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Eltern wünschen sich sportliche Kinder. Ehrgeiz und Wettkampfdenken gehören zum Freizeitsport dazu, Überehrgeiz und Tricksereien sind allerdings an der Tagesordnung. Hunderttausende Kinder und Jugendliche, falsch trainiert, von übermotivierten Verantwortlichen angetrieben, legen die Grundlagen für gravierende gesundheitliche Folgeschäden. Kaputte Hüften, Knie und Wirbelsäulen sind keine Ausnahmen sondern vielmehr die Regel bei Mittvierzigern, charakterliche Defizite früh ausgebildeter Fouler kommen dazu. Werner Bartens, Arzt, Vater und Wissenschaftsjournalist packt ein heißes Eisen an. Er weist nach, dass bis heute Übungsleiter nach längst überholten Methoden trainieren lassen und fordert ein sofortiges Umdenken. Denn es kann nicht sein, dass ganze Generationen in der Hoffnung auf einen gesunden Körper sich systematisch zu Krüppeln trainieren.
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Seitenzahl: 268
Werner Bartens
Verletzt, verkorkst, verheizt
Wie Sportvereine und Trainer unsere Kinder kaputt machen
Knaur e-books
Eltern wünschen sich sportliche Kinder. Ehrgeiz und Wettkampfdenken gehören zum Freizeitsport dazu, Überehrgeiz und Tricksereien sind allerdings an der Tagesordnung. Hunderttausende Kinder und Jugendliche, falsch trainiert, von übermotivierten Verantwortlichen angetrieben, legen die Grundlagen für gravierende gesundheitliche Folgeschäden. Kaputte Hüften, Knie und Wirbelsäulen sind keine Ausnahmen, sondern vielmehr die Regel bei Mittvierzigern, charakterliche Defizite früh ausgebildeter Fouler kommen dazu.
Für Horst, Klaus, Antonio, Andi, Mario,
Christian, Sascha, Frank
und all die anderen Trainer,
die es nicht nur gut meinen, sondern auch gut machen.
Und für Max, Dü, Ralf, Zeljko, Marc und Christian,
die immer entspannter werden,
je verbissener es auf dem Spielfeld zugeht.
Ich liebe Sport und finde ihn großartig! Ich spiele mit Begeisterung Tennis und Fußball, jogge und fahre gerne Rennrad. Regelmäßig schaue ich mir im Stadion und im Fernsehen diverse Sportarten an. Allerdings will ich nicht, dass Kinder und Jugendliche durch Sport kaputt gemacht werden. Wenn dieses Buch dazu beiträgt, dass sich ein Kind, ein Jugendlicher oder Erwachsener weniger verletzt, hat es sein Ziel erreicht. Sport ist etwas Wunderbares – falscher Sport hingegen gefährlich:
In Deutschland kommt es jedes Jahr zu 5,4 Millionen Unfallverletzungen. Davon sind 1,5 Millionen Sportunfälle, das entspricht 28 Prozent.
53 Prozent der Unfälle entfallen auf den Vereinssport, 47 Prozent auf den nicht organisierten Freizeitsport.
Experten zufolge ereignen sich jedes Jahr in Deutschland 1,25 Millionen Sportverletzungen, die ärztlich behandelt werden müssen.
70 Prozent aller Verletzungen im Verein entfallen auf die Sportarten Fußball, Handball, Volleyball oder Basketball.
Im Freizeitsport entfallen die meisten Verletzungen auf Fußball, gefolgt von Alpinski, Jogging, Tennis, Squash und Reiten.
Die Gesamtkosten für die Behandlung von Sportverletzungen in Deutschland werden auf 1,5 Milliarden Euro jährlich geschätzt.
Das Ausmaß der Unfälle, Verletzungen und Beschwerden ist enorm. Dabei gilt: 80 Prozent aller Sportverletzungen lassen sich vermeiden, wenn Sportler richtig vorbereitet, aufgewärmt und trainiert sind und sich bei Beschwerden oder Infekten an das Sportverbot halten. Eltern, Lehrer, Trainer, Vereine und Verbände können und müssen dabei mithelfen.
»Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.«
Bertolt Brecht
Eigentlich ist es eine prima Idee: Eltern wollen ihren Kindern etwas Gutes tun und schicken sie zum Sport. Schließlich macht Sport Spaß, ist gesund, sie sind mit Gleichaltrigen zusammen, und die richtige Portion Ehrgeiz bekommen sie dort auch vermittelt. Außerdem fällt der Sportunterricht in der Schule häufig aus und ist vom Stundenplan sowieso zumeist nur auf zwei oder drei Stunden begrenzt. Viel zu wenig. Seit Jahren beklagen Ärzte und Sportwissenschaftler, dass die Fitness von Jugendlichen immer stärker nachlässt und sich die Menschen allgemein zu wenig bewegen.
Was liegt da näher, als Kinder frühzeitig in einem Sportverein anzumelden? Dort können sie regelmäßig mit anderen trainieren und sich bald auch im Wettkampf üben. Bewegung statt Glotze. Dynamik und Aktivität, statt immer nur vor dem Computer oder am Smartphone zu sitzen. Schließlich ist kaum etwas gesünder, als seinen Kreislauf in Schwung zu bringen, Beweglichkeit, Koordination, Ausdauer und Kraft zu schulen, indem man zusammen mit Gleichgesinnten Sport treibt. Und Spaß macht es obendrein.
Außerdem geht es ja nicht nur um den Körper, sondern auch um den Geist. Beim Sport werden Fairness, Zusammenhalt und Teamgeist geübt. Egoisten haben im Sport keine Chance, es geht schließlich darum, sich in der Gruppe einzuordnen, mannschaftsdienlich zu sein und – wenn es darauf ankommt – Verantwortung für die Mitspieler zu übernehmen. Anstand, Ehrlichkeit und Respekt sind die ewigen Werte, die im Sport vermittelt werden. Eine Schule fürs Leben. Oder wie es im Fußball heißt: Elf Freunde müsst ihr sein. Allgemeiner gesprochen: Fairplay geht vor. Und: Alle für einen, einer für alle.
Damit das Training vernünftig und geordnet abläuft, gibt es Trainer. Diese geschulten Sportlehrer und Übungsleiter meinen es ebenfalls gut. Sie handeln aus purem Idealismus und zumeist ehrenamtlich, zumindest im Breitensport. Es sind motivierte, zumeist junge Menschen mit Lust an der Bewegung, die sie liebend gerne an die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen weitergeben.
Zudem wissen sie genau, was Kinder und Jugendliche in welchem Alter brauchen und welche Übungen einem heranwachsenden Körper guttun und ihn stärken. Sie formen aus einem undisziplinierten Haufen lärmender Kinder nicht nur eine homogene Gruppe, sondern eine verschworene Gemeinschaft, die gemeinsame Ziele verfolgt und sich anständig und respektvoll gegenüber dem Gegner verhält. Der Körper wird gekräftigt, der Geist geschult.
So weit die Theorie.
In der Praxis sieht es leider anders aus. Schließlich gibt es auch jene Trainer, die mit gefährlichen Übungen die ihnen anvertrauten Kinder zu Invaliden machen. In diesen Fällen gilt: Die Jugendsportler von heute sind die Krüppel von morgen. Im weniger schlimmen Fall verlieren die Kinder die Lust an Sport und Spiel. Wenn sie Pech haben, führen übertriebener Ehrgeiz und Leistungsdruck jedoch zu Bänderrissen, Ermüdungsbrüchen, Arthrose, chronischen Schmerzen, Muskelfaserrissen und Knorpelschäden.
Dauerhafte Fehlstellungen aufgrund von Ausweichbewegungen nach nicht ausgeheilten Verletzungen tragen dazu bei, dass die Folgen des falschen Trainings noch Jahre später zu spüren sind. Viele ehemalige Freizeitsportler leiden im Alter von gerade mal dreißig oder vierzig Jahren bereits an Dauerschmerzen, beklagen sich über Knieschäden, Rückenprobleme oder leiden unter Früharthrose.
Es kann zwar jeden treffen, der in jungen Jahren an falsche Trainer mit gefährlichen Übungsmethoden und übertriebenem Ehrgeiz gerät, aber gerade die Begabten, die Talentierten und Motivierten sind besonders gefährdet, durch den Sport kaputt gemacht zu werden. Weil ihnen noch mehr abverlangt wird als anderen, weil sie längere Einsatzzeiten haben, weil sie sich selbst nicht schonen und es als ihre Pflicht ansehen, trotz Beschwerden weiterzumachen, und weil sie zusätzlich auch noch in Auswahlmannschaften und regionalen Kadern gedrillt werden.
Manche der früh erworbenen Verletzungen heilen nie aus, die Schäden an Knie, Knöchel, Hüfte oder Rücken bleiben ein Leben lang. Falsches Training, falsche Belastungen und falsche Bewegungen machen diese Kinder nicht zu Berufsathleten, sondern zu Patienten, manchmal gar zu chronisch Kranken. Im günstigen Fall ist das Training nur unwirksam, und die falschen Trainingsformen führen dazu, dass die Leistung der Kinder nach und nach abnimmt, anstatt sich zu verbessern. Im ungünstigen Fall bleiben die Beschwerden jedoch für immer.
Der Grund für diesen Missstand? Es meint niemand böse. Doch woher sollen die Trainer wissen, was gut für die Kinder ist, was ihrem Alter angemessen und was sie überfordert oder ihnen gar schadet? Die große Mehrheit der Übungsleiter wird von Freiwilligen gestellt, die viele Stunden ihrer Freizeit dafür opfern, die es gut meinen, aber leider nicht immer gut machen. Obwohl die Sportverbände in Deutschland zahlreiche Trainerlehrgänge für alle Klassen und Altersstufen anbieten, wie etwa der Deutsche Fußball-Bund (DFB), gibt es eklatante Defizite. Auch im Internet wird vorbildlich darüber aufgeklärt, welche Trainingsinhalte in welchem Jahrgang richtig und wichtig sind – allein, diese Angebote werden viel zu wenig genutzt.
Die meisten Jugendtrainer besitzen keinen Trainerschein und verfügen auch über keinerlei medizinische, sportmedizinische oder physiotherapeutische Ausbildung. Manche halten es schlicht nicht für nötig, sich entsprechend fortzubilden – schließlich haben sie ja selbst viele Jahre gespielt. Um Trainer einer Jugendfußballmannschaft zu werden, reicht es zumeist aus, früher ein bisschen gekickt zu haben und sich auch heute noch für den Sport zu interessieren, den die Kinder ausüben. So werden Irrtümer, gefährliches Unwissen und falsche Trainingsinhalte von Generation zu Generation weitergegeben.
Und Fairness, Respekt, Anstand und Teamgeist? Manchmal gibt es das natürlich noch, das stimmt, und manchmal stehen Moral und Ehrlichkeit tatsächlich im Vordergrund von Spielern wie Trainern. Im Sportverein lernen Kinder allerdings auch von früh auf, wie sie den Gegner versteckt foulen, Zeit schinden oder selber mit einer geschickten »Schwalbe« einen Freistoß, einen Elfmeter oder andere Vorteile für sich und ihr Team herausholen. Dies gilt für alle Ballsportarten.
Kinder lernen im Verein, was ein taktisches Foul ist, wie sie bei einer knappen Führung das Spiel verzögern und den Gegner mit Psychotricks so lange provozieren, bis er die Nerven verliert und sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen lässt. Im Tennis lernen schon kleine Kinder, knapp an der Linie aufkommende Bälle anzuzweifeln und den Gegner aus dem Konzept zu bringen. Statt Fairplay geht es häufig um Tricksen, Täuschen und Schummeln.
Zugegeben, natürlich gibt es auch jene Trainer, die intuitiv und aus Erfahrung alles richtig machen – egal, ob sie einen Trainerschein besitzen oder nicht. Die den Kindern vor allem die Freude an der Bewegung und den Spaß am Spiel vermitteln, die keinen falschen Ehrgeiz haben und ihre Schutzbefohlenen nebenbei zu Anstand und Ehrlichkeit erziehen. Diese Trainer muss man stärken und unterstützen, sie sind es, die allerhöchste Anerkennung verdienen und Lob dafür, dass sie ihre Zeit opfern und Tag für Tag auf dem Trainingsplatz oder in der Halle stehen. Bei Regen, Schnee und Eis, werktags und auch am Wochenende, egal, wie sehr die Kinder quengeln und die Eltern nerven.
Vor den anderen aber, die es vielleicht gut meinen, aber nicht gut machen, muss man die Kinder schützen. Damit sie heil bleiben an Körper und Seele.
Stefan kam mir lächelnd entgegen, aber sein Lächeln wirkte angestrengt. Er kam auf Krücken daher gehumpelt und hob das linke Bein bei jedem Schritt an, um es bloß nicht zu belasten. Bestimmt ein Ski-Unfall, dachte ich, denn Stefan war sehr sportlich. Gerade mal Anfang vierzig, kein Gramm Fett zu viel, sehnig-durchtrainiert.
»Ein Unfall auf der Piste?«, fragte ich besorgt.
»Nein, eine Operation«, sagte er.
»Oh, was Schlimmes?«, wollte ich wissen.
»Ich habe vor zwei Wochen ein künstliches Hüftgelenk bekommen«, erklärte Stefan.
Ungläubiges Staunen. Ich sagte nichts.
»Diesmal links. Auf der rechten Seite habe ich schon seit acht Jahren eine künstliche Hüfte.«
Ich war perplex. Eine neue Hüfte? Bei einem schlanken gesunden Mann wie ihm? Ich kannte Stefan nur flüchtig, sah ihn alle paar Wochen, wenn unsere Jungs gemeinsam einen Sportlehrgang besuchten. Ein freundlicher Vater, mit dem man gut reden konnte. Er fuhr gerne Rennrad, das wusste ich, und man sah ihm an, dass er früher viel Sport getrieben haben musste. Keine 70 Kilogramm wog er. An zu viel Gewicht konnte es jedenfalls nicht liegen, dass er in so jungen Jahren neue Gelenke brauchte.
Mich ließ die Frage nicht los, warum ein schlanker, sportlicher Mann im Alter von gerade mal zweiundvierzig Jahren bereits mit zwei künstlichen Hüftgelenken herumlief, vielmehr: herumhumpelte. Vielleicht steckte eine seltene Knochenkrankheit dahinter, ein angeborener Gelenkdefekt oder ein schlimmeres Leiden. Mich interessierte der medizinische Grund, aber ich wollte nicht indiskret sein.
Stefan schien meine Gedanken zu erahnen, denn er erzählte bald von sich aus, warum die Operation notwendig geworden war:
»Ich habe früher zu viel Sport getrieben, die Hüften sind hin. Ich hatte unendliche Schmerzen, es ging nicht mehr«, sagte er. »Wie gesagt: Die andere Hüfte ist bereits vor acht Jahren ausgetauscht worden.«
Es stellte sich heraus, dass Stefan als Jugendlicher immer gerne Sport getrieben hatte. Zunächst war er Mitglied in einem Leichtathletikverein gewesen, und zudem ist er in seiner Freizeit gerne geschwommen. Einer seiner Leichtathletiktrainer war begeisterter Triathlet. Er fragte unter den Jungs im Training herum, wer Interesse hatte, und schon bald konnte er einige der Jugendlichen – darunter Stefan – für den Dreikampf aus Schwimmen, Radfahren und Laufen gewinnen. Mit sechzehn Jahren fingen sie mit dem intensiven Training an.
»Wir haben trainiert wie blöde«, erinnert sich Stefan. »Jeden Tag, immer voll auf die Knochen. Und wenn eine Einheit vorbei und das Training eigentlich beendet war, gab es eine Art internen Wettkampf unter uns, wer noch eine Runde drauflegte.« Das bedeutete beispielsweise, im Schwimmbad acht Kilometer zurückzulegen – das sind in einem 50-Meter-Becken 160 Bahnen gleichförmig hin und her – und dann unter der Dusche auf die Idee zu kommen, mit der nachfolgenden Trainingsgruppe noch mal 1500 Meter dranzuhängen. »Wir wollten es uns beweisen, und der Trainer hat das unterstützt.« Stefan schüttelt den Kopf, als ob er sich heute noch über die Dummheiten von damals aufregt. Wobei unklar bleibt, ob er die seines Trainers oder die eigenen meint.
»Wir hatten einen perversen Trainingsrhythmus von 21 Tagen mit intensiven Laufeinheiten am Stück und dann einem Tag Pause«, sagt Stefan. »Aus heutiger Sicht ist das total unvernünftig, völlig bescheuert, aber wir haben weitergemacht. Und wenn mal was weh tat, haben wir einfach ein paar Schmerzmittel geschluckt und die Zähne zusammengebissen.«
Laufen, bis der Arzt kommt. Lange Läufe von 12 oder 15 Kilometern, vorher gelegentlich noch Sprinteinheiten. Jeden Tag, drei Wochen am Stück – dann ein lächerlicher Tag Pause für den Körper. Das hält kein Gelenk lange aus, auch wenn es nur ein Körpergewicht von vielleicht 68 Kilogramm tragen muss.
Stefan schüttelt den Kopf, während er von dem monströsen Trainingspensum erzählt, das er und seine Teamkameraden sich damals zugemutet haben, ohne dass sie ein Trainer oder jemand anders daran hinderte. Er wird allerdings wehmütig, als er sich daran erinnert, dass er ein paar Jahre als Triathlon-Profi unterwegs war. Er war damals Anfang zwanzig, so lange ist das noch nicht her. Wettkämpfe quer durch Europa, ab und zu auch in den USA. »Anfangs stand der Spaß im Vordergrund, aber das Training hat mich kaputt gemacht.« Stefan schaut ernst, dann humpelt er weiter, um seinem Sohn beim Training zuzusehen.
Ortswechsel. Norditalien, ein Spätsommerurlaub am See. Wir haben uns auf einem Campingplatz eingerichtet, wenig Rummel, idealer Ferienausklang. Der Zeltplatz liegt an einer kleinen Straße, danach kommt nur noch ein nahezu verlassener Ort. Dort endet der Weg, weil sich das Felsmassiv am Ortsende am Rand des Sees auftürmt. Ich jogge jeden Tag auf der Straße am See entlang. Der Weg führt durch drei kurze Tunnel, es ist kaum Verkehr, weil die Straße in einer Sackgasse endet. Hin und zurück sind es knapp sieben Kilometer.
Ich komme verschwitzt zurück von meinem Lauf und treffe den Freund, mit dessen Familie wir hier Urlaub machen. Er fragt, wie es war, er sieht meinen zufriedenen Gesichtsausdruck, und ich erzähle ihm von der schönen Strecke, die in Kurven am Ufer entlangführt, und frage, ob er morgen nicht mitkommen wolle.
»Ich kann das nicht«, sagt er. »Keine Chance, leider.«
Ich verstehe nicht, was er meint. Dazu muss man wissen: Der Mann hat eine Traumfigur. Er hat Sport studiert, ist an den richtigen Stellen muskulös, gut trainiert und wiegt 80 Kilogramm bei 1,86 Meter Körpergröße. Bis heute ist er ein begeisterter Surfer. Und er hat zwölf Jahre lang Fußball gespielt, zumeist in der vierthöchsten deutschen Spielklasse, was ziemlich gleichbedeutend ist mit Leistungssport. Wer so weit oben spielt, ist sowohl von seinem körperlichen Leistungsvermögen her als auch von seinem fußballerischen Talent ungleich näher dran an Bundesliga-Profis als ein Hobby-Kicker aus der Kreisklasse an ebenjenen Fußballern der vierten Liga.
»Geht leider nicht, meine Knie sind kaputt. Die sind hinüber«, sagt der Freund. »Zu lange zu falsch trainiert.« Nach ein paar Metern würden ihm die Gelenke weh tun. Keine Chance, wirklich nicht. »Das geht schon lange nicht mehr.«
Moment, was ist da los? Ich bin 1,98 Meter groß und wiege um die 100 Kilogramm und war zeitlebens ein zwar begeisterter, aber ziemlich mittelmäßiger Sportler, der in den untersten Ligen Fußball und Tischtennis gespielt hat, aber bis heute gerne und regelmäßig joggt, Rennrad fährt, Tennis spielt und im Altherrenfußball-Team mit sparsamen Bewegungen auf Pässe seiner Mitspieler wartet. Und ich bin in der Lage, diese Sieben-Kilometer-Runde zu joggen, auf denen mich Stefan, der ehemalige Triathlet, wie auch der Freund, der ehemalige Fußballer, früher vermutlich dreimal überholt hätten? Die beiden gehen hingegen an Krücken oder könnten vor lauter Beschwerden erst gar nicht zu diesem lockeren, kleinen Dauerlauf antreten?
Irgendetwas läuft da falsch, und zwar gewaltig.
Der Sport hat diese sportlichen Männer kaputt gemacht, und das nicht erst in fortgeschrittenem Alter, sondern schon vor Jahren. Offenbar gilt die Regel, je besser und talentierter jemand ist, desto größer ist die Gefahr für Zerstörungen und bleibende Schäden. Und wie ist das heute, hat sich wirklich so viel geändert?
Zu diesen Eindrücken passt die Krankengeschichte vieler ehemaliger Spitzensportler wie etwa die von Boris Becker. Deutschlands erster und bis heute jüngster Wimbledon-Sieger aller Zeiten, der im Jahr 1985 in London triumphierte. Ein Super-Sportler, ein nimmermüder Kämpfer. Sein kraftvolles Spiel hat ihm den Namen »Bumm-Bumm-Boris« eingebracht, seine Sprünge zu unerreichbar erscheinenden Bällen sind unter dem Namen »Becker-Hecht« in die Sport-Geschichte eingegangen. Heute ist er – man muss das so deutlich sagen – Sport-Invalide und kann nur mit Mühe die Treppen zu seinem Platz erklimmen, um seinem Schützling Novak Djokovic bei dessen Matches zuzusehen. Auch Boris Becker hat künstliche Hüftgelenke, dabei ist er noch keine fünfzig.
Sein Lebenswandel war zwar nicht immer solide, aber prägend für seinen heutigen Zustand waren nicht die Zerstreuungen neben dem Platz, sondern die Belastungen auf dem Platz, in der Tennishalle, in Sportarenen und Trainingszentren drum herum.
Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Viele ehemalige Profisportler können sich heute kaum mehr bewegen. Fußballer, Basketballer, Handballer, Tennisspieler und andere Sportler – viele von ihnen haben künstliche Gelenke, starke Arthrose, heftige Schmerzen und Beschwerden aller Art. Und auch viele Freizeitsportler – und unter ihnen sind es ebenfalls gerade die Besseren und Talentierteren – haben dauerhaft Schmerzen und diverse Gelenkoperationen hinter sich.
Der Fehler liegt offenbar im System. Sport ist zwar noch immer eine der schönsten Nebensachen der Welt und in der richtigen Dosis wohltuend und gesund. Aber anscheinend gilt das nur dann, wenn man ihn vernünftig betreibt und nicht in die Versuchung gerät, Leistungssport zu treiben. Talentierte Kinder sind besonders gefährdet, zu früh in die Mühlen eines Systems zu geraten, das ihnen nicht guttut, sondern sie kaputt macht.
Allerdings hält der menschliche Körper erstaunlich viel aus. Man muss schon eine Menge mit ihm anstellen und ihn immer wieder malträtieren, bis er wirklich Schaden nimmt. Und solange immer einige Sportler die Fron, den Kampf und Krampf halbwegs überstehen und es zum Profi schaffen, solange sie weiterhin Medaillen und Turniere gewinnen und ihr Land stolz machen, wird es so weitergehen.
Wer kennt schließlich die Handvoll – oder sind es ein paar Dutzend oder gar ein paar hundert –, die auf der Strecke geblieben sind, während der eine Weltmeister oder Olympiasieger sich im Glanz des Ruhmes sonnt? Wer weiß schon, wie viele noch begabtere und talentiertere Kameraden es im Umfeld jedes Fußballnationalspielers, jedes Handballbundesligaspielers und jedes Basketball- oder Tennisprofis gab, der mit Kreuzbandriss, Knorpelschaden, Übermüdungsfraktur oder Gelenkverschleiß bereits mit Anfang zwanzig seine Karriere beenden musste, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte?
Für die Ehrgeizigen und Talentierten, die nicht mit dem Sport ihren Lebensunterhalt verdienen können, heißt das allerdings auch: Der Sport produziert Verletzte und Versehrte. Verkorkste sowieso. Das ist gleichsam die Nebenwirkung, die billigend in Kauf genommen wird. Und dieser Befund gilt nicht nur für die Profis oder für solche, die es schon immer werden wollten, sondern das trifft auch für die ganz Kleinen zu, im Freizeit- und Breitensport. Es fängt bereits in jungen Jahren an. Der Fehler hat System.
Es gibt so viele unterschiedliche Trainertypen, wie es Trainer gibt. Trotzdem lassen sich verschiedene Muster erkennen und bestimmte Charakteristika, die man immer wieder auf den Sportplätzen und in den Turnhallen des Landes antrifft. Viele, wenn auch nicht alle dieser Eigenarten gehen mit typischen Risiken für die Kinder einher, die von diesen Trainern betreut werden.
Diese Trainer sind noch sehr jung, vielleicht Anfang zwanzig. Sie spielen in der Herrenmannschaft, manchmal sogar noch in der A-Jugend. Sie stehen voll im Saft. Da sie selbst regelmäßig im Wettkampf aktiv sind und mehrmals in der Woche trainieren, meinen sie zu wissen, was zu einem ordentlichen Training gehört. Ihre Trainingslehre ist ganz einfach: Sie übertragen ihr Training auf das der Kinder und Jugendlichen und bieten ihnen die gleichen Übungen an, die sie selbst machen müssen, allerdings in einer abgespeckten Version. Statt sich zehnmal den Medizinball zuzuwerfen, müssen es die Jugendlichen dann beispielsweise nur sechsmal machen. Statt 20 Liegestützen stehen nur zehn auf dem Programm.
Genau darin besteht die Gefahr. Denn der heranwachsende Körper der Kinder und Jugendlichen ist noch nicht so stabil, dass er diese Belastungen verträgt, zudem sollten gerade bei kleineren Kindern die spielerischen Elemente im Training im Vordergrund stehen – und nicht Lauf- oder Krafteinheiten. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. In jungen Jahren sind andere Schwerpunkte nötig.
Diese Herren befinden sich bereits im Rentenalter oder sind frühpensioniert. Und sie trainieren so, wie sie schon immer trainiert haben, jahrzehntelang. Was soll an 40 oder gar 50 Jahren Erfahrung schließlich falsch sein? Das hat uns damals auch nicht geschadet, ist ihre Devise. Die Hauptgefahr bei diesen Trainern: Sie glauben unverbrüchlich an das Motto »Viel hilft viel« und überfordern damit zumeist ihre Schützlinge. Für sie ist ein Training nur dann ein gelungenes Training, wenn die Kinder und Jugendlichen hinterher heftigen Muskelkater haben, ihnen alles weh tut und sich ein paar der Sportler anschließend vor Anstrengung übergeben müssen.
Da muss man durch. Das härtet ab und schadet nichts. Wir haben damals noch viel heftiger trainiert – das sind die Parolen, mit denen sie ihr straffes Programm begründen und unbeirrt daran festhalten. Ihre Einstellung gegenüber neumodischen Trainingsmethoden mit Wackelbrettern und Gummibändern? Hör mir auf damit, bringt doch nichts.
Er hat früher mal mit Klaus Allofs oder Bastian Schweinsteiger oder Dirk Nowitzki in der B-Jugend gespielt. Er war ein noch größeres Talent als diese drei und wurde schon früh von den Scouts der Profimannschaften entdeckt und für höhere Aufgaben empfohlen. Im alles entscheidenden Spiel, in dem Talente für den Bundesligakader gesichtet wurden, hat er leider verletzungsbedingt gefehlt oder nicht seine optimale Leistung abrufen können.
Er erzählt gerne von den alten Zeiten, den vielen Meisterschaften und Pokalen, die er beinahe gewonnen hätte. Das ist manchmal anstrengend, aber nicht weiter schlimm. Er weiß auch heute noch, was für eine Profikarriere wirklich wichtig ist. Und er erkennt die Talente bereits in ganz jungen Jahren, dafür hat er einen Riecher. Seine Erfahrung und sein Wissen möchte er gerne weitergeben, und die Kinder, die er trainiert, will er ganz nach oben bringen. Hier wird es heikel, denn die Gefahr ist groß, dass dieser Trainer die Kinder überfordert, nicht geduldig genug mit ihnen umgeht und sie überlastet. Sein Ehrgeiz und die Kränkung, es selbst nicht bis ganz nach oben geschafft zu haben, können gefährlich werden und zu einem überharten Training führen.
Er will den ihm anvertrauten Kindern und Jugendlichen die neuesten Trainingslehren und die besten Übungsformen weitergeben. Er weiß, wie ein sinnvolles Training aufgebaut ist und welche Inhalte wichtig sind, um Kinder und Jugendliche nicht zu überlasten und Verletzungen vorzubeugen. Er hat das alles gerade erst im Studium gelernt. Dazu benutzt er komplexe Taktiktafeln und Videoanalysen. Eigentlich ist er auf einem guten Weg.
Er überschätzt allerdings manchmal, was er im Freizeitsport eines Vereins tatsächlich umsetzen kann – und was nicht. Anfangs hält er noch an seinen Plänen und Ideen fest. Die größte Gefahr besteht darin, dass er aufgibt – und fortan das gleiche Training anbietet wie die anderen Jugendtrainer. Oder er wird abgelöst, weil die Starrköpfe im Verein seine modernen Methoden nicht schätzen. Diese Reaktionen gibt es auch im Profisport – man erinnere sich nur daran, wie Ralf Rangnick als »Fußball-Professor« verspottet wurde, weil er innovative Methoden einführte, oder Jürgen Klinsmann der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, als er sich die Hilfe von Hockey- und Leichtathletiktrainern holte und mehr Wert auf Koordination und Gleichgewichtsübungen legte – er galt fortan als »der Trainer mit den Gummibändern«.
Er ist dankbar und will der Gemeinschaft zurückgeben, was er als Jugendlicher einst selbst an Unterstützung und Förderung erfahren hat, sei es bei den Pfadfindern, im Sportverein oder in der kirchlichen Jugendgruppe. Ihm ist es wichtig, dass die Kinder den Sport vor allem spielerisch sehen und nicht zu verbissen. In seinem Training haben die Kinder viel Spaß, auch wenn sie in den Punktspielen und Wettkämpfen immer mal wieder verlieren. Diesem Trainer ist das aber nicht so wichtig. Für ihn zählt das Erlebnis und nicht das Ergebnis.
Die Gefahr besteht darin, dass diese Form des Trainings nicht lange anhält, weil die besonders ehrgeizigen Eltern schnell durchsetzen werden, dass dieser Trainer nicht mehr lange das Training ihrer Kinder leitet. Zu wenig Schwung, zu wenig Ehrgeiz, zu wenig Leistungsorientierung, lauten die Vorwürfe. Da geht ja nichts voran! Der freundliche Idealist wird dann ersetzt – irgendwo im Verein findet sich noch ein Schleifer alter Schule, der die Kinder stärker fordert und manchmal leider auch überfordert.
Eigentlich wollte er zunächst gar nicht das Training übernehmen. Aber da der Sohn oder die Tochter nun mal so gerne Fußball spielen (oder Handball, Volleyball, Basketball oder jede andere beliebige Sportart), hat er sich letztlich doch breitschlagen lassen. Schließlich hat er ja früher selbst einmal gespielt, er weiß noch, wie das geht. Er ist überzeugt davon, dass sein Sohn das Zeug hat, es im Sport ganz nach vorne zu bringen. Mit dieser Überzeugung steht er allerdings weitgehend allein da.
Weil die anderen Kinder und Eltern das Talent des Trainersohnes nicht erkennen und sowieso alles Ignoranten sind, vernachlässigt er das Training für die anderen Kinder. Seinen eigenen Sohn wechselt er nie aus, der spielt immer und auch immer über die volle Spielzeit und riskiert damit Überlastungsschäden. Solche Trainer sind nicht wirklich bedrohlich für die anderen Kinder. Allerdings wird das Gerechtigkeitsempfinden der Kinder auf eine harte Probe gestellt, weil der Trainersohn ständig eingesetzt und bevorzugt wird.
Eigentlich wollte er gar nicht das Training übernehmen. Aber da der Sohn oder die Tochter nun mal so gerne Fußball spielen (oder Handball, Volleyball, Basketball oder jede andere beliebige Sportart), hat er sich – siehe oben – letztlich doch breitschlagen lassen. Schließlich hat er ja früher selbst einmal gespielt, er weiß schon noch, wie das geht. Er ist überzeugt davon, dass sein Sohn oder seine Tochter zu verweichlicht ist und bisher nicht gelernt hat, sich richtig anzustrengen und gegen Konkurrenten durchzusetzen.
Während des Trainings wird dieses Trainerkind deshalb besonders gefordert und von seinem Vater extra hart rangenommen. Im Spiel wird das eigene Kind oft ausgewechselt, weil die anderen Eltern auf keinen Fall den Eindruck bekommen sollen, dass der Trainer es begünstigt. Die Gefahr im Training besteht in der strengen und ehrgeizigen Einstellung dieses Übungsleiters: Im Leben wird einem nichts geschenkt, lautet seine Devise. Deshalb werden auch die anderen Kinder mit besonders anstrengenden Übungen malträtiert und wenig geschont. Sind sie verletzt, besteht die Gefahr, dass der Trainer sie zu früh wieder einsetzt oder ihnen vermittelt, sich nicht so anzustellen und »die Zähne zusammenzubeißen«.
Er ist noch jung, hat keinen Plan und weiß eigentlich nicht genau, was er mit den Kindern und Jugendlichen in seinem Training anfangen soll – außer dass er sie in den nächsten eineinhalb Stunden irgendwie beschäftigt. Er heißt Schwellentrainer, weil er sich erst mit Übertritt der Schwelle zur Halle oder zum Spielfeld überlegt, was die Kinder jetzt machen sollen. Bisschen laufen, bisschen dehnen, ein paar Übungen mit dem Ball und dann ein abschließendes Spiel gegeneinander. Die Kinder machen Quatsch, er sitzt mit dem Smartphone in der Hand am Rand.
Wenn es gut läuft, haben die Kinder bei diesem Trainer viel Spaß und verbessern spielerisch ein paar läuferische Fähigkeiten und ihre Balltechnik. Wenn es schlecht läuft, sind die Kinder überhaupt nicht aufgewärmt, kennen keinerlei koordinative Übungen und sind daher nicht genügend vorbereitet, wenn sie im Spiel gegeneinander mit vollem Einsatz zur Sache gehen. Die Verletzungsgefahr ist daher naturgemäß groß. Technik und Geschicklichkeit der Kinder und Jugendlichen verbessern sich kaum.
»Da wollten die Eltern gewinnen. Die Kinder haben geweint.«
Fotograf Manfred Binder, der dokumentiert hat, wie in Linz bei einem Laufwettbewerb vierjährige Kinder an der Hand ihrer Eltern ins Ziel gezerrt wurden
Eltern haben es am Spielfeldrand nicht leicht, wenn ihre Zöglinge auflaufen. Eigentlich können sie es nur falsch machen – entweder sie liefern zu wenig Unterstützung oder nicht die richtige. Manchmal ist es allerdings offensichtlich, dass sie ihren Kindern nicht guttun und besser zu Hause geblieben wären. Anstatt sie zu unterstützen oder sich ganz zurückzuhalten, sind die Kinder eingeschüchtert oder entwickeln übertriebenen Ehrgeiz.
Er gibt während des ganzen Spiels Anweisungen von der Seitenlinie. Nicht eine Minute lang ist er ruhig. Eigentlich ist er der viel bessere Trainer – das meint er zumindest. »Max, schieß du den Freistoß«, ruft er ins Spiel, auch wenn sich der Trainer gerade dafür entschieden hat, dass Leo den Freistoß schießen soll. Oder: »Max, lauf mit zurück, das ist dein Mann!«