Buch
Jeder, der Molly Somerville kennt, hält sie für reichlich kapriziös. Freundlich ausgedrückt … Aber als sie nach dem Tod der Eltern ein 15-Millionen-Erbe ausschlägt, zweifeln ihre Mitmenschen endgültig an Mollys Geisteszustand. Aber Molly ist einfach rundum zufrieden mit ihrem Leben: Sie fühlt sich wohl in ihrem chaotischen Loft, sie liebt ihren Pudel und ihre kreative – wenn auch nicht lukrative – Arbeit als Kinderbuchautorin. Zugegeben: Es war nicht immer leicht, im Schatten der schönen, begabten Schwester Phoebe heranzuwachsen. Doch heute haben sich die Schwestern von Herzen gern, und Molly findet es ziemlich spannend, mit der Besitzerin der erfolgreichsten Football-Mannschaft Amerikas verwandt zu sein. Mollys Welt ist also in Ordnung – wenn ihr nicht ständig dieser Kevin Tucker auf den Geist ginge. Kevin – unverschämt attraktiv, Ferrari-Fahrer und Pudel-Hasser – ist der heiß geliebte Quarterback der Chicago Stars, der Mannschaft von Mollys Schwester. Und in deren Ferienhaus prallen die beiden Hitzköpfe dann auch eines Tages zufällig wieder aufeinander – eine Begegnung mit wahrhaft heißen Folgen …
Autorin
Mit ihrem unnachahmlichen Witz, ihrer romantischen Wärme und ihrem unwiderstehlichen Temperament stürmen Susan Elizabeth Phillips’ Romane seit Jahren die internationalen Bestsellerlisten. Auch in Deutschland hat sich die Autorin eine riesige Fangemeinde erobert. Das Geheimnis ihres Erfolgs: »Susan Elizabeth Phillips’ Romane sind pures Vergnügen. Sie ist einfach unschlagbar!«
(Publishers Weekly)
Phillips lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der Nähe von
Susan Elizabeth Phillips
Verliebt, verrückt, verheiratet
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anke Knefel und Kattrin Stier
blanvalet
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»This Heart of Mine«
bei William Morrow, HarperCollins Publishers, Inc., New York.
Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Lektorat: SK
Redaktion: Regine Kirtschig
Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Für Jill Barnett,
die beste Ehestifterin
1
Daphne das Häschen bewunderte gerade ihren glitzernden lila Nagellack, als Benny der Dachs auf seinem knallroten Mountainbike vorbeiraste und sie beinahe über den Haufen fuhr. »Du raubst einem wirklich den letzten Nerv!«, schrie sie hinter ihm her. »Wird Zeit, dass dir mal jemand die Luft aus den Reifen lässt.«
Trubel um Daphne
An dem Tag, als Kevin Tucker sie beinahe umbrachte, beschloss Molly Somerville, unerwiderter Liebe ein für alle Mal abzuschwören.
Sie hatte sich darauf konzentriert, die vereisten Stellen auf dem Parkplatz der Chicago-Stars-Zentrale zu umgehen, als Kevin in seinem nagelneuen feuerwehrroten 140 000-Dollar-Ferrari wie aus dem Nichts auf sie zugeschossen kam. Mit quietschenden Reifen röhrte das schnittige Auto um die Ecke, dass der Schneematsch nur so spritzte. Sie entging dem schleudernden Hinterteil nur durch einen beherzten Sprung auf die Kühlerhaube eines parkenden Wagens – es war der Lexus ihres Schwagers -, rutschte ab und landete wutschnaubend auf allen Vieren.
Nicht einmal gebremst hatte der Arsch!
Molly starrte böse den schnell entschwindenden Rücklichtern hinterher und rappelte sich zähneknirschend auf. Dreck und grauer Schneematsch klebten am Bein ihrer sündhaft teuren »Comme des Garçons«-Hose, ihre Prada-Tasche war völlig zerknautscht und über ihre italienischen Stiefel zog sich eine lange Schramme. »Du eingebildeter Bastard von einem Quarterback«, zischte sie und schnappte nach Luft. »Kastrieren sollte man dich.«
Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er sie beinahe umgebracht hätte, nicht einmal gesehen hatte er sie! Das war nichts Neues. Kevin Tucker hatte sie während seiner gesamten Karriere im »Chicago Stars«-Football-Team noch nicht einmal bemerkt.
Daphne klopfte den Staub aus ihrem flauschigen weißen Fell, wischte den Dreck von ihren glänzenden blauen Pumps und beschloss, die schnellsten Rollerblades der Welt zu kaufen. Sie würde es Benny auf seinem superschnellen Mountainbike schon zeigen …
Molly spielte sogar kurz mit dem Gedanken, mit dem klapprigen VW-Käfer, den sie nach dem Verkauf ihres Mercedes erstanden hatte, hinter Kevin herzujagen. Doch selbst sie mit ihrer blühenden Fantasie hatte Schwierigkeiten, sich dabei ein triumphales Finale vorzustellen. Während sie auf den Haupteingang des Gebäudes zusteuerte, schüttelte sie angewidert den Kopf. Dieser rücksichtslose oberflächliche Typ hatte sowieso nur Football im Kopf. Jetzt reichte es, sie musste es sich endlich abgewöhnen, diesen Typen aus der Ferne anzuhimmeln, sie hatte die Nase voll von unerwiderter Liebe.
Obwohl es mit Liebe eigentlich nichts zu tun hatte, eher mit einer lächerlichen Schwärmerei für diesen Schwachkopf, die man einer Sechzehnjährigen vielleicht nachgesehen hätte, nicht aber einer intelligenten Frau von siebenundzwanzig, einer angeblich überdurchschnittlich intelligenten, wohl gemerkt.
Diese Intelligenz schien sich in gewissen Momenten einfach abzuschalten.
Ein warmer Luftstrom traf sie, als sie die Glastüren mit dem stolzen Vereinslogo, drei Goldsternen in einem himmelblauen Oval, aufstieß und die Eingangshalle betrat. Sie kam längst nicht mehr so oft hierher wie noch zu ihren Highschool-Zeiten. Schon damals hatte diese Umgebung sie befremdet. Als hoffnungslose Romantikerin versank sie lieber in einem guten Buch oder verlor sich in einem Museum, als sich für Kontaktsportarten zu interessieren. Natürlich war sie nach wie vor überzeugter Stars-Fan, doch waren es eher Familienbande als sportliche Begeisterung, die sie dazu brachten. Schweiß, Blut und das Geräusch aufeinander prallender Schulterpolster waren ihr so fremd wie … nun ja … Kevin Tucker.
»Tante Molly!«
»Na endlich, wir haben schon auf dich gewartet!«
»Rate mal, was passiert ist!«
Sie lächelte ihren beiden hübschen elfjährigen Nichten entgegen, die mit wehenden blonden Locken auf sie zustürmten.
Tess und Julie sahen aus wie Miniaturausgaben ihrer Mutter Phoebe, Mollys älterer Schwester. Sie waren eineiige Zwillinge und sahen sich zum Verwechseln ähnlich, auch wenn Tess in Jeans und einem übergroßen Stars-Sweatshirt steckte und Julie in schwarzen Caprihosen und einem pinkfarbenen Pullover. Beide waren sehr sportlich, Julie war eine begeisterte Ballettratte, Tess tat sich eher in Mannschaftssportarten hervor. Bei ihren Klassenkameraden waren die beiden lebhaften, stets gut aufgelegten Calebow-Schwestern sehr beliebt, nur ihre Eltern hatten schlaflose Nächte, weil sie vor kaum einer Herausforderung zurückschreckten.
Auf halbem Wege blieben die Zwillinge plötzlich wie angewurzelt stehen. Was immer sie Molly gerade noch erzählen wollten, schien mit einem Schlag weggewischt, als sie ihre Haare sahen.
»Oh mein Gott, sie sind rot!«
»Total rot!«
»Ist ja cool! Warum hast du uns nichts davon gesagt?«
»War so eine plötzliche Eingebung«, erwiderte Molly.
»Ich werde meine Haare genauso färben!«, verkündete Julie.
»Das ist sicher keine so gute Idee«, sagte Molly schnell. »Also, was wolltet ihr mir gerade erzählen?«
»Dad ist ja soo wütend!« Tess riss dramatisch die Augen auf.
Julie versuchte ihre Schwester noch zu übertreffen. »Er und Onkel Ron haben sich mal wieder mit Kevin gestritten.«
Molly spitzte die Ohren, obwohl sie eben noch beschlossen hatte, ihrer unerfüllten Liebe zu entsagen. »Was hat er denn angestellt? Außer dass er mich eben beinahe überfahren hätte.«
»Ehrlich?«
»Halb so wild. Nun erzählt schon.«
Julie holte tief Luft. »Er war Fallschirm springen in Denver, einen Tag vor dem Spiel gegen die Broncos!«
»Oh je …« Molly ahnte Böses.
»Dad hat es gerade herausgefunden und ihm eine Strafe von zehntausend Dollar aufgebrummt.«
»Wow!« Soviel sie wusste, war es das erste Mal, dass Kevin zu einer solchen Geldbuße verdonnert worden war.
Der Quarterback hatte sich kurz vor dem Trainingscamp im Juli leichtsinnigerweise dazu hinreißen lassen, an einem Amateur-Motocross-Rennen teilzunehmen, bei dem er sich ein verstauchtes Handgelenk zugezogen hatte. Da es ihm gar nicht ähnlich sah, seinen Einsatz auf dem Spielfeld zu gefährden, hatte man Nachsicht geübt, allen vo-ran Dan, der Kevin sonst nur als vollendeten Profi kannte.
Das änderte sich allerdings, nachdem Dan zu Ohren gekommen war, dass Kevin während der regulären Spielsaison zum Drachenfliegen ins Mountain Valley gefahren war. Kurz darauf hatte der Quarterback sich dann den schnellen Ferrari-Spider zugelegt, mit dem Molly gerade auf dem Parkplatz so unsanft Bekanntschaft gemacht hatte. Dann hatte die Sun-Times letzten Monat berichtet, Kevin habe Chicago am Montag direkt nach der Spielbesprechung verlassen und sei für einen Tag nach Idaho zum Helicopter-Skiing in einem abgelegenen Teil des Sun Valley geflogen. Da Kevin dabei ohne Verletzung davongekommen war, hatte Dan ihn lediglich verwarnt. Doch das Fallschirmspringen hatte das Fass jetzt offensichtlich zum Überlaufen gebracht.
»Dad schreit ja oft rum, aber bei Kevin hat er sich bisher immer zurückgehalten«, berichtete Tess. »Und Kevin hat zurück gebrüllt, er wüsste schon, was er täte, er hätte sich nicht verletzt, und Dad sollte sich aus seinem Privatleben raushalten.«
Molly verzog das Gesicht. »Ich wette, das hat deinem Vater gar nicht gefallen.«
»Er ist danach erst richtig laut geworden«, erzählte Julie. »Onkel Ron hat versucht, die beiden zu beruhigen, doch dann kam der Coach dazu und fing auch noch an herumzuschreien.«
Molly wusste, wie sehr ihre Schwester Phoebe lautstarke Auseinandersetzungen verabscheute. »Und was hat eure Mutter gemacht?«
»Sie hat sich in ihrem Büro eingeschlossen und ganz laut Alanis Morissette gehört.«
Wahrscheinlich das Beste, was sie in dem Moment tun konnte.
Da kam Mollys fünfjähriger Neffe Andrew laut trampelnd angerannt und bog pfeilschnell, beinahe wie Kevins Ferrari, um die Ecke. »Tante Molly! Weißt du was?« Er warf sich um Mollys Knie. »Alle haben geschrien und meine Ohren tun weh.«
Da Andrew nicht nur das gute Aussehen seines Vaters, sondern auch sein dröhnendes Organ geerbt hatte, bezweifelte Molly, dass er wirklich gelitten hatte. Sie strich ihm über den Kopf. »Das tut mir Leid.«
Er sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch. »Und Kevin war so wütend auf Dad, Onkel Ron und den Coach, dass er das Wort mit Sch … gesagt hat.«
»Das hätte er nicht tun sollen.«
»Sogar zweimal!«
»Du liebe Zeit!« Molly unterdrückte ein Lächeln. Bei den vielen Stunden, die sie in der Zentrale eines Football-Teams der National League verbrachten, war es unvermeidlich, dass die Kinder von dem wenig zimperlichen Ton, der dort herrschte, mehr mitbekamen, als einem lieb war. Innerhalb der Familie jedoch herrschten strenge Regeln, der Gebrauch von Schimpfwörtern wurde konsequent geahndet.
Sie verstand sich selbst nicht. Das Schlimmste an ihrer Schwärmerei – ihrer früheren Schwärmerei – war, dass sie sich ausgerechnet in Kevin, den oberflächlichsten Typen auf Erden, verguckt hatte. Football war das Einzige, was ihn interessierte. Football und eine endlose Schlange gesichtsloser Models aus aller Welt. Sie fragte sich, wo er diese Frauen immer wieder auftrieb. Über NoPersonality.com?
»Hallo, Tante Molly!«
Anders als ihre Geschwister kam die achtjährige Hannah nicht im Laufschritt auf Molly zugerannt. Molly hatte alle vier Kinder ins Herz geschlossen, aber dieses verletzliche mittlere Kind nahm einen besonderen Platz ein. Sie besaß weder die athletische Stärke noch das grenzenlose Selbstvertrauen ihrer Schwestern, sondern war eine romantische Träumerin, eine hoch sensible, fantasiebegabte Leseratte, mit großem Talent zum Zeichnen, ganz wie ihre Tante.
»Dein Haar gefällt mir.«
»Danke.«
Ihren aufmerksamen grauen Augen entging auch nicht Mollys schmutzige Hose.
»Was ist denn mit dir passiert?«
»Ich bin auf dem Parkplatz ausgerutscht, halb so wild.«
Hannah knabberte an ihrer Unterlippe. »Haben sie dir schon von dem Streit erzählt, den Kevin und Dad hatten?«
Sie schien etwas aufgelöst und Molly ahnte auch, warum. Kevin war häufiger bei den Calebows zu Gast, und wie ihre dumme Tante hatte sich die Achtjährige unsterblich in Kevin verliebt. Doch anders als bei Molly, handelte es sich bei Hannah um wahre Liebe.
Andrew umklammerte noch immer ihre Knie und so streckte Molly ihrer Nichte ihren Arm aus und zog sie an sich. »Jeder muss für das, was er tut, auch die Folgen tragen, Süße, das gilt auch für Kevin.«
»Was glaubst du, wird er jetzt machen?«, flüsterte Hannah.
Molly war sich ziemlich sicher, dass er sich mit einem seiner Models trösten würde, die über minimale Englischkenntnisse, dafür aber umso beeindruckendere erotische Fähigkeiten verfügten. »Bestimmt geht es ihm wieder gut, wenn er sich erstmal beruhigt hat.«
»Ich habe Angst, dass er etwas Dummes macht.«
Molly strich eine braune Locke aus Hannahs Stirn. »So etwas wie Fallschirmspringen einen Tag vor dem Spiel gegen die Broncos?«
»Wahrscheinlich hat er gar nicht darüber nachgedacht.«
Sie bezweifelte, dass Kevins kleines Hirn in der Lage war, über etwas anderes als Football nachzudenken, doch diesen Gedanken behielt sie lieber für sich. »Ich muss noch kurz mit deiner Mom sprechen, dann können wir beide fahren.«
»Nach Hannah bin ich dran«, erinnerte Andrew sie und gab endlich ihr Bein frei.
»Keine Angst, das habe ich nicht vergessen.« Die Kinder durften abwechselnd bei ihrer Tante in der winzigen Eigentumswohnung übernachten. Normalerweise kamen sie am Wochenende zu ihr, nicht wie heute an einem Dienstag. Doch Hannahs Lehrer hatten am nächsten Tag eine Fortbildung, und Molly hatte gedacht, ihrer Nichte würde ein bisschen Zuwendung außer der Reihe gut tun.
»Hol schon mal deinen Rucksack, es dauert nicht lange.«
Sie ging einen langen Flur hinunter, vorbei an unzähligen Fotos, auf denen die Geschichte der Chicago Stars dokumentiert war. Als Erstes kam das Porträt ihres Vaters. Sie bemerkte, dass ihre Schwester die schwarzen Hörner, die sie vor langer Zeit auf seinen Kopf gemalt hatte, etwas aufgefrischt hatte. Bert Somerville, der Gründer der Chicago Stars, war schon seit vielen Jahren tot, aber die Erinnerung an seine Grausamkeiten lebte in beiden Töchtern weiter.
Dann kam ein Bild von Ron McDermitt, seit ewigen Zeiten Direktor der Stars, die Kinder nannten ihn Onkel Ron. Phoebe, Dan und Ron hatten hart daran gearbeitet, den aufreibenden Job, ein NFL-Team zu leiten, mit dem Familienleben in Einklang zu bringen. Dabei hatte es im Laufe der Jahre einige Umstrukturierungen gegeben, eine davon hatte Dan zu den Stars zurückgebracht, nachdem er eine Weile woanders tätig gewesen war.
Molly machte einen kurzen Abstecher in die Damentoilette. Sie legte ihren Mantel ab und warf im Spiegel einen kritischen Blick auf ihre Frisur. Der fransige Kurzhaarschnitt brachte ihre Augen gut zur Geltung. Doch damit nicht genug, hatte sie ihre dunkelbraunen Haare zu einem grellen Rotton färben lassen. Sie sah aus wie ein Kardinal.
Zumindest gab die Farbe ihren sonst eher unauffälligen Zügen ein bisschen mehr Leuchtkraft. Nicht dass sie sich über ihr Aussehen beschweren wollte. Ihre Nase war in Ordnung und ihr Mund auch, sie passten zu ihrer Figur, nicht zu dick, nicht zu dünn, und zu ihrem gesunden sportlichen Körper, für den sie dankbar war. Ein Blick auf ihre Oberweite bestätigte ihr, womit sie sich schon vor langer Zeit abgefunden hatte: Für die Tochter eines Showgirls war sie etwas zu kurz gekommen.
Ihre Augen dagegen waren etwas Besonderes, sie bildete sich gern ein, dass ihr sanfter Schwung ihr etwas Geheimnisvolles gab. Als Kind hatte sie einen Halbunterrock über die untere Hälfte ihres Gesichtes gezogen und so getan, als sei sie eine wunderschöne, verschleierte arabische Spionin.
Seufzend versuchte sie, den Dreck von ihrer betagten Comme-des-Garçons-Hose zu reiben und wischte ihre geliebte, wenn auch schon etwas abgenutzte Prada-Tasche ab. Nachdem sie ihr Bestes getan hatte, nahm sie den braunkarierten Mantel, den sie im Ausverkauf bei Target erstanden hatte, und ging zum Büro ihrer Schwester.
Es war Anfang Dezember, und einige Mitarbeiter hatten die ersten Weihnachtsdekorationen hervorgekramt. An der Tür zu Phoebes Büro klebte eine Karikatur von Santa Claus in einem Stars-Trikot, die von Molly stammte. Sie streckte ihren Kopf durch den Türspalt. »Hallo, Tante Molly ist da!«
Ihre goldenen Ohrringe klimperten, als ihre ältere Schwester, das blonde Supermodel, ihren Stift hinwarf. »Gott sei Dank, ein bisschen gesunder Menschenverstand ist genau das, was ich jetzt – Oh, mein Gott! Was hast du mit deinem Haar gemacht?«
Mit ihrer atemberaubenden Traumfigur, ihren bernsteinfarbenen Augen und der Wolke hellblonder Haare sah Phoebe aus wie eine Marilyn Monroe, die es geschafft hatte, die Vierzig zu überschreiten. Obwohl Molly Mühe hatte, sich Marilyn Monroe mit einem Marmeladenfleck vorn auf ihrer Seidenbluse vorzustellen. Egal, was sie mit sich anstellen würde, sie würde nie so hübsch werden wie ihre Schwester, aber das machte ihr nichts mehr aus. Nur wenige Menschen wussten, wie unglücklich Phoebes Traumfigur und ihre Schönheit sie früher einmal gemacht hatten.
»Bitte, Molly … nicht schon wieder.« Bei dem sorgenvollen Blick ihrer Schwester verwünschte Molly sich insgeheim. Sie hätte einen Hut aufsetzen sollen.
»Entspann dich, es wird nichts passieren.«
»Wie soll ich mich entspannen? Jedes Mal, wenn du deine Frisur radikal veränderst, haben wir wieder einen dieser Vorfälle.«
»Über diese Vorfälle bin ich längst hinweg.« Molly schnaubte. »Diesmal hat es rein kosmetische Gründe.«
»Ich glaube dir einfach nicht. Bestimmt hast du wieder irgendeine Verrücktheit vor, oder?«
»Habe ich nicht!« Wenn sie es nur oft genug behauptete, würde sie vielleicht auch sich selbst davon überzeugen.
»Erst zehn Jahre alt«, murmelte Phoebe wie zu sich selbst. »Die intelligenteste und bravste Schülerin der Klasse. Dann hackst du dir von heute auf morgen deine Ponyfransen ab und wirfst eine Stinkbombe in den Essraum.«
»Nichts weiter als das chemische Experiment eines begabten Kindes.«
»Dreizehn Jahre alt. Still. Lernbegierig. Kein einziger Ausrutscher seit dem Vorfall mit der Stinkbombe. Dann fängst du plötzlich an, dir klebriges Gel ins Haar zu kämmen, und als Nächstes packst du Berts College-Trophäen zusammen und bestellst die Müllabfuhr, um sie abtransportieren zu lassen.«
»Als ich dir davon erzählt habe, hat die Geschichte dir aber sehr gefallen, gib’s nur zu.«
Doch Phoebe war gerade dabei, in Fahrt zu kommen, sie würde jetzt gar nichts zugeben. »Vier Jahre vergehen. Tadelloses Benehmen, die reinste Musterschülerin an der Highschool. Dan und ich haben dich aufgenommen, in unsere Herzen geschlossen. Du stehst kurz vor dem Schulabschluss, bist dazu auserwählt, die Rede bei der Abschlussfeier zu halten. Du hast eine Familie, die dir Halt gibt, Menschen die dich lieben … Du bist Vizepräsidentin der Schülervertretung, warum hätte ich mir also Sorgen machen sollen, als du dir plötzlich orange und blaue Strähnen ins Haar färbst?«
»Es waren die Schulfarben«, sagte Molly schwach.
»Ich bekomme einen Anruf von der Polizei, meine Schwester – meine strebsame, intelligente, Mitbürgerin-des-Monats-Schwester – habe absichtlich während des Mittagessens nach der fünften Stunde Feueralarm ausgelöst! Oh, nein, mit kleinen Streichen gibt unsere Molly sich nicht mehr ab! Sie ist auf dem besten Wege kriminell zu werden!«
Es war das Erbärmlichste, was Molly je gemacht hatte. Sie hatte die Menschen, die sie liebten, betrogen und selbst nach einem Jahr court supervision und vielen Stunden Gemeindearbeit nicht erklären können, wie es dazu gekommen war. Erst später, als sie an der Northwestern University studierte, hatte sie es selbst verstanden.
Es war im Frühling, kurz vor den Abschlussprüfungen. Molly fühlte sich rastlos und unkonzentriert. Statt zu lernen hatte sie stapelweise Liebesromane verschlungen, gezeichnet, stundenlang im Spiegel auf ihre Haare gestarrt und sich nichts sehnlicher als eine Frisur im Stil der Prä-Raphaeliten gewünscht. Auch dass sie ihr ganzes Taschengeld für Hairextensions ausgab, änderte nichts an dieser Unruhe. Dann entdeckte sie eines Tages, als sie den College-Buchladen verließ, in ihrem Portemonnaie einen Taschenrechner, für den sie nicht bezahlt hatte.
Immerhin war sie schon vernünftiger als damals in der Highschool, drehte auf dem Absatz um und gab ihn zurück. Dann machte sie sich auf den Weg zum Büro der Studentenberatung.
Phoebe sprang von ihrem Schreibtischstuhl auf und riss sie aus ihren Gedanken. »Und letztes Mal …«
Molly zuckte unwillkürlich zusammen, obwohl sie wusste, dass Phoebe jetzt zum Ende kommen würde.
»… das letzte Mal, als du deine Haare verunstaltet hast – dieser scheußliche Kurzhaarschnitt vor zwei Jahren …«
»Er war modisch, nicht scheußlich.«
Phoebe knirschte nur mit den Zähnen. »Das letzte Mal, als du etwas Derartiges getan hast, hast du fünfzehn Millionen Dollar weggegeben!«
»Nun, ja … aber das hatte nichts mit dem Haarschnitt zu tun.«
»Ha!«
Zum fünfzehnmillionsten Mal erklärte Molly, warum sie es getan hatte. »Berts Geld hat mich erdrückt. Ich musste die Vergangenheit ein für alle Mal loswerden, damit ich endlich ich selbst sein konnte.«
»Und arm wie eine Kirchenmaus!«
Molly lächelte. Phoebe würde es nie zugeben, aber im Grunde verstand sie sehr gut, warum Molly ihr ganzes Erbe aufgegeben hatte. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Kaum jemand weiß, dass ich mein Geld weggegeben habe. Sie halten mich nur für exzentrisch, weil ich einen alten VW-Käfer fahre und in einem Wohnklo mit Küche wohne.«
»Du liebst deine kleine Wohnung.«
Molly versuchte nicht, das abzustreiten. Ihr Loft war das Wertvollste, was sie besaß, und dass sie die monatlichen Raten selbst verdiente, machte sie glücklich. Nur jemand, der ohne ein eigenes Heim aufgewachsen war, konnte verstehen, was es ihr bedeutete.
Sie beschloss, das Thema zu wechseln, bevor sich Phoebe weiter Gedanken um sie machen konnte. »Die Rasselbande hat mir gerade erzählt, dass Dan Mr. Oberflächlich eine Zehntausend-Dollar-Strafe aufgebrummt hat.«
»Du solltest ihn nicht so nennen. Kevin ist nicht oberflächlich, er ist nur -«
»Wahrnehmungsgestört?«
»Wirklich, Molly, ich verstehe nicht, warum du ihn so verachtest. Ihr beide habt doch in den letzten Jahren nicht mehr als drei Worte gewechselt.«
»Und das mit voller Absicht. Menschen, die nicht einmal bis drei zählen können, gehe ich lieber aus dem Weg.«
»Wenn du ihn nur besser kennen würdest, hättest du ihn genauso gern wie ich.«
»Ist es nicht faszinierend, dass er immer irgendwelche Mädels anschleppt, die der englischen Sprache kaum mächtig sind? Aber sonst könnte ja vor dem Sex so etwas Lästiges wie eine Unterhaltung entstehen.«
Jetzt musste Phoebe doch lachen.
Molly teilte fast alles mit ihrer Schwester, aber ihre heimliche Schwäche für den Quarterback der Stars hatte sie ihr nicht anvertraut. Es wäre zu beschämend, außerdem würde Phoebe es Dan erzählen, bei dem sofort sämtliche Alarmglocken schrillen würden. Was seine Schwägerin betraf, gingen seine ausgeprägten Beschützerinstinkte regelmäßig mit ihm durch. Er ließ nicht zu, dass Molly auch nur in die Nähe der Spieler kam, es sei denn, sie waren glücklich verheiratet oder schwul.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, stürmte Dan plötzlich ins Zimmer, groß, blond, gut aussehend. Daran hatte auch das Alter nichts geändert. Selbst die eine oder andere Falte, die in den zwölf Jahren, die sie ihn mittlerweile kannte, in seinem männlichen Gesicht hinzugekommen war, ließ ihn nur interessanter aussehen. Er war jemand, der allein durch seine Präsenz jeden Raum sofort ausfüllte. Er strahlte das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Mannes aus, der genau wusste, wofür er stand.
Als Phoebe die Stars geerbt hatte, war Dan Cheftrainer. Unglücklicherweise verstand sie nicht das Geringste von Football, und er hatte ihr auf der Stelle den Krieg erklärt. Sie hatten sich dermaßen in die Haare gekriegt, dass Ron McDermitt Dan sogar einmal suspendiert hatte, weil er Phoebe übel beschimpft hatte. Aber es hatte nicht lange gedauert, da war der ganze Zorn verraucht und machte Gefühlen ganz anderer Art Platz.
Für Molly war die Liebesgeschichte zwischen Phoebe und Dan so etwas wie der Stoff, aus dem die Träume sind. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen, wenn sie nicht das gleiche Glück hätte wie ihre Schwester und ihr Schwager, lieber ganz darauf verzichten zu wollen. Es musste schon die einzig wahre große Liebe sein – doch dass sie ihr begegnete, schien ebenso unwahrscheinlich wie die Hoffnung, dass Dan Kevins Geldstrafe wieder aufheben würde.
Ihr Schwager legte automatisch einen Arm um Mollys Schultern. Wenn er mit seiner Familie zusammen war, legte er immer irgendjemandem den Arm um die Schulter. Es versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. Eigentlich war sie in den letzten Jahren mit ein paar anständigen Typen zusammen gewesen, bei dem einen oder anderen hatte sie sich sogar eingebildet, richtig verliebt zu sein. Aber sobald ihr klar wurde, dass keiner von ihnen es auch nur annähernd mit ihrem Schwager aufnehmen konnte, war Schluss für sie. Mittlerweile bezweifelte sie, dass es jemals einem Mann gelingen würde.
»Phoebe, ich weiß, du magst Kevin, aber diesmal ist er wirklich zu weit gegangen.« Immer wenn er sich aufregte, kam sein unverkennbarer Südstaatenakzent besonders durch, und jetzt triefte er nur so vor Zuckersirup.
»Das hast du beim letzten Mal auch gesagt«, erwiderte Phoebe. »Außerdem magst du ihn auch.«
»Ich verstehe es nicht! Die Stars sind doch das Wichtigste in seinem Leben. Warum setzt er bloß alles daran, seine Karriere aufs Spiel zu setzen?«
Phoebe lächelte milde. »Das weißt du wahrscheinlich besser als wir. Soviel ich weiß, hast du vor meiner Zeit auch gern mit dem Feuer gespielt.«
»Du musst mich mit irgendjemandem verwechseln.«
Phoebe lachte und Dans Gesicht verzog sich zu jenem vertrauten Lächeln, das Molly schon unzählige Male gesehen hatte und um das sie ihre Schwester schon ebenso viele Male beneidet hatte. Sein Lächeln verschwand. »Was hat er nur, ist er eigentlich vom Teufel geritten?«
»Teufelinnen«, berichtigte Molly. »Mit ausländischem Akzent und enormen Brüsten.«
»Das gehört zum Leben eines Footballspielers nun mal dazu«, warf Phoebe ein.
Molly hatte plötzlich keine Lust mehr, über Kevin zu reden, und hauchte Dan einen Kuss auf die Wange. »Hannah wartet auf mich. Ich bringe sie euch morgen am späten Nachmittag zurück.«
»Pass auf, dass sie morgen früh nicht die Zeitung in die Finger bekommt.«
»Keine Sorge.« Hannah litt jedes Mal, wenn die Presse über die Stars herfiel, und Kevins Strafe würde sicher hitzige Diskussionen nach sich ziehen.
Molly winkte zum Abschied, schnappte sich Hannah und küsste die anderen Kinder zum Abschied. Auf dem East-West-Tollway staute sich schon der Berufsverkehr, sie würden sicher mehr als eine Stunde bis Evanston brauchen, der alten North-Shore-Stadt, in der sie studiert hatte und jetzt auch wohnte.
»Slytherin!«, schimpfte sie, als ihr irgendein Mistkerl die Vorfahrt nahm.
»Dreckiger, verfluchter Slytherin!«, echote Hannah.
Molly lächelte in sich hinein. Die Slytherins waren die bösen Kinder in den Harry-Potter-Büchern, Molly hatte den Ausdruck kurzerhand in einen allgemein beliebten Fluch verwandelt. Belustigt hatte sie festgestellt, dass zuerst Phoebe und dann sogar Dan begannen, ihn zu benutzen. Während Hannah munter drauflos plapperte und von ihrem Schulalltag erzählte, schweiften Mollys Gedanken immer wieder zu ihrem Gespräch mit Phoebe ab, und zu den ersten Jahren, in denen sie in den Genuss ihres Erbes gekommen war.
In seinem Testament hatte Bert Somerville seiner Tochter Phoebe die Chicago Stars hinterlassen. Was von seinem Grundbesitz nach ein paar Fehlinvestitionen noch übrig gewesen war, ging an Molly. Da Molly zu der Zeit noch minderjährig war, hatte Phoebe den Erbanteil ihrer Schwester verwaltet und es geschafft, dass die Summe am Ende auf fünfzehn Millionen Dollar angewachsen war. Mit einundzwanzig und einem soeben erworbenen Diplom in Journalismus, hatte Molly ihr Erbe angetreten, eine Luxuswohnung an Chicagos Gold Coast gekauft und beschlossen, das Leben zu genießen.
Die Wohnanlage war steril und unpersönlich und ihre Nachbarn allesamt wesentlich älter als sie, doch Molly merkte zu spät, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie kleidete sich in Designerklamotten, überschüttete ihre Freunde mit Geschenken und gönnte sich selbst einen teuren Wagen. Nach einem Jahr musste sie jedoch wohl oder übel einsehen, dass sie für das müßige Luxusleben der Reichen nicht geschaffen war. Sie war zu sehr daran gewöhnt, hart zu arbeiten, sei es an der Uni oder in den Ferienjobs, die Dan ihr aufgezwungen hatte. Als ihr eine Stelle bei einer Tageszeitung angeboten wurde, griff sie zu.
Damit hatte sie zwar etwas, das sie beschäftigte, doch die Arbeit war zu wenig kreativ, als dass sie sie wirklich ausgefüllt hätte. Es kam ihr vor, als würde sie eine Rolle spielen, anstatt das Leben wirklich zu leben. Sie beschloss zu kündigen, um endlich an dem romantischen Romanepos zu schreiben, von dem sie immer geträumt hatte. Doch sie beschäftigte sich immer intensiver mit den Geschichten, die sie sich für die Calebow-Kinder ausdachte. Geschichten um ein kleines, niedliches Kaninchen, das nach der letzten Mode gekleidet war, in einem Cottage am Rande des Nachtigallenwaldes wohnte und sich selbst ständig in Schwierigkeiten brachte.
Sie hatte begonnen, die Geschichten zu Papier zu bringen, dann fing sie an, sie mit lustigen Bildern zu versehen. Sie benutzte Feder und Tinte, kolorierte ihre Entwürfe mit leuchtenden Acrylfarben und erweckte Daphne und ihre Freunde zum Leben.
Sie war hoch beglückt, als Birdcage Press, ein kleiner Chicagoer Verlag, ihr erstes Buch, Daphne sagt Hallo!, kaufte, wenn auch der Vorschuss gerade eben reichte, um ihre Portokosten zu decken. Immerhin hatte sie endlich ihre Nische gefunden. Sie musste sich um Geld keine Gedanken machen, deshalb erschien ihre Arbeit ihr eher wie ein Hobby als wie eine ernst zu nehmende Berufung. Die Unzufriedenheit blieb. Sie wurde immer ruheloser. Sie fing an, ihre Wohnung zu hassen, ihren Kleiderschrank, ihre Frisur … Da half auch kein Aufsehen erregender Bürstenhaarschnitt.
Es war wieder mal Zeit für einen Feueralarm.
Da sie jedoch aus dem Alter raus war, saß sie plötzlich ihrem Anwalt gegenüber und erklärte ihm, dass sie ihr gesamtes Vermögen in einen Fond fließen lassen wollte, der minderbemittelten Kindern zugute kommen sollte. Er fiel aus allen Wolken. Sie aber war zum ersten Mal, seit sie einundzwanzig geworden war, glücklich und zufrieden. Phoebe hatte sich beweisen müssen, als sie die Verantwortung für die Stars übernommen hatte, eine solche Gelegenheit hatte Molly nie gehabt. Bis jetzt. Als sie die Papiere unterschrieb, fühlte sie sich beschwingt und wie von einer schweren Last befreit.
»Bei dir gefällt es mir so.« Hannah seufzte, als Molly die Tür zu ihrem Loft im zweiten Stock, nur ein paar Schritte vom Stadtzentrum von Evanston entfernt, aufschloss. Auch Molly stieß einen kleinen zufriedenen Seufzer aus. Auch wenn sie nicht lange weg gewesen war, genoss sie es jedes Mal wieder, in ihr eigenes Heim zurückzukommen.
Für die Calebow-Kinder war Tante Mollys Loft der coolste Platz auf Erden. Das Gebäude aus dem Jahr 1910 hatte zunächst einem Studebaker-Händler gedient, später wurden Büros daraus, dann ein Lagerhaus, bis es vor ein paar Jahren renoviert und zu einem Wohnhaus umgebaut worden war. Mollys Wohnung hatte vom Boden bis zur Decke reichende Fenster, freiliegende Rohre und Leitungen und rohe Ziegelwände, an denen sie einige ihrer Zeichnungen und Bilder aufgehängt hatte. Es war die kleinste und günstigste Wohnung im ganzen Gebäude, doch die über vier Meter hohen Decken ließen sie luftig und weiträumig erscheinen. Jeden Monat, wenn sie den Scheck für ihre monatliche Rate abschickte, küsste sie den Umschlag, bevor sie ihn in den Briefkasten steckte. Ein albernes Ritual, dass sie konsequent beibehielt.
Die meisten Leute glaubten, Molly hätte noch Anteile an den Stars, nur wenige ihrer engsten Freunde wussten, dass sie nicht mehr die wohlhabende Erbin war, für die sie gemeinhin gehalten wurde. Sie besserte das schmale Einkommen, das die Daphne-Bücher ihr einbrachten, durch Artikel für eine Mädchenzeitschrift namens Chik auf. Selten blieb am Ende des Monats genug übrig für den einzigen Luxus, den sie sich gern gönnte – teure Kleidung und Bücher -, aber das machte ihr wenig aus. Sie kaufte nur noch Sonderangebote und nutzte die Bibliothek.
Ihr Leben gefiel ihr. Wenn ihr auch nie die große Liebe begegnen würde, so war sie doch mit einer lebendigen Vorstellungskraft ausgestattet und einer reichen Fantasiewelt, aus der sie ihre Kraft schöpfte. Sie konnte sich nicht beklagen und hatte keinen Grund zu fürchten, dass es zu unvorhergesehenen Ausbrüchen ihrer alten Ruhelosigkeit kam. Ihre neue Frisur war schlicht eine modische Angelegenheit.
Hannah warf ihren Mantel in die Ecke und kniete sich hin, um Ruh, Mollys kleinen grauen Pudel, zu streicheln, der ihnen zur Begrüßung entgegensprang. Ruh und Känga, der Pudel der Calebows, waren Nachkommen von Phoebes geliebtem Pu.
»Na, kleiner Stinker, hast du mich vermisst?« Molly legte ihre Post weg und drückte Ruh einen Kuss auf seinen weichen grauen Dutt. Ruh erwiderte die Begrüßung, indem er über Mollys Kinn leckte und sich vor ihr ausstreckte, um sein beeindruckendstes Knurren hören zu lassen.
»Oh ja, wir sind beeindruckt. Nicht wahr, Hannah?«
Hannah kicherte. »Er tut noch immer gern so, als wäre er ein Polizeihund.«
»Der mutigste Hund in der Truppe. Kränken wir ihn lieber nicht, indem wir ihn daran erinnern, dass er ein Pudel ist.«
Hannah wuschelte durch Ruhs Fell und ging neugierig zu Mollys Arbeitsplatz im Wohnzimmer. »Hast du wieder neue Artikel geschrieben? ›Prom-Night Passion‹ fand ich klasse.«
Molly lächelte. »Bald.«
Den Gesetzen des Marktes gehorchend trugen die Artikel, die sie für Chik schrieb, recht gewagte Titel, obwohl der Inhalt eher zahm war. In »Abschlussball mit Nachspiel« war es um die Folgen von Sex im Auto gegangen, »Von der Jungfrau zum Vamp« handelte von Kosmetik und »Wilde Mädchen« berichtete von vier Mädchen beim Campingurlaub.
»Zeigst du mir deine neuen Skizzen?«
Molly hängte ihre Mäntel auf. »Ich habe noch keine, ich arbeite gerade an einer neuen Idee.« Manchmal begann ein neues Buch mit flüchtigen Skizzen, manchmal mit Text. Und heute hatte sie ihre Inspiration direkt aus dem Leben gegriffen.
»Oh bitte, erzähl!«
Meist tranken sie zuerst einen Tee, wenn Hannah sie besuchte. Molly ging in die winzige Küche gegenüber ihrem Arbeitsplatz und setzte Wasser auf. Direkt darüber auf der Galerie war ihr Schlafplatz, von dem man den gesamten Wohnbereich überblicken konnte. Dort stapelten sich ihre Lieblingsbücher in Metallregalen: ihre geliebten Jane-Austen-Romane, zerlesene Bände von Daphne Du Maurier und Anya Seton, alle frühen Bücher von Mary Stewart, neben Victoria Holt, Phyllis Whitney und Danielle Steel.
Auf den schmaleren Regalen standen Taschenbücher in Doppelreihen – historische Schwarten, Liebesgeschichten, Krimis, Reiseführer und Ratgeber. Außerdem ihre Lieblingsklassiker, Biografien berühmter Frauen und ein paar von Oprahs weniger deprimierenden Buchclub-Auswahltiteln, von denen Molly die meisten schon entdeckt hatte, lange bevor Oprah sie der ganzen Welt anpries.
Ihre liebsten Kinderbücher bewahrte sie in einem Regal direkt neben ihrem Bett auf. Ihre Sammlung umfasste alle Eloise-Geschichten und Harry-Potter-Bücher, ein paar Judy Blume, Gertrude Chandler Warners The Boxcar Children, Anne of Green Gables, ein bisschen Sweet Valley High zum Spaß und die zerfledderten Barbara-Cartland-Bücher, die sie entdeckt hatte, als sie zehn war. Es war die Sammlung einer begeisterten Leseratte. Oft machten es sich die Calebow-Kinder mit einem Stapel Bücher auf ihrem Bett bequem und versuchten zu entscheiden, welches sie als Nächstes lesen wollten.
Molly nahm zwei zerbrechliche chinesische Teetassen mit hauchdünnem Goldrand und lila Stiefmütterchen. »Heute habe ich beschlossen, dass mein nächstes Buch Trubel um Daphne heißen soll.«
»Erzähl!«
»Also … Daphne spaziert nichts ahnend durch den Nachtigallenwald, als plötzlich Benny auf seinem Mountainbike angerast kommt und sie beinahe über den Haufen fährt.«
Hannah schüttelte angewidert den Kopf. »Dieser blöde, eingebildete Dachs.«
»Genau.«
Hannah warf ihr einen unsicheren Blick zu. »Ich finde, jemand sollte Bennys Mountainbike klauen. Dann könnte er nichts mehr damit anstellen.«
Molly lächelte. »Im Nachtigallenwald wird nicht gestohlen, erinnerst du dich? Das hast du schon einmal vorgeschlagen, als es um Bennys Jet-Ski ging.«
»Ja, schon.« Ihr Mund verzog sich zu einer trotzigen Linie. »Aber wenn es Mountainbikes und Jet-Ski im Nachtigallenwald gibt, warum sollte es dann nicht auch Diebe geben? Außerdem macht Benny so etwas nicht mit Absicht. Er ist nur ein bisschen frech.«
Molly dachte an Kevin. »Von Frechheit zu Dummheit ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.«
»Benny ist nicht dumm!«
Hannah sah sie verstört an und Molly wünschte, sie hätte ihren Mund gehalten. »Natürlich nicht, er ist der schlauste Dachs im Nachtigallenwald.« Sie wuschelte ihrer Nichte durchs Haar. »Lass uns unseren Tee trinken, danach gehen wir mit Ruh am See spazieren.«
Erst spät am Abend, nachdem Hannah über einer zerlesenen Ausgabe von The Jennifer Wish eingeschlafen war, kam Molly dazu, ihre Post durchzusehen. Sie legte die Telefonrechnung beiseite und riss abwesend einen offiziell aussehenden Umschlag auf. Als sie den Briefkopf las, wünschte sie, sie hätte sich die Mühe nicht gemacht.
GESUNDE KINDER FÜR EIN GESUNDES AMERIKA
Radikale Homosexuelle haben Ihre Kinder im Visier! Die unschuldigsten unserer Mitbürger werden zu übler Perversion verführt. Schuld daran sind obszöne Bücher und unverantwortliche TV-Shows, in denen dieses abartige und moralisch abstoßende Verhalten verherrlicht wird …
GESUNDE KINDER FÜR EIN GESUNDES AMERIKA, kurz GKFEGA, war eine Organisation mit Sitz in Chicago, deren Mitglieder seit kurzem mit irrem Blick in sämtlichen lokalen Talkshows auftauchten und durch ihr paranoides Geschwätz die Leute von ihrem Verfolgungswahn zu überzeugen versuchten. Wenn sie ihre Energie wenigsten für etwas Sinnvolles eingesetzt hätten, zum Beispiel dafür zu sorgen, dass Kinder keine Waffen in die Hände bekamen. Angewidert warf sie den Brief in den Müll.
Molly nahm eine Hand vom Steuerrad und kraulte Ruhs Fell. Am frühen Nachmittag hatte sie Hannah zu ihren Eltern zurückgebracht und war jetzt auf dem Weg zum Feriendomizil der Calebows in Door County, Wisconsin. Es würde spät werden, bis sie dort ankam, aber die Straßen waren frei und ihr machte es nichts aus, bei Dunkelheit zu fahren.
Sie hatte sich ganz spontan zu ihrer Reise in den Norden entschieden. In ihrem gestrigen Gespräch mit Phoebe war etwas hochgekommen, das sie mit aller Macht versucht hatte zu verdrängen. Ihre Schwester hatte Recht. Ihre neue Haarfarbe war nur ein Symptom für ein tieferes Problem. Die alte Ruhelosigkeit hatte sie wieder erfasst.
Natürlich verspürte sie nicht mehr den Drang, einen Feueralarm auszulösen, auch ihr Geld wegzugeben war keine Alternative mehr. Das hieß jedoch nicht, dass ihr Unterbewusstsein nicht doch einen Weg finden würde, Chaos zu stiften. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, von einem Ort magisch angezogen zu werden, den sie glaubte, längst hinter sich gelassen zu haben.
Sie erinnerte sich an die Worte eines Psychologen vor vielen Jahren an der Northwestern University.
»Als Kind haben Sie geglaubt, Sie könnten Ihren Vater dazu bringen, Sie zu lieben, wenn Sie alles taten, was er von Ihnen verlangte. Wenn Sie gute Noten mit nach Hause brachten, sich anständig benahmen und alle Regeln genau befolgten, würde er Ihnen die Anerkennung schenken, die jedes Kind braucht. Aber Ihr Vater war zu dieser Art von Liebe nicht fähig. Bis etwas in Ihnen überschnappte und Sie das Schlimmste anstellten, was Ihnen einfiel. Diese Art von Rebellion war sogar gut für Sie, sie hielt Sie am Laufen.«
»Das erklärt aber nicht die Sache in der Highschool«, wandte sie ein. »Da war Bert schon tot, und ich lebte bei Phoebe und Dan. Die beiden liebten mich. Und was ist mit dem Ladendiebstahl?«
»Vielleicht mussten Sie Phoebes und Dans Liebe auf eine Probe stellen.«
Irgendetwas in ihr war zusammengezuckt. »Wie meinen Sie das?«
»Der einzige Weg für Sie herauszufinden, ob sie Sie wirklich bedingungslos liebten, war, etwas Furchtbares anzustellen, um zu sehen, ob sie dann immer noch zu Ihnen halten würden.«
Und sie hatten zu ihr gehalten.
Warum also verfolgte ihr altes Problem sie immer noch? Sie wollte keine neue Unruhe in ihrem Leben. Sie wollte ihre Bücher schreiben, sich mit ihren Freunden treffen, mit ihrem Hund spazieren gehen und mit ihren Nichten und Neffen spielen. Doch in den letzten Wochen hatte sie gespürt, wie sie immer ruheloser geworden war, und ein Blick auf ihre roten Haare, die in der Tat grauenhaft aussahen, sagte ihr, dass sie wieder einmal kurz davor war, alles aufs Spiel zu setzen.
Diesmal jedoch würde sie vernünftig sein, sich für eine Woche oder länger in Door County verkriechen und warten, dass der Anfall von selbst wieder vorbeiginge. Welche Gefahren konnten dort oben in der Einsamkeit schon auf sie lauern?
Kevin Tucker hatte gerade vom letzten Footballspiel geträumt, als ihn irgendetwas aus dem Schlaf riss. Knurrend wälzte er sich aus dem Bett, versuchte sich daran zu erinnern, wo er war, auch wenn ihm das nach der Flasche Scotch, die er sich kurz vor dem Einschlafen genehmigt hatte, einigermaßen schwer fiel. Normalerweise war Adrenalin sein bevorzugtes Rauschmittel, doch heute Abend war ihm eher nach Alkohol gewesen.
Da hörte er wieder dieses Geräusch, ein Kratzen an der Eingangstür, und plötzlich erinnerte er sich. Er war in Door County, Wisconsin, die Stars hatten ihre spielfreie Woche und Dan hatte ihm ein Zehntausend-Dollar-Bußgeld aufgebrummt. Danach hatte der Hurensohn ihn in sein Ferienhaus verbannt, bis er seine Sinne wieder beisammen hätte.
Mit seinen Sinnen schien alles in Ordnung, nicht aber mit der Hightech-Alarmanlage der Calebows – immerhin versuchte soeben jemand, in ihr Haus einzubrechen.
2
Er ist der begehrteste Typ an deiner Schule? Wen interessiert’s. Das Einzige, was zählt, ist, wie er dich behandelt.
»Verbrennt man sich an heißen Typen die Finger?«
Molly Somerville für Chik
Da erinnerte er sich plötzlich. Er war so mit seinem Scotch beschäftigt gewesen, dass er vergessen hatte, die Alarmanlage einzuschalten. Eine glückliche Fügung. Jetzt kam doch noch etwas Abwechslung in diese Einöde.
Im Haus war es kalt und stockfinster. Er schwang seine nackten Füße von der Couch und stieß gegen den niedrigen Tisch. Fluchend rieb er sein Schienbein und humpelte zur Tür. Was sagte es über sein Leben aus, wenn ein kleines Handgemenge mit einem Einbrecher zum Höhepunkt der Woche wurde? Hoffentlich war der Kerl wenigstens bewaffnet.
Im letzten Moment wich er einem dunklen Schatten, vermutlich einem Sessel, aus und trat auf etwas kleines spitzes, wahrscheinlich einen der Legosteine, die überall herumlagen. Das großzügige, luxuriös ausgestattete Haus lag mitten in den Wäldern von Wisconsin, auf drei Seiten war es von hohen Bäumen umgeben. Der hintere Teil des Grundstücks grenzte an den vereisten Michigansee.
Verdammt, es gab wirklich nicht den kleinsten Lichtschimmer. Tastend ging er dem kratzenden Geräusch nach, und als er fast vor der Haustür stand, hörte er das leise Klicken des Schlosses. Langsam öffnete sich die Tür.
Befriedigt registrierte er den Adrenalinstoß, der seine Lebensgeister weckte. Mit einer geschmeidigen Bewegung riss er die Tür auf und packte die Gestalt davor am Kragen.
Der Typ war ein Leichtgewicht, er flog ihm geradezu in die Arme.
Und nach dem Schrei zu urteilen, den er ausstieß, als er auf dem Boden aufschlug, war er noch dazu schwul.
Leider hatte er einen Hund dabei. Einen großen Hund.
Kevins Nackenhaare sträubten sich, das tiefe Knurren eines zum Angriff bereiten Hundes ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Bevor er reagieren konnte, hatte sich das Vieh schon in seinen Knöchel verbissen.
Mit der Reaktionsschnelligkeit, die ihn zu einer Legende gemacht hatte, stürzte er zum Lichtschalter und bereitete sich gleichzeitig darauf vor, die Knochen seines Fußgelenks krachen zu hören. Mit einem Schlag war die Eingangshalle hell erleuchtet, und er erfasste die Situation: Der Hund war kein Rottweiler, und auf dem Boden lag kein ängstlich wimmernder Mann.
»Oh, Scheiße …«
Auf dem Boden vor seinen Füßen kauerte eine kleine, schreiende Frau mit der Haarfarbe eines Feuermelders. Und das, was an seinem Knöchel hing und Löcher in seine Lieblingsjeans riss, war ein …
Er weigerte sich, den Namen der Hunderasse auch nur zu denken.
Alles, was sie auf dem Arm getragen hatte, als er sie gepackt hatte, lag rundherum verstreut. Während er versuchte, den Hund abzuschütteln, blickte er auf Bücher, Zeichenmaterial, zwei Päckchen Butterkekse und Pantoffeln mit einem rosa Kaninchenkopf auf den Zehenspitzen.
Endlich gelang es ihm, den knurrenden Hund loszuwerden. Die Frau rappelte sich auf und nahm Kampfhaltung an. Er wollte gerade seinen Mund aufmachen und eine Erklärung abgeben, als ihr Fuß hoch schnellte und sich in seine Kniekehle bohrte. Er klatschte wie ein nasser Sack auf den Boden.
»Verdammt … dafür haben die Giants eine ganze Dreiviertelstunde gebraucht.«
Die Frau hatte immerhin ihren Mantel angehabt, als sie auf den Boden geschlagen war, zwischen ihm und dem harten Schieferboden war nur eine dünne Jeans. Er stöhnte und rollte sich auf den Rücken. Sofort sprang das Tier auf seine Brust und kläffte ihm seinen Hundeatem ins Gesicht, die Zipfel seines blauen Hundehalstuchs schlugen ihm um die Nase.
»Sie wollten mich umbringen!«, kreischte die Frau, dass ihre kurzen feuerroten Haarbüschel zuckten.
»Nicht mit Absicht.« Er wusste, er hatte sie schon mal irgendwo getroffen, aber ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wo. »Könnten Sie Ihren Pitbull zurückpfeifen?«
Ihr Schreck hatte sich in blanken Zorn verwandelt und sie fletschte ihre Zähne genau wie der Hund. »Komm her, Ruh.«
Das Tier knurrte und kletterte von seiner Brust. Es traf ihn wie ein Schlag. Oh, Scheiße … »Sie sind, äh, Phoebes Schwester, nicht wahr? Ist mit Ihnen alles in Ordnung« – er suchte verzweifelt nach ihrem Namen – »Miss Somerville?« Angesichts der Tatsache, dass er mit einer zerschmetterten Hüfte und Bisswunden im Fußgelenk auf dem Schieferfußboden lag, fand er seine Frage ungemein höflich.
»Das ist schon das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen!«, schrie sie.
»Ich erinnere mich nicht -«
»Das zweite Mal! Sind Sie schwachsinnig, Sie blöder Dachs? Ist das Ihr Problem? Oder sind Sie einfach nur ein Idiot?«
»Also ich, – haben Sie mich etwa einen Dachs genannt?«
Sie blinzelte irritiert. »Dackel. Ich sagte Dackel.«
»Na, dann ist es ja gut.« Leider entlockte sein lahmer Witz ihr nicht das leiseste Lächeln.
Der Pitbull hatte sich hinter sein Frauchen verzogen. Kevin rappelte sich hoch und rieb sein Fußgelenk. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er über die Schwester seiner Chefin wusste, doch das Einzige, was ihm einfiel, war, dass sie eine von diesen Intellektuellen war. Er hatte sie schon ein paar Mal in der Stars-Zentrale gesehen, immer das Gesicht in ein Buch vergraben, aber ihre Haarfarbe war ganz sicher eine andere gewesen.
Kaum zu glauben, dass sie mit Phoebe verwandt sein sollte, sie hatte nicht das Geringste mit ihr gemeinsam. Sie schien irgendwie nichts sagend flach, und Phoebe war eher kurvenreich, sie war klein und Phoebe groß. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie keine Lippen, die geformt waren, als wollte sie einem unter der Bettdecke schmutzige Wörter ins Ohr raunen. Ihr Mund sah aus, als würde sie den ganzen Tag Leute in der Bibliothek zur Ruhe ermahnen.
Auch ohne diesen Stapel Bücher, den sie mit sich herumschleppte, hätte er sofort gewusst, dass sie die Art Frau war, für die er gar nichts übrig hatte – viel zu intelligent und viel zu ernst. Außerdem gehörte sie wahrscheinlich zu denen, die sich gern reden hörten, ein weiterer Minuspunkt. Der Fairness halber musste er ihr jedoch zugestehen, dass sie wunderschöne Augen hatte. Eine auffallende Farbe, irgendwo zwischen Blau und Grau, und sie hatten denselben aufreizenden Schwung wie die Augenbrauen. Als sie ihn weiter wütend anfunkelte, trafen sich diese wunderbar geschwungenen Augenbrauen direkt über der Nasenwurzel. Das hatte ihm noch gefehlt. Phoebes Schwester. Und er hatte geglaubt, die Woche könne nicht mehr schlimmer werden.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er noch einmal.
Diese blaugrauen Augen nahmen exakt die Farbe eines Sommernachmittags in Illinois an, kurz vor einem Tornadoalarm. Es war ihm gelungen, jedes Mitglied der Familie, die die Stars regierte – vielleicht mit Ausnahme der Kinder -, gegen sich aufzubringen. Er schien ein ausgesprochenes Talent dafür zu haben.
Da war schnelle Schadensbegrenzung angesagt und auf seinen angeborenen Charme konnte er sich noch immer verlassen. Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher.«
»Was machen Sie hier?«
Ihr schriller Tonfall verriet ihm, dass er seinen Charme vergeblich versprühte.
Sicherheitshalber behielt er ihr Kung-fu-verdächtiges Bein im Auge. »Dan schlug vor, ich sollte doch einige Tage hier verbringen, um über ein paar Dinge nachzudenken …« Er machte eine Pause. »Was eigentlich überflüssig war.«
Sie schlug auf den Lichtschalter, woraufhin ein paar rustikale Wandstrahler aufflammten und die Eingangshalle bis in den letzten Winkel erleuchteten.
Das Haus war im Blockhausstil gebaut, doch mit seinen sechs Schlafräumen und zwei Stockwerke hohen Decken, die bis in die frei liegende Dachkonstruktion reichten, hatte es wenig Ähnlichkeit mit einer entlegenen Holzfällerblockhütte. Großzügige Fensteröffnungen ließen den Wald ringsherum wie einen Teil der Innendekoration erscheinen, und in dem riesigen Kamin am Ende des Raumes hätte man einen Büffel grillen können. Die ausladenden, dick gepolsterten Möbel konnten der Beanspruchung durch eine Großfamilie Stand halten. Auf der einen Seite führte eine geschwungene Treppe in den zweiten Stock auf eine Galerie.
Kevin bückte sich, um ihre Sachen aufzusammeln. Er warf einen Blick auf die Kaninchenpantoffeln: »Macht es Sie nicht nervös, die Dinger hier während der Jagdsaison zu tragen?«
Mit einem Ruck riss sie sie ihm aus der Hand. »Geben Sie her.«
»Ich hatte nicht vor, sie zu tragen. Wäre ein bisschen schwierig, von den Jungs den nötigen Respekt zu bekommen.«
Sie verzog keine Miene, als er sie ihr reichte. »Es gibt ein Lodge nicht weit von hier. Ich bin sicher, Sie werden dort für die Nacht ein Zimmer finden.«
»Es ist etwas spät, um mich rauszuwerfen. Außerdem war ich eingeladen.«
»Es ist mein Haus. Sie sind hier nicht länger willkommen.« Sie warf ihren Mantel über eins der Sofas und verschwand Richtung Küche. Der Pitbull kräuselte seine Schnauze und reckte seinen Troddelschwanz, als wollte er Kevin den erhobenen Mittelfinger zeigen. Erst als er sicher war, dass seine Bemerkung angekommen war, stolzierte er hinter seinem Frauchen her.
Kevin folgte ihnen. In die Wände der geräumigen, anheimelnden Küche waren maßgeschneiderte Schränke eingebaut, bei Tageslicht konnte man aus jedem Fenster auf den See blicken. Sie ließ ihre Pakete auf eine fünfeckige Insel in der Mitte fallen, um die sechs Hocker gruppiert waren.
Ihre Kleidung zeugte von modischem Geschmack, musste er zugeben. Sie trug eine eng anliegende schwarze Hose, dazu einen übergroßen metallicgrauen Pullover, der ihn an eine Rüstung erinnerte. Mit ihrem flammend roten Haar sah sie aus wie Johanna von Orleans auf dem soeben entzündeten Scheiterhaufen. Seltsamerweise schienen ihre offensichtlich teuren Klamotten schon leicht abgetragen. Hieß es nicht, sie habe Bert Somervilles Vermögen geerbt? Kevin hatte zwar selbst mittlerweile auch finanziell ausgesorgt, doch er war zu Geld gekommen, lange nachdem er erwachsen geworden war. Nach seiner Erfahrung wussten die Menschen, die schon mit Reichtum groß geworden waren, nicht, was es hieß, hart zu arbeiten. Dieses versnobte reiche Mädchen machte da sicher keine Ausnahme.
»Äh, Miss Somerville? Bevor Sie mich rausschmeißen … ich wette, Sie haben die Calebows nicht davon unterrichtet, dass Sie herkommen wollten, sonst hätten sie Ihnen gesagt, dass das Haus bereits belegt ist.«
»Schon verstanden.« Sie warf die Kekse in eine Schublade und schloss sie mit lautem Knall. Dann musterte sie ihn von oben bis unten. Zitternd vor Wut. »Sie können sich wohl nicht an meinen Vornamen erinnern?«
»Natürlich weiß ich Ihren Vornamen.« Er kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis. Vergeblich.
»Wir sind uns mindestens schon dreimal vorgestellt worden.«
»Was völlig überflüssig war, da ich ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis habe.«
»Für meinen offenbar nicht. Sie haben ihn vergessen.«
»Das habe ich nicht.«
Sie starrte ihn prüfend an, doch er war es gewöhnt, unter Druck zu handeln, und er hielt ihrem Blick stand.
»Mein Name ist Daphne«, sagte sie schließlich.
»Da sagen Sie mir nichts Neues. Sind Sie immer so paranoid, Daphne?«
Sie schürzte nur verächtlich ihre Lippen und murmelte etwas in sich hinein. Er hätte schwören können, wieder das Wort »Dachs« herauszuhören.
Kevin Tucker wusste nicht einmal ihren Namen! Lass es dir eine Lehre sein, dachte Molly, als sie auf diese gefährliche Herrlichkeit vor sich blickte.
In dem Moment wurde ihr klar, dass sie sich vor ihm schützen musste. Zugegeben, er sah wirklich umwerfend gut aus. Wie viele andere Männer auch. Natürlich hatten nicht alle diese besondere Kombination aus dunkelblondem Haar und strahlend grünen Augen. Und nicht viele hatten diesen Körper, gut gebaut und durchtrainiert, wobei er alles andere als bullig wirkte. Aber schließlich war sie nicht so blöd, auf einen Mann hereinzufallen, nur weil er aus einem tollen Körper und einem hübschen Gesicht bestand und der, wenn er wollte, ungemein charmant sein konnte.
Nun, vielleicht war sie so blöd, doch immerhin war sie sich über ihre Dummheit im Klaren.
Auf keinen Fall sollte er sie für einen seiner schmachtenden weiblichen Fans halten. Sie würde ihm die eiskalte Schulter zeigen. Dafür musste sie sich nur Goldie Hawn in Overboard vorstellen. »Trotzdem werden Sie leider gehen müssen, Ken. Oh, Entschuldigung, ich meine natürlich Kevin. Das war doch richtig, oder?«
Sie hatte wohl doch etwas übertrieben, sein Mund verzog sich zu einem leichten Grinsen. »Wir sind uns mindestens dreimal vorgestellt worden. Daran sollten Sie sich doch erinnern.«
»Ach, man trifft ja so viele Footballspieler, und ihr seht alle gleich aus.«
Sie sah, wie eine Augenbraue nach oben schnellte.
Damit war für sie das Thema erledigt, es war schließlich schon spät, und sie konnte es sich erlauben, sich großzügig zu zeigen, wenn auch nur auf betont herablassende Art. »Meinetwegen können Sie heute Nacht bleiben, aber ich habe zu arbeiten. Deshalb werden Sie morgen leider ausziehen müssen.« Sie sah durch das Fenster auf seinen roten Ferrari, der direkt vor der Garage parkte, deshalb hatte sie ihn nicht bemerkt, als sie vor dem Haus gehalten hatte.
Er ließ sich demonstrativ auf einem Stuhl nieder, als wolle er ihr zeigen, dass er nirgends hingehen würde. »Was arbeiten Sie denn?« Es klang, als könne es sich nicht um besonders ernst zu nehmende Arbeit handeln.
»Je suis auteur.«
»Eine Autorin?«
»Soy autora«, wiederholte sie auf Spanisch.
»Das ist doch kein Grund, Ihr Englisch aufzugeben.«
»Ich dachte, Sie verstehen mich dann vielleicht besser. Ich habe da so etwas gelesen …«
Kevin war vielleicht etwas oberflächlich, aber dumm war er nicht, und sie befürchtete, vielleicht etwas weit gegangen zu sein. Leider kam sie gerade erst richtig in Fahrt. »Ich bin fast sicher, Ruh hat sein kleines Problem mit der Tollwut überstanden, aber vielleicht sollten Sie sich doch lieber impfen lassen, sicherheitshalber.«
»Sie sind immer noch wütend, weil ich Sie für einen Einbrecher gehalten habe, nicht wahr?«
»Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie ganz schlecht, wahrscheinlich eine leichte Gehirnerschütterung von dem Sturz.«
»Ich sagte, es tut mir Leid.«
»Ja, das sagten Sie bereits.« Sie räumte ein paar Stifte beiseite, die die Kinder auf der Theke liegen gelassen hatten.
»Ich werde mal nach oben gehen und mich hinlegen.« Er stand auf und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um und wies auf ihr Haar. »Seien Sie ehrlich. War es so etwas wie eine Fußballwette?«
»Gute Nacht, Kirk.«
Als Molly ihr Schlafzimmer betrat, merkte sie erst, wie schwer sie atmete. Nur eine dünne Wand trennte sie von dem Gästezimmer, in dem Kevin schlafen würde. Sie spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut und den unwiderstehlichen Drang, ihre Haare mit einer Schere zu bearbeiten, obwohl da eigentlich nicht mehr viel zu bearbeiten übrig war. Sie war drauf und dran, ihm gleich morgen seine natürliche Farbe wiederzugeben, doch diese Genugtuung würde sie ihm nicht gönnen.
Sie war hierher gekommen, um auszuspannen, nicht um neben der Höhle des Löwen zu nächtigen. Sie raffte ihre Sachen zusammen. Ruh dicht auf den Fersen eilte sie hinunter in das große schlafsaalähnliche Eckzimmer, in dem sonst die drei Mädchen schliefen, und schloss die Tür hinter sich ab.
Sie lehnte sich an den Türrahmen und versuchte, sich zu entspannen. Ihr Blick schweifte über die schräge Decke des Raumes und die kleinen Mansardenfenster, die zum Tagträumen einluden. Zwei Wände waren mit Szenen aus dem Nachtigallenwald bemalt, sie erinnerte sich noch, wie sämtliche Familienmitglieder ihr dabei abwechselnd im Weg gestanden hatten. Jetzt fühlte sie sich schon viel besser, und morgen früh wäre er verschwunden.
An Schlaf war allerdings nicht zu denken. Warum hatte sie Phoebe nicht gesagt, dass sie vorhatte hier hoch zu fahren, wie sie es sonst immer tat? Weil sie weiteren Bemerkungen über ihre Haarfarbe und Warnungen vor irgendwelchen Vorfällen aus dem Weg gehen wollte.
Sie wälzte sich im Bett herum, sah immer wieder auf die Uhr und machte schließlich das Licht an, um ein paar Ideen zu ihrem neuen Buch zu skizzieren. Aber es half nichts. Normalerweise fand sie das Geräusch des Winterwindes, der um das solide Blockhaus fegte, beruhigend, doch heute Nacht stachelte er sie eher dazu an, sich die Kleider vom Leib zu reißen und zu tanzen, das brave, strebsame Mädchen hinter sich zu lassen und ihren wilden Trieben freien Lauf zu gewähren.
Sie warf die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Trotz der Kühle im Zimmer fühlte sie sich erhitzt und fiebrig. Sie wünschte, sie wäre zu Hause. Ruh öffnete schläfrig ein Auge und klappte es wieder zu, als sie zu der gepolsterten Bank in einem der Mansardenfenster ging.
Eisblumen überzogen die Fensterscheiben, draußen tanzte der Schnee in feinen weißen Bändern durch die Bäume. Sie versuchte, sich auf die Schönheit der Winternacht zu konzentrieren, doch immer wieder sah sie Kevin Tucker vor sich. Ihre Haut prickelte, ihre Brüste bebten. Es war einfach erniedrigend! Da saß sie nun, eine intelligente Frau – um nicht zu sagen hoch intelligent – und war besessen wie ein sexhungriger Groupie, auch wenn sie noch so sehr versuchte, es abzustreiten.
Oder war es die perverse Form einer weiteren Persönlichkeitsentwicklung? Immerhin ging es bei ihrer Besessenheit nur um Sex und nicht um die große Liebe, die sie niemals erleben würde.
Obwohl es vielleicht sicherer war, von der großen Liebe zu träumen. Dan hatte Phoebe das Leben gerettet! Die romantischste Geschichte, die Molly sich nur ausmalen konnte, doch sie fürchtete, es hatte in ihr unerfüllbare Erwartungen geweckt.
Also gab sie den Gedanken an die große Liebe doch wieder auf und konzentrierte sich vorerst nur auf Sex. Ob Kevin wohl Englisch sprach, wenn er es tat, oder hatte er ein paar passende fremdsprachige Sätze auswendig gelernt? Mit einem lauten Stöhnen vergrub sie das Gesicht in ihrem Kopfkissen.
Als sie nach ein paar Stunden Schlaf aufwachte, blickte sie hinaus in einen kalten grauen Morgen. Kevins Ferrari war verschwunden. Gut so! Sie ging mit Ruh kurz nach draußen, bevor sie duschte. Während sie sich abtrocknete, summte sie betont fröhlich ein Liedchen über Pu der Bär vor sich hin, doch als sie eine abgetragene graue Hose und den Dolce & Gabbana-Pullover überstreifte, war es mit ihrer aufgesetzten guten Laune auch schon vorbei.
Was war nur los mit ihr? Sie hatte ein wunderbares Leben. Sie war gesund. Sie hatte viele gute Freunde, eine fantastische Familie und einen witzigen kleinen Hund. Und es machte ihr nichts aus, ständig pleite zu sein, für ihre Wohnung gab sie gern den letzten Penny her. Sie liebte ihre Arbeit. Ihr Leben war perfekt. Mehr als perfekt, jetzt wo Kevin Tucker endlich weg war.
Angewidert von ihren Launen schlüpfte sie in die pinkfarbenen Pantoffeln, die ihr die Zwillinge zum Geburtstag geschenkt hatten, und tapste mit den wippenden Kaninchenköpfen auf ihren Zehen nach unten in die Küche. Ein schnelles Frühstück, und dann nichts wie an die Arbeit.
Sie war gestern Abend zu spät angekommen, um noch einzukaufen. Also kramte sie eine Packung Dans Pop-Tarts aus dem Schrank. Gerade als sie sie in den Toaster stecken wollte, fing Ruh an zu kläffen. Die Hintertür ging auf und herein kam Kevin, voll beladen mit Plastiktüten aus dem Supermarkt. Ihr idiotisches Herz setzte einen Schlag aus.
Ruh knurrte, aber Kevin ignorierte ihn. »Guten Morgen, Daphne.«
Ihr Freudenschrei verwandelte sich umgehend in Ärger. Slytherin!
Er ließ die Tüten auf die Insel in der Mitte fallen. »Die Vorräte wurden etwas knapp.«
»Was macht das schon? Sie reisen doch ab, schon vergessen? Vous partez. Salga«, fügte sie mit besonderer Betonung hinzu und stellte befriedigt fest, dass sie ihn damit verärgerte.
»Es wäre keine gute Idee jetzt abzureisen.« Mit einem kräftigen Ruck drehte er die Milchflasche auf. »Ich habe keine Lust, es mir mit Dan noch mehr zu verscherzen, also sind Sie diejenige, die abreisen muss.«
Genau das hätte sie tun sollen, aber ihr gefiel sein Ton nicht und so ließ sie ihrem Ärger freien Lauf. »Das steht völlig außer Frage. Als Sportler werden Sie das nicht verstehen, aber ich brauche absolute Ruhe, ich muss nämlich tatsächlich denken, wenn ich arbeite.«
Die Beleidigung war ihm sicher nicht entgangen, aber er ignorierte sie. »Ich werde hier bleiben.«
»Ich auch«, gab sie ebenso starrsinnig zurück.
Man merkte ihm an, dass er sie am liebsten im hohen Bogen rausgeschmissen hätte. Aber er konnte nicht, immerhin war sie die Schwester seiner Chefin. Er schenkte sich betont langsam ein Glas Milch ein und lehnte sich an die Küchentheke. »Das Haus ist groß. Dann teilen wir es uns eben.«
Sie wollte ihm schon sagen, das könne er vergessen, dann würde sie lieber abreisen, als etwas sie zurückhielt. Vielleicht war es gar nicht so verrückt, wie es klang. Vielleicht war es sogar der schnellste Weg, sie von ihrer fixen Idee zu befreien, wenn sie jeden Tag den Mistkerl hinter der schönen Schale vor Augen hätte. Schließlich war es nie Kevin als menschliches Wesen, sein Charakter, gewesen, was sie an ihm interessiert hatte, dafür kannte sie ihn viel zu wenig. Nein, es war allein das äußere Bild von seinem aufregenden Körper, den betörenden Augen, seiner alles beherrschenden Männlichkeit.
Sie sah zu, wie er sein Glas Milch hinunterspülte. Ein Rülpser. Das würde schon genügen. Sie fand nichts abstoßender als einen Mann, der laut rülpste, oder sich im Schritt kratzte, oder schlechte Tischmanieren hatte. Oder diese Verlierertypen, die versuchten, eine Frau zu beeindrucken, indem sie mit einem dicken Bündel Geldscheine herumwedelten, die von einer dieser abartigen Geldscheinklammern zusammengehalten wurden.
Vielleicht trug er ein Goldkettchen. Molly schüttelte sich. Damit hätte sich die Sache von selbst erledigt. Oder er war ein Waffennarr. Oder er schaffte es aus hundert anderen Gründen nicht, an das durch Dan Calebow gesetzte Maß heranzureichen.