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In der Rede vor dem Bundestag warf Papst Benedikt XVI. die heikle Frage nach den Legitimationsgrundlagen von Staat und Recht auf. Ist die säkular fundierte Verfassungs- bzw. Rechtsordnung des weltanschaulich neutralen Staates nicht doch auf religiöse Überlieferungen angewiesen? Bedarf es nicht der Theorie des Naturrechts für eine Begründung von Ethos und Recht? Der Band diskutiert die vom Papst angemahnte Revitalisierung des Naturrechtsdenkens, die von ihm geforderte Relativierung des Mehrheitsprinzips und fragt, ob es das vom Papst unterstellte Begründungsdefizit der säkularen Moral- und Rechtsordnung überhaupt gibt.
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Seitenzahl: 270
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Georg Essen (Hrsg.)
Verfassung ohne Grund?
Die Rede des Papstes im Bundestag
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Finken&Bumiller, StuttgartISBN (E-Book): 978-3-451-33949-3ISBN (Buch): 978-3-451-30576-4
Einleitung. … „eine wahre Ungeheuerlichkeit“. Die Bundestagsrede des Papstes in historischer Perspektive
Georg Essen
Anmerkungen
Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag
Anmerkungen
Die Gefahr der Hypertrophie
Christian Geyer
Anmerkungen
Ein Papst auf dem Boden des Grundgesetzes. Kleine Bilanz von Benedikts XVI. Deutschlandbesuch
Otto Kallscheuer
Anmerkungen
Macht und Recht. Eine theologische Reflexion der Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI.
Thomas Söding
Anmerkungen
Säkularer Staat, Demokratie und Naturrecht. Rechtsethische und demokratietheoretische Aspekte der Bundestagsrede Benedikts XVI.
Martin Rhonheimer
Anmerkungen
Die Ansprache des Papstes im Deutschen Bundestag. Gedankenanstoß für Überlegungen zur Kirchenrechtsbegründung
Judith Hahn
Anmerkungen
Naturrecht oder moderne Ethik? Was wirklich nottut
Christoph Hübenthal
Anmerkungen
Ein religiös fundiertes Naturrecht als vorpolitische Grundlage des modernen Rechtsstaates? Ein philosophischer Essay zur Ansprache von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag
Hans Schelkshorn
Anmerkungen
Einige Gedanken zu bestimmenden Themen in der Papst-Rede im Deutschen Bundestag
Rudolf Langthaler
Anmerkungen
Harmonische Erbschaftsverhältnisse? Theologischphilosophische Grenzreflexionen zur Erinnerungskultur des säkularen Verfassungsstaates
Georg Essen
Anmerkungen
Zur ethischen Funktion des Naturrechts – nicht nur für den Staat
Tine Stein
Anmerkungen
Die Autorinnen und Autoren
… „eine wahre Ungeheuerlichkeit“. Die Bundestagsrede des Papstes in historischer Perspektive
Wer mit der Geschichte der römisch-katholischen Kirche der letzten zweihundert Jahre auch nur einigermaßen vertraut ist, kann nicht umhin, die Rede, die Papst Benedikt XVI. während seines Deutschlandbesuches am 22.September 2011 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat, als kleine Sensation zu sehen.1 Erst bei den Päpsten der jüngeren Kirchengeschichte, zunächst bei Leo XIII. (1878–1903) und dann bei Pius XII. (1929–1958), deuteten sich, wenn auch sehr zögerlich und, was den Erstgenannten betrifft, gewiss nicht ohne Ressentiments, erste Veränderungen im Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur modernen Staats- und Rechtsordnung ab. Bei Leo XIII. finden sich, ganz auf dem Boden der thomistischen Staats- und Gesellschaftslehre fußend, erste Annäherungen an demokratische Rechts- und Ordnungsvorstellungen. Aber auch Leo XIII. lehnt in seiner Enzyklika Immortale Dei von 1885 die Trennung von Staat und Kirche ebenso ab wie die weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Ideal des „katholischen Staates“ und mit ihm die Option für den Katholizismus als Staatsreligion werden privilegiert. Erst Pius XII. betonte in seiner Weihnachtsansprache von 1944 und seiner Toleranzrede von 1953 die Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaat und thematisierte in diesem Zusammenhang auch die Frage der Menschenrechte. Der wirkliche Umbruch vollzog sich dann jedoch erst mit der Enzyklika Pacem in terris von Johannes XXIII. (1958–1963) und, vor allem, in dem Dekret Dignitatis Humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965.In diesem konziliaren Dokument finden wir übrigens einen Widerhall der verzögerten und augenscheinlich hochambivalenten Hinwendung der katholischen Kirche zur modernen Moral- und Rechtsordnung. Ihre Hermeneutik der Kontinuität muss mit der Lehre der, wie es ausdrücklich heißt, „neueren Päpste“ beginnen für das Vorhaben, die kirchliche Lehre über die unverletzlichen Rechte der menschlichen Person und über die rechtliche Ordnung der Gesellschaft „weiterzuführen“ (DiH 1). Es ist, mit anderen Worten, gerade einmal 50Jahre her, dass sich die römisch-katholische Kirche mit den Idealen eines demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens nicht lediglich arrangiert, sondern diese wirklich affirmiert hat! Eine vorbehaltlose Anerkennung der Demokratie und der sie tragenden Werte kennzeichnete schließlich die Pontifikate von Papst Paul VI. (1963–1978) und Johannes-Paul II. (1978–2005). Erst sie sind, in diesem Sinne, in der Moderne angekommen. Es dürfte unserer Erfahrung extrem beschleunigter und verdichteter Zeit geschuldet sein, dass diese historische Perspektivierung der Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI. kaum mehr präsent ist.
Es mag deshalb sinnvoll sein, die historische Dimension der Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI. aus einem verfassungsgeschichtlichen Blickwinkel zu betrachten. Bekanntlich sind die traditionellen römisch-katholischen Vorbehalte gegenüber dem modernen Verfassungsstaat bis in die Entstehungszeit des Grundgesetzes hin greifbar. Damals legten Abgeordnete der CSU und des Zentrums im Parlamentarischen Rat ein Veto gegen Art. 20GG („alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) ein und begründeten dies mit dem Argument, dass alle Herrschaft von Gott ausgehe. Dies aber war das traditionelle Argument der römisch-katholischen Kirche, die sich unter anderem unter Berufung auf den Römerbrief gegen den neuzeitlichen Gedanken der Volkssouveränität sperrte: „Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Röm 13, 1). Wie schwer vielen Katholiken im Parlamentarischen Rat die Zustimmung zum modernen, in der republikanischen Tradition der Französischen Revolution stehenden Staat gefallen ist, dokumentiert auf ihre Weise auch die Erklärung von Abgeordneten der CSU, die ihre Ablehnung des Grundgesetzentwurfs unter anderem damit begründeten, es habe nicht erreicht werden können, „dass das Grundgesetz sich eindeutig und entschieden zu den Gedanken unserer christlichen Staatsauffassung bekennt“.2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Erklärung der deutschen Bischöfe zur Arbeit des Parlamentarischen Rates: „Der Stand der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat in Bonn lässt uns befürchten, dass in dem Bundesgrundgesetz wichtigste und für den Aufbau eines gesunden staatlichen Lebens unentbehrliche Grundrechte und Grundsätze außer Acht gelassen werden. Das Grundgesetz eines Staates kann nur dann seinen Zweck erfüllen, wenn darin die schon in der Natur gegebene, ewig gültige, durch Christus neu gefestigte und vollendete Gottesordnung als die tragende Grundlage des staatlichen Gebäudes anerkannt wird“.3
Die an dieser Stelle greifbar werdende Spannung zwischen der katholischen Kirche und dem noch jungen Verfassungsstaat hat aber auch eine verfassungsrechtliche Komponente! Art. 140 des Grundgesetzes hat die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt. Das bedeutet, dass unter anderem auch die römisch-katholische Kirche eine Religionsgesellschaft ist, der die Bundesrepublik Deutschland den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zubilligt. Was war hier geschehen? Ein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat erkennt in Gestalt der römisch-katholischen Kirche eine Religionsgesellschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts an, die ihrerseits – wir schreiben das Jahr 1949! – die grundlegenden und fundamentalen Rechts- und Verfassungsprinzipien dieses Staates nicht anerkennt. Dies geschah erst ca. 20Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
62Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und 46Jahre nach der Verabschiedung von Dignitatis Humanae besucht der Bischof der Kirche von Rom den Deutschen Bundestag. Auf symbolischer Ebene ist bereits dieser Besuch selbst bemerkenswert, mit dem der Papst in seiner Funktion als Völkerrechtssubjekt des Heiligen Stuhls den Staat sowie die ihn repräsentierenden demokratisch gewählten Amts- und Mandatsträger anerkennt und ihnen die gebührende Wertschätzung entgegenbringt. Man ist an dieser Stelle versucht, ausnahmsweise einen historisch nicht wirklich korrekten Blickwechsel zuzulassen, um auf die historische Dimension der Bundestagsrede aufmerksam zu machen. Den heutigen Papst träfe sozusagen der Bannfluch eines seiner Vorgänger auf dem Stuhle Petri. Papst Pius IX. (1846–1878) hatte der 1864 veröffentlichten Enzyklika Quanta cura einen Syllabus mit zu verurteilenden Aussagen beigefügt, unter denen als Schlusssatz und also an prominenter Stelle auch die folgende Meinung verurteilt wird: „Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“ (DH 2980).
Dass sich der Bischof von Rom, um diesen Sprachgebrauch aufzugreifen, mit der modernen Rechtskultur inzwischen angefreundet und sich mit ihr versöhnt hat, kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Papst Benedikt der Einladung zur Rede diskursiv nachkommt, in dem er „einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates“ vorlegt. Ein Papst, der „Überlegungen“ anstellt, unterscheidet sich allerdings gewaltig von der Rollenprosa einiger seiner Vorgänger, deren autoritäre Rhetorik im Gewande wüster Polemik gegenüber der Moderne daherkam. Als „wahre Ungeheuerlichkeit“ bezeichnete etwa Papst Pius VI. (1775–1799) in dem Breve Quod Aliquantum von 1791 die Religions- und Pressefreiheit4 (Pius VI, 1976, DH 2663). In der bereits erwähnten Enzyklika Quanta Cura überschlägt sich die Rhetorik geradezu. Da ist beispielsweise von „außerordentlicher Unverschämtheit“ die Rede und von „Dreistigkeit“ (DH 2893, 2895). Und, um ein letztes Beispiel zu zitieren, in der Enzyklika Mirari Vos von 1832 nannte Papst Gregor XVI. (1831–1846) die Auffassung, „einem jeden müsse die Freiheit des Gewissens zugesprochen und sichergestellt werden“ eine „widersinnige und irrige Auffassung bzw. vielmehr Wahn“; die Rede ist von einem „geradezu pesthaften Irrtum“ und „größter Unverschämtheit“ (DH 2730f).
Die verzögerte Öffnung der katholischen Kirche gegenüber der Moderne, von der gerade die Rede war, steht wohl auch, unter anderem, im Hintergrund der Irritationen, die die offenbar als advokatorische Versöhnungsgeste intendierte Aufhebung der Exkommunikation gegen vier Bischöfe der Priesterbruderschaft Sankt Pius X. im Jahre 2009 ausgelöst hatte. Denn die Stoßrichtung der traditionalistischen Kritik zielt unter anderem auf die Erklärung der Religionsfreiheit. Die Piusbruderschaft verweigert nach wie vor der Erklärung Dignitatis Humanae ihre Zustimmung, weil sie in der katholischen Anerkennung der neuzeitlichen Freiheitsrechte einen Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition sieht. In einem Schreiben an Papst Johannes Paul II. von 1985 hatte der Gründer der Piusbruderschaft, Erzbischof Marcel Lefèbvre, die Religionsfreiheit einst als die „Quelle aller Häresien“ bezeichnet5. Dabei gehört es zum basso continuo dieser antimodernistischen Kritik am Zweiten Vatikanum, dass mit ihm, dem Konzil, der Geist der Französischen Revolution in die Kirche eingedrungen sein soll. Im Kontext dieser Geschichtspolitik steht auch die Polemik des Generaloberen der Piusbruderschaft, Bernd Fellay, dem jetzigen Papst gegenüber. Wenn Papst Benedikt, heißt es in einer Predigt Fellays von 2006, erkläre, dass die nachkonziliare Kirche eine neue Haltung dem modernen Staat gegenüber einnehmen müsse, so erkläre der Papst faktisch, „1700Jahre der Kirchengeschichte seien außerhalb der Lehre Unseres Herrn abgelaufen; die Kirche habe während 1700Jahren ihr Erbe verloren und jetzt wiederentdeckt, indem sie auf den katholischen Staat verzichtet. Wenn das kein Bruch sein soll, was ist es dann?“6.
Bruch oder Kontinuität? Diese Frage steht seit längerem schon im Raum und wird in dieser Zeit, in der wir der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50Jahren gedenken, heftig diskutiert. In der Perspektive der kirchenoffiziellen Lehre seiner Vorgängerpäpste von Pius VI. bis zu Pius IX., die die Forderung nach individuellen Freiheitsrechten als Irrlehren verworfen haben, ist die Bundestagsrede des jetzigen Papstes symbolischer Ausdruck eines innerkirchlichen Epochenumbruchs, sofern und weil Benedikt XVI. in Übereinstimmung mit dem Zweiten Vatikanum die Unabdingbarkeit der Menschenrechte und einer ihnen entsprechenden demokratischen Grundordnung einfordert. Aber wir müssen diese Bundestagsrede als eine Relecture der eigenen, katholischen Tradition lesen. Zentrale Eckpfeiler der Argumentation – die historische Erinnerung daran, dass der neuzeitliche Verfassungsstaates im Erbe des Christentums steht, und der normative Rückgriff auf die katholische Naturrechtstradition – weisen darauf hin, dass die Bundestagsrede als Traditionsstiftung im Interesse an einer Hermeneutik der Kontinuität verstanden werden will.
Dass der heutige Papst die Grundprinzipien des modernen, säkularen Verfassungsstaates anerkennt und mit ihnen das politische Ordnungsgefüge eines demokratisch organisierten Gemeinwesens, schließt allerdings nicht aus, dass er kritische Fragen stellt zum Zustand der Demokratie. Mit der von ihm aufgeworfenen Frage, „Wie erkennen wir, was recht ist?“, mischt er sich in eine verfassungspolitische Debatte ein, die seit geraumer Zeit geführt wird. Es geht um die seit jeher intrikate Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und Rechtsetzung. Der Papst sorgt sich um die normative Basis eines vollständig positivierten Rechtes und geht in diesem Zusammenhang auch auf den fragilen Geltungssinn jener Ressourcen ein, von denen das demokratische Mehrheitsprinzip zehrt.
Die Rede des Papstes wurde alsbald Gegenstand kritischer Kommentare und löste Dispute, Kontroversen und Debatten aus. Die vom Papst angemahnte Revitalisierung des Naturrechtsdenkens, legt – zunächst innerhalb der katholischen Theologie selbst – die Sollbruchstelle zwischen katholischer Kirche und säkularem Staat frei. Dabei muss es einerseits um eine, wie man vielleicht sagen könnte, Auslotung des theologischen Problemlösungspotentials gehen, das von der Naturrechtslehre erhofft wird. Das verlangt eine vertiefende Reflexion auf die Chancen und Möglichkeiten, die mit dieser Tradition verbunden sind. Dabei dürften jedoch andererseits auch die Grenzen des Naturrechtsdenkens zu thematisieren sein und zwar mit explizitem Bezug auf das infragestehende Verhältnis von katholischer Kirche und Moderne. Es wird sich zeigen, dass die Frage nach einer katholisch-theologischen Affirmation des Autonomieprinzips nach wie vor zu den ungeklärten Problemen gehört.
Es gehört ausdrücklich zu der Zielsetzung dieses Diskussionsbandes, die Bundestagsrede des Papstes aus interdisziplinären Disziplinen zu beleuchten. Da der Papst selbst mutmaßt, es könne sich beim Naturrecht um eine „katholische Sonderlehre“ handeln, ist zu fragen, ob dies tatsächlich der Fall ist. Aber kommt das Naturrecht im Horizont der Moderne als die gesuchte Metatheorie zur Begründung philosophischer und verfassungsrechtlicher Thematiken überhaupt in Frage? Ist es diskursiv zu plausibilisieren und, entscheidender noch, argumentativ zumindest anschlussfähig für eine nichtreligiöse, nachmetaphysische Rechtsphilosophie? Gibt es alternative Ansätze zur Begründung der infragestehenden vorpolitischen Grundlagen des säkularen Verfassungsstaates? Darüber hinaus aber sind Problemanzeigen von Interesse, die auf die Frage aufmerksam machen, ob es aus philosophischer oder verfassungsrechtlicher Perspektive das vom Papst unterstellte Begründungsdefizit der säkularen Moral- und Rechtsordnung überhaupt gibt. Und mit dieser Frage ist von Interesse, ob der weltanschaulich neutrale Staat tatsächlich auf religiöse Überlieferungen angewiesen ist. Darüber hinaus stellen sich Fragen, die den historischen Traditionslinien gewidmet sind, denen der Papst seine Aufmerksamkeit schenkt. Zwar werden „Jerusalem“, „Athen“ und „Rom“ genannt, um die europäische Gedächtniskultur topographisch zu verorten, nicht jedoch „Paris“ und „Philadelphia“. Es fehlt, mit anderen Worten, die Erinnerung an Traditionen der Aufklärung und in diesem Zusammenhang insbesondere ein Rekurs auf das „normative Projekt des Westens“ (Heinrich August Winkler), wie es in den Amerikanischen und Französischen Revolutionen historisch greifbar wird.
Das aber sind nur einige der Aspekte, die in dieser Aufsatzsammlung erörtert werden. Sie ist ein Debattenband im besten Sinne des Wortes! Aus unterschiedlichen theologischen und nichttheologischen Perspektiven nähert man sich der Bundestagsrede und diskutiert deren Thesen und Überlegungen. Die vorschnelle Synthese oder das abschließende Urteil wird hier ausdrücklich nicht gesucht! Die Beiträge sind kontrovers angelegt und positionieren sich durchaus unterschiedlich. Sie wollen zum Nachdenken anregen und sind erst einmal von der Absicht beflügelt, die nunmehr eröffnete Debatte über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates argumentativ anzuschärfen.
Sehr herzlich danke ich den Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, zur Mitwirkung an diesem Band. Den Mitarbeiterinnen meines Lehrstuhls, Frau Brigitte Domanski und Esther Uhe danke ich für die sorgfältige Betreuung der Manuskripte und die Erstellung der Druckfassung. Herrn Stephan Weber vom Herder Verlag sei herzlich gedankt für die spontane Bereitschaft, diesen Band in der Reihe Theologie kontrovers zu realisieren.
Bochum, im Januar 2012
Georg Essen
Die Rede des Papstes vor dem Deutschen Bundestag wird in diesem Band in der von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Heiligen Stuhl autorisierten Fassung abgedruckt. Auf sie beziehen sich alle Beiträge.
Erklärung von Abgeordneten der CSU (Kleindinst, Kroll, Laforet, Pfeiffer, Seibold, Schwalber) zur Ablehnung des Grundgesetzentwurfs. 8.Mai 1949: Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949.Eine Dokumentation. Hg. v. M.F.Feldkamp, Stuttgart 1999, 188f., hier: 189.
Erklärung der deutschen Bischöfe zur Arbeit des Parlamentarischen Rates. 11.Februar 1949: Feldkamp (Hg.), Entstehung, 140f.
Pius VI, Breve „Quod Aliquantum“, 10.3.1791: A.Utz, B. v. Galen (eds.), Die Katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15.Jahrhundert bis in die Gegenwart, III (Originaltexte mit Übersetzung), Aachen, 1976, 2652–2729.
M.Lefèbvre, Offener Brief an die ratlosen Katholiken, Wien 1986, 279.
B.Fellay, 2006, Auszüge aus der Predigt vom 2.4.06 in Ecône: Einsicht aktuell Nr.4: http://www.einsicht-aktuell.de/index.php?svar=2&ausgabe_id=127&artikel_id=1359 [Zugriff am 22.1.12; G.E.]
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Herr Bundestagspräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Frau Bundesratspräsidentin!
Meine Damen und Herren Abgeordnete!
Es ist mir Ehre und Freude, vor diesem Hohen Haus zu sprechen – vor dem Parlament meines deutschen Vaterlandes, das als demokratisch gewählte Volksvertretung hier zusammenkommt, um zum Wohl der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Dem Herrn Bundestagspräsidenten möchte ich für seine Einladung zu dieser Rede ebenso danken wie für die freundlichen Worte der Begrüßung und Wertschätzung, mit denen er mich empfangen hat. In dieser Stunde wende ich mich an Sie, verehrte Damen und Herren – gewiss auch als Landsmann, der sich lebenslang seiner Herkunft verbunden weiß und die Geschicke der deutschen Heimat mit Anteilnahme verfolgt. Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt. Von dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich Ihnen einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats vorlegen.
Lassen Sie mich meine Überlegungen über die Grundlagen des Rechts mit einer kleinen Geschichte aus der Heiligen Schrift beginnen. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, dass Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der junge Herrscher in diesem Augenblick erbitten? Erfolg– Reichtum – langes Leben– Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1Kön 3,9). Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muss. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, ohne den er überhaupt nicht die Möglichkeit politischer Gestaltung hätte. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt.2 Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.
In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen. Im 3.Jahrhundert hat der große Theologe Origenes den Widerstand der Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so begründet: „Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben…, dann würde er wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigungen bilden würde…“3
Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war. Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in Bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.
Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2.Jahrhundert v.Chr. gebildet hatte.
In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts.4 In dieser Berührung ist die abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz, mit dem sich unser Volk 1949 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekannt hat.
Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, dass sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm 2,14f.). Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft. Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so dass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen. Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. Grundlegend ist zunächst die These, dass zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur. Wenn man die Natur – mit den Worten von H.Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen.5 Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erkennt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. Deshalb müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden und fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes heraus. Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewusstsein weithin der Fall–, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede bildet.
Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganze ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verweisen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbstgemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.
Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? Ich erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzu sehr missverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen. Ich würde sagen, dass das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war bewusst geworden, dass irgendetwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. Es ist wohl klar, dass ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies. Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen. Erlauben Sie mir, bitte, dass ich noch einen Augenblick bei diesem Punkt bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt ansprechen, der nach wie vor – wie mir scheint – ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.
Kehren wir zurück zu den Grundbegriffen Natur und Vernunft, von denen wir ausgegangen waren. Der große Theoretiker des Rechtspositivismus, Kelsen, hat im Alter von 84Jahren – 1965 – den Dualismus von Sein und Sollen aufgegeben. (Es tröstet mich, dass man mit 84Jahren offenbar noch etwas Vernünftiges denken kann.) Er hatte früher gesagt, dass Normen nur aus dem Willen kommen können. Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten – so fügt er hinzu–, wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hätte. Dies wiederum – sagt er – würde einen Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Natur miteingegangen ist. „Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist völlig aussichtslos“, bemerkt er dazu.6 Wirklich? – möchte ich fragen. Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus voraussetzt?
An dieser Stelle müsste uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.
Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt würde? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg. Predigten, Ansprachen und Grußworte. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr.189) Bonn 2011, 30–38.
De civitate Dei, IV, 4, 1.
Contra Celsum GCS Orig. 428 (Koetschau); vgl. A.Fürst, Monotheismus und Monarchie. Zum Zusammenhang von Heil und Herrschaft in der Antike. In: Theol. Phil. 81 (2006) 321–338; Zitat S.336; vgl. auch J.Ratzinger, Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter (Salzburg– München 1971) 60.
Vgl. W.Waldstein, Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft (Augsburg 2010) 11ff.; 31–61.
Waldstein, a. a. O., 15–21.
Zitiert nach Waldstein, a. a. O., 19.
Christian Geyer
Was bisher geschah: Am Abend des 19.Januar 2004 diskutierte Joseph Kardinal Ratzinger, seinerzeit noch Chef der vatikanischen Glaubenskongregation, mit Jürgen Habermas in der Katholischen Akademie München über das Thema „Vorpolitische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ – Ratzinger ohne und Habermas mit Fragezeichen hinter dem Titel. In der anschließenden Aussprache mit dem Saalpublikum meldete sich der Philosoph Robert Spaemann zu Wort, ein langjähriger Freund Ratzingers, der sich bei entsprechenden Podiumsveranstaltungen heute auch als Berater des Papstes vorstellen lässt. Spaemann monierte durch die Blume, dass Ratzinger im Disput mit Habermas die traditionelle Rolle des Naturrechts nicht hinreichend gewürdigt habe. Dann die offene Frage Spaemanns, wie er, der Kardinal, es bei der Darlegung der christlichen Ethik denn künftig mit dem Naturrecht halten wolle.
Damals versicherte Ratzinger zunächst, „die Sache des Naturrechts“ selbstverständlich weiterhin verteidigen zu wollen – wenn auch „unter Verzicht, vielleicht unter einstweiligem Verzicht auf den Begriff der Natur“ (im Sinne von Substanz). Natur sei als objektivierender Schlüsselbegriff, mit dem man den Wahrheitsanspruch des Christentums zur Geltung zu bringen pflegte, de facto „stumpf“ geworden, das müsse man zur Kenntnis nehmen. Zumal im angelsächsischen Raum werde die Naturrechtslehre weitgehend als katholische Sonderlehre wahrgenommen und damit als das genaue Gegenteil dessen, was sie aussagen will. Johann Baptist Metz, Protagonist der politischen Theologie, wertete Ratzingers – einstweiligen – Begriffsverzicht später beim Imbiss als eine theologische Sensation.
Doch Spaemanns Beschwerde scheint Ratzinger nicht unbeeindruckt gelassen zu haben. Jahre später, am 22.September 2011, brach er als Papst Benedikt XVI. vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestags eine Lanze für das Naturrecht. Prominenter hätte die Fürsprache nicht ausfallen können, Spaemann mag vor dem Fernseher gedacht haben: Besser spät als nie. Zur Berliner Naturrechtslehre des Papstes, deren Dokumentation in manchen Zeitungen mit dem eingängigen Titel „Die Ökologie des Menschen“ überschrieben war, im folgenden ein paar Eindrücke: