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"Du bist mir zu alt!" Mit diesen unvermittelten Worten beendet die Lebensgefährtin Thomas Palzers eine langjährige, überwiegend glückliche Beziehung, an die er viele Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Nächte, Reisen und Gespräche knüpft. Der Verlassene tritt daraufhin aus dem Bett und nackt vor den Spiegel, wagt einen schonungslosen Blick auf seinen Körper und beginnt über das Verhältnis von Sex und Alter zu reflektieren. Mit Anfang 60 fühlt er sich nicht alt, aber erkennt, dass sich etwas verändert hat, doch auch die Sexualiät? Was bedeutet überhaupt Sex im Alter, wenn das gesellschaftliche Bild von Sexualität mit jungen, schönen Körpern verknüpft ist? In seinem sehr persönlichen und zarten autobiografischen Essay geht Palzer diesen Fragen nach, versuchte eine neue Verortung der Sexualiät und eröffnet auf kluge und nachdenkliche Weise einem tabuisiertes Thema Möglichkeiten des offenen gesellschaftlichen Diskurses.
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Seitenzahl: 74
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punctum 005
Mit Originalfotografien
Eine Geschichte ist, um Geschichte zu sein, notwendig abgeschlossen. Auch die Liebe, um die es hier geht, ist abgeschlossen.
In vier Séancen wird der Geist dieser verlorenen Liebe beschworen.
Sex am Bildschirm
Der intime Raum
Sex in der Zitadelle
Today is tomorrow
Alten Männern eilt der Ruf voraus, entweder traurig oder sexistisch oder beides zu sein. Aber vor allen Dingen gelten sie als alt.
Angeblich denken Menschen alle drei Sekunden an Sex.
Ist das später auch so, ich meine, dann, wenn die libidinöse Energie nachgelassen hat, wenn man alt ist?
Was tue ich selbst, was tue ich nicht – und was tue ich nicht mehr?
Sex ist Ausdruck dessen, wie man sich selbst fühlt. Einstellungen und Verhaltensweisen sind eng mit Religion, Tradition, Kultur, Politik und Ökonomie verknüpft.
Und mit dem Alter. Wie ein guter Single Malt besteht das Alter vor allem aus einem: aus Zeit.
Wenn, wie Victor Hugo sagt, 40 Jahre das Alter der Jugend sind, und 50 die Jugend des Alters, dann wäre ich mit 55 reif genug gewesen, um mich endgültig von dem Lebensabschnitt zu verabschieden, der zwischen Jugend und Alter liegt. Ich hätte die Chance gehabt, mich neu zu erfinden – doch statt meiner war es überraschenderweise meine Lebensgefährtin, die sich neu erfand. Eines Tages wandte sie mir, aus der gemeinsamen Siesta erwacht, brüsk den Rücken zu und sagte:
»Du bist mir zu alt.«
Das saß. Obwohl ich von Anfang an und inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten vierzehn Jahre älter als meine Angebetete war, hatte ich mit einer solchen Wendung nicht gerechnet.
Nicht mehr.
Nackt verließ ich unverrichteter Dinge das Bett und stahl mich ins Bad, wo ich mich ausführlich im Spiegel betrachtete. Ich war zu einer realistischen Selbsteinschätzung fest entschlossen.
Zu alt?
Was für eine Kränkung!
Alt – wo denn?
Nachdem ich an meinem Körper keine größeren Einbußen festzustellen vermochte, senkte ich mein Kinn auf die Brust und roch an mir. Ich roch an meiner Haut, hielt inne und versuchte, den Abstand zwischen mir und meinem Körper zu vergrößern. Ich versuchte, auf eine Weise an mir zu riechen, als wäre es gerade nicht ich, der in der Haut steckte, an die ich misstrauisch meine Nase hielt.
Verströmte ich Altersgeruch? Roch ich nach Mottenkugeln? Ranzig?
Ich konnte nichts feststellen.
Allerdings war Vorsicht geboten, denn noch nie hatte ich von jemandem gehört, der sich selbst nicht länger riechen konnte.
Ratlos stand ich da und betrachtete im Spiegel mein Adamskostüm.
Gut, es war nicht mehr das neueste, das war kaum zu bestreiten. Es schien auch, als sei es seit Längerem nicht gebügelt worden. Der Hals war faltig geworden, die Haut in den Armbeugen schlaff, an manchen Stellen fanden sich Dellen. Das Haar war zwar voll, aber grau, aus Ohren und Nase sprossen mir dunkle, widerborstige Haare, die ich zwar mühsam entfernte, die aber nach meinem Eindruck alle am nächsten Tag wieder zur Stelle waren. Ein vergeblicher Kampf.
War ich wirklich schon alt? So alt?
Wer jung ist, hält sowieso alle, die älter als er selbst sind, für Greise.
Ich hatte übersehen, dass bei Paaren mit zunehmendem Alter der Abstand zwischen dem jüngeren und dem älteren Teil wächst. Mathematisch ist das zwar nicht möglich, doch metaphysisch. Wenn sich der jüngere Teil der Grenze nähert, hinter der das Alter beginnt, wirkt auf ihn der Teil, der bereits beide Füße über diese Grenze gesetzt hat, jenseitig – und zwar umso jenseitiger, je näher der Moment rückt, wo ihm nur noch einzugestehen bleibt, dass er selbst alt geworden ist.
Ich war doch aber gar nicht alt.
Ich war Mitte fünfzig.
Sind ein paar Jahre mehr oder weniger von Bedeutung?
Heute sind meine Lebensgefährtin und ich getrennt.
Und der Sex?
Gibt es altersgerechten Sex?
Inzwischen bin ich 61 geworden. Ich fühle mich nicht alt, sondern in den besten Jahren. Allerdings habe ich den Scheitelpunkt überschritten, denn ich spüre, wie das Terrain langsam und sachte abschüssig wird. Meine Mutter ist 90, und ich hoffe, von ihren guten Genen etwas abbekommen zu haben. Ich spekuliere auf das Erbe.
Es heißt, dass die meisten Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten in diesem Alter bereits tot gewesen wären. Vom Zeitgeist der Machbarkeit und des grenzenlosen Optimismus benebelt, wird behauptet, sechzig sei das neue fünfzig. Unausdrücklich wird damit gesagt: Altsein sei das genaue Gegenteil von Jungsein. Tatsächlich erlauben es medizinischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel inzwischen, für immer oder zumindest für vergleichsweise lange jung zu bleiben (wenn man die anthropologische Geschichte in Rechnung stellt).
Im Gegensatz dazu behaupte ich etwas anderes: Altsein ist nicht das Gegenteil von Jungsein, sondern dessen Alternative. Im 17. Jahrhundert wurde Alternative aus dem Französischen entlehnt, wo es im Sinn von abwechselnd gebraucht wurde. Tatsächlich wechselt sich das eine mit dem anderen ab, das Jungsein mit dem Altsein, wenn auch das eine, solange es sich selbst für jung hält oder für jung gehalten wird, vom anderen nichts wissen will. Das Jungsein kennt eben das Alter nicht, aber das Altsein kennt das Jungsein.
Jugend, sagt Hugo von Hofmannsthal, ist vor allem ein substantiviertes Gespenst. Das Double dieses Gespenstes ist ebenfalls ein Gespenst und winkt von der anderen Seite der Skala. Es nennt sich Alter. Jugend und Alter sind zwei Gespenster, die der Gegenwart großen Schrecken einjagen – auf komplementäre Weise. Die Jugend, so heißt es, denke nur an Sex, das Alter habe gar keinen mehr.
Sex ist nicht etwas, was über alle Lebensalter hinweg gleich bleibt. Sex mit zehn ist etwas anderes als Sex mit zwanzig, dreißig oder vierzig. Wenn man sagt, das Alter kenne keinen Sex, dann meint man, dass Alter kennt keinen Sex wie mit zwanzig oder dreißig.
In der Regel bedeutet Altsein, vor der Banalität der Welt zu fliehen, auch wenn Banalität unvermeidlich zur Existenz gehört. Wenn die Welt von der Gegenwart als eine Arena gedeutet wird, in der es um nichts anderes gehen soll als unendlichen Spaß, so erscheint mir das so trostlos wie die Singularität oder das vom Christentum verheißene postmortale Klassentreffen.
Sport, Spaß, Sex – unter diesem Dreigestirn gedeiht die heilige Einfalt der Gegenwart, deren Kirche die Arena ist – Barclaycard Arena, König Pilsener Arena, SAP Arena, Lanxess Arena, Red Bull Arena usw. Alle drei Begriffe können synonym gebraucht werden. Jungsein heißt Sporthaben, Spaßhaben und Sexhaben. Alle drei werden als sinnverwandt verstanden. Wenn es stimmte, dass der Sinn der Welt im Spaß besteht, im Sport und im Sex, täte die Jugend natürlich gut daran, ausschließlich an diese Trias zu denken – und in ihr Zeitvertreib und Lebensinhalt zugleich zu sehen. Es stimmt aber eben nicht.
Wer jung ist, ist davon überzeugt, dass Altsein bedeute, weniger Spaß und noch weniger Sex zu haben. Und für Sport nicht mehr tauglich zu sein.
»Der größte Irrtum der Jugend«, sagt Baudelaire, »besteht darin, sich etwas vorzumachen.«
1970 erschien bei uns Sexfront – und in den USA ein Buch mit dem Titel The Greening of America. Autor war ein Mann namens Charles Reich, ein US-amerikanischer Rechts- und Sozialwissenschaftler. Das Buch erklomm die Bestsellerliste der New York Times. Ein Jahr später folgte die deutsche Übersetzung: Die Welt wird jung. Der Autor behauptete darin, dass sich in den subkulturellen Bewegungen die Jugend als eine eigene Generation formiere und ein Bewusstsein entwickele, das dazu angetan sei, den Staat und die Gesellschaft ohne Gewalt, ohne politische Machtergreifung und ohne die Unterwerfung einer bestimmten Gruppe von Menschen nachhaltig zu verändern.
Tatsächlich hatten irgendwann in den frühen 1960er-Jahren die Erwachsenen angefangen, sich wie ihre Kinder zu kleiden, vor allem in den USA. Es war nicht mehr die Jugend, die sich am Alter orientierte, sondern das Alter, das sich an der Jugend zu orientieren begann. Ab diesem Moment wurde es unpopulär, älter zu werden. Inzwischen zeigt sich, dass die umfassende Verjüngungskur, der unsere Kultur ausgesetzt ist, offenbar einen Preis hat – und mit dem Auslöschen dessen einhergeht, was Zeit gespeichert und Alter hat: der Erinnerung.
Schon wechseln sich die Generationen nicht mehr im Rhythmus von 20, 30 Jahren ab, sondern im Rhythmus technischer Innovationen. Hat noch jemand das Geräusch von Nadeldruckern im Ohr? Oder Disketten in der Schublade? Das iPhone ist gerade mal zehn Jahre alt – und trennt die Generationen, je nachdem, ob man mit oder ohne aufgewachsen ist. Was schmerzlich fehlt, sind neue kulturelle Formen der Reife.
So umstritten und blauäugig das Werk The Greening of America in den Details heute sein mag – eines ist nicht zu bestreiten: Die gegenwärtige Welt heute ist tatsächlich jung geworden. Jeder will jung sein – sogar die Alten. In den Ruhestand will keiner treten. Das hat – worauf der kanadische Philosoph Charles Taylor hingewiesen hat – mit dem Umstand zu tun, dass die Gegenwart Leben als Wachstum begreift. Insofern kann es nicht verwundern, dass Kindheit und Jugend als privilegierte Entwicklungsstadien gesehen werden, denen kein Schlusspunkt gesetzt zu werden braucht – sofern die pharmazeutische Industrie die Probleme in den Griff bekommt.