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Die Jagd ist eröffnet
Dennis Milne ist ein Cop mit einem dunklen Geheimnis. Von Zeit zu Zeit wechselt er die Seiten und tötet Verbrecher – gegen Bezahlung. Doch eines Tages geht alles schief. Milne wird reingelegt und erschießt drei unschuldige Menschen. Für seinen Auftraggeber ist er jetzt ein gefährlicher Mitwisser. Als Milne zudem ins Fadenkreuz der Polizei gerät, steht er zwischen allen Fronten: Die Jagd ist eröffnet.
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DAS BUCH
Dennis Milne ist Detective Sergeant bei der Londoner Polizei. Seine langjährigen Erfahrungen mit Gewaltverbrechern, Vergewaltigern und Kinderschändern haben ihn zynisch und verbittert werden lassen. Immer wieder muss er erleben, dass die niederträchtigsten Verbrecher von den Mühlen der Justiz verschont bleiben. Er zieht seine Konsequenzen und arbeitet für den dubiosen Geschäftsmann Raymond Keen als Auftragskiller. Seine Opfer sind ausschließlich Kriminelle der übelsten Art.
Doch eines Tages läuft alles schief: Milne erschießt drei Männer und erfährt danach, dass es sich um Unschuldige gehandelt hat. Als die Prostituierte Miriam Fox ermordet aufgefunden wird, kommt er einem blutigen Intrigenspiel auf die Spur. Milne ahnt, dass sein Auftraggeber Keen ihn aus dem Weg räumen will. Der Cop gerät ins Fadenkreuz der Ermittlungsbehörden und steht jetzt zwischen allen Fronten. Milne muss seinen blutigen Weg bis zum Ende gehen: Die Jagd ist eröffnet.
Vergebt mir ist der Auftakt zur Serie um den ambivalenten Helden Dennis Milne.
DER AUTOR
Simon Kernick, 1966 geboren, lebt in der Nähe von London und hat zwei Kinder. Die Authentizität seiner Romane ist seiner intensiven Recherche zu verdanken. Im Laufe der Jahre hat er eine außergewöhnlich lange Liste von Kontakten zur Polizei aufgebaut. Sie umfasst erfahrene Beamte der Special Branch, der National Crime Squad (heute SOCA) und der Anti-Terror-Abteilung. Mit Gnadenlos (Relentless) gelang ihm international der Durchbruch, mittlerweile zählt er in Großbritannien zu den erfolgreichsten Thrillerautoren und wurde für mehrere Awards nominiert. Seine Bücher sind in dreizehn Sprachen erschienen. Mehr Infos zum Autor unter www.simonkernick.com.
Für Sally
Vor vielen Jahren, lange bevor mein erstes Buch veröffentlicht wurde, schrieb ich einen Gangster-Roman. Offen gestanden, das Ding war grauenhaft, und so war es keine große Überraschung, dass es überall abgelehnt wurde. Allerdings enthielt das Manuskript eine Szene, die ich auch später immer gemocht habe: Während sie auf einem Parkplatz vor einem heruntergekommenen Motel auf ihre drei Opfer warten, sinnieren ein Killer und sein Fahrer über die Ungerechtigkeiten der Welt. Die Morde werden klinisch perfekt ausgeführt, und erst als ihr Wagen in eine Straßensperre gerät, finden wir heraus, dass der Killer ein Polizist ist.
Die Idee eines Polizisten als Auftragskiller mag ungewöhnlich sein, liegt aber noch im Bereich des Möglichen. In den vergangenen Jahren habe ich über Freunde viele Polizisten der Londoner Metropolitan Police kennengelernt. In zahlreichen Unterhaltungen ist mir eines besonders aufgefallen: nämlich, wie viele dieser Männer unglaublich desillusioniert von ihrem Job sind. Alle haben das Gefühl, einen Kampf zu kämpfen, den sie nicht gewinnen können. Einer hat mir bei einem Bier spätabends sogar gestanden, dass er schon daran gedacht habe, die Seiten zu wechseln. Nach dem Motto: If you can’t beat them, join them.
Leider ist der Kontakt zu ihm abgebrochen, deshalb kann ich nicht sagen, ob er seine Idee schließlich in die tat umgesetzt hat. Ich glaube, eher nicht. Trotzdem ging mir damals auf, wie klein der Schritt von der Desillusionierung zur Korruption ist. Ist er einmal korrumpiert, gerät der Cop unweigerlich in eine Abwärtsspirale, in der irgendwann alles möglich ist. Sogar Mord.
Einige Jahre später las ich mir einmal mehr die alte Motel-Szene durch, und plötzlich entstand in meinem Kopf die Idee zu einem neuen Roman. Ein Roman mit einem Cop als Protagonisten, der ein Auftragskiller ist, den aber die Morde, die er begeht, schließlich heimsuchen. Er sollte ein Mensch voller Widersprüche sein; ein Zyniker, der nicht mehr an das Gesetz glaubt, das zu bewahren er geschworen hat, zugleich aber getrieben von einem tiefverwurzelten, fast verzweifelten Gerechtigkeitssinn. Ein Cop, den es krank macht, dass Verbrecher und Gangster den Krieg auf den Straßen mehr und mehr für sich entscheiden, der aber unfähig ist, sich einzugestehen, dass er selbst auch ein Verbrecher ist.
Und so kam mein Anti-Held Dennis Milne in die Welt, und es entstand Vergebt mir, eine atemlose Story über Mord und Erlösung, in der Dennis sowohl Jäger als auch Gejagter ist und in der seine beiden bislang sorgsam auseinander gehaltenen Leben mit dramatischen und furchtbaren Konsequenzen aufeinanderprallen.
Wird er überleben? Verdient er es überhaupt?
Lesen Sie selbst. Ich schätze, Sie wollen es herausfinden.
Simon Kernick, Januar 2011
Es gibt da eine wahre Geschichte; sie geht folgendermaßen: Vor ein paar Jahren entführt ein 32-jähriger Mann eine Zehnjährige auf der Straße in der Nähe des Hauses, wo sie wohnt. Er schleppt sie in seine schmuddelige Ein-Zimmer-Wohnung, fesselt sie ans Bett und unterzieht sie stundenlang brutalen sexuellen Misshandlungen. Wären die Wände nicht dünn wie Papier gewesen, hätte es noch viel schlimmer kommen können. Ein Nachbar hört die Schreie, ruft die Polizei, und die Beamten treten die Tür ein. Das Mädchen wird gerettet, allerdings ist sie anscheinend immer noch von den Spuren dieses Ereignisses gezeichnet. Der Verbrecher wird verhaftet. Sieben Monate später steht er vor Gericht, und seine Anwältin erwirkt auf Grund eines Formfehlers einen Freispruch. Offensichtlich betrachtet sie das Ganze vom juristischen Standpunkt aus: Lieber werden zehn schuldige Verbrecher freigesprochen, als dass ein Unschuldiger hinter Gittern landet. Der Kinderschänder kehrt in das Viertel zurück, wo er das Verbrechen begangen hat, und führt dort ein Leben als freier Mann. Die Anwältin bekommt ihr Honorar, dem Steuerzahler sei Dank, und ein Lob ihrer Partner, weil sie sich so gut geschlagen hat. Wahrscheinlich feiern sie ihren Erfolg sogar mit einem Drink.
Inzwischen lebt jede Mutter und jeder Vater im Umkreis von zwei Meilen von diesem Typen in Angst und Schrecken. Die Polizei versucht, die Situation mit dem Versprechen zu entschärfen, ihn im Auge zu behalten, gibt jedoch zu, dass das alles ist, was sie tun kann. Wie immer bitten sie die Leute, Ruhe zu bewahren.
Drei Monate später wird der Vater des Mädchens dabei erwischt, wie er Benzin durch den Briefschlitz des Kinderschänders gießt. Die Polizei hat ausnahmsweise Wort gehalten und das Haus des Mannes beobachtet. Der Vater wird verhaftet, der Brandstiftung und des versuchten Mordes angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Die Lokalzeitung plädiert dafür, ihn auf freien Fuß zu setzen, und druckt eine Petition, für die an die 20 000 Unterschriften zusammenkommen. Wie nicht anders zu erwarten, ignorieren die Entscheidungsträger dies, das öffentliche Interesse lässt nach, und dann, noch bevor sein Fall zur Verhandlung kommt, erhängt der Vater sich in seiner Zelle. Ist dies die Geschichte einer progressiven, vorwärts blickenden Gesellschaft oder die einer Gesellschaft, die den Bach runtergeht? Sagen Sie mir das.
Die Moral der Geschichte jedoch ist sehr einfach: Wenn Sie jemanden umbringen wollen, planen Sie das Ganze vorher sorgfältig.
21 Uhr 01. Wir saßen in einem Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Traveller’s Rest Hotel. Es war ein typischer englischer Novemberabend: dunkel, kalt und nass. Nicht gerade die beste Zeit, um draußen zu tun zu haben, aber wer kann sich seine Arbeitszeit heutzutage schon noch aussuchen? Das Traveller’s Rest sah eigentlich gar nicht nach einem geruhsamen Rastplatz aus. Es war eines dieser modernen Ziegelgebäude, mit greller Beleuchtung, Drehtür und jenem Fluch der Moderne, wöchentlichen Karaoke-Abenden. Das Einzige, was sich zu seinen Gunsten sagen ließ, war, dass der vordere Parkplatz gesperrt war, weil er neu asphaltiert wurde. Das bedeutete, dass unsere Zielpersonen auf den hinteren Parkplatz fahren würden, fernab vom Haupteingang und hoffentlich auch von irgendwelchen zufälligen Beobachtern. Würden sie Verdacht schöpfen? Ich bezweifelte es. Jedenfalls nicht, ehe es zu spät war.
Ich hasse diese Warterei. Das ist das Allerschlimmste. Man hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Also zündete ich mir eine Zigarette an und inhalierte tief und mit schlechtem Gewissen. Danny rümpfte die Nase, sagte jedoch nichts. Er mag es nicht, wenn man in seiner Gegenwart raucht, aber er gehört nicht zu der Sorte Mensch, die deswegen einen Riesenaufstand macht. Er ist tolerant. Vorhin hatten wir uns über den Fall des »angeblichen« Kinderschänders unterhalten, und Danny hatte den »Lieber-zehn-Schuldige«-Standpunkt der Anwältin vertreten. Das war typisch für ihn. Und außerdem war es Blödsinn. Warum man das Leiden vieler dem Leiden eines Einzelnen vorzieht, ist mir zu hoch. Das ist, als betreibe man einen Fernsehsender, und 20 Millionen Zuschauer wollen Quizsendungen sehen, während zwei Millionen gern Opern hätten, und man zeigt nur Opernaufführungen. Wenn die Leute, die daran glauben, jemals ein Geschäft führen müssten, wären sie schon nach dem ersten Tag pleite.
Aber ich mag Danny. Und ich vertraue ihm. Wir arbeiten schon lange zusammen und kennen jeder die Fähigkeiten des anderen. Und in unserer Branche ist das der Schlüssel zum Erfolg.
Er öffnete das Fenster auf der Fahrerseite, um frische Luft hereinzulassen, und ich schauderte vor Kälte. Es war wirklich ein beschissener Abend.
»Ich persönlich hätte mir die Anwältin vorgeknöpft«, sagte ich.
»Was?«
»Wenn ich der Vater des Mädchens gewesen wäre, hätte ich mir lieber die Anwältin vorgenommen als den Kinderschänder.«
»Wieso? Was hätte das denn bringen sollen?«
»Weil man behaupten könnte, der Kinderschänder hätte nichts dafür gekonnt, dass seine Triebe zu stark gewesen wären, als dass er sich hätte beherrschen können. Ich würde ihm trotzdem die Eier abschneiden, aber darum geht’s gar nicht. Es geht darum, dass die Anwältin die Wahl hatte, ihn nicht zu verteidigen. Sie war eine intelligente, rationale Frau. Sie wusste, was er getan hatte, und trotzdem hat sie alles unternommen, was in ihrer Macht stand, um ihn freizubekommen. Deshalb war ihr Verbrechen das größere.«
»Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.«
»Das größte Übel in dieser Welt kommt nicht von denen, die Böses tun, sondern von denen, die es entschuldigen.«
Danny schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. »Mein Gott, Dennis, du hörst dich allmählich an wie so eine Art Todesengel. Reg dich ab. Du bist schließlich auch nicht gerade ein Unschuldslamm.«
Er hatte Recht. Das war ich nicht. Doch ich halte mich für einen Menschen mit Prinzipien – Verhaltenskodexe, die ich strikt befolge –, und das gab mir meiner Ansicht nach das Recht, meine Meinung zu sagen.
Genau das wollte ich Danny gerade wissen lassen, als das Funkgerät knisternd zum Leben erwachte.
»Okay, sie sind hier«, zischte die körperlose Stimme. »Schwarzer Cherokee, drei Insassen. Sie sind es.«
Danny ließ den Motor an, während ich leise aus dem Wagen glitt, die Zigarette wegschnippte und auf die Stelle zuging, wo der Cherokee auftauchen würde. Ich wusste, dass dies die einzige Chance sein würde, die ich bekam.
Ein Scheppern ertönte, als der Jeep über die Geschwindigkeitsschwelle fuhr, dann bog er um die Ecke des Hauptgebäudes und rollte auf der Suche nach einer freien Parkbucht langsam auf den Parkplatz. Ich setzte mich in Trab und fuchtelte mit den Armen, um den Fahrer auf mich aufmerksam zu machen. In meiner Barbour-Windjacke, Hemd und Krawatte war ich ganz der gestresste Geschäftsmann.
Der Cherokee fuhr weiter, hielt jedoch an, als ich die Fahrerseite erreichte und an das Fenster klopfte. »Verzeihung, Entschuldigung.« Meine Stimme klang jetzt anders, höher, weniger selbstsicher.
Das Fenster wurde heruntergelassen, und ein Kerl mit harten Gesichtszügen und einem kantigen Unterkiefer, der aus Gusseisen zu bestehen schien, starrte mich finster an. Ich schätzte ihn auf 35. Mein Gesicht verfiel in nervöse Zuckungen. Sowohl der Typ am Steuer als auch sein Beifahrer, ein kleinerer, älterer Mann mit Pomade im Haar und fettiger Haut, begannen bereits, sich zu entspannen. Sie betrachteten mich nicht als Bedrohung. Nur ein braver Bürger, der seine Steuern zahlt und tut, was man ihm sagt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich hörte, wie der Mann auf dem Rücksitz etwas brummelte. Ich sah ihn nicht einmal an.
»Was wollen Sie?«, herrschte mich der Fahrer ungeduldig an.
»Äh, ich wollte nur fragen …«
Ich zog die Pistole aus der Tasche, verspürte jenen kurzen Anflug paranoider Furcht, dass ich sie nicht entsichert haben könnte, und schoss ihm zweimal ins rechte Auge. Er gab keinen Laut von sich, sondern fiel lediglich in seinen Sitz zurück und hauchte erschauernd sein Leben aus.
Der Beifahrer fluchte laut und riss augenblicklich in dem vergeblichen Versuch, sich zu schützen, die Arme hoch. Ich bückte mich etwas, um ihn besser ins Schussfeld zu bekommen, und feuerte zwei weitere Schüsse ab. Einer traf ihn in den Ellbogen, der andere in den Unterkiefer. Ich hörte den Knochen splittern. Er kreischte vor Schmerz und hustete dann heftig, als sich sein Mund mit Blut füllte. Verzweifelt versuchte er sich in seinem Sitz zu verkriechen und drehte und wand sich wie ein Verrückter, unfähig, zu akzeptieren, dass alles vorbei war. Ich zielte erneut, schoss noch einmal und traf ihn mitten in die Stirn.
Das Fenster hinter ihm färbte sich rot, und seine schmierigen Gesichtszüge entspannten sich augenblicklich. Bis jetzt hatte das Ganze ungefähr drei Sekunden gedauert.
Doch der Mann auf dem Rücksitz war schnell. Er drückte bereits die Tür auf und schickte sich an, auszusteigen. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie eine Waffe. Ich hatte keine Zeit, genauer hinzusehen. Stattdessen trat ich drei Schritte zurück und drückte ab, als er in mein Blickfeld kam. Ich erwischte ihn irgendwo am Oberkörper, doch er kam immer weiter auf mich zu. Also feuerte ich weiter, hielt die Pistole mit beiden Händen und biss die Zähne zusammen, während die Explosionen in meinen Ohren dröhnten. Die Wucht der Kugeln trieb ihn zurück, schleuderte ihn gegen die Autotür. Er vollführte einen wahnsinnigen, wirren Tanz zur Melodie der Schüsse; seine Arme und Beine schlugen wild um sich, und rote Flecken erschienen wie Pocken auf seinem gestärkten weißen Hemd.
Und dann war das Magazin leer, und alles endete ebenso plötzlich und dramatisch, wie es begonnen hatte.
Eine Sekunde lang blieb er aufrecht stehen und hielt sich an der Wagentür fest, während die Energie fast sichtbar aus ihm herausströmte. Dann fiel er halb hin, halb setzte er sich, während seine Hand von der Tür abglitt. Er blickte hinunter auf das Blut auf seinem Hemd, schaute dann auf und sah mich an, und ich konnte sein Gesicht sehen, worauf ich überhaupt nicht scharf war, denn er war jung, vielleicht Ende zwanzig, und sein Gesichtsausdruck war irgendwie falsch. Ich meine, das war nicht der Gesichtsausdruck eines Sünders. Kein Trotz, keine Wut. Nur Schock. Schockiert, dass ihm sein Leben gestohlen wurde. Er sah aus wie ein Mann, der fand, dass er das nicht verdient hatte, und das war der Moment, in dem ich hätte begreifen sollen, dass ich einen furchtbaren Fehler gemacht hatte.
Stattdessen wandte ich mich von seinem starren Blick ab und lud meine Waffe neu. Dann trat ich vor und schoss ihm dreimal in den Kopf. Das Handy, das er in der Hand gehalten hatte, fiel laut klappernd zu Boden.
Ich ließ die Pistole in meine Jackentasche gleiten und wandte mich zu Danny um, der mit dem Wagen ankam.
Und dabei erblickte ich das Mädchen. Sie stand vielleicht 15 Meter entfernt in der Tür des Notausgangs, einen vollen Müllsack in jeder Hand. Sie war höchstens 18, und sie starrte mich an, immer noch zu geschockt, um zu begreifen, dass das, was sie da gerade mit angesehen hatte, wirklich passiert war. Was nun? Ein Film-Profikiller hätte sie mit einem einzigen Kopfschuss erledigt, aber es war absolut nicht sicher, ob ich sie von da, wo ich stand, überhaupt hätte treffen können. Und außerdem habe ich kein Interesse daran, Zivilisten etwas anzutun.
Sie schlug die Hand vor den Mund, als sie merkte, dass ich sie gesehen hatte, und ich wusste, dass sie jeden Augenblick losschreien würde, wahrscheinlich laut genug, um die Toten aufzuwecken, was mir, nachdem die Toten gerade erst tot waren, ganz und gar nicht recht gewesen wäre. Also senkte ich den Blick, eilte um das Auto herum zur Beifahrertür und hoffte, dass mein Gesicht in der Düsternis und dem Regen zu undeutlich gewesen war, als dass sie eine brauchbare Beschreibung von mir abgeben könnte.
Ich sprang in den Wagen und hielt den Kopf tief gesenkt. Danny sagte kein Wort. Er trat lediglich aufs Gas, und wir waren weg.
Es war 21 Uhr 04.
Die Fahrt zu der Stelle, an der wir das erste Mal das Fahrzeug wechseln würden, dauerte genau vier Minuten; wir legten dabei eine Strecke von etwa zweieinhalb Meilen zurück. Am Nachmittag hatten wir einen Ford Mondeo in einem ruhigen Waldgebiet geparkt. Jetzt hielt Danny dahinter, stellte den Motor ab und stieg aus. Ich griff unter den Beifahrersitz und holte einen vollen Fünf-Liter-Kanister mit Benzin heraus, das ich großzügig über das Innere des Wagens verteilte. Als der Kanister leer war, stieg ich aus, zündete ein Streichholzbriefchen an, trat weit genug zurück und warf es in den Wagen, gefolgt von der Mordwaffe und dem tragbaren Funkgerät, das ich benutzt hatte. Es gab ein äußerst befriedigendes Wuuusch!, als das Benzin Feuer fing, und gleich darauf spürte ich eine Hitzewelle.
Wenn sie den verbogenen Schrotthaufen entdeckten, würde dieser ihnen nicht weiterhelfen. Wir hatten keine Fingerabdrücke hinterlassen, und das Auto selbst konnte fast unmöglich zurückverfolgt werden. Es war vor sechs Monaten in Birmingham gestohlen worden, hatte neue Nummernschilder bekommen, war umgespritzt worden und hatte seither in Cardiff in einem Lagerschuppen gestanden. In dieser Branche kann man nicht vorsichtig genug sein. Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz könnten die meisten Detectives nicht einmal den Puls eines Kokainsüchtigen finden, aber man weiß ja nie, wann man es mit dem nächsten Ellery Queen zu tun bekommt.
Jetzt folgten wir einer im Voraus geplanten Route über Nebenstraßen und Fahrwege, und es war 21 Uhr 16, als wir auf den Parkplatz des Ye Old Belle fuhren, eines voll besetzten Pubs am Rand eines wohlhabenden Pendlervororts. Danny fuhr bis ans Ende des Parkplatzes und hielt hinter einem burgunderroten Rover 600.
Hier trennten wir uns.
»Hat das Mädchen dein Gesicht gesehen?«, wollte er wissen, als ich die Wagentür öffnete. Es war das Erste, was er seit den Schüssen sagte.
»Nein, alles klar. Es war zu dunkel.«
Er seufzte. »Mir gefällt das nicht. Drei Morde, und jetzt haben wir eine Zeugin.«
Es hörte sich zugegebenermaßen nicht besonders gut an, wenn er es so zusammenfasste, doch zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Grund, anzunehmen, dass nicht alles in bester Ordnung war.
»Keine Sorge. Wir haben unsere Spuren gut verwischt.«
»Wegen dieser Geschichte wird’s einen Riesenwirbel geben, Dennis.«
»Das haben wir beide gewusst, als wir den Job angenommen haben. Solange wir ruhig bleiben und den Mund halten, kriegen wir nichts davon ab.«
Ich klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte, ich würde ihn morgen anrufen.
Die Schlüssel des Rover lagen hinter dem Vorderreifen auf der Fahrerseite. Ich stieg ein, ließ den Motor an und folgte Danny vom Parkplatz. Er bog nach Süden ab, ich nach Norden.
Und damit hätte alles gelaufen sein sollen, aber heute war nicht meine Glücksnacht. Ich hatte kaum drei Meilen zurückgelegt und befand mich kurz vor der Abzweigung nach London, als ich auf eine improvisierte Straßensperre stieß. Zwei Fiat Pandas mit blinkenden Warnlichtern standen am Straßenrand, und Polizisten in fluoreszierenden Sicherheitswesten drängten sich um einen BMW, den sie bereits angehalten hatten. Mein Herz machte unwillkürlich einen Satz, doch ich riss mich schnell wieder zusammen. Kein Anlass zur Sorge. Ich war allein, unbewaffnet und fuhr einen Wagen, der dem Traveller’s Rest Hotel niemals näher gekommen war als fünf Meilen. Außerdem konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine vage Beschreibung von mir haben. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 21 Uhr 22.
Einer der Beamten sah mich kommen, trat auf die Straße, blinkte mit seiner Taschenlampe und bedeutete mir, hinter dem anderen Wagen zu halten. Ich tat, was er wollte, und kurbelte das Fenster herunter, als er auf die Fahrertür zukam. Er war jung, nicht älter als 23, mit einem richtigen Kindergesicht. Es heißt, man merkt, dass man alt wird, wenn die Polizisten jung aussehen. Ich hätte fast der Vater des Kleinen hier sein können. Außerdem sah er sehr eifrig aus. Das würde nicht lange anhalten. Ein zweiter Officer stand ein Stück hinter ihm und sah zu, doch die anderen beiden waren mit dem Fahrer des BMW beschäftigt. Keiner von ihnen schien bewaffnet zu sein, was ich unter den gegebenen Umständen für ziemlich blöd hielt. Ich hätte die Straßensperre durchbrechen können, und sie hätten keine Chance gehabt.
»Guten Abend, Sir.« Er beugte sich zum Fenster hinunter und betrachtete mich und das Auto eingehend und höflich.
Höflichkeit zahlt sich immer aus. »’n Abend, Officer. Was kann ich für Sie tun?«
»Bei einem Hotel namens Traveller’s Rest an der A10 hat’s Ärger gegeben. Ungefähr vor einer Viertelstunde. Sie kommen nicht zufällig aus der Richtung, oder?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich komme aus Clavering. Bin unterwegs nach London.«
Er nickte verständnisvoll und sah mich dann erneut an. Man konnte erkennen, dass er aus irgendeinem Grund nicht vollständig überzeugt war, obwohl ich nicht weiß, warum. Ich bin kein Mensch, der Verdacht erregt. Ich sehe wirklich aus wie ein netter Kerl. Das Ganze hätte keinen inneren Alarm auslösen sollen.
Doch genau das war passiert. Vielleicht war ich soeben meinem neuen Ellery Queen begegnet. »Können Sie sich ausweisen, Sir? Nur fürs Protokoll.«
Ich seufzte; ich wollte mich nicht ausweisen, weil ich mir damit langfristig alle möglichen Probleme einhandeln konnte, doch mir schien nicht viel anderes übrig zu bleiben.
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte ich.
Dann griff ich in die Tasche und reichte ihm meinen Dienstausweis.
Er nahm ihn, inspizierte ihn sorgfältig, schaute mich wieder an und starrte dann erneut auf den Ausweis, um sich zu vergewissern. Wahrscheinlich fragte er sich, wie sein Instinkt ihn so getäuscht haben konnte. Als er wieder zu mir aufblickte, sah er sehr verlegen aus.
»Detective Sergeant Milne, Sir. Es tut mir Leid. Das wusste ich nicht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht. Sie machen nur Ihren Job. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich hab’s ein bisschen eilig.«
»Sicher, Sir, kein Problem.« Er trat von dem Rover zurück. »Einen schönen Abend noch.«
Ich sagte Gute Nacht und legte den Rückwärtsgang ein. Armer Kerl. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, was es hieß, an einem solchen Abend draußen zu sein und für einen Hungerlohn stundenlang in der Gegend herumzustehen, während es einem auf den Kopf pisste. Zu wissen, dass diejenigen, die man suchen sollte, wahrscheinlich meilenweit weg waren. Oh, die Freuden des Daseins als Streifenbulle.
Ich winkte, als ich an ihm vorbeifuhr. Er winkte zurück. Wie lange würde es wohl dauern, bis er seinen Enthusiasmus verlor; wie lange, bis auch er begriff, dass er bloß gegen eine Mauer anrannte, wenn er sich an die Regeln hielt?
Ich gab ihm zwei Jahre.
Ich kannte mal einen Typen namens Tom Darke. Tomboy, wie er allgemein genannt wurde, kaufte und verkaufte heiße Ware. Wenn man etwas geklaut hatte – egal was –, machte Tomboy einem einen Preis, und man konnte sicher sein, dass er irgendwo einen Kunden sitzen hatte, der ihm das Diebesgut abnehmen würde. Außerdem war er ein Informant, und ein guter noch dazu, wenn man danach ging, für wie viele Verurteilungen seine Informationen sorgten. Das Geheimnis seines Erfolges lag in der Tatsache, dass er ein liebenswerter Kerl war, in dessen Gesellschaft man sich wohl fühlte. Er sagte immer, er höre eher gut zu, als besonders intensiv zu lauschen, und er stellte nie zu viele Fragen. Entsprechend passierte in der kriminellen Szene von North London nicht viel, wovon er nichts wusste, und seine freundliche, leutselige Art war so echt, dass niemand den alten Tomboy verdächtigte, nicht einmal, als die schweren Jungs der Gegend einer nach dem anderen Bauchlandungen hinlegten wie übergewichtige Fallschirmjäger.
Ich hatte ihn einmal gefragt, warum er das tat. Wieso verpfiff er Typen, die eigentlich seine Kumpels sein sollten? Die Sache war die, er kam mir eigentlich gar nicht vor wie ein Spitzel. Er sah aus wie ein anständiger Kerl, der über solch kleinlichen Täuschungen stand. Tomboy hatte zwei Antworten auf diese Frage parat.
Die erste lag klar auf der Hand. Geld. Für Informationen über Kriminelle wurden hohe Belohnungen geboten, und Tomboy brauchte die Kohle. Er wollte sich als freier Mann aus dem Spiel zurückziehen, denn er glaubte, dass die moderne Technologie, die der Polizei neuerdings zur Verfügung stand, um Verbrechen zu bekämpfen, für Mittelklasse-Ganoven wie ihn das Ende bedeutete. Es ging ihm also darum, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen, solange er noch konnte, sich ein hübsches Sümmchen zusammenzuscheffeln (die angepeilte Marke lag bei 50 000 Pfund) und dann die Kurve zu kratzen.
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