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"Ich rühre nie wieder eine intellektuelle Geschichte an!" 1933, den Bankrott des Denkens und der Urteilskraft vor Augen, verließ Hannah Arendt, die Schülerin von Martin Heidegger und Karl Jaspers, ihre Heimat, die Philosophie und Deutschland. Um in den Besitz einer eigenen Sprache für das Gesehene und Gehörte, Geschehene und Getane zu gelangen, begann sie im Exil ihre Wege des 'Verlernens', die sie später ihre lebenslange Verstehensarbeit nannte. Marie Luise Knott skizziert Erkenntniswege, mit deren Hilfe sich Hannah Arendt, die Theoretikerin der Freiheit, kollektive "Lebenslügen" und vorgefasste Meinungen austreibt, die am Denken hindern. Die Kraft der Bilder und der Begriffe machen den Denkraum Hannah Arendts zu einem verlässlichen Ort, in dem der Leser seine eigene denkerische Ratlosigkeit aufgehoben weiß und sich selbst in "wesentliche gedankliche Prozesse" verwickeln kann. - Verlernen ist mehr als ein Buch über das Nachleben dieser Ausnahmedenkerin. Arendts Wege des Verlernens erweisen sich als Anstöße zu politischem Handeln und Urteilen. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie "Sachbuch/Essayistik" Begründung der Jury: "Marie Luise Knott erschließt das Denken Hannah Arendts einfühlsam, unaufgeregt und eindringlich. So erscheinen Lachen, Übersetzen, Verzeihen und Dramatisieren als Techniken, um Freiheit zu gewinnen."
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Seitenzahl: 195
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Marie Luise Knott
Denkwege bei Hannah Arendt
Mit Zeichnungen von Nanne Meyer
Impressum
Der Verlag dankt dem Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin, für die Unterstützung bei der Drucklegung.
Erste Auflage 2011
© 2011 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Göhrener Str. 7, 10437 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Zeichnung
von Nanne Meyer
www.matthes-seitz-berlin.de
eISBN: 978-3-88221-924-1
Für M. W.
Vorwort
Lachen – Wie der Geist sich plötzlich wendet
Die Zuversicht in den Menschen
Das Hannah-Buch
Eichmann und die »burschikose Ironie«
Ein Atemholen des Denkens
Die heilsame Bewegung des Zwerchfells
Tun ohne Bild
Übersetzen – Der »einzigartige Umweg«
Erste Fäden in die neue Öffentlichkeit
Ein Fest der Kontamination
Das Mädchen aus der Fremde
Eine mehrfache Metamorphose
»Was für ein Glück, dass du gekommen bist«
Das Verzeihen verlernen – Über den verzweifelten Kampf einen Begriff von der Wirklichkeit zu erlangen
Das Nachkriegsdilemma
Die weiße Leinwand
Kein Pardon
Einmal Kommunist, nicht immer Kommunist
Freiheit und Sinnesänderung
Verlernen, eine Aufgabe
Dramatisieren – Die Welt als Bühne, der Text als Raum
Neues zu sagen
»Citar es citarse«
Aus den Fugen
Personare
The Living Room
Probehandeln
Anhang
Transatlantische Unterschiede
Anmerkungen
Literatur
Dank
Wenn einstmals diese Not
Lang wie ein Eis gebrochen,
Dann wird davon gesprochen,
Wie von dem schwarzen Tod;
Und einen Strohmann bau’n
Die Kinder auf der Haide,
Zu brennen Lust aus Leide
Und Licht aus altem Grau’n.
Gottfried Keller
»Ich habe nie daran gezweifelt, dass es so jemanden geben müsse, der ist wie Sie, aber nun gibt es Sie wirklich, und meine außerordentliche Freude darüber wird immer anhalten«, schrieb die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, nachdem sie Hannah Arendt in New York kennengelernt hatte. Eine Seelenverwandtschaft: »Wie schön, die letzte Novelle mit ihrer großen Liebe«, äußerte Arendt gegenüber Uwe Johnson nach Bachmanns Tod.
In der angesprochenen Erzählung Drei Wege zum See schlägt die Protagonistin, die Übersetzerin Elisabeth Matrei, nicht drei Wege, sondern viele Wege ein bei dem Versuch, zum See der Kindheit zu gelangen – zu Schönheit, Gelassenheit und zur Rückeroberung einer (untergegangenen) vertrauten Welt. Doch sie stellt fest: Die Generationen halten sich nicht mehr an der Hand. Die Wege der Kindheit sind passé. Alle Wege müssen neu erkundet werden, sie werden um des Weges willen gegangen. So ist es auch mit der Liebe, dem heimlichen Beweggrund der Aufbrüche bei Bachmann – die Liebe entflammt, unabhängig von ihrer Gangbarkeit; und auch im Scheitern erschöpft sie sich nicht.
Die in den folgenden Kapiteln nachgezeichneten Denkwege im Werk Hannah Arendts gleichen solchen Wanderungen. Ihnen allen geht der Schock des 20. Jahrhunderts voraus, dass mit dem Nationalsozialismus eine Kraft am Werk war, die das Wesen des Menschen völlig umzuprägen drohte. »All words like peace and love,/ All sane affirmative speech,/ had been soiled, profaned, debased/ to a horrid mechanical screech«, zitierte Arendt den Schriftsteller W.H. Auden. In der Sprache hatte der Nationalsozialismus versucht, die Menschen in das eigene monokausale, »logische« System mit seinen eisernen Sprachbildern hineinzuzwängen; die Menschen sollten in den totalitär konstruierten Bedeutungszuweisungen gefesselt werden. Alles Reden vom Guten-Schönen-Wahren (»peace and love«) war entwürdigt und entweiht, einem Maschinenkreischen des Schreckens gewichen. Wie kam man aus derartiger Befangenheit heraus und in den Besitz einer eigenen Sprache für das Gesehene und Gehörte, Geschehene und Getane? Ein Bild für die Not und Notwendigkeit, sich das Bekannte ins Unbekannte zu »verlernen«, findet die Theoretikerin bei Gottfried Keller, denn sie meinte, die Dichter sagen es besser, als wir es können: »Zu brennen Lust aus Leide/ Und Licht aus altem Grau’n.«
In allen vier Kapiteln – Lachen, Übersetzen, Verzeihen und Dramatisieren – wird danach gefragt, wie Hannah Arendt »Lust aus Leide und Licht aus altem Grau’n« erweckte, und es werden Wege skizziert, wie sie aus den Sackgassen der bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch herausgelangte. Die Wege werden erörtert als das, was sie sind: Holzwege – die plötzlich aufhören. Sie suchen keine neue Schule, sondern sind zur Kultivierung des Waldes, also zur Rückeroberung der bedrohten Welt, angelegt. »Wir machen uns«, so formulierte es Walter Benjamin, »viel zu selten einen Begriff davon, wie viel Freiheit dazu gehört, den kleinsten eigenen Gedanken frei zum besten zu geben.« Jede inhaltliche Befangenheit raube dem Autor auch ein Stück seiner Sprachfertigkeit – und somit ein Stück seiner Welt, möchte man hinzufügen.
Das Buch handelt von Aufbrüchen aus einer solchen »Befangenheit« und von den dadurch gewonnenen Territorien der Freiheit. Die skizzierten Denkwege brauchen die Dichtung, die mit ihrer »Nacktheit und Direktheit« in die analytische Sprache einbricht und sie aufbrechen lässt; Arendt verwirft jene Instrumente des Verstehens, die sich als stumpf oder »irrelevant« erwiesen haben. Sie lässt sie verloren gehen. Vieles muss aus den Verstrickungen gelöst, umstritten und neu erstritten werden. Diese aus Schock und Verstörung geborenen Handlungen des »Verlernens« sind denkerische Aufbrüche: Im Lachen unterbricht sich das lähmende Entsetzen aus der Begegnung mit dem Phänomen Adolf Eichmann; durch tätiges Übersetzen – als Denkbewegung – wird das Leid der Emigration und der Fremdheit gewendet in eine »Unbekümmertheit des Paria«, der, da er nicht in gleichem Maße in die sozialen Realitäten des Ankunftslandes verstrickt ist, in der Fremde einen freieren Blick schweifen lassen kann. Im Verlernen des Verzeihens geht es pars pro toto um den verzweifelten Kampf, sich Bilder und Begriffe auszutreiben, deren überlieferter Sinn und deren tradierte Bedeutung am Denken hindern; und mit dem Mittel des Dramatisierens kann der Text selbst zur Bühne werden. So erhalten die Menschen, die drohen, zu Marionetten des Sozialen zu werden, verlässliche Orte, ihre »personale Einzigartigkeit« zu offenbaren.
Die Untersuchungen zu den Schriften und zur Bedeutung der politischen Theoretikerin Hannah Arendt bildeten bis vor wenigen Jahren nur marginal ab, was mich 1986 bewog, als ich erstmals den Essayband Zur Zeit edierte. Mich verstörten damals die Resultate ihres Denkens, mehr aber noch Arendts offensichtliche Fähigkeit, sich von der Wirklichkeit, so wie sie ihr begegnete, frei erschüttern und verwirren zu lassen. Ihre sprachmächtigen Schriften brachten Wind ins Denken, der vielleicht aus der ihr eigentümlichen Spannung zwischen Distanz zur Gesellschaft (Paria) und »Pflicht« zur Einmischung (Citoyen) herrührte. Ihre Absage an die Philosophie aus dem Jahr 1933 (»Ich rühre nie wieder eine intellektuelle Geschichte an!«), die so endgültig schien, dieses begründete Misstrauen in alles Gedachte und Gewusste, das der Wirklichkeit nicht hatte Stand halten können, artikulierte sich in ihren Texten und rief mein Interesse wach. Hier war eine, die suchte einen neuen Pakt der Sprache mit dem Leben. Ihre Texte handelten davon, dass alle Ereignisse und Tatsachen kraft ihres Bestehens Ansprüche an unsere denkerische Zuwendung stellen, auch wenn sie wusste, dass wir im Alltagsleben nicht immer Kraft, Zeit und Neigung haben, uns diesem Anspruch auszusetzen, innezuhalten und nachzudenken.
Das dieses Buch durchziehende »Verlernen« kann man sich, anders als das »Verlernen«, auf das Barbara Hahn in Leidenschaften, Menschen und Bücher hingewiesen hatte, nicht auferlegen, und man kann es auch nicht lernen. Die vier skizzierten Denkwege entspringen keinem Plan, sondern re-agieren auf den Schock des rein Tatsächlichen und halten als Aktion – Lachen, Übersetzen, Verzeihen und Dramatisieren – die durch den Schock entstandene Kluft offen, und uns der Kluft gegenüber in Bewegung.
Unter den Neuanstößen in der Rezeption von Hannah Arendts Werk, die mehr von dem erwähnten Wind in den Arendt-Lektüren spürbar machten, ist zunächst die Publikation des Denktagebuchs zu nennen; des weiteren die Bücher, Essays und Sammelbände von Barbara Hahn, Wolfgang Heuer, Ingeborg Nordmann und Thomas Wild. Die intensive Zusammenarbeit mit Barbara Hahn im Rahmen der gemeinsam kuratierten Ausstellung im Jahr 2006 sowie das ungeahnte Material, das wir fanden, sind in diese Untersuchung eingegangen.1
Dem Buch liegt eine Erfahrung zugrunde: Arendts Texte verausgaben sich nicht, sie entfalten sich mit jedem Wiederlesen. In dem Maße, in dem sich unsere Gegenwart von den ursprünglichen Zeitumständen und Denkanstößen entfernt – so der Verdacht –, stellt sich heraus, dass Arendts Werk ganz andere neuartige Dinge zu sagen hat. Es hält, um im Bild zu bleiben, jeder Generation neu »Lust und Licht« bereit, die Lust am Handeln und Beratschlagen sowie einen »lichten« Vorrat an Fragen und Bildern. Die Kraft der Bilder und Begriffe schaffen einen verlässlichen Ort, an dem die Leser sich auch in der eigenen Ratlosigkeit aufgehoben wissen und sich selbst in wesentliche gedankliche Prozesse verwickeln können.
Hörend die Reden, die aus deinem
Hause dringen, lacht man.
Aber wer dich sieht, greift nach dem Messer.
Bertolt Brecht
Wegen eines Lachens wurde Hannah Arendt im Jahr 1963, nach Erscheinen ihres Eichmann-Reportes, weltweit heftig attackiert, ja: aus der Judenheit »ex-kommuniziert« (Amos Elon). Auslöser dieses Lachens waren die Verhörprotokolle des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann, der als Leiter des NS-Referats »Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten« die Deportationen in die Vernichtungslager organisiert hatte. Eichmann hatte nach dem Krieg unter falscher Identität in Argentinien gelebt, bis er 1960 vom israelischen Geheimdienst nach Jerusalem entführt und dort wegen »Verbrechen gegen das jüdische Volk« und »Verbrechen gegen die Menschheit« vor Gericht gestellt wurde. Im Vorfeld des Prozesses war er als »perverse sadistische Persönlichkeit« und »fanatischer Antisemit« beschrieben worden, bei dem sich, so hieß es, »unersättlicher Mordtrieb« mit »unerbittlicher Pflichttreue« verband. Ausgerechnet diesen NS-Täter, wie er da im Anzug im Glaskasten saß, bezeichnete Arendt in ihrem Prozessbericht als »Hanswurst«, der von sich aus weder Sinn noch Orientierung in sein Leben bekommen habe. Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter schien ihr allzu gewöhnlich und durchschnittlich. Arendt beschrieb ihn: »Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, ein Bösewicht zu werden: Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzen umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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