Verrat am Lancaster Gate - Anne Perry - E-Book

Verrat am Lancaster Gate E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

London 1898: Als bei einem Bombenattentat am Lancaster Gate zwei Polizisten sterben, werden wie selbstverständlich die Anarchisten beschuldigt. Doch Thomas Pitt, der Chef des Staatsschutzes, erkennt schnell, dass die beiden Toten keine zufälligen Opfer sind: Sie scheinen sich der Korruption und noch schlimmerer Verbrechen schuldig gemacht zu haben. Mit Entsetzen erkennt er, welche Missstände im Polizeiapparat herrschen – und gerät in kürzester Zeit gnadenlos zwischen alle Fronten.

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Das Buch

London 1898: Am Lancaster Gate explodiert eine Bombe, zwei Polizisten sterben und drei weitere werden schwer verletzt. Die Recherche von Thomas Pitt, dem Chef des Staatsschutzes, ergibt, dass die Polizisten gezielt durch einen Hinweis auf einen angeblichen Opiumdeal in eine Falle gelockt wurden. Im Laufe seiner Ermittlungen erhärtet sich jedoch der unglaubliche Verdacht, dass sich die fünf der Korruption, wenn nicht sogar eines Tötungsdelikts und eines Justizmordes schuldig gemacht haben. Eine weitere Spur führt zum schwer opiumabhängigen Alexander Duncannon. An ihrer Verfolgung wird Pitt jedoch gehindert, da Duncannons Vater wichtiger Verhandlungspartner für das Außenministerium ist. Pitt gerät in einen Dickicht von Bestechung, Korruption und einen Justizskandal, in dem er selbst Gefahr läuft, unterzugehen.

Die Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen England und begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland. Mehr zur Autorin und ihren Büchern erfahren Sie unter www.anneperry.co.uk.

ANNE PERRY

VERRATAM LANCASTERGATE

Ein Thomas-Pitt-Roman

Aus dem Englischenvon K. Schatzhauser

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

TREACHERY AT LANCASTER GATE

erschien 2015 bei Headline Publishing Group, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2016

Copyright © 2015 by Anne Perry

Copyright © 2016 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Bildes von John MacVicar Anderson /Private Collection / © Christopher Wood Gallery, London /Bridgeman Images

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-19221-1V001

www.heyne-verlag.de

Für Flora Rees

KAPITEL 1

Von der Straße aus betrachtete Pitt die schwelenden Ruinen des Hauses. Nachdem die Feuerwehr auch hier und da wieder aufflackernde Glutnester gründlich gelöscht hatte, sammelte sich jetzt das Wasser in den Kratern, die der vor einer Dreiviertelstunde gezündete Sprengsatz im Boden des Gebäudes hinterlassen hatte. Dichter Qualm verdunkelte den Mittagshimmel, und in der Luft hing der Geruch von Sprengstoff.

Pitt trat beiseite, als zwei Sanitäter einen Verletzten auf einer behelfsmäßigen Trage zu einem wartenden Wagen brachten. Der Brandgeruch ließ die vor den Wagen gespannten Pferde unruhig stampfen, und jedes Mal, wenn ein durchgebrannter Balken herabstürzte, scheuten die Tiere.

»Das wär’s, Sir. Jetzt sind alle draußen«, teilte ihm der Polizeibeamte mit, der das Gebäude bewachte. Man merkte seinem Gesicht das Entsetzen an – kein Wunder, denn die fünf Opfer des Anschlags waren seine Kollegen.

»Danke«, sagte Pitt. »Wie viele sind tot?«

»Hobbs und Newman, Sir. Wir haben alles gelassen, wie es war.« Er hustete und räusperte sich. »Ednam, Bossiney und Yarcombe hat es ziemlich übel erwischt, Sir.«

»Danke«, sagte Pitt erneut. Seine Gedanken jagten sich, doch ihm fiel nichts ein, was er dem Beamten zum Trost hätte sagen können. Pitt stand an der Spitze des Staatsschutzes, jener geheimdienstlichen Abteilung, die immer dann tätig wurde, wenn es um eine Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Sabotage, Attentate, Bombenanschläge oder irgendeine Art von Terrorismus ging. Schon viel zu häufig war er Zeuge von Zerstörung und gewaltsamem Tod geworden. Vor seiner Zeit beim Staatsschutz hatte er wie die Männer, die diesem Anschlag zum Opfer gefallen waren, der regulären Polizei angehört, wo es seine Aufgabe gewesen war, Mordfälle aufzuklären.

Allem Anschein nach hatte sich dieser Anschlag bewusst gegen die Polizei gerichtet. Einige der Kollegen kannte er, hatte viele Jahre mit ihnen zusammengearbeitet. Er konnte sich an Newmans Hochzeit und an Hobbs’ erste Beförderung erinnern. Jetzt musste er, unbeeinflusst davon, dass er sie gekannt hatte, die Trümmer nach dem durchsuchen, was von ihnen übrig geblieben war. Jeder Mensch konnte sein Leben verlieren, und wahrscheinlich hatte jeder jemanden, der ihn im Falle seines Todes entsetzlich vermisste. Aber wenn es sich anders verhielte, wäre das nicht sogar noch schlimmer?

Pitt wandte sich um und bahnte sich langsam seinen Weg durch die Trümmer, bemüht, alles so zu lassen, wie es war – denn gewissermaßen handelte es sich um Beweismaterial. In dem Haus war eine Bombe gezündet worden – Passanten hatten einen lauten Knall gehört und Trümmer durch die Luft fliegen sehen. Als die Holzteile des Gebäudes Feuer gefangen hatten, waren Flammen emporgeschlagen. Überall lagen Glassplitter von den geborstenen Fenstern. Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, waren so nahe am Tatort gewesen, dass sie als Zeugen infrage kamen. Sie saßen jetzt im hinteren Teil eines Sanitätswagens, dessen Türen offen standen. Einer der Sanitäter redete beruhigend auf sie ein, während er eine tiefe Schnittwunde am Arm der Frau versorgte. Auch wenn beide ziemlich mitgenommen wirkten, würde Pitt möglichst bald mit ihnen sprechen müssen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie etwas Wichtiges gesehen hatten. Mitunter zeigte sich nachträglich, dass sich sogar Hinweise aus etwas ergaben, was jemand nicht gesehen hatte.

Pitt wandte sich zuerst an den Mann. Er mochte etwas über sechzig sein. Er war weißhaarig und trug einen dunklen Anzug. Abgesehen von diversen Schnittverletzungen, hatte er eine Brandwunde an der rechten Wange, wo ihn ein brennendes Stück Holz getroffen haben mochte. Staub bedeckte die ganze rechte Seite seines Anzugs, der mehrere Brandlöcher aufwies.

Pitt entschuldigte sich für die Störung und fragte ihn dann nach Namen und Anschrift.

»Wir waren auf dem Heimweg von der Kirche, Gott steh mir bei«, sagte der Mann mit zitternder Stimme. »Was für Menschen sind das nur, die so etwas tun?« Er hatte unübersehbar Angst und bemühte sich verzweifelt, das vor seiner Frau zu verbergen. Er war, wie sich das gehörte, auf der äußeren Gehwegseite gegangen, und so hatte sie sich näher am Gebäude befunden und war von der Explosion stärker in Mitleidenschaft gezogen worden. Da durch den Verband, den der Sanitäter an ihrem Arm angelegt hatte, bereits Blut drang, wickelte er eine weitere Lage Verbandsmaterial darum. Dabei mahnte er Pitt mit Blicken, sich zu beeilen.

»Haben Sie jemanden auf der Straße gesehen?«, fragte Pitt den Mann. »Jeder Zeuge ist wichtig.«

»Nein … nein, niemanden. Wir haben uns miteinander unterhalten«, gab dieser zur Antwort. »Wer tut so etwas? Sind das wieder Anarchisten? Was wollen die?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Aber wir werden es herausbekommen«, versprach Pitt. »Sagen Sie uns bitte Bescheid, wenn Ihnen später noch etwas einfällt, woran Sie sich im Augenblick nicht erinnern.« Er gab dem Mann seine Karte, wünschte der Frau baldige Genesung, nickte dem Sanitäter zu und wandte sich erneut dem Haus zu. Es war an der Zeit, in die Ruine hineinzugehen, sich die Getöteten anzusehen und möglichst viel Beweismaterial zu sammeln.

Sorgfältig suchte er sich seinen Weg um herabgestürzte Balken herum. Obwohl nach wie vor Brandgeruch in der Luft lag, war es kalt.

»Sir!«, rief ihm ein Feuerwehrmann zu. »Sie können da nicht rein! Es ist …«

Pitt ging weiter. Glassplitter knirschten unter seinen Schuhsohlen. »Commander Pitt«, stellte er sich vor.

»Ach so … Seien Sie aber vorsichtig, Sir. Achtung, Ihr Kopf.« Der Feuerwehrmann blickte zu einem halb abgebrochenen Balken empor, der in einem gefährlichen Winkel herabhing und aussah, als könne er sich jeden Augenblick lösen und herabfallen. »Trotzdem sollten Sie eigentlich nicht hier sein«, fügte er hinzu.

»Was ist mit den Toten?«, fragte Pitt.

»Die laufen Ihnen nicht davon, Sir. Es dürfte das Beste sein, wenn wir sie rausholen. Dort drinnen ist es zu gefährlich«, erwiderte der Feuerwehrmann. »Die Explosion hat sie getötet, Sir. Daran besteht kein Zweifel.«

Pitt hätte diesen Vorwand gern genutzt, um sich die Toten nicht ansehen zu müssen, aber davon konnte keine Rede sein. Schon möglich, dass er nichts Wichtiges in Erfahrung bringen würde, aber irgendwo musste er anfangen. Er musste sich der Situation stellen und sie bewältigen.

Er war jetzt bei dem Feuerwehrmann angekommen. Unter den schwarzen Ascheflecken war dessen Gesicht bleich. Seine Uniform war verschmutzt und durchnässt, und sobald er Zeit hätte, sich darüber Gedanken zu machen, würde er merken, dass er auch fror.

»Da entlang, Sir«, sagte der Mann zögernd. »Aber seien Sie vorsichtig. Am besten fassen Sie nichts an, damit Ihnen nicht das Ganze auf den Kopf fällt.«

»Ich passe schon auf«, gab Pitt zur Antwort und machte sich auf den Weg ins Innere, wobei er bemüht war, nicht zu stolpern, um sich nicht an irgendwelchen zerstörten Möbelstücken, hervorstehenden Eisenträgern oder lose herabhängenden Gebäudeteilen zu verletzen.

Geborstene Dielen standen schräg aus dem Boden hervor. Es musste sich um einen starken Sprengsatz gehandelt haben. Nach den Brandspuren und den Holzresten zu urteilen, befand sich Pitt seiner Schätzung nach ganz in der Nähe der Explosionsstelle. Was um Himmels willen mochte hier in dem Haus an einer ruhigen Londoner Straße in der Nähe des Kensington Parks geschehen sein? Steckten Anarchisten dahinter? Von denen wimmelte es in der Stadt. Bestimmt die Hälfte der europäischen Revolutionäre lebte schon seit Längerem in London oder hatte sich zumindest eine Zeit lang in der Stadt aufgehalten. Zuletzt hatten ihre Aktivitäten – verglichen mit früheren Jahren – deutlich nachgelassen, doch jetzt, kurz vor dem Ende des Jahres 1898, hatte es den Anschein, als sei die Gelassenheit des Staatsschutzes ihnen gegenüber fehl am Platz gewesen. War dies ein letztes Aufbäumen oder womöglich ein Vorbote wieder aufflammender Aktivität? Auf dem europäischen Kontinent hatten Nihilisten den französischen Präsidenten Carnot, Zar Alexander II. von Russland und den spanischen Premierminister Cánovas del Castillo ermordet sowie erst vor wenigen Monaten auch Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Griff die Gewalttätigkeit jetzt möglicherweise auch auf England über?

Pitt sah eine Leiche, genauer gesagt, die Überreste eines der Anschlagsopfer. Er musste heftig schlucken und fürchtete einen Augenblick lang, sich übergeben zu müssen. Ein Bein fehlte, und ein Dachbalken hatte die Brust auf einer Seite vollständig eingedrückt. Der Schädel war zerschmettert, doch als Pitt sich zwang, genau hinzusehen, erkannte er an den Gesichtszügen, dass es sich um Newman handelte.

Er würde die Witwe aufsuchen und ihr die üblichen Trostworte sagen müssen. Zwar würde es ihr nichts helfen, aber es würde ihren Schmerz verstärken, wenn er es unterließe.

Aufmerksam betrachtete er den Toten. Ließ sich an ihm irgendetwas über das hinaus erkennen, was ihm der Feuerwehrmann gesagt hatte? Newtons sonderbar unversehrtes Gesicht zeigte keine Rußspuren. Der linke Arm war abgerissen, doch bei genauerem Hinsehen erkannte Pitt, dass die rechte Hand völlig sauber war. Hieß das, dass sich der Mann bereits im Inneren des Gebäudes befunden hatte, als die Bombe detonierte? Ganz offensichtlich hatte er sich seinen Weg nicht durch Rauch und Trümmer bahnen müssen. Was hatte er dort gewollt? Hatte es Alarm gegeben, einen Hinweis auf eine verbotene Versammlung? War der Polizei etwas Verdächtiges gemeldet worden? War er jemandem gefolgt? War er in einen Hinterhalt geraten?

Benommen wandte Pitt sich ab, holte tief Luft und suchte weiter.

Der zweite Tote war von herabgefallenem Putz und Holzstücken halb zugedeckt. Hobbs’ sommersprossiges Gesicht, das so gut wie keine Spuren von Ruß zeigte, war unverkennbar. Er wies deutlich weniger sichtbare Verletzungen auf als Newman. Pitt musterte ihn so sachlich, wie ihm das möglich war, und versuchte seine Schlüsse zu ziehen. Der Polizeiarzt würde ihm sicherlich mehr sagen können, aber es sah ganz so aus, als habe sich Hobbs deutlich weiter vom Ort der Explosion entfernt befunden als Newman und als sei er von ihr überrascht worden.

Noch während sich Pitt aufmerksam umsah, hörte er Schritte hinter sich. Als er sich umwandte, erkannte er die vertraute Gestalt Samuel Tellmans, der sich durch herabgefallene Teile der Decke, Löschwasser und verkohlte Möbelstücke seinen Weg bahnte. Tellman war unter ihm Wachtmeister gewesen, als Pitt die Wache in der Bow Street geleitet hatte. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sie miteinander warm geworden waren. Tellman stand Menschen, die wie Pitt aus kleinsten Verhältnissen aufgestiegen waren und sich so gepflegt ausdrückten wie die Mitglieder der gehobenen Gesellschaft, mit großem Misstrauen gegenüber. Er hielt Pitts Sprechweise und Akzent für gekünstelt und verdächtigte ihn, sich für etwas Besseres zu halten. Pitt hatte keinen Anlass gesehen, ihm zu erklären, dass ihn der Gutsbesitzer Sir Arthur Desmond, in dessen Diensten sein Vater Jagdhüter gewesen war, bis man ihn aufgrund einer falschen Anschuldigung wegen Diebstahls nach Australien deportiert hatte, zusammen mit seinem Sohn hatte privat unterrichten lassen – in erster Linie, um seinen Sohn zu möglichst großem Fleiß anzuspornen. Pitts Mutter war als Wäscherin weiterhin in Sir Desmonds Dienst geblieben. Das Schicksal seines Vaters war eine Wunde, die Pitt nach wie vor tief schmerzte, doch brauchte Tellman davon nichts zu wissen.

Jahre der gemeinsamen Arbeit hatten nicht nur dafür gesorgt, dass sie einander respektierten, sondern bei Tellman auch zu einer unverbrüchlichen Loyalität geführt.

»Guten Tag, Sir.« Tellman blieb neben ihm stehen.

»Guten Tag, Inspektor«, erwiderte Pitt. Er hatte damit gerechnet, dass die Polizei jemanden an den Tatort schicken würde. Weniger, weil Pitt als Leiter des Staatsschutzes nicht der regulären Polizei angehörte, sondern vor allem, weil sämtliche Opfer des Anschlags Polizeibeamte waren. Das Treueverhältnis innerhalb der Polizei ähnelte in gewisser Weise dem von Soldaten im Krieg. Ein Polizist musste sich angesichts einer Gefahr in jeder Hinsicht auf seine Kollegen verlassen können, denn davon hing unter Umständen sein Leben ab.

Pitt nickte. Zwar war es ihm mehr als recht, wieder einmal mit Tellman zusammenarbeiten zu können, doch wäre ihm das in jedem beliebigen anderen Zusammenhang lieber gewesen als ausgerechnet in diesem speziellen Fall, in dem seitens der Polizei vermutlich die Nerven blank lagen.

»Sieht ganz so aus, als wären die beiden genau in dem Augenblick hier gewesen, als die Ladung hochging«, bemerkte Pitt. »Newman muss ganz dicht dran gewesen sein.«

»Ja, genauso sieht es aus. Was für ein verdammter Irrer könnte das getan haben?«, fragte Tellman mit belegter Stimme, als könne er sich nur mit Mühe beherrschen. »Auch ich bin dafür, dass alle Menschen in Freiheit leben können, eine anständige Unterkunft und genug zu essen haben, und ich setze mich auch für ihr Recht ein, sich frei zu bewegen – aber was zum Teufel will man hiermit erreichen? Die beiden haben den Leuten doch nichts getan! Was für Anarchisten stecken dahinter? Spanische? Italienische? Französische? Russische? Warum in drei Teufels Namen kommen eigentlich alle verdammten Knallköpfe aus Europa hierher zu uns?« Er wandte sich Pitt zu. »Und wieso dulden wir das?« Zwei rote Flecken auf den eingefallenen Wangen ließen sein bleiches Gesicht beinahe weiß erscheinen. Mit vor Zorn sprühenden Augen fuhr er fort: »Wissen Sie nicht, wer dahintersteckt? Ist es nicht die ureigene Aufgabe des Staatsschutzes, so etwas zu wissen?«

Mit hängenden Schultern schob Pitt die Hände tiefer in die Taschen. »Dazu kann ich nichts sagen, denn für die politischen Vorgaben bin nicht ich zuständig. Ich kenne eine ganze Reihe von den Leuten. Die meisten dreschen nur hohle Phrasen und geben leere Parolen von sich.«

Der Abscheu und die Qual auf Tellmans Zügen waren stärker, als er mit Worten hätte ausdrücken können. »Ich spür’ die auf und bring’ sie an den Galgen – ganz gleich, was Sie mit denen vorhaben.« Es war eine Herausforderung.

Pitt machte sich nicht die Mühe, darauf einzugehen. Ihm war nicht nur bewusst, welche Empfindungen hinter Tellmans Worten standen, sondern im Augenblick teilte er sie auch mehr oder weniger. Zugleich vermutete er, dass er unter Umständen anders denken würde, wenn bekannt war, wer den Anschlag verübt hatte. So mancher der als »Anarchisten« gebrandmarkten Männer hatte sich nichts weiter als die Forderung nach einer angemessenen Entlohnung zuschulden kommen lassen, um seine Familie ernähren zu können. Einige hatte man ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und sogar hingerichtet, obwohl ihr einziges Vergehen darin bestanden hatte, gegen soziale Ungerechtigkeit aufzubegehren. In ihrer Situation hätte Pitt vielleicht ebenso gehandelt.

»Ich frage mich, was die Beamten zu fünft in diesem ruhigen Haus gleich hier am Park wollten«, sagte er. »Es dürfte dabei kaum um eine Ermittlung gegangen sein, denn dafür braucht man nicht so viele Leute. Da es keine weiteren Toten oder Verletzten gibt, war wohl niemand zu Hause. Was also wollten die Beamten hier?«

Tellmans Züge verhärteten sich. »Das weiß ich noch nicht, aber ich bin entschlossen, es herauszubekommen. Da sie vermutlich den Staatsschutz hinzugezogen hätten, wenn Anarchisten dahintersteckten, muss es etwas anderes gewesen sein.«

Pitt war davon nicht so fest überzeugt wie allem Anschein nach Tellman, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Einwände zu erheben. »Ist über diese Adresse etwas bekannt?«, fragte er stattdessen.

»Bisher nicht.« Tellman sah sich um. »Was ist mit dem Sprengsatz? Woraus bestand er? Wo befand er sich? Wie hat man ihn gezündet?«

»Dynamit«, sagte Pitt. »Das nehmen die immer. So eine Bombe lässt sich leicht mit einer Zündschnur zur Explosion bringen. Sie muss nur lang genug sein, damit die Flamme die Sprengladung erst erreicht, wenn sich der Täter in Sicherheit gebracht hat.«

»Weiter ist nichts nötig?«, fragte Tellman mit Bitterkeit in der Stimme.

»Na ja, es gibt auch kompliziertere Methoden, aber nicht für Fälle wie diesen.«

»Zum Beispiel was?«, erkundigte sich Tellman. »Umstülp-Sprengsätze«, sagte Pitt geduldig, während sich beide Männer vorsichtig daran machten, das Gebäude zu verlassen. Der stechende Geruch nach verbranntem Holz und der Staub von Putz brannte ihnen in Rachen und Nase. »Man stellt einen aus zwei Hälften bestehenden und mit einer hinreichenden Anzahl von Löchern versehenen Behälter her. Solange man ihn richtig herum hält, ist die Sache völlig ungefährlich, doch sobald man ihn umdreht, geht die Sprengladung hoch.«

»Heißt das, man transportiert und deponiert das Ding richtig herum und hofft, dass jemand es dann irgendwann mal umdreht?«

»Man macht zum Beispiel ein Paket daraus, schreibt den Absender auf die Unterseite und verknotet dort auch den Bindfaden«, sagte Pitt, während er vorsichtig über einen herabgefallenen Balken stieg. »Das funktioniert bestens.«

»Dann ist es ja wohl ein Wunder, dass wir nicht alle schon in die Luft gejagt worden sind.« Tellman trat mit solcher Wut gegen ein loses Stück Holz, dass es krachend gegen die nächste Wand prallte.

Pitt verstand seine Heftigkeit. Schließlich war er selbst lange bei der Polizei gewesen, hatte einige der Männer gekannt sowie zig andere wie sie, die eine oft undankbare Aufgabe mit Hingabe erfüllten, obwohl sie, bedachte man die damit verbunden Gefahren, recht schlecht bezahlt wurden.

»Dynamit unterliegt einer scharfen behördlichen Überwachung«, sagte er, während sie auf den Gehweg traten. Die Wagen mit den Verletzten waren abgefahren. Außer einem Fahrzeug der Feuerwehr stand auf der inzwischen gesperrten Straße nur noch der Wagen für den Abtransport der Toten ins Leichenschauhaus. Pitt nickte dem Polizeiarzt und dessen Helfer zu. »Ich glaube nicht, dass wir hier noch mehr in Erfahrung bringen werden«, sagte er. »Schicken Sie mir Ihren Bericht, sobald Sie ihn fertig haben.«

»Gewiss, Sir«, versprach der Polizeiarzt und trat seinerseits in das zerstörte Gebäude.

»So, so, Dynamit unterliegt also der Kontrolle«, sagte Tellman mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme. »Und wie sieht die aus?«

»Es ist nicht frei verkäuflich«, gab Pitt zurück, während er sich mit langsamen Schritten von den nach wie vor schwelenden Trümmern entfernte. »Gewöhnlich wird es in Steinbrüchen und ab und zu bei Abbrucharbeiten verwendet. Entweder hat es jemand an einem solchen Ort gestohlen oder von jemandem gekauft, der es seinerseits gestohlen hat.«

»Das klingt nun wirklich nach Anarchisten«, sagte Tellman griesgrämig. »Das heißt, wir stehen wieder ganz am Anfang.«

»Könnte sein«, bestätigte Pitt »nur scheint das hier, wie schon gesagt, nicht zu den von ihnen verfolgten Zielen zu passen.«

»Vielleicht handelt es sich um Menschenfeinde, die jeden hassen, oder sie sind so verrückt, dass ihnen alles egal ist.« Tellman sah zu den kahlen Bäumen im Kensington Park hinüber, die sich schwarz vom Himmel abhoben. »Ich nehme an, Sie wissen, was Sie tun, wenn Sie die hier bei uns im Lande dulden.« Er sagte das nicht im Frageton, hatte es aber womöglich durchaus so gemeint. »Mir persönlich wäre es lieber, die würden verschwinden und ihre eigenen Städte in Schutt und Asche legen.«

Ohne auf diese Äußerung einzugehen, sagte Pitt: »Sprechen Sie mit den Feuerwehrleuten. Vielleicht können die etwas Brauchbares beitragen. Zwar zeigt uns die Leiche des armen Newman mehr oder weniger genau die Stelle, an der die Bombe detoniert sein muss, aber möglicherweise lässt sie sich noch besser durch die Art eingrenzen, wie sich das Feuer ausgebreitet hat.«

»Inwiefern wäre das von Nutzen?«

»Wahrscheinlich gar nicht, aber Ihnen ist ebenso wie mir bekannt, dass man Beweismaterial nicht vorschnell beurteilen, sondern so viel wie möglich davon sammeln soll. Sie wissen, wonach Sie zu suchen haben! Stellen Sie möglichst viel über die Bewohner des Hauses fest – wie sie aussehen, wann sie normalerweise kommen und gehen, wer sie besucht, was sie als ihren Beruf angeben, und nach Möglichkeit auch, was sie wirklich tun.«

»Niemand muss mir erklären, wie ich meine Arbeit zu tun habe«, sagte Tellman verärgert. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schluckte es jedoch herunter. Er sah Pitt eine Weile unbeweglich an und wandte sich dann ab. Der Kummer auf seinem Gesicht war unübersehbar.

»Ich weiß«, sagte Pitt. »Es tut mir leid …«

Vor seinem inneren Auge sah er Newman bei dessen Hochzeit. Er konnte sich erinnern, wie die junge Braut ihren Mann angesehen hatte. So wie er sollte niemand enden müssen.

»Ich fahre ins Krankenhaus«, sagte er mit belegter Stimme. »Wenigstens einer der Verletzten wird mir ja wohl hoffentlich sagen können, was die in dem Haus hier wollten.« Er hatte das Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun, und ging mit raschem Schritt zur Bayswater Road, wo er damit rechnen durfte, rasch eine Droschke zu finden. Zum nächsten Krankenhaus waren es nur wenige Minuten Fahrt über Westbourne Terrace zur Praed Street, und tatsächlich wartete am Straßenrand eine Droschke, als hätte der Kutscher gewusst, dass man ihn brauchen würde. »Saint-Mary-Krankenhaus, Paddington«, sagte Pitt und stieg ein.

»Wird gemacht, Sir. Vermutlich haben Sie es eilig?«

»Ja.« Pitt wollte mit den Männern sprechen, solange sie bei Bewusstsein und noch nicht im Operationssaal – oder gar tot waren. Niemand hatte ihm etwas über die Schwere ihrer Verletzungen sagen können.

Trotz der kurzen Entfernung schien die Fahrt kein Ende nehmen zu wollen.

Am Ziel angekommen, stieg Pitt aus, entlohnte den Kutscher und dankte ihm.

»Gern gescheh’n, Sir«, rief ihm der Mann nach. Als Pitt endlich die richtige Station erreicht hatte, erklärte ihm Doktor Critchlow, der behandelnde Arzt, er könne ihn nicht zu den Patienten lassen. Wegen ihrer großen Schmerzen habe man ihnen eine starke Dosis Morphium gegeben. Pitt erklärte erneut, wer er war. In dieser Situation wäre eine Uniform mit vielen blanken Knöpfen und entsprechenden Rangabzeichen von Vorteil gewesen. »Staatsschutz«, sagte er noch einmal. »Es handelt sich um einen Bombenanschlag, Dr. Critchlow. Mitten in der Stadt. Wir müssen die Täter fassen und ihrem Treiben ein Ende setzen, bevor sie erneut zuschlagen können.«

Der Arzt erbleichte sichtbar und gab nach. »Aber nur kurz, Mr. Pitt. Den Männern geht es wirklich sehr schlecht.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Pitt mit finsterer Miene. »Ich habe mir vorhin die Toten angesehen.«

Der Arzt schluckte und führte ihn wortlos in ein Zimmer mit vier Betten. Zwei der Männer schienen bewusstlos zu sein, vielleicht lagen sie aber auch nur stumm und regungslos da.

Ednam, der Einsatzleiter der Gruppe, war bei Bewusstsein und sah Pitt entgegen. Sein Gesicht sah übel aus, und an seiner linken Wange erkannte man eine rote Brandwunde. Seinen linken Arm hatte man von der Schulter bis zum Handgelenk bandagiert, das linke Bein war ebenfalls verbunden und hochgelagert. Es mochte gebrochen und von Brandwunden bedeckt sein. Als Pitt ihn fragte, ob er sprechen könne, sah ihn der Mann eine Weile an, als müsste er überlegen, wen er vor sich hatte. Dann entspannte er sich leicht.

»Ich glaube schon.« Seine Stimme klang rau. Offensichtlich hatte der heiße Rauch seine Atemwege in Mitleidenschaft gezogen.

»Können Sie mir irgendetwas sagen?«, fragte Pitt.

»Wenn ich gewusst hätte, dass in dem Haus eine verdammte Bombe hochgehen würde, wäre ich da nie reingegangen!«, gab Ednam erbittert zur Antwort.

»Was wollten Sie dort?«, fragte Pitt. »Und dann gleich zu fünft. Was hofften Sie dort zu finden?«

»Rauschgift. Genauer gesagt, Opium. Wir hatten erfahren, dass dort eine größere Menge davon den Besitzer wechseln sollte.«

»Wer hat Ihnen den Hinweis gegeben? Und was haben Sie dort, als Sie hinkamen, vorgefunden?«

»Wir hatten ja kaum Zeit, uns umzusehen!«

Pitt bemühte sich um einen verbindlichen Ton. »War außer Ihnen noch jemand dort?«

»Ich habe niemanden gesehen. Der Hinweis stammte aus einer verlässlichen Quelle. Jedenfalls … hatten wir dem Mann bisher immer vertrauen können.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Es kostete ihn unübersehbar große Anstrengung zu sprechen. »Stimmt es, dass Newman und Hobbs tot sind?«

»Ja.«

Ednam fluchte, bis er keine Luft mehr bekam.

»Ich muss wissen, wer Ihr Informant ist«, sagte Pitt eindringlich und beugte sich leicht vor. »Entweder hat er Sie oder jemand anders hat ihn hereingelegt. In letzterem Fall kann er uns unter Umständen sagen, wer das war.«

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Er nennt sich Anno Domini.«

»Was?«

»Anno Domini«, wiederholte Ednam. »Keine Ahnung, warum. Vielleicht hat er es mit der Religion. Auf jeden Fall waren seine Hinweise bis jetzt immer zuverlässig.«

»Auf welche Weise sind Sie an die gekommen? Haben Sie mit ihm gesprochen? Oder hat er Ihnen schriftliche Nachrichten zukommen lassen?«

»Er hat durch Botenjungen Zettel geschickt, auf denen immer nur eine oder zwei Zeilen standen.«

»An Sie adressiert?«

»Ja.«

»Namentlich?«

»Ja.«

»Und was stand darauf?«

»Hinweise auf Drogenverstecke oder auf eine geplante Drogenübergabe.«

»Wie viele Festnahmen haben Sie aufgrund dieser Informationen vornehmen können?«

Ednam sah Pitt unverwandt an. »Zwei. Außerdem haben wir Opium im Wert von rund zweihundert Pfund beschlagnahmt.«

Das war mehr als genug, um Vertrauen herzustellen; mit einem solchen Betrag ließe sich fast ein kleines Haus anzahlen. Pitt konnte dem Mann keine Vorwürfe machen, dass er dem Hinweis nachgegangen war. Er selbst hätte sich nicht anders verhalten.

»Glauben Sie, dass er Sie in eine Falle locken wollte?«, fragte er. »Oder dass jemand anders ihn dazu benutzt hat?«

Ednam überlegte eine Weile sichtlich angestrengt. »Ich nehme an, dass ihn jemand benutzt hat«, sagte er schließlich. »Aber das ist nur eine Vermutung. Hoffentlich finden Sie die Hintermänner – ich möchte sie hängen sehen.«

»Ich werde es versuchen«, versprach Pitt. Eigentlich war ihm die Todesstrafe zuwider, ganz gleich, wessen sich jemand schuldig gemacht hatte. Er sah darin einen Akt der Barbarei, bei dem sich die Justiz auf dieselbe Stufe begab wie der Straftäter – aber in diesem Fall hätte er nichts dagegen gehabt, den Täter am Galgen zu sehen.

Er trat an das nächste Bett. Die Schwester nannte ihm den Namen des Mannes, der darin lag: Bossiney. Pitt wechselte nur wenige Worte mit ihm. Der Mann hatte schwerste Verbrennungen und schien immer wieder in einen Zustand der Bewusstlosigkeit abzudriften. Vermutlich litt er Höllenqualen.

Pitt wandte sich der Krankenschwester zu, die ihn trübselig anlächelte und sich weder zum Zustand noch zu den Aussichten des Mannes äußern mochte. Sie erklärte lediglich, dass sie hoffe, er werde durchkommen. Ihrem Gesicht war ihr tiefes Mitgefühl anzusehen.

Als Nächstes trat Pitt an das Bett gleich am Fenster, in dem Yarcombe nahezu ausdruckslos an die Zimmerdecke starrte. Pitt sah, dass sein rechter Arm fast vollständig fehlte, und hätte gern etwas Tröstendes gesagt, fand aber keine angemessenen Worte. Unwillkürlich ballte er seine rechte Hand so fest zusammen, dass ihm die Nägel ins Fleisch drangen – eine willkommene Erinnerung an seine eigene Unversehrtheit.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er unbeholfen. »Wir kriegen die Täter.«

Yarcombe wandte den Kopf kaum wahrnehmbar, bis sein Blick auf Pitts Gesicht ruhte. »Tun Sie das«, flüsterte er. »Die haben uns in eine Falle gelockt!« Er sagte noch etwas, was Pitt aber nicht verstehen konnte.

Pitt verließ die Station benommen und mit einem sonderbaren Gefühl in der Magengrube, ohne den Arzt zu fragen, welche Aussichten die Männer seiner Ansicht nach hatten. Ihm war bewusst, dass auch der Arzt ausschließlich Vermutungen anstellen konnte.

Es überraschte Pitt nicht, dass er bei der Rückkehr in sein Büro in Lisson Grove eine Nachricht vorfand, er möge dem Polizeipräsidenten Bradshaw Bericht erstatten. Zweifellos war der Mann von dem Anschlag zutiefst erschüttert, und es wäre seinerseits geradezu eine Pflichtverletzung gewesen, wenn er sich nicht unverzüglich mit dem Leiter des Staatsschutzes in Verbindung gesetzt hätte. Pitt seinerseits war lediglich in sein Büro zurückgekehrt, um zu sehen, ob man dort weitere Informationen hatte, die er an Bradshaw weiterleiten konnte.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen und einen Blick auf die Papiere auf seinem Schreibtisch geworfen, als es klopfte und sein Mitarbeiter Stoker eintrat, ohne Pitts Aufforderung dazu abzuwarten.

»Sir?«

Zwar war Stoker ein wortkarger Mann, aber das war sogar für ihn ungewöhnlich knapp.

»Äußerst schwere Verletzungen«, teilte ihm Pitt mit. »Yarcombe hat einen Arm verloren. Bei Ednam sieht es nicht ganz so schlimm aus, aber Genaues lässt sich nicht sagen. Niemand weiß, ob sie es überleben. Auf jeden Fall müssen sie einen entsetzlichen Schock erlitten haben. Ednam hat gesagt, dass sie einem Hinweis auf ein Opiumgeschäft nachgegangen sind. Sie mussten mit einem gewissen Widerstand rechnen und auch verhindern, dass sich jemand mit dem Beweismaterial aus dem Staub macht.«

»Gab es denn welches?«

»Nein.«

»Und weiß man, wer ihnen die Falle gestellt hat?«

»Ein Mann, den sie als Anno Domini kennen.«

»Was?«, fragte Stoker verblüfft.

»Anno Domini«, wiederholte Pitt. »Keine Ahnung, warum. Ednam sagt, dass der Mann früher zuverlässig war.«

»Wahrscheinlich nur, um sie umso besser hereinlegen zu können«, meinte Stoker prompt.

»Könnte sein. Tellman ist unser Verbindungsmann zur Polizei. Am besten sehen Sie sich einmal alle Bombenattentäter an, von denen wir wissen.«

»Ich hab schon damit angefangen. Bis jetzt ist nichts Brauchbares dabei herausgekommen. Aber ich denke, wenn es jemand gewesen wäre, den wir kennen, hätten wir vorher davon erfahren.« Er machte ein betrübtes Gesicht. »Zumindest hoffe ich das! Schließlich haben wir genug Männer in die Gruppen eingeschleust. Ich habe bereits mit Patchett und Wells gesprochen. Die wissen beide nichts. Aber an Dynamit kommt man ja leicht heran, wenn man die richtigen Verbindungen hat.«

Pitt erhob keine Einwendungen. Bedauerlicherweise stimmte das, sosehr sich die Behörden bemühten, derlei zu verhindern. »Ich fahre zu Bradshaw«, sagte er lediglich.

»Ja, Sir.«

Pitt wurde sogleich in das Amtszimmer des Polizeipräsidenten geführt. Im Unterschied zu früheren Gelegenheiten ließ Bradshaw ihn weder warten, noch tat er so, als habe er wichtigere Dinge zu tun. Er war ein nach wie vor schlanker, gut aussehender Mann Anfang fünfzig, in dessen dichtem Haar sich erste Anflüge von Grau zeigten. Wie stets war er ausgesucht gut gekleidet, doch sein Gesicht wies Spuren der Anspannung auf.

»Wie geht es den Männern?«, fragte er ohne Einleitung, als Pitt eintrat und die Tür hinter sich schloss. Er wies wortlos auf einen der eleganten Sessel.

»Newman und Hobbs sind tot, Sir«, gab Pitt zur Antwort, während er über den dicken Orientteppich auf den Schreibtisch zutrat. »Ednam, Bossiney und Yarcombe sind schwer verletzt. Yarcombe hat einen Arm verloren. Für eine Voraussage, ob sie durchkommen, ist es noch zu früh.«

Bradshaw presste einen Moment die Lippen zusammen. »Also sind zwei Polizeibeamte im Dienst umgekommen«, sagte er dann in scharfem Ton.

»Ja, Sir.«

»Wissen Sie, worum es bei der Sache ging?«

»Ein größeres Opiumgeschäft.«

Bradshaw erbleichte. »Opium«, sagte er. »Haben Sie … Haben Sie eine Vorstellung, wer dahinterstecken könnte?«

»Bisher nicht …«

»Warum zieht der Staatsschutz den Fall dann an sich?«, fragte er in herausforderndem Ton. »Welche Hinweise haben Sie, dass es sich bei den Tätern um Terroristen handeln könnte? Wissen Sie, wer dahintersteckt? Hatten Sie vorher schon Kenntnis davon?«

»Nein, Sir. Man hat uns erst hinzugezogen, nachdem heute Vormittag die Bombe am Lancaster Gate detoniert ist. Ein Informant hat Ihre Leute mit Angaben dorthin gelockt, die es für angeraten erscheinen ließen, fünf statt der üblichen zwei Männer dorthin zu schicken.«

»Ein Informant? Woher wissen Sie das?«

»Inspektor Ednam hat es mir im Krankenhaus gesagt.«

»Armer Kerl«, sagte Bradshaw leise. »Und wer ist dieser Informant?«

»Er nennt sich Anno Domini und übermittelt seine Angaben schriftlich.«

»Ach, ein gebildeter Mann?« Bradshaw wirkte überrascht.

»Möglich. Angeblich ging es um eine größere Menge Drogen. Opiumsucht findet sich in allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen.«

Bradshaws Gesicht war bleich und angespannt. »Das ist mir bekannt. Und jetzt suchen Sie nach dem Mann?«

»Ja, Sir. Im Zusammenwirken mit der Polizei.«

»Was genau tun Sie da?«, erkundigte sich der Polizeipräsident.

»Ich gehe unsere sämtlichen Kontakte durch und frage unsere üblichen Zuträger …«

»Handeln Ihre Anarchisten denn üblicherweise mit Opium?«

»Man kann es nicht ausschließen. Auf jeden Fall aber handeln sie mit Dynamit.«

Bradshaw seufzte. »Ja, natürlich. Der Teufel soll sie holen.« Er sah Pitt an, das Gesicht vor Schmerz verzogen. »Vermutlich haben Sie Victor Narraways Spionagenetz übernommen? Da haben Sie doch bestimmt schon gewisse Vorstellungen. Oder sind meine Informationen überholt?«

Pitt hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, doch er hielt es für klüger, sie für sich zu behalten. »Wir tun, was wir können«, sagte er in höflichem Ton. »Ich werde Sie persönlich täglich über alle Fortschritte unterrichten, die wir machen. Unser Verbindungsmann zur Polizei ist Inspektor Tellman.«

Bradshaw nickte. »Geben Sie Bescheid, wenn wir Sie auf irgendeine Weise unterstützen können …«, sagte er düster. »Aber Sie haben ja wohl Ihre eigenen Leute.« Es war nicht als Frage formuliert. Vermutlich stand er dem Staatsschutz ablehnend gegenüber und hatte keine Lust, diesem Amt Leute zur Verfügung zu stellen, damit die dessen Aufgaben erledigten.

Als Nächstes suchte Pitt die Angehörigen der getöteten Beamten auf. Diese bedrückendste aller Aufgaben konnte er an niemanden delegieren.

Völlig erschöpft kehrte er anschließend nach Lisson Grove zurück. Dort ließ er sich von Stoker über alles berichten, was ihm eine Handhabe geben könnte, tätig zu werden: Drohungen, tätliche Angriffe, Rivalitäten. Stoker hatte weder einen Hinweis auf die Adresse am Lancaster Gate noch auf jemanden gefunden, der den Decknamen »Anno Domini« verwendete.

Erst spät kehrte Pitt in sein Haus in der Keppel Street in unmittelbarer Nähe des Russell Square zurück. Auf dem Straßenpflaster hatte sich eine dünne Schicht Raureif gebildet, und ein leichter Nebel ließ die Umrisse der Häuser im Licht der Laternen verschwimmen.

Während er die Stufen zum Hauseingang emporstieg, überkam ihn eine gewisse innere Ruhe, so, als könne er die Gewalttätigkeit und den Kummer des Tages hinter sich lassen. Er schloss die Tür auf, trat ein und zog sie absichtlich so laut hinter sich zu, dass man es hören konnte. Er wollte, dass man seine Heimkehr mitbekam. Immerhin war es schon spät. Da hatten die siebzehnjährige Jemima und ihr vierzehnjähriger Bruder Daniel vermutlich bereits gegessen und waren womöglich schon zu Bett gegangen. Wie immer dürfte Charlotte aufgeblieben sein, um auf ihn zu warten.

Das Licht in der Diele war warm und hell. Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich, und Charlotte trat heraus. Im Licht der Lampe leuchtete ihr kastanienfarbenes Haar. Mit besorgter Miene kam sie ihm entgegen.

Er hängte Hut und Mantel an die Garderobe, dann wandte er sich ihr zu und küsste sie liebevoll.

»Du bist ja ganz durchgefroren«, sagte sie, als sie seine Wange berührte. »Hast du schon etwas gegessen? Möchtest du Brot mit Roastbeef und eine Tasse Tee?«

Mit einem Mal merkte er, dass er Hunger hatte, und sie las ihm die Antwort vom Gesicht ab, bevor er den Mund auftun konnte, wandte sich um und ging in die Küche. In diesem Raum, der angenehm nach blank gescheuertem Holz, der Wäsche auf dem zur Decke emporgezogenen Trockengestell und manchmal auch nach frischem Brot roch, hielt er sich ohnehin am liebsten auf. Mit dem Tellerschrank, in dem blau-weiß gemustertes Geschirr sowie einige Steingutkrüge standen, und den auf Hochglanz polierten Kupfertöpfen, die an Haken von der Wand hingen, war sie ein Hort der Gemütlichkeit.

Diese Küche war seit vielen Jahren der Mittelpunkt des Hauses. Die verschiedensten Menschen hatten hier schon bis weit in die Nacht an dem großen Holztisch gesessen, Pläne geschmiedet, einander über Niederlagen hinweggetröstet oder in dem Glauben an den Erfolg bestärkt, und mitunter vermisste Pitt ihr früheres Hausmädchen Gracie, die als Kind zu ihnen gekommen und inzwischen mit Tellman verheiratet war. Ihre Nachfolgerin, Minnie Maude, besaß – zumindest bisher – weder Gracies flinke Zunge noch deren Mut, der sie vor nichts zurückschrecken ließ.

Pitt setzte sich auf einen der Stühle, während Charlotte den Wasserkessel auf die heißeste Stelle der Herdplatte schob und sich daranmachte, das Fleisch zu schneiden.

»Keinen Rettich«, erinnerte er sie. Das gehörte zu ihrem eingespielten Ritual.

Sie nickte kaum wahrnehmbar, wusste sie doch, dass er nie Rettich aß, sondern Essiggemüse vorzog. »Es hat in der Zeitung gestanden, aber ohne Angabe von Namen. Waren Leute darunter, die du kanntest?«

Er zögerte nur kurz. »Ja. Newman war einer von ihnen. Ich … ich war schon bei seiner Frau, um es ihr zu sagen.«

Charlotte stand einen Augenblick lang reglos da. Tränen traten ihr in die Augen. »Ach, Thomas, das tut mir so leid! Ich erinnere mich an ihre Hochzeit – sie war so glücklich! Wie entsetzlich.« Sie schluckte und bemühte sich, ihre Gefühle zu beherrschen. »Und die anderen?«

»Ich habe sie im Krankenhaus aufgesucht, aber Newman kannte ich als Einzigen wirklich.«

»Und werden sie wieder genesen?«

»Um darüber etwas zu sagen, ist es noch zu früh. Einer von ihnen hat einen Arm verloren.«

Es war ihm ganz recht, dass Charlotte nicht versuchte, etwas Tröstendes zu sagen. Sie schnitt Brot, bestrich die Scheiben mit Butter, belegte sie mit Roastbeef und legte Essiggemüse dazu. Als das Wasser heiß war, gab sie drei Löffel Teeblätter in die vorgewärmte Kanne, goss Wasser darauf und stellte alles auf den Tisch.

»Was schreiben denn die Zeitungen?«, fragte er und biss herzhaft in sein belegtes Brot.

»Dass es Anarchisten waren«, gab sie zur Antwort. »Alle haben Angst, weil die Lage so unsicher ist. Gegenwärtig scheint Gewalttätigkeit ja geradezu in der Luft zu liegen, und man weiß nie, aus welcher Richtung der nächste Angriff kommt.« Sie goss ihm und auch sich selbst Tee ein. »Genau das wollen diese Leute ja wohl erreichen, nicht wahr? Sie wollen die Art von Angst verbreiten, die Menschen lähmt und zu törichten Handlungsweisen veranlasst.« Sie sagte das, weil er merken sollte, dass sie verstand, worum es ging.

Er schluckte den Bissen herunter und kaute gleich darauf an einem neuen.

»Nur noch dreizehn Monate, und das 20. Jahrhundert beginnt.« Sie nahm einen kleinen Schluck Tee. »Viele Menschen sind überzeugt, dass dann alles sehr viel anders wird. Düsterer und gewalttätiger. Aber warum sollte es das? Es ist doch nur eine Jahreszahl auf dem Kalender. Oder handelt es sich dabei um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Wird es dazu kommen, weil wir so viel daran denken?«

Er war zu müde, um mit ihr darüber zu diskutieren, erkannte aber die Besorgnis in ihrer Stimme. Sie wollte eine wirkliche Antwort, keine beruhigenden Floskeln.

»Manches ist bereits dabei, sich zu ändern«, stimmte er ihr zu. »Aber so war das schon immer.«

»Das sind lediglich kleine, unbedeutende Veränderungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht die bedeutenden Veränderungen, nach denen die Völker Europas streben. Amerika hat noch keinen Friedensvertrag mit Spanien unterzeichnet, und in Südafrika nehmen die Schwierigkeiten immer mehr zu. Wir sollten dort nicht kämpfen, Thomas. Dazu haben wir kein Recht.«

»Ich weiß.«

»Früher hat es keine Attentate gegeben und Bombenanschläge nur ganz selten«, fuhr sie fort, »wenn es so etwas überhaupt gab. Die Menschen machen sich Sorgen wegen der Armut und der Ungerechtigkeit. Sie wollen, dass sich etwas ändert, bedienen sich dazu aber der falschen Mittel.«

»Auch das ist mir bekannt. Wir tun, was wir können. Bei der Sache heute scheint es um ein fehlgeschlagenes Opiumgeschäft gegangen zu sein.«

»Zwei tote und drei schwerverletzte Polizeibeamte!«, sagte Charlotte empört. »Man hat sie nicht erschossen, sondern das Haus, in dem sie sich befanden, in die Luft gejagt und den Flammen überlassen!« Dann sah sie ihm ins Gesicht. Er hatte getan, was er konnte, um die Asche und den Ruß aus den Haaren zu bekommen, aber keine Gelegenheit gehabt, ein frisches Hemd anzuziehen. Seine Manschetten waren nicht nur von Ruß geschwärzt, sondern auch angesengt, und vermutlich roch er nach verkohltem Holz.

»Entschuldige«, flüsterte sie. »Ich nehme an, dass ich genauso viel Angst habe wie alle anderen, aber ich mache mir auch Sorgen um dich.«

»Befürchtest du etwa, dass ich die nicht erwische?«, fragte er und wünschte im selben Augenblick, er hätte es nicht gesagt.

»Das auch«, erwiderte sie aufrichtig. »Aber vor allem, weil dir etwas zustoßen könnte.«

»Ich war schon bei der Polizei, bevor ich dich kennengelernt habe, und bin bisher nie ernsthaft verletzt worden.« Er lächelte. »Ein- oder zweimal hatte ich entsetzliche Angst. Aber auf die eine oder andere Weise haben wir es doch geschafft, die meisten schweren Fälle zu lösen.«

Sie nickte leicht und sah ihm lächelnd in die Augen.

Trotz seiner zur Schau getragenen Unbekümmertheit machte er sich Sorgen. Er hatte Mitarbeiter in die wichtigsten ihm bekannten Anarchistengruppen eingeschleust, aber nicht den geringsten Hinweis auf den bevorstehenden grässlichen Bombenanschlag am Lancaster Gate bekommen. Nichts, aber auch gar nichts. Er war auf eine solche Tat in keiner Weise vorbereitet gewesen. Hätte Victor Narraway im Voraus etwas davon gewusst? Als man Narraway aus dem Amt entlassen hatte, war Pitt durch Narraways persönliche Empfehlung zum Leiter des Staatsschutzes befördert worden. Hatte sein Vorgänger ihn überschätzt?

Über den Tisch hinweg legte er wortlos seine Hand auf Charlottes und spürte, wie sich ihre Finger um seine schlossen.

KAPITEL 2

Am nächsten Morgen unterließ Pitt es, sich zu rasieren. Fernerhin zog er einen abgetragenen Anzug und einen alten Mantel an, um leicht vernachlässigt zu wirken, und brach früh auf, als Charlotte noch im Obergeschoss beschäftigt war, damit sie ihn nicht sah und womöglich sein Vorhaben erriet. Es hatte keinen Sinn, sie unnötig zu beunruhigen.

Während er die Haustür hinter sich zuzog und über die vereiste Straße in Richtung Tottenham Court Road ging, nahm er sich vor, sich im Laufe des Tages nach dem Ergehen der Verletzten zu erkundigen. An den Zeitungsständen sah er, dass alle Schlagzeilen den Bombenanschlag am Lancaster Gate zum Gegenstand hatten. Einige forderten Gerechtigkeit, viele schrien nach Rache.

Er ging hinüber zur Windmill Street. Es war nicht ungefährlich, den Autonomy Club aufzusuchen. Gewöhnlich schickte er möglichst unauffällige Männer dorthin, die sich dort einführten, um Kontakte zu knüpfen. Jetzt aber hatte er den Eindruck, dass Eile geboten war und keine Zeit für ein solch langwieriges Verfahren.

Er betrat das Gebäude. In dessen Innern gab es eine Bar und ein Restaurant, in dem man gut und preisgünstig essen konnte. Dort würde er frühstücken und sich aufmerksam umsehen und umhören.

Als er das Lokal betrat, warfen ihm die wenigen Männer, die drinnen vor ihren Kaffeetassen oder ihrem Bier saßen, nur einen flüchtigen Blick zu. Manche redeten leise miteinander, andere schwiegen vor sich hin. Zwei lasen in Flugschriften. Wie fast immer wurden die Unterhaltungen überwiegend auf Französisch geführt. Es schien die internationale Sprache all derer zu sein, die sich leidenschaftlich für Reformen einsetzten. Auf Narraways Betreiben hatte Pitt die Sprache erlernt, um möglichst viel zu verstehen und sich von Zeit zu Zeit an der Unterhaltung beteiligen zu können. Ihm fiel auf, dass er sonderbarerweise dabei mit den Händen herumfuchtelte, wie er es nie tat, wenn er Englisch sprach. Allem Anschein nach füllte er damit Lücken, wenn ihm ein Wort nicht einfallen wollte.

Der Wirt, der mit seiner Familie im Hause lebte, trat an den Ecktisch, an dem Pitt saß, und begrüßte ihn auf Französisch.

Pitt erwiderte den Gruß und bestellte Kaffee und Brot. Er trank nicht gern Kaffee, aber wenn er Tee bestellt hätte, wäre er sofort als typischer Engländer und damit als fremd und als jemand aufgefallen, den man sich merken würde. So hingegen war er lediglich einer von vielen ungepflegten »Verdammten dieser Erde«, für die es in der Gesellschaft keinen Platz gab.

Ein Mann und eine Frau kamen herein. Sie sprachen Italienisch, sodass er sie nicht verstand. Der Mann machte eine finstere Miene und bekreuzigte sich zwei- oder dreimal.

Ein bärtiger Mann mit hohen Wangenknochen trat zu den beiden. Er sagte etwas in einer Sprache, die Pitt nicht zuordnen konnte, dann redeten alle Französisch miteinander. Mit einem Mal verstand er fast alles, obwohl sie sich anfangs nicht besonders laut unterhielten.

Sie erwähnten mehrfach die Explosion und die Todesopfer, wobei sie allem Anschein nach erstaunt den Kopf schüttelten. Sie schienen nicht zu wissen, wer dahintersteckte.

Pitts Kaffee kam, und er fischte in seiner Hosentasche nach Kleingeld.

Im Verlauf der nächsten Stunde füllte sich das Lokal nach und nach. Schließlich kam ein südländisch wirkender kleiner Mann herein, der sich aufmerksam umsah, wobei sein Blick auch auf Pitt fiel. Nachdem er mit einem halben Dutzend der anwesenden Männer und Frauen einige Worte gewechselt hatte, fragte er Pitt in stark akzentgefärbtem Französisch, ob er an seinem Tisch Platz nehmen dürfe.

»Üble Angelegenheit«, sagte er und schüttelte den Kopf. Während er nach dem Wirt Ausschau hielt, um seine Bestellung aufzugeben, fuhr er, mit einem Mal schneller sprechend, fort: »Und reichlich überraschend, wie? Finden Sie nicht auch, Monsieur?«

»Allerdings«, stimmte Pitt zu.

»Wirklich bedauerlich«, fuhr der Mann fort. »Ich glaub, das hat jeden überrascht.«

»Wie sonderbar.« Pitt nippte an seinem Kaffee.

Der Geschmack war ihm zuwider, und außerdem war er inzwischen nur noch lauwarm. »Man sollte annehmen, dass jemand darüber Bescheid weiß.«

Der Wirt war jetzt näher gekommen. Pitts Tischgenosse sah sich zu ihm um, wechselte einige Worte mit ihm wie mit einem alten Bekannten und gab dann seine Bestellung in so vertrautem Ton auf, als esse er jeden Tag dort. Als der Wirt gegangen war, wandte er sich erneut Pitt zu, wobei er den Blick auf die Tischplatte gerichtet hielt. »Ja, das sollte man jedenfalls meinen«, stimmte er zu, so, als habe es in ihrer Unterhaltung keine Unterbrechung gegeben.

Schweigend saßen sie einige Minuten da wie Fremde, die einander nichts zu sagen hatten, und tranken ihren Kaffee. Beide lauschten aufmerksam den Gesprächen, die um sie herum im Gange waren.

»Ich hab’ nix für Sie«, erklärte der Mann schließlich. »Wenn ich aber was mitkriegen sollte, geb’ ich Ihn’n Bescheid.«

»Irgendwelche Verkäufe?«, murmelte Pitt. Er bezog sich damit auf Dynamit, was dem anderen klar war.

»Kleine Mengen«, gab der zurück. »Hier und da ein bisschen. Nicht genug, soweit ich weiß. Ich hör’ mich weiter um.« Der Mann erhob sich.

»Aber vorsichtig!«, mahnte Pitt.

Der Mann zuckte stumm die Achseln, schlug den Jackenkragen hoch und ging hinaus.

Pitt wartete einige Minuten, stand dann ebenfalls auf und ging zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang, ohne nach links und rechts zu sehen. Auf der Straße war es kaum wärmer als zuvor, und es begann zu regnen. Er ging um die Ecke in die Charlotte Street, wo er einen kleinen Lebensmittelladen betrat, auf dessen Schild La Belle Epicière stand – ebenfalls ein beliebter Anarchisten-Treffpunkt. Der Inhaber des Ladens war ein leidenschaftlicher und großzügiger Sympathisant.

Während Pitt in der Schlange wartete, hörte er den Unterhaltungen und Begrüßungen der Kunden zu. Als das Gespräch auf den Bombenanschlag am Lancaster Gate kam, sagte ein breitschultriger bärtiger Mann, dessen Jacke mit Brotkrümeln übersät war, aufgebracht: »So ein verdammter Hornochse!«

Ein sehr viel kleinerer Mann neben ihm nahm Anstoß an dieser Äußerung und knurrte: »Du hast kein Recht, ihn zu kritisieren. Wenigstens hat er was getan, im Unterschied zu dir.«

»Ja, was Blödes hat er getan«, gab der Bärtige zurück. »Kein Mensch weiß, wer das war! Genauso gut könnte da eine Gasleitung explodiert sein. So ein unsäglicher Dummkopf!«

»Das sagst du nur, weil du nicht weißt, wer er ist«, gab der Kleine hämisch zurück.

»Aber du weißt es, was?«, mischte sich ein Dritter ein.

»Bisher nicht! Aber das werden wir schon noch erfahren«, sagte der Kleine voller Überzeugung. »Er wird es uns sagen … sobald er dazu bereit ist. Vielleicht, wenn er noch ein paar verfluchte Polizisten in die Luft gejagt hat.«

Pitt ließ sich nichts anmerken, gerade so, als habe der Mann von der Sprengung verfallener Gebäude gesprochen, und nicht von einem Mord an Menschen, an Männern, die Pitt gekannt und mit denen er zusammengearbeitet hatte.

»Das erregt Aufsehen«, murmelte er.

Der Bärtige funkelte ihn an. »Ach, Aufsehen willst du? Ist es das? Du mit deinem dicken, warmen Mantel!«

Pitt erwiderte seinen Blick. »Nein, kein Aufsehen. Aber die Dinge sollen sich ändern!«, sagte er in ebenso aggressivem Ton wie der andere. »Und du meinst, das lässt sich auf andere Weise erreichen?«

Der Kleine lächelte ihm mit lückenhaften Zähnen zu. Ein Kunde, der bedient worden war, verließ den Laden mit einer Tüte in der Hand. Die Schlange rückte ein Stück vor.

Pitt suchte weitere Stellen auf, an die er normalerweise Stoker geschickt hätte. Er musste das selbst erledigen. Ihn quälte der Gedanke, dass er diesen Anschlag nicht vorausgesehen hatte. Fünf Polizeibeamte hatten sich an einen bestimmten Ort locken lassen, weil sie überzeugt gewesen waren, dort ein größeres Opiumgeschäft auffliegen lassen zu können. Ihr Gewährsmann hatte sich bei früheren Gelegenheiten als zuverlässig erwiesen, und es hatte keinerlei Hinweise auf die zu erwartende entsetzliche Gewalttat gegeben. Was für ein Mensch tat so etwas? Wenn es sich dabei nicht um eine Protestgeste von Anarchisten handelte, worum dann? Welchen Zweck mochte man damit verfolgt haben, diese Polizeibeamten umzubringen?

Nicht nur auf Narraways Rat hin, sondern auch aufgrund eigener Erfahrung und getreu dem alten Sprichwort »Lass deine Freunde nicht aus den Augen und deine Feinde schon gar nicht« hatte Pitt Männer in verschiedene Gruppen von Anarchisten, Nihilisten und Sozialreformern eingeschleust. Jetzt saß er mit einem gewissen Jimmy in einer Gastwirtschaft am Hafen vor einem Glas Bier.

»Nix«, sagte Jimmy.

Der schmale Raum, dessen Fußboden mit Stroh bestreut war, war gedrängt voll. Die regennassen Jacken der Gäste dampften förmlich. Es roch nach Bier und nasser Wolle. Jimmy, ein hagerer Mann mit einer leicht verkrümmten linken Hand, war schon lange als Polizeispitzel tätig.

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Pitt mit fester Stimme. »Gestern Vormittag hat jemand etwas gesagt. Ich möchte wissen, was das war.« Obwohl er den Mann seit Jahren kannte, musste er ihm jede einzelne Information geduldig entlocken, aber gewöhnlich lohnte sich die Mühe.

»Nix, womit Se was anfang’n könnt’n«, gab Jimmy zurück und sah Pitt mit seinen dunklen Augen aufmerksam an.

Pitt kannte das Spiel. Er wusste auch, dass Jimmy bereit war, ihm etwas zu sagen, und er war entschlossen, so lange weiterzufragen, bis er das getan hatte. »Wer hat das gesagt?«

»Ach … dieser und jener.«

»Wer genau hat gesagt, dass es nicht brauchbar ist?«, ließ Pitt nicht locker. »Wir werden schon noch feststellen, wer das gesagt hat.«

»Nee!« Jimmy wirkte beunruhigt.

»Wieso nicht? Handelt es sich um eine unzuverlässige Quelle?«

»Versuch’n Se das Spielchen nich’ mit mir!«, sagte Jimmy verärgert und schüttelte den Kopf. »Se ha’m nachgelassen, Mr. Pitt. Die Arbeit beim Staatsschutz bekommt Ihn’n nich’. Früher war’n Se ’n feiner Herr!« Diesen Vorwurf formulierte er in sorgenvollem Ton.

Unbeeindruckt fuhr Pitt fort: »Was haben Sie gehört, Jimmy? Zwei Polizeibeamte sind tot, und womöglich bleibt es nicht dabei. Die Information kann wichtig sein. Sie dürfen sich darauf verlassen, dass ich so lange suchen werde, bis ich den Täter habe, und das kann sehr unangenehm werden.«

Jimmy sah gekränkt drein. »Das is’ nich’ nötig, Mr. Pitt.«

»Also raus mit der Sprache.«

»Das wird Ihn’n bestimmt nich’ gefall’n«, warnte Jimmy. Dann sah er Pitt erneut an. »Aber schön! Viel helf’n wird Ihn’n das aber nich’. Die Männer soll’n vom Stamme Nimm gewesen sein. Se versteh’n mich? Die haben die Hand aufgehalt’n.«

»Niemand jagt wegen korrupter Polizeibeamter Häuser in die Luft«, sagte Pitt und richtete den Blick aufmerksam auf Jimmys Augen. »In einem solchen Fall sorgt man für Beweise und meldet die Männer. Oder hatten die etwas gegen Sie in der Hand?«

»Ach, anschwärz’n soll’n hätt’ man se, was? Und bei wem?«, fragte Jimmy aufgebracht. »Wo bleibt Ihr Verstand, Mr. Pitt? Das mit dem Handaufhalt’n geht doch bis ganz oben rauf, auf jed’n Fall so weit, wie ich komm’n würde.«

Pitt war, als lege sich ihm ein eiserner Ring um die Brust. Das Bier roch plötzlich schal.

»Ein Racheakt?«, fragte er ungläubig.

»Ach was, nich’ die Spur«, gab Jimmy voll Empörung zurück. »Hör’n Se mir überhaupt zu? Ich kenn’ den Grund nich’. Jed’nfalls weint sich kein Mensch die Aug’n aus, wenn ’n paar Polizist’n hopsgeh’n. Ja, wenn ’s Metzger, Bäcker oder Droschkenkutscher wär’n, da säh’ das anders aus. So aber würd’ niemand Kopf un’ Krag’n riskieren, um für Se rauszukrieg’n, was da gespielt wird.«

Pitt machte ein finsteres Gesicht. »Das ergibt in meinen Augen keinen rechten Sinn, Jimmy. Wenn man der Polizei Hinweise auf einen Opiumverkauf gibt, werden Beamte hingeschickt, aber man weiß nicht im Voraus, wer das sein wird. Rache ist eine persönliche Angelegenheit. Wer die falschen Leute umbringt, hinter dem sind dann die richtigen her, und er hat verspielt.«

Jimmy zuckte die Achseln. »Von mir aus könn’ Se denk’n, was Se woll’n, Mr. Pitt. Es gibt Polizist’n, die sind genau so käuflich wie ’ne Hure, ich sag’s Ihn’n.«

»Es mir zu sagen genügt nicht – Sie müssen es beweisen.«

»Ich halt’ mich da raus!«, sagte Jimmy hitzig und hob sein Bierglas, wobei er es vermied, Pitt anzusehen.

Pitt verabschiedete sich und trat in den Regen hinaus.

Nach vielen ergebnislos verbrachten Stunden kehrte er in seine Dienststelle in Lisson Grove zurück, und eine Viertelstunde später traf auch Stoker ein. Er wirkte durchgefroren und müde.

»Nichts?«, fragte Pitt, als Stoker die Tür schloss.

»Jedenfalls nichts, womit sich etwas anfangen ließe«, sagte Stoker, während er den Raum durchquerte und Pitt gegenüber Platz nahm. »Wir haben gewisse Aussichten, die Herkunft des Dynamits festzustellen, falls die Täter es sich über eine anarchistische Zelle besorgt haben. Das kann allerdings dauern. Für den Fall, dass es sich um Leute vom Kontinent handelt, könnten die sich bis dahin längst abgesetzt haben. Ohnehin würden sie dafür nur einen Tag brauchen.«

»Weist irgendetwas auf ausländische Anarchisten hin?«

»Nein. Ehrlich gesagt, riecht mir das eher nach jemandem von hier, der eine offene Rechnung begleichen wollte.« Bei diesen Worten sah Stoker Pitt aufmerksam an und wartete auf seine Reaktion.

»In dem Fall sollten Sie sich einmal die Anarchisten genauer ansehen, die wir kennen«, erwiderte ihm Pitt. »Irgendetwas muss sich geändert haben, ohne dass wir das mitbekommen hätten. Fällt Ihnen etwas dazu ein?«

Stoker holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Ehrlich gesagt, nein, Sir. Wir haben Männer in allen uns bekannten Anarchistengruppen, und von denen hat niemand etwas anderes gehört als die üblichen Klagen über schlechte Bezahlung, schlimme Lebensbedingungen, Stimmrecht, Polizei, das Eisenbahnwesen. Keiner kann die Regierung ausstehen, und jeder ist überzeugt, dass er selbst es besser machen würde. Die meisten können Menschen nicht ausstehen, die mehr Geld als sie selbst haben – jedenfalls so lange, bis sie selbst zu den Wohlhabenden gehören, und dann sind ihnen die Steuern ein Dorn im Auge.«

»Irgendetwas muss anders sein. Aber was?«, sagte Pitt gedankenverloren. »Eine Veränderung im Verhaltensmuster, ein neu Hinzugekommener, jemand, der gegangen ist …«

Tiefe Linien in Stokers hagerem Gesicht zeigten das Ausmaß seiner Erschöpfung an. »Ich sehe mich um, Sir. Ich habe alle unsere Leute darauf angesetzt, aber wenn die zu viele Fragen stellen, erregt das Verdacht, Sir. Dabei kommt nicht das Geringste heraus, außer dass vielleicht noch ein paar gute Männer umgebracht werden.«

»Ich weiß. Geben Sie gut acht, dass Sie nicht dazugehören!«

Stoker lächelte ein wenig unbehaglich. Er wusste, was Pitt meinte. Vor knapp zwei Jahren hatte er im Zusammenhang mit einem anderen Fall eine Frau namens Kitty Ryder kennengelernt und sich in sie verliebt. Nach langem Zögern hatte er allen Mut zusammengenommen und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie kannte seinen Beruf, und ihr war klar, welche Gefahren damit verbunden waren. Dennoch hatte sie zugestimmt, und die Hochzeit stand kurz bevor. Pitt war fest entschlossen, alles zu tun, damit nichts dazwischenkam.

»Ich gebe mir Mühe, Sir«, gab Stoker zurück.

Pitt kam spät nach Hause. Kaum hatte er zu Abend gegessen, als es an der Tür klingelte. Charlotte öffnete. Als sie zurückkehrte, folgte ihr zu Pitts Überraschung in einigen Schritten Abstand eine Frau, die mindestens zehn Jahre älter war als sie, vermutlich Mitte fünfzig. Sie war von einer eigentümlichen unauffälligen Schönheit, die immer eindrucksvoller wurde, je länger man sie ansah.

Pitt erhob sich.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte die Besucherin. »Mir ist bewusst, dass dies eine äußerst unpassende Tageszeit ist, und ich wäre auch nicht gekommen, wenn ich hätte annehmen dürfen, Sie zu einer anderen Zeit zu Hause anzutreffen.«

Aus dem Mund einer anderen Frau hätte diese Äußerung befremdlich geklungen, aber Isadora Cornwallis war die Gattin des früheren stellvertretenden Polizeipräsidenten, Pitts oberstem Dienstherrn zu der Zeit, als Pitt die Polizeiwache in der Bow Street geleitet hatte. Zwischen ihm und Pitt hatte ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis bestanden, das auf gemeinsam durchgestandene schwere Krisen zurückging. Isadora war damals mit Bischof Underwood verheiratet gewesen. Seite an Seite hatten Cornwallis und Pitt gegen erbitterte Feinde gekämpft, zu denen – zu Isadoras unsagbarem Kummer – ihr eigener Bruder gehörte. In dieser schwierigen Situation hatte sie Trost bei Pitt und vor allem bei Cornwallis gefunden, für den sie im Laufe der Zeit eine tiefe Liebe entwickelte und den sie nach dem Tod des Bischofs heiratete.

»Damit haben Sie leider recht«, stimmte er zu. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« Er warf einen Blick auf die Uhr über der Garderobe im Flur. »Oder ein Glas Sherry?« Insgeheim fragte er sich, ob sie überhaupt Sherry im Haus hatten, denn derlei kam bei ihnen lediglich dann auf den Tisch, wenn Besuch im Hause war, und das war ziemlich selten der Fall. »Sofern wir welchen haben«, fügte er rasch hinzu.

»Ich nehme gern eine Tasse Tee.«

Charlotte schüttelte den Kopf, als überraschte es sie, dass Pitt das ernstlich bezweifelte. »Ich bringe ihn ins Wohnzimmer«, sagte sie rasch.

Es war Pitt klar, dass Isadora für ihren unangekündigten späten Besuch einen sehr guten Grund haben musste. Er musterte sie einen Augenblick lang prüfend, um zu sehen, ob ein Ausdruck von Kummer oder Angst auf ihrem Gesicht erkennbar war, doch das war nicht der Fall. Sofern Cornwallis krank gewesen wäre, hätte sich das sicherlich auf ihren Zügen gespiegelt, sosehr sie sich auch bemüht hätte, es zu unterdrücken.

Im Wohnzimmer waren die Vorhänge zugezogen. Das Feuer im Kamin brannte schon eine ganze Weile und füllte den Raum mit Wärme.

Isadora nahm im Sessel Pitt gegenüber Platz, und er setzte sich ebenfalls.

»Ich bin gekommen, um Ihnen im Vertrauen etwas mitzuteilen, was im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag am Lancaster Gate stehen könnte. Ich bedaure zutiefst, es sagen zu müssen, und ich bitte Sie herzlich, ausschließlich Gebrauch davon zu machen, wenn sich herausstellen sollte, dass sich die Dinge in der Tat so verhalten, wie ich fürchte.«

»Selbstverständlich.« Er fragte sich, was sie wohl in diesem Zusammenhang wissen mochte. Was Polizeiangelegenheiten betraf, mochte Cornwallis geheime Informationen haben. Stand sie nun etwa im Begriff, ihm, Pitt, etwas aus der Privatsphäre anderer mitzuteilen oder ein gravierendes Geheimnis zu verraten? Er konnte sich unmöglich vorstellen, dass sie imstande wäre, das Vertrauen ihres Gatten zu missbrauchen.

Als sie anfing zu sprechen, wirkte sie gequält. Ihre Stimme klang angespannt, sie hielt die Hände im Schoß gefaltet, und von ihrer sonstigen Anmut war nichts zu spüren.

»Vermutlich haben Sie bisher nur äußerst wenig in Erfahrung bringen können?«, begann sie zögernd. Ganz offensichtlich war sie sich nicht sicher, wie weit sie mit ihren Fragen gehen konnte, bis Pitt sie höflich auf seine Schweigepflicht als Leiter des Staatsschutzes hinweisen musste.

»Über den oder die Täter nicht das Geringste«, gab er aufrichtig zur Antwort. »Der einzige für uns gangbare Weg besteht darin, festzustellen, woher das Dynamit stammt – aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer der Quellen, derer sich Anarchisten üblicherweise bedienen.«

»Sind Sie denn sicher, dass dahinter ein Anarchist steckt?«, fragte sie ernst.

Ein Gefühl der Kälte überkam Pitt, als sei die Temperatur im Raum urplötzlich gefallen. Ob sie im Begriff stand, etwas auf Tatsachen und nicht auf Spekulation gegründetes Schmerzliches zu sagen, was ihm weiterhelfen sollte? War es etwas, was Cornwallis wusste und wovon ihr mit einem Mal aufgegangen war, dass es Pitt weiterhelfen würde? Aber nein. Sofern die Information auf Cornwallis zurückging, hätte dieser sie Pitt selbst zukommen lassen.