexer wehren können. Besonders in solch dunklen Zeiten.«

Dunklen Zeiten. Mein Herz schlug fester. Ich kratzte mich nervös am Arm. »Was meinen Sie damit?«

»Das wissen Sie.«

Mr. De Clare schaute mich intensiv an. Wie tief seine dunkelgrauen Augen waren!

Mein Hals war trocken. Ich räusperte mich. »Heißt das, Sie glauben Henry und mir? Sie glauben, dass wir die dunkle Zauberin gesehen haben?«

Ich wagte kaum zu atmen. Selbst meine Eltern hatten so ihre Zweifel, ob ich nicht vielleicht einem Schülerstreich auf den Leim gegangen war und mein Treffen mit der Zauberin nur in meinem Traum stattgefunden hatte. Die letzten Wochen mit ihnen waren nicht leicht gewesen und es hatte immer wieder Momente gegeben, in denen ich selbst an meinem Verstand gezweifelt hatte.

Mr. De Clare nahm wieder auf seinem Schreibtischsessel mir gegenüber Platz. Er bedachte mich weiterhin mit diesem eindringlichen Blick. Ein Blick, der unter die Haut ging. »Ihr ehemaliger Schüler und Sie sind bei Weitem nicht die Einzigen, die von der Wiederkehr Jenna Velusos sprechen.«

Ich bekam eine Gänsehaut. Wer sprach von ihr? Und seit wann? Die Fragen blieben mir im Hals stecken.

Mr. De Clare griff nach dem Foto, das ich vorhin hatte betrachten wollen. Er drehte es um und ich erblickte eine Frau mit blondem Haar und fröhlich leuchtenden Augen. Sie sah attraktiv aus.

»Ihre Gemahlin?«

»Meine Schwester. Melanie. Sie ist ein paar Jahre älter als ich und die Mutter von Regina und Robert.«

»Sie sieht freundlich aus«, sagte ich und wandte mich dann wieder an Mr. De Clare. »Ist sie hier? Ich würde mich gern vorstellen. Ich meine … Jedenfalls dann, wenn Sie entschieden haben, mich einzustellen.« Ich war schnell zurückgerudert und leiser geworden, denn noch hielt ich keinen Dienstvertrag in den Händen.

»Melanie lebt nicht hier. Sie befindet sich seit einem Jahr in der Witchmental Nervenheilanstalt für Hexen und Hexer.«

»Oh«, machte ich, da ich nicht wusste, was ich sonst erwidern sollte. Ich senkte den Blick. Zwar hatte ich bisher nur Gutes von der Klinik gehört, so war es jedoch kein Ort, an dem man mehr Zeit als nötig verbrachte. »Das tut mir leid.«

Ich dachte an Regina und Robert. Wie es wohl für sie war, ihre Mutter dort zu wissen? Noch kannte ich die beiden nicht, allerdings hoffte ich, sollte ich tatsächlich hier angestellt werden, eine enge Verbindung zu ihnen aufbauen zu können.

»Es ging nicht anders.« Mr. De Clare drehte das Foto zu sich und schaute seine Schwester an. »Sie hatte plötzlich Visionen von der dunklen Zauberin und verlor nach und nach den Verstand. Ich habe versucht, ihr zu helfen, bin mit ihr zu verschiedenen Experten gereist und habe selbst einige Zauber ausprobiert. Alles umsonst. Eines Nachts konnte ich Melanie gerade noch davon abhalten, sich in unserem See zu ertränken. Von da an sah ich keinen anderen Ausweg mehr, als sie in die Obhut der Witchmental Fachkräfte zu geben.«

Ich musterte Mr. De Clare, sah den Kummer in seinen Augen. Sein Schmerz legte sich über mein Herz. »Das war bestimmt eine schwere Zeit.«

»Das war es. Besonders, da sie sich gerade erst von ihrer Scheidung erholt hatte.«

Seine Schwester war geschieden? »Dann lebt der Vater der Kinder nicht hier?«

»Ich weiß nicht, ob dieser Tunichtgut die Bezeichnung Vater verdient. Er kümmerte sich nie um die Kinder und verspielte sein ganzes Geld bei Drachenkämpfen in Rumänien. Aus diesen Gründen trennte sich Melanie und zog vor zwei Jahren mit Regina und Robert bei mir ein.«

Die Verachtung, die Mr. De Clare seinem ehemaligen Schwager gegenüber empfinden musste, war deutlich zu spüren. Sie schwang in seinen Worten mit und spiegelte sich in seiner Miene wider. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Schon bei dem Begriff Drachenkämpfe war mir fast die Galle hochgekommen. Während meiner Ausbildung zur Drachenreiterin hatte ich unfreiwillig immer wieder mit Hexen und Hexern zu tun gehabt, die ihre Drachen nicht flogen, sondern gegeneinander kämpfen ließen. Selbst die Zeitungen berichteten von diesen scheußlichen Wettbewerben. Und obwohl bei diesen Spektakeln regelmäßig Drachen zu Schaden kamen oder sogar starben, wurden sie nicht verboten.

Ich verscheuchte die Gedanken und konzentrierte mich auf das Vorstellungsgespräch. »Die Kinder können sich glücklich schätzen, einen Onkel wie Sie zu haben.«

Mr. De Clare lächelte traurig und schaute mich an. »Das ist sehr freundlich. Allerdings kennen Sie mich kaum. Sie wissen nicht, ob es Glück für die Kinder ist.«

»Nun, Sie sind im Begriff, mich als ihre Lehrerin zu engagieren. Das zeigt mir schon, dass Sie am Wohl der beiden Interesse haben.«

Ich bemühte mich um ein gewinnendes Lächeln. Es wirkte. Mr. De Clare schmunzelte. Ihm hatte meine selbstbewusste Aussage gefallen. Sein inniger Blick zog mich in den Bann. In seinen dunkelgrauen Augen lag etwas Mystisches. Als gäbe es dahinter ein Geheimnis zu entdecken. Ein Geheimnis, dem ich auf den Grund gehen wollte.

Mr. De Clare erhob sich. »Nach der langen Reise sind Sie gewiss müde. Mortimer wird Ihnen Ihre Räumlichkeiten zeigen.« Er langte nach der goldenen Klingel auf seinem Schreibtisch und läutete.

Ich griff nach meiner Tasche und dem Reisehut und stand auf. »Das heißt, ich bekomme die Stelle?«

Mr. De Clare lächelte. »Sie hatten sie schon, als ich zum ersten Mal Ihre Bewerbung in Händen hielt.«

 

Mortimer führte mich eine alte Holztreppe hinauf in die obere Etage des Hauses. Die Stufen knarrten. An den Wänden hingen elegante Ölgemälde. Draco flatterte neben mir und gab mir per Rauchzeichen zu verstehen, wie unmöglich er es fand, dass ich Mr. De Clare schöne Augen gemacht hatte.

»So ein Unsinn«, zischte ich daraufhin. Dennoch schoss mir die Hitze in die Wangen. Gutaussehend war der Mann. Draco schnaubte und ließ mich damit wissen, dass die Sache mit John letztes Jahr genauso begonnen hatte. John. Ich spürte einen Stich im Herzen, krallte meine Hand fest um das Geländer. Wie hatte er mich nur so verraten können?

»Haben Sie etwas gesagt, Miss?« Mortimer war stehen geblieben und drehte sich zu mir um. Der ältere Herr betrachtete mich durch ruhige, aber forschende Augen.

»Nein. Verzeihung.« Hastig verscheuchte ich die Erinnerungen an meinen ehemaligen Kollegen der Akademie.

Wir erreichten die obere Etage, eine Galerie, in der weitere Gemälde und Portraits hingen. Ein roter Samtteppich dämpfte unsere Schritte. Ich sah mich um. Auf einem Bild erkannte ich Mr. De Clare und seine Schwester. Die zwei Personen daneben waren vermutlich ihre Eltern. Ich blieb stehen.

»Sind Mrs. und Mr. De Clare bereits verstorben?« Die Frage war mir einfach so herausgerutscht.

Mortimer wandte sich um und kam zu mir zurück. »In der Tat. Vor vielen Jahren schon.«

Mein Blick glitt zu dem Bild daneben. Es zeigte zwei blond gelockte Mädchen in süßen Rüschenkleidern, etwa im Alter von zehn Jahren. »Sind das Regina und Robert?«

»Das Portrait von ihnen wurde vor sechs Jahren angefertigt.«

Ich nickte, wollte gerade weitergehen, als ich eine Stelle an der Wand entdeckte, die mir seltsam hell vorkam. Es sah aus, als hätte dort vor Kurzem noch ein Bild gehangen.

»Hat hier das Hochzeitsfoto von Mrs. Melanie …« Ich brach ab, wusste gar nicht, wie die Mutter meiner Schüler mit Nachnamen hieß. Erst jetzt erkannte ich auch, dass Regina und Robert gar keine De Clares waren. Wie töricht, das hätte ich schon begreifen können, als in der Anzeige von Nichten die Rede gewesen war.

»Das Hochzeitsfoto von Mrs. Prompton hat hier nicht gehangen, nein. Ein anderes Portrait wurde vor etwa zwei Jahren hier abgenommen.«

»Etwa zu der Zeit, als Melanie mit ihren Kindern hier eingezogen war …« Ich hoffte, Mortimer würde mir mehr dazu erzählen, doch er drehte sich wortlos um und ging weiter. Alles in mir schrie danach, den Butler mit weiteren Fragen zu löchern. Wer war auf dem Bild gewesen und warum musste es entfernt werden?

Draco flatterte wild und schnaubte. Er erinnerte mich unnötigerweise daran, dass ich mich gefälligst benehmen und keine vorlauten Fragen stellen sollte. Und er hatte recht. Der erste Tag war nicht der passende Zeitpunkt für diese Art von Klatsch über den Dienstherren.

»Hier entlang.«

Mortimer öffnete eine Tür und führte mich durch einen weiteren Gang. Gleich darauf zog er einen Schlüsselring aus seiner Tasche und sperrte eine Tür auf. »Ihre Zimmer, Miss.«

Er ließ mich zuerst eintreten. Nun, eigentlich war es Draco, der munter voraus flatterte und den Raum als Erster erkundete. Er flog an holzvertäfelten, grün gestrichenen Wänden vorbei und setzte sich auf den Pfosten des Himmelbettes, das neben einem großen Fenster stand. Die ebenfalls grünen Vorhänge standen offen und gaben den Blick auf einen prächtigen Garten und einen See frei. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. Ich staunte und trat näher heran.

»Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit.«

Mit einem Ruck drehte ich mich zu Mortimer um.

»Wenn Sie wünschen, verstaue ich Ihr Gepäck«, fuhr er fort und zeigte auf meinen Koffer und Lavender, die in einer Ecke standen. »Ansonsten finden Sie hier Schränke für Ihre Kleider, mehrere Bücherregale, einen Sekretär und diese Tür dort führt in Ihr Badezimmer.«

Er wies auf zwei schwere Holzkästen, leere Stellagen, einen Schreibtisch und dann auf die Tür am anderen Ende des Raumes.

Fasziniert berührte ich die Maserungen an den Schrankfronten. »Ich kümmere mich selbst um meine Sachen, vielen Dank.«

»Kann ich sonst etwas für Sie tun?«

Ich schaute auf den Schreibtisch. Tintenfass und Papier fehlten noch. »Ich hätte gern etwas zum Schreiben. Wegen des Wolfsangriffs auf den Kutscher sollte ich wohl eine Stellungnahme für den örtlichen Inspektor aufsetzen.«

»Seien Sie unbesorgt wegen dieses Vorfalls. Ich kümmere mich persönlich darum.« Mortimer zeigte auf den Schreibtisch. »Papier, Feder und Tinte bringe ich Ihnen selbstverständlich sofort.«

Ich rieb mir über den Arm. »Wie könnte ich unbesorgt sein? Ein gewaltiger Wolf hat vor meinen Augen einen Mann angefallen.« Ich dachte an die roten Punkte, die mir aus dem Wald heraus entgegengeleuchtet hatten und erschauderte. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das Tier … gewöhnlich war.«

Der Butler reckte das Kinn. Seine Iriden waren seltsam starr. »Gewiss war es das, Miss. Wie gesagt, seien Sie unbesorgt.«

Ich presste die Lippen zusammen. Schon wieder dieses Wort. Unbesorgt. Warum wollte der Butler unbedingt, dass ich mir keine Gedanken über diesen Wolf machte? Wusste er mehr als ich?

»Wie können Sie das so einfach sagen?« In meinem Bauch begann es zu brodeln. Ich fühlte mich nicht ernst genommen, dabei hatte ich allen Grund, aufgebracht zu sein. »Dieses Tier hätte anstatt des Kutschers genauso gut mich zerfleischen können.«

Mortimer blieb die Ruhe selbst. »Haben Sie Angst, Miss? Wünschen Sie einen Baldriantee?«

Angst hatte ich keine, sondern auf einmal das beklemmende Gefühl, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging.

»Ich wünsche Papier und Tinte, um den Tathergang zu schildern.«

»Sehr wohl.«

Mit diesen Worten verließ Mortimer das Zimmer und Draco und ich blieben zurück. Gähnend nahm ich meinen Hut ab und legte ihn auf eine Kommode. Erschöpft ließ ich mich rückwärts auf das Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Die letzten Stunden hatten gehörig an meinen Kräften gezehrt.

Als es klopfte, erhob ich mich rasch. Der Butler brachte mir mehrere Papierbögen, ein Tintenfass, eine Feder und sogar einen Briefumschlag. »Ich habe soeben mit Mr. De Clare gesprochen«, sagte er. »Wenn Sie wünschen, bei der Polizeiinspektion eine Aussage zu machen, will er Sie morgen gern in die Stadt begleiten.«

»Oh.« Ich war überrascht. Vielleicht hatte ich mich geirrt und Mortimer hatte mich nicht beschwichtigen, sondern wirklich nur beruhigen wollen.

Der Butler nickte. »Stärken Sie sich, Miss.« Er zeigte auf ein Tablett mit Gebäck, Obst und einem Wasserkrug. Es stand auf dem kleinen Esstisch, den ich noch gar nicht bemerkt hatte. »Richten Sie sich ein, nehmen Sie ein Bad, wenn Sie es wünschen, und schlafen Sie. Ihre Reise war lang und ereignisreich. Das Dinner wird um sechs Uhr im Speisesaal abgehalten. Der Lord erwartet Sie dazu, damit Sie Miss Regina und Master Robert kennenlernen können. Mit der Haushälterin werden Sie dann ebenfalls bekannt gemacht.«

»Vielen Dank«, sagte ich ehrlich. Mein Blick wanderte zu dem Gebäck. Mein Magen knurrte. Dass ich Hunger hatte, war mir bisher entgangen. Jetzt machte er sich derart laut bemerkbar, dass sogar Mortimer es hörte und für den Bruchteil einer Sekunde schmunzelte.

»Guten Appetit.« Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Mit einem Satz war ich am Esstisch und langte nach einem Scone. Gierig biss ich hinein, griff dabei schon nach dem nächsten und verschlang alle beide in Windeseile.

»Du bleibst hier«, sagte ich dann zu Draco und ging ins Badezimmer. Dort bestaunte ich erst einmal die edlen Armaturen, ehe ich mich erleichterte und warmes Badewasser in die Wanne ließ. Ich schnürte mein Mieder auf, schlüpfte aus dem Rock und der Bluse und entledigte mich meiner Stiefel und der Strümpfe. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte mir, dass meine Steckfrisur längst hinüber war. Während ich mich ausgezogen hatte, hatte der Wasserdampf noch weitere Strähnen aus den Nadeln rutschen lassen. Nun zog ich alle Nadeln heraus und legte sie auf einem Schränkchen ab.

»Ah«, machte ich. Es tat gut, mein offenes Haar wieder auf den Schultern und am Rücken zu spüren. Auch die Spannung in der Kopfhaut und im Nacken besserte sich sofort.

Ich betrachtete die Badezusätze, die auf einem kleinen Regal standen, und träufelte etwas Lavendelöl in das heiße Wasser. Dann drehte ich den Hahn zu und stieg in die Wanne. Es tat unglaublich gut und ich begann, mich endlich zu entspannen.

In der Crowbeak Academy war uns Lehrkräften kein solcher Luxus zuteilgeworden. Unsere Unterkünfte waren vergleichsweise winzig gewesen und das Bad hatten wir uns teilen müssen.

Ich wusch mir Schweiß und Schmutz von der Haut, schamponierte mein Haar ein und spülte es ein paar Minuten später aus. Dann stieg ich aus der Wanne und trocknete mich ab. Das Badetuch schlang ich um mich. Wegen des Wasserdampfs war der Spiegel beschlagen und ich erlaubte mir den Spaß, mit dem Finger einen kleinen Drachen auf die Scheibe zu malen. Drachen liebte ich nicht nur wegen Draco. Sie waren auch das Symboltier meines Zirkels, zu dem ich seit meiner eigenen Schulzeit gehörte. Jede Zaubereiakademie wies ihre Schülerinnen und Schüler einem der drei Zirkel zu: Dechantraine, Hekate oder Grandier. Ich gehörte zu den Dechantraines, dem Zirkel, der für Kampf und Tierliebe stand. Ein magischer Umhang, der je nach Fähigkeiten und Interessen des Tragenden seine Farbe änderte, bestimmte, welchem Zirkel man zugewiesen wurde und anschließend sein Leben lang angehörte. Dass ich eine Dechantraine geworden war, hatte mich schon immer mit Stolz erfüllt. Allerdings war es auch ein bisschen überraschend, da meine zwei Brüder und meine Eltern Grandiers waren. Zu welchem Zirkel Mr. De Clare wohl gehörte? Nach der Akademie spielte die Zugehörigkeit im Grunde kaum mehr eine Rolle. Nur bei Wahlen war es wichtig, sich Gedanken über seinen politischen Zirkelvertreter zu machen. Im Augenblick hatte der Zirkel der Grandiers im Ministerium die absolute Mehrheit mit über achtzig Prozent der Wählerstimmen. Die Grandiers setzten sich für die Wichtigkeit von Gift- und Heiltränken ein und standen für Pflanzen- und Artenschutz. Da die dunkle Zauberin Jenna Veluso zu den Hekates gehört hatte, dem Zirkel, der für Beschwörungen und Runenmagie stand, hatte dieser bei der letzten Wahl nicht einmal vier Prozent erreicht. Viele hatten sich gar nicht getraut, ihren eigenen Zirkel zu wählen, aus Angst, das Ministerium würde die Abstimmung irgendwie überwachen und alle, die Hekate ankreuzten, mit der dunklen Zauberin in Verbindung bringen. Auch wir Dechantraines hatten viele Stimmen verloren, da sich Mr. Timtam lautstark gegen das Anwenden von Angriffsmagie – besonders an Schulen – ausgesprochen hatte. Seiner Meinung nach konnten sich Hexen und Hexer nur dann gegenseitig mit Magie verletzen, wenn sie auch die Sprüche dazu anwenden konnten. Dass er gleichzeitig Verteidigungszauber verboten hatte, um, wie er es nannte, kein Interesse am Angriff zu schüren, konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen.

Ich kämmte mein Haar, zog mir Unterwäsche an und ging zurück ins Schlafzimmer.

»Träum schön«, rief ich Draco zu, der es sich in einem der leeren Bücherregale gemütlich gemacht hatte. Rauch stieg auf, er bat mich, nicht zu laut zu schnarchen.

Es war Vormittag, draußen war es hell. Ich schloss die Vorhänge und schlug die Bettdecke zur Seite. »Als könnte ich mir aussuchen, ob ich schnarche oder nicht.«

Wieder schnaubte er. »Keine Ahnung, ob es dagegen einen Zauber gibt«, kommentierte ich seinen Wunsch und lachte. Dann legte ich mich hin. Mir entglitt ein wohliges Seufzen. Die Matratze fühlte sich fantastisch an. Weder zu hart noch zu weich.

Ich erwachte, weil mich etwas an der Nase kitzelte. Wie lange ich geschlafen hatte, wusste ich nicht. Ich öffnete die Augen und sah gerade noch Draco davonflattern.

Ich gähnte. »Warum hast du mich geweckt?«

Als Antwort erhielt ich ein Schnauben. Dracos Rauchwölkchen ließen keinen Zweifel übrig.

»Ich habe acht Stunden geschlafen?«

Hastig sprang ich aus dem Bett, eilte ins Badezimmer, holte meinen Zauberstab und kam zurück. In etwa einer Stunde fand das Abendessen statt. Es war Eile geboten.

Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge zur Seite. Draußen schien noch die Sonne. Mein Blick fiel auf die Eiche direkt vor meinem Fenster. Ihre Blätter hatten sich verfärbt. Rot, gelb und alle Stufen dazwischen. Ihr Blattwerk war es jedoch nicht, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war die Krähe, die auf einem Ast saß und mich beobachtete. Abrupt stockte mir der Atem. Denn diese Krähe schaute mich aus denselben grünen Augen heraus an, die mich schon mein ganzes Leben lang im Blick hatten. Immer wieder entdeckte ich sie. Zumeist in Tieren. Als Kind hatte ich ein Pferd mit diesen grünen Augen gehabt. Eines Tages war das Pferd davongelaufen und wir hatten es nie wieder gesehen. Dann hatte ich eine streunende Katze mit diesen Augen entdeckt, die plötzlich vor unserem Zuhause gesessen hatte. Auch sie hatte mich viele Jahre begleitet, ehe sie eines Nachts verschwunden war. Bis vor einem Jahr hatte ich geglaubt, dass diese Tiere mich irgendwie beschützen würden. Doch dann hatte mich letztes Jahr in der Crowbeak Academy auf einmal ein Mensch mit diesen Augen angesehen. Seither war ich verunsichert und wusste nicht mehr, was dieses Grün zu bedeuten hatte.

Jetzt war nicht die Zeit darüber nachzudenken, und zum Glück flog die Krähe in diesem Moment davon. Vielleicht hatte ich mir die Augenfarbe ohnehin nur eingebildet. Waren sie überhaupt grün gewesen?

Ich zuckte mit den Schultern und drehte mich um. Zurück zum Wesentlichen!

Ich schwang meinen Zauberstab und zeigte auf das Gepäck. Es stand noch da, wo es Mortimer platziert hatte. »Vestimenta!«

Der Koffer sprang auf. Zufrieden sah ich zu, wie meine Kleider, Röcke und Blusen – ja, von Zauberhand – herausschwebten und auf die Schränke zusteuerten. Diese schwangen mit einem Knarren auf. Die Bügel an der Stange neigten sich den Stoffen entgegen, nahmen sie in Empfang. Gleichzeitig hatten sich meine Hosen, Strümpfe, Mieder und die Unterwäsche auf den Weg gemacht. Sie reihten sich sortiert in die Schrankregale ein und falteten sich von selbst. Nun kamen zwei Schuhpaare zum Vorschein. Die Hauspantoffeln trippelten zu mir, während die Halbschuhe ins unterste Schrankfach stolzierten. In diesem Moment kamen die Stiefel aus dem Badezimmer gelaufen und drängten sich dazu.

Draco, der in der Zwischenzeit wieder in einem leeren Bücherregal gesessen hatte, musste jetzt Platz machen. Meine Bücher flatterten aus dem Koffer und steuerten darauf zu. Geschickt wich Draco den schwebenden Lektüren aus und ging irgendwo hinter mir in Deckung.

Ich lachte und beobachtete, wie sich mein Schreibtisch mit Mappen und Schreibwaren füllte. Die dafür vorgesehenen Schubladen sprangen alle bereitwillig auf, wie Mäuler, die Hunger bekommen hatten. Auf diese Art räumte sich auch meine Frisierkommode von selbst ein. Lavender hopste auf ihren Borsten in eine Ecke und schlussendlich schwebte auch die gerahmte Fotografie meiner Familie auf ihren Platz an meinem Nachttisch.

Draco gab ein Schnauben von sich. Ich grinste. Mir war klar, worauf er wartete. »Hab Geduld, da ist es schon.«

Voller Freude flatterte Draco auf sein Drachennest zu. Das kleine geflochtene Strohkörbchen war zu seinem liebsten Schlafplatz geworden.

Der Koffer hievte sich selbst auf den Kasten. Die Schränke klappten zu und ich ging hinüber zu dem Ganzkörperspiegel, der in einer Ecke neben dem Bett stand. Diesmal richtete ich den Zauberstab auf mich.

»Vestes eleantes«, flüsterte ich und dachte an ein bestimmtes Kleid von mir, das mir vorhin ins Auge gestochen war. Es war verboten, sich durch Magie zu bereichern, weshalb ich nur aus meiner eigenen Garderobe wählen konnte. Ansonsten hätte ich mich für ein Kleid aus den Schaufenstern von Londons Schneidereien entschieden.

Der Schrank ging auf und mein grün-schwarzes Abendkleid mit Spitze und Pailletten flog auf mich zu. Ich griff danach und stieg hinein. Zumachen brauchte ich es allerdings gar nicht. Nur ein kurzer Blick in den Spiegel genügte. Es war ein Abendessen, kein Ball! Ich würde unpassend aufgeputzt aussehen.

Dracos Schnauben bestätigte mir das.

Ich schlüpfte aus dem Kleid und richtete den Zauberstab erneut auf mich. »Tersus!« Diesmal dachte ich an meinen braunen Rock, die weiße Bluse und das zum Rock passende Mieder, das knapp unter den Brüsten endete. Ja, so würde ich adrett wie eine Hauslehrerin aussehen.

Das Abendkleid schwebte zurück und ich griff nach den Kleidungsstücken, die eher dem Anlass entsprachen. Geschwind schlüpfte ich hinein und zog die passenden Strümpfe und Stiefel an.

»Imperdiet«, sagte ich dann und tippte mit dem Zauberstab auf meine zerzausten Haare. In Windeseile waren sie gekämmt. Die oberste Schublade meiner Frisierkommode sprang auf und ließ eine Handvoll Haarnadeln ins Freie, die sofort auf mich zuschwebten. Einzelne Strähnen wickelten sich von selbst auf und die Nadeln taten ihr Übriges. Nach weniger als einer Minute sah ich aus, wie perfekt frisiert.

»Hervorragend.« Ich setzte mich auf das Bett, zog den Rock hoch und steckte meinen Zauberstab in meinen Stiefel. Dann stand ich auf und schaute zur Tür.

Ob mich Mortimer für das Dinner abholen würde? Sollte ich selbst hinuntergehen? Leider wusste ich nicht mehr, was er gesagt hatte.

»Worauf wartest du?«, gab mir Draco da zu verstehen und flatterte vor der Tür hin und her. »Auf ins Abenteuer!«

Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Es ist nur eine Mahlzeit.«

Draco setzte sich oben auf den Türrahmen und neigte den Kopf. »Täusch dich mal nicht«, sagten seine Rauchzeichen.

Kapitel 2

 

Die Geheimnisse der De Clares

 

Es klopfte und Mortimer kam herein. Zuvor hatte ich Draco überredet, diesen Abend im Zimmer zu verbringen. Ich wollte nicht gleich beim ersten Dinner mit einem kleinen Drachen im Schlepptau auftauchen. Mit dem Versprechen, ihm etwas vom Essen mitzubringen, hatte ich ihn überzeugen können.

Mortimer führte mich zur Galerie. Dort musterte ich wieder die Gemälde an der Wand. Das Bildnis von Mr. De Clare, Mrs. Melanie Prompton und ihren verstorbenen Eltern sowie die Abbildung der blondgelockten Kinder Regina und Robert. Auch die kahle Stelle an der Wand sprang mir erneut ins Auge. Welches Portrait hier wohl vor zwei Jahren noch gehangen hatte? Nun, vielleicht würde das heutige Abendessen Hinweise darauf liefern. Ansonsten würde ich Mr. De Clare nach ein paar Tagen darauf ansprechen. Eine unbefriedigendere Antwort als Das geht Sie beim besten Willen nichts an, konnte er mir kaum geben.

Wir näherten uns der Treppe. Unten wartete Mr. De Clare. Er trug einen schneidigen, schwarz glänzenden Anzug und hatte sein Haar zurückgekämmt. An seiner Seite standen zwei Jugendliche. Eine junge Dame in einem pfirsichfarbenen Rüschenkleid und ein junger Mann in Hose und Hemd. Beide hatten blonde Locken. Die junge Frau trug diese hochgesteckt und mit einer Schleife geschmückt, der Mann kurz geschnitten.

Ich lächelte ihnen zu. Das mussten Regina und Robert sein. Hinter Mr. De Clare stand eine beleibte Dame mittleren Alters. Ich schätzte, dass sie zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt war. Sie trug das typische Gewand einer Haushälterin: ein schlichtes Kleid und eine weiße Schürze. Ihr Haar war unter einem Rüschenhäubchen verborgen. Ihr Blick war freundlich, weshalb mir gleich leichter ums Herz war. Es war mir wichtig, gut mit dem anderen Hauspersonal auszukommen.

»Kommen Sie zu uns, Miss Marci.« Mr. De Clare lächelte und winkte mich herbei. »Ich möchte Ihnen meine Nichte, meinen Neffen und die gute Seele des Hauses vorstellen.«

Die Frau hinter ihm wurde rot, kicherte und winkte ab. »Nicht doch.«

Ich legte eine Hand auf das Geländer und schritt die Treppe hinab. Dabei fiel mir auf, dass Robert meinem Blick auswich und mich Regina dafür umso intensiver anstarrte. Ihre Arme waren verschränkt und ihre Lippen zusammengepresst. Hatte sie etwas gegen mich? Prompt wurde mir flau im Magen. Auch in der Akademie hatte es Schüler gegeben, die mich nicht gemocht hatten. Sie hatten hinter meinem Rücken getuschelt und gelacht. Das waren mühsame Unterrichtsstunden gewesen. Gleichzeitig hatte ich viel daraus gelernt.

Ich erreichte den Fuß der Treppe und blieb vor Mr. De Clare stehen. Seine grauen Augen funkelten. »Darf ich vorstellen: Regina, meine Nichte und Robert, mein Neffe.«

Die junge Dame knickste hastig und der junge Mann nickte mir zu, weiterhin den Blickkontakt vermeidend. War er schüchtern oder hatte er ein Problem mit mir? In meiner Fantasie hatte ich mir das Zusammentreffen mit meinen Schülern herzlicher vorgestellt.

»Zum Schluss möchte ich Sie gern mit Mrs. Belinda Bows bekannt machen.« Mr. De Clare trat zur Seite und wies auf die Haushälterin, die mich mit einem strahlenden Lächeln willkommen hieß. »Belinda ist eine wahre Perle. Shadow Hall wäre nicht halb so schön, ohne sie.«

»So ein Unsinn, Mylord.« Belinda kicherte.

Anschließend verschwand sie in einen anderen Teil des Hauses und Mortimer führte uns ins Speisezimmer. Dort erwartete uns eine gedeckte Tafel, an der wir Platz nahmen.

Mr. De Clare übernahm den Vorsitz, während ich zu seiner Rechten und Regina und Robert zu seiner Linken saßen. Noch immer fühlte ich mich von Regina kritisch beäugt, während mich Robert noch kein einziges Mal angesehen hatte. Ob Mr. De Clare das seltsame Verhalten seiner Schützlinge bemerkte? Ich schielte zu ihm. Seine Aufmerksamkeit galt im Moment Mortimer. Der Butler schenkte jedem Wasser ein.

»Die Vorspeise wird in Kürze serviert«, sagte er dann und verließ das Speisezimmer.

Kaum fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, reckte Regina das Kinn und beugte sich zu mir herüber. Ihre blonden Locken wippten und ihre hellblauen Augen glitzerten herausfordernd. »Ist es wahr, dass Sie nach nur einem Dienstjahr an der Crowbeak entlassen wurden? Ist Ihre Karriere damit nicht so gut wie vorbei?«

»Regina, bitte!« Mr. De Clare schaute seine Nichte ernst an. »Hüte deine Zunge. Wir wollen ein gepflogenes Tischgespräch führen.«

»Nicht doch.« Ich nahm einen Schluck Wasser. »Ich würde Ihrer Nichte die Frage gerne zurückgeben.« Ich schaute Regina an. »Siehst du es denn als Karriererückschritt, anstatt in der Akademie nun hier in Shadow Hall zu sein? Sollte es mir nicht eher eine Ehre sein, deinen Bruder und dich unterrichten zu dürfen?«

Regina presste die Lippen zusammen, sie hatte wohl keine Antwort darauf. Robert neben ihr hielt den Kopf gesenkt, doch mir fiel auf, dass er kurz grinste. Auch an Mr. De Clares Lippen zupfte ein Lächeln.

Regina lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor ihren pfirsichfarbenen Rüschen. »Und Sie waren wirklich ein Jahr in Rumänien, um Drachenreiterin zu werden?« Ich nickte. »Morgen werde ich dir Draco vorstellen. Wenn du erst mal seine Sprache verstehst, wird er dich liebend gern davon überzeugen.«

Regina hob eine Augenbraue. Ich vermutete, dass ich sie mit diesen Worten beeindruckt hatte. Gleich darauf aber drehte sie sich zu ihrem Bruder. »Nun, immerhin ist jetzt klar, Rob, dass Miss Marci wirklich nur hier ist, um uns zu unterrichten.« Sie linste in meine Richtung. Ein hämisches Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Onkel Will hatte also nicht vor, eine hübsche Frau ins Haus zu holen, um sich mit ihr über Sarah hinwegzutrösten.«

Ihre Worte waren wie ein Tritt in die Magengrube. Mein Bauch zog sich zusammen. Hatte sie mich gerade als hässlich bezeichnet? Und wer war diese Sarah? Ich rieb mir über den Arm und blinzelte irritiert.

»Regina!« Mr. De Clare schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Gläser klirrten. »So kannst du nicht mit deiner Lehrerin sprechen. Entschuldige dich. Sofort!«

Regina zuckte nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Ihre Stimme war zuckersüß. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Miss Marci. Oder sollte ich sagen Mrs. Marci? Ist eine Frau in Ihrem Alter nicht normalerweise längst verheiratet und hat eigene Kinder zu betreuen?«

Diese Aussage prallte an mir ab. Spätestens, seit ich mich in John getäuscht hatte, hatte ich nicht vor, in nächster Zeit eine Ehe einzugehen.

»Ich werde deine Unterrichtsstunden in Haushaltsführung verdoppeln, damit dich dieses schreckliche Schicksal nicht ereilt«, erwiderte ich salopp, griff nach meinem Wasserglas und lächelte.

Regina keuchte. Sie drehte sich zu ihrem Onkel und zeigte mit dem Finger auf mich. »Darf sie so mit mir reden?«

Mr. De Clare nickte. »Darf sie.«

Regina schnappte hörbar nach Luft. Ihre Atmung beschleunigte sich und ich bildete mir ein, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. »Ich hasse euch beide!«, rief sie dann und sprang auf. Ihr Stuhl fiel scheppernd auf den Boden und sie lief zur Tür.

Mr. De Clare seufzte. »Es gibt dein Leibgericht. Bleib oder du gehst hungrig ins Bett, junge Dame!«

Da riss sie die Tür auch schon auf. Fast prallte sie gegen Mortimer, der mit einem Tablett voller Suppen hereinspazierte. In letzter Sekunde sprang sie zur Seite und huschte an ihm vorbei.

Der Butler verzog keine Miene und blieb gelassen. »Möchte Miss Regina lieber auf ihrem Zimmer speisen, Mylord?«

Mr. De Clare fuhr sich über das Gesicht. Er wirkte leicht überfordert. Wieder fielen mir seine Blässe und die dunklen Ringe unter den Augen auf. »Die Miss kann froh sein, wenn sie heute noch eine Brotscheibe bekommt.«

Plötzlich empfand ich Mitleid. Mit meinem Dienstherren und seinen Schützlingen. Erst hatten sie Mrs. Melanies Scheidung überstehen müssen, woraufhin sie dem Wahnsinn verfallen war und in die Witchmental Anstalt eingeliefert werden musste. Kein leichtes Schicksal. Und dann gab es da angeblich noch eine Sarah, der Mr. De Clare wohl nachtrauerte. Im Vergleich dazu kam mir mein – ja, Regina hatte schon recht gehabt – Karriererückschritt unwichtig vor.

Ich legte meine Hand auf die von Mr. De Clare. Es geschah einfach. Instinktiv. Wahrscheinlich, um ihm meine Anteilnahme zu zeigen und dass er sich von nun an nicht mehr allein um die beiden Sechzehnjährigen kümmern musste.

Der Moment dauerte nur einen Wimpernschlag. Mr. De Clare sah auf und ich zog meine Hand zurück. »Ist es in Ordnung, wenn ich kurz nach Regina sehe? Ich würde gerne mit ihr reden.«

Mr. De Clare nickte überrascht. »Natürlich. Aber erwarten Sie kein Wunder. Regina ist keine Freundin vertrauter Zwiegespräche.«

Ich schmunzelte.

Mr. De Clare gab Mortimer ein Zeichen. »Würden Sie Miss Marci Reginas Zimmer zeigen?« Und an mich gewandt fügte er hinzu: »Morgen führe ich Sie durch das gesamte Anwesen, damit Sie sich überall zurechtfinden.«

Nachdem der Butler die Suppen serviert hatte, stellte er das Tablett auf einer Anrichte ab und nickte mir zu. Ich erhob mich und folgte ihm. Wir gingen an meinem Zimmer vorbei und traten in einen weiteren Gang.

»Hier befinden sich die Schlafgemächer der Familie«, ließ er mich wissen und blieb vor einer Tür stehen. »Das ist das Zimmer von Miss Regina.«

Ich dankte ihm und er zog sich zurück. Ich holte tief Luft und klopfte.

Ein Knarzen ertönte. So, als würde jemand vom Bett aufstehen. »Ich werde mich nicht bei ihr entschuldigen, Onkel Will!«

Ich hörte Schritte. Regina kam näher. Gleich darauf öffnete sie die Tür.

»Ich verlange keine Entschuldigung«, sagte ich, kaum, dass wir uns in die Augen sahen.

Regina zuckte zurück. Im selben Augenblick wurde ihr Gesichtsausdruck feindselig. »Was wollen Sie hier?«

»Mit dir reden. Darf ich hereinkommen?«

Schweigend trat Regina einen Schritt zur Seite. Ich ging in ihr Zimmer und fand mich in einem pastellfarbenen Albtraum wieder. Hier waren die Möbel weiß und mit verschnörkelten Mustern versehen. Die Wände waren bonbonrosa tapeziert und in einer Ecke entdeckte ich einen goldenen Käfig mit zwei gelben Kanarienvögeln.

Regina ließ sich auf einem Sofa nieder. Sofort sprang eine weiße Katze mit langen Haaren auf ihren Schoß.

Ich blieb in der Nähe der Tür stehen, da mir kein Platz angeboten worden war. Vermutlich wollte Regina gar nicht, dass ich es mir gemütlich machte.

Ich räusperte mich. »Es ist in Ordnung, dass du mich nicht magst.«

Regina hob den Kopf. Ihre Hand, die bedächtig über das Fell der Katze streichelte, hielt einen Moment inne, ehe sie damit fortfuhr.

Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Wir müssen keine Freundinnen sein. Ich hätte gehofft, dass wir uns gut verstehen, aber sei es drum. Dafür bezahlt mich dein Onkel schließlich nicht.«

Regina schwieg. Ich sah zu, wie sich ihre Miene wieder und wieder veränderte. Erst presste sie die Lippen zusammen, dann schnaubte sie und schlussendlich musterte sie mich skeptisch. »Warum sind Sie mir nachgegangen? Wollte das mein Onkel?«

»Was dein Onkel von mir möchte, spielt erst ab morgen eine Rolle. Da beginnt unser Dienstverhältnis.«

»Warum sind Sie dann hier?«

Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. »Dein Onkel will nur das Beste für euch. Seiner Meinung nach bin das jetzt erst einmal ich. Bitte, respektiere seine Entscheidung und verhalte dich dementsprechend.«

Regina schnaubte verächtlich. »Eine erfolglose Hauslehrerin ist wohl kaum das Beste für uns.«

Ich ignorierte den Stich in meiner Brust. »In zwei Jahren bist du eine vollwertige Hexe, dann kannst du selbst entscheiden, was das Beste für dich ist. Bis dahin kannst du zwar mit deinem Onkel diskutieren, aber das letzte Wort hat er.«

Regina sprang auf. Die Katze auf ihrem Schoß miaute erschrocken und flüchtete. »Das hat er auch nur, weil Mutter den Verstand verloren hat und in der Irrenanstalt ist!«

Sie schrie, doch ich hörte den verzweifelten Unterton. Das Herz wurde mir schwer. Hätte ich sensibler mit ihr umgehen sollen? Nein, dann hätte sie völlig abgeblockt. Ich war schließlich keine Ersatzmutter, sondern ihre Lehrerin.

»Das tut mir leid«, sagte ich ehrlich.

Regina winkte ab und wandte mir den Rücken zu. »Weshalb? Das kann Ihnen doch völlig egal sein.«

Ich schlug die Beine übereinander. »Nun, möglicherweise wärst du höflicher zu mir, wenn deine Mutter hier wäre.«

Mit einem Ruck drehte sich Regina um. »Wäre meine Mutter hier, hätte Onkel Will Sie nie hergeholt!«

»Mag sein. Es ist nun mal so.« Ich zuckte mit den Schultern und erhob mich. »Am besten akzeptieren wir beide die Situation, wie sie ist und machen das Beste daraus.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Regina hatte trotzig die Arme verschränkt, frech und herausfordernd schaute sie mich an. Ich unterdrückte ein Lächeln, denn die Tatsache, dass sie überhaupt so lange mit mir redete, war schon ein Sieg für mich.

»Damit will ich sagen«, fing ich an, »dass wir beide, du und ich, uns wohl oder übel mit der Situation abfinden müssen. Ich wäre lieber in Crowbeak und du hättest gern, dass deine Mutter hier ist. Leider ist das Leben kein Wunschbrunnen, nicht einmal für uns Hexen. Am besten akzeptieren wir die Umstände, anstatt uns gegenseitig das Leben noch schwerer zu machen. Was hältst du davon?«

Regina presste die Lippen zusammen und schwieg. Wieder drehte sie sich von mir weg und schaute aus dem Fenster. Dabei fiel mir auf, dass sich ihre Schultern lockerten. Nur einen Moment später wandte sie sich an mich. »Muss ich mich bei meinem Onkel entschuldigen, wenn ich wieder nach unten komme?«