Vielen Dank für das Leben - Sibylle Berg - E-Book

Vielen Dank für das Leben E-Book

Sibylle Berg

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Beschreibung

Toto ist ein Wunder. Ein Waisenkind ohne klares Geschlecht. Zu dick, zu groß, im Suff gezeugt. Der Vater schon vor der Geburt abgehauen, die Mutter bald danach. Und doch bleibt Toto wie unberührt. Im kalten Sommer 1966 geboren, wandelt er durch die DDR, als ob es alles noch gäbe: Güte, Unschuld, Liebe. Warum, fragt er sich, machen die Menschen dieses Leben noch schrecklicher, als es schon ist? Toto geht in den Westen, wo der Kapitalismus zerstört, was der Sozialismus verrotten ließ. Nur zwei Dinge machen ihm Hoffnung - das Wiedersehen mit Kasimir und sein einziges Talent: das Singen. Es führt Toto bis nach Paris. Ein wütender, schriller Roman einer großen Autorin über das Einzige im Leben, was zählt.

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Hanser eBook

Sibylle Berg

Vielen Dank für das Leben

Roman

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24061-2

© Carl Hanser Verlag München 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter

www.hanser-literaturverlage.de

http://www.sibylleberg.ch

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Inhalt.

Der Anfang.

1966–2000.

Die Mitte.

2000–2010.

Das Ende.

2010–2030.

Der Anfang.

Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern. Normalerweise lag in dieser Jahreszeit ein Duft von blühenden Akazien über dem sozialistischen Teil des nordeuropäischen Landes.

Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts.

Da gab es weder Fußbodenheizungen noch isolierte Fenster oder einladende Kamine; die Einwohner der kleinen Stadt froren, sie waren schlecht gelaunt und hatten steife Finger. Fast meinte man den Kalten Krieg zu spüren. Die Anhänger des sozialistischen und die Anhänger des kapitalistischen Systems kämpften, so war zu hören, um die Weltherrschaft, Genaueres über den Ausgang stand noch nicht fest, und es beeinflusste das Leben der Menschen in ihrer kleinen Stadt nur geringfügig. Die im Sozialismus lebten, kannten nichts anderes; sie waren an die leeren Regale gewöhnt, an den Kohl, die eine Sorte Äpfel und an den Rhabarber im Sommer. Die Welt war damals klein und nicht sehr beängstigend, sie war überschaubar und reichte bis zur Stadtgrenze. Es war das Leben vor dem Internet und den Medien, es gab nur die Tageszeitung, und Journalisten trugen zerknitterte Anzüge. Die Welt gehörte den Männern, und hier, im Ostteil des in Gut und Böse geteilten Landes, wunderte sich darüber keiner. Farbige gab es nur in Afrika und in Büchern, man musste ausschließlich das begreifen, was in der kleinen Stadt, im kleinen Land passierte, und das war wenig, es stand in der Tageszeitung. Ein Werk wurde eingeweiht, ein Fünfjahresplan erfüllt, der Nachbar bekam einen sehr kleinen, aus Presspappe gefertigten Personenwagen, auf den hatte er zehn Jahre gewartet, mit dem fuhr er in die Kreisstadt, da gab es Schokomilch. Waren sie sensibel, die Menschen, dann mochten sie mitunter ein wenig schwerer atmend auf ihre grauen Straßen schauen, nicht wissend, dass sie die Farbe vermissten oder die erfreulichen Vorteile des Konsumierens, und sie wurden von einer fast ohnmächtig machenden Langeweile befallen. So, das ist es nun, für immer, mochten sie sich sagen, die Sensiblen, das also ist mein Leben, es scheint ja nichts Besonderes zu werden.

1966–2000.

Und los.

Tausende hab ich hier gehabt, keine hat sich so albern betragen, sagte die Hebamme. Betragen, das sagte sie extra, sie liebte Worte der alten Schule.

Sie sah die Frau, die vor ihr lag, dabei nicht an, sondern betrachtete ihre Hände, die in Plastikhandschuhen steckten. Sie war vernarrt in ihre Hände. Sehen Sie, das sind Hände, die zupacken können, erklärte sie den jungen Hebammenschülerinnen, die daraufhin die Köpfe hängen ließen, denn über solch beeindruckende Fleisch-Schaufeln wie ihre Vorgesetzte verfügte keine.

Die Hebamme hatte Generationen von jungen Müttern traumatisiert. Viele würden ihre Kinder nie mehr ansehen können, ohne dabei nervös mit dem Augenlid zu zucken.

Die Gebärende zuckte unkontrolliert mit dem Augenlid. Sollte dieses Baby irgendeine auffällige Fehlentwicklung haben, liegt es an mir und meiner mangelnden Bereitschaft zu pressen, wusste die nicht mehr junge Frau, deren Beine an einen gynäkologischen Stuhl geschnallt waren. Das Metall war so kalt, dass sie sich nur noch auf eines konzentrieren konnte: auf die Kälte, die von ihren Beinen auf den Körper übergriff. Etwas Furchtbares würde mit ihrem Kind geschehen; das alles, der kalte Sommer, die Schmerzen, war eine Strafe, weil sie eine Schlampe war.

Was für eine Schlampe! dachte die Hebamme. Kein Mann wartet auf dem Flur, die Unterwäsche nicht sauber, die Adern an der Nase geplatzt, die Sorte kannte sie. Die Hebamme hatte kein Mitleid mit den Frauen. Empfände ich Mitleid, würde ich diesen Beruf nicht korrekt ausführen, sagte sie mitunter, ungefragt, denn sie war keine, von der irgendwer etwas wissen wollte. Unklar, ob ihre Unattraktivität sie hatte so grob werden lassen oder ob die Sache genau andersherum funktionierte. In dem kleinen kommunistischen Land schenkte man den psychischen Finessen der Menschen nur wenig Aufmerksamkeit.

Was hier als Kommunismus praktiziert wurde, kam dem ruppigen Wesen der Hebamme sehr entgegen. Sie verachtete Freude und Ablenkung. Man hätte ihren Lebensentwurf zenbuddhistisch nennen können, aber diese Art von designten Religionsadaptionen wird erst später Einzug halten, in die bürgerliche Mitte des Westens.

Die Hebamme lebte zur Untermiete. Im Zimmer stand eine Kochplatte, durch einen braunen Vorhang verborgen, ein großer Schrank wie ein toter Wal im Raum, nichts, worauf der Blick erfreut ruhen konnte, doch ruhen kann man nach dem Tod, dachte die Hebamme und ging ohne Erbarmen ihrer Pflicht nach: kleinen Kommunisten auf die Welt zu helfen.

Die Hebamme war nicht geübt, schwer fassbare Zustände in sich als Gefühle zu erkennen. Unwohlsein machte ihr allein das Wochenende, wo sie unbehaglich in ihrem Zimmer saß und Bücher über das Schaffen großer Virologen las. Robert Koch mit seinem Netze, fing und verjagt die böse Tsetse, murmelte sie in Momenten großer Aufmerksamkeit, und die Schwesternschülerinnen sollten ihr gesamtes Leben zusammenzucken, fiel der Name Robert Koch.

Die Verachtung, die die Hebamme für ihre Patientinnen empfand, entsprang ihrer tiefen Abneigung gegen Frauen. Keine einzige gab es, die in der Geschichte etwas geleistet hätte, was ihr Bewunderung abnötigte, auch stieß sie das Sexuelle ab, das dem Frausein anhaftet.

Im Kreißsaal war es kalt.

Das Krankenhaus war kalt. Das Land lag unter einem jener eisigen Sommer, die es nur alle hundert Jahre gibt, vielleicht auch öfter, auf das Klima ist kein Verlass. Sicher war nur die Brennstofflieferung. Es gab keine Kohle. Natürlich gab es keine Kohle im Sommer, auf Katastrophen war der realexistierende Sozialismus ebenso wenig eingerichtet wie auf freudvolles Gebären. Hätte eines damals als schwangere Frau Verrücktheiten wie Wasser-, Heim- oder Fühlgeburten in Gebärhütten eingefordert, es wäre vermutlich in eine friedvolle Einrichtung fernab der Zivilisation abtransportiert worden.

Wenn doch nur endlich dieses Kind kommt und sie mich losschnallen wollten! Unangenehm gefesselt fühlte sich die Frau in der Pause zwischen den Schmerzen. Die Neonröhre an der Decke flackerte, die Frau beobachtete, wie ihr Atmen kleine Kondenswolken bildete, hörte entfernt das Klappern von Besteck. Sie werden das, was ich vielleicht gebäre, zubereiten. Mit einer Senfsoße.

Kulinarisch war man in der Heimat der Frau nicht besonders verwöhnt, da wäre keinem eingefallen, sein Kind auf einer Quadriga nussiger Holunderschäume zuzubereiten, aber da, beim Gedanken an die Soße, die sich über ihr Baby ergoss, glitt es aus ihr hinaus.

Na endlich, sagte die Hebamme.

Es ist ein… fuhr sie fort, verstummte plötzlich, und schwere Stille wurde im Kreißsaal. Die Frau hörte nach Sekunden leisen Raunens ein Räuspern, dann wurde das Baby in ein Tuch gewickelt und ihr gereicht. Es ist gesund. Glaube ich. Sagte die Hebamme. Genaueres wird Ihnen der Arzt sagen.

Die Frau betrachtete das Kind. Sein Kopf wirkte ein wenig zu groß in seiner absurden Rundheit, doch weiter konnte sie keine Defekte ausmachen, die eine dermaßen befremdliche Atmosphäre im Kreißsaal gerechtfertigt hätten. Seltsam allein der Blick des Kindes, fast erwachsen und müde. Wollte man diesem kleinen Gemüse Intelligenz andichten, so müsste man glauben, es wolle sofort wieder dorthin verschwinden, woher es gekommen war.

Ich habe nie ein Kind gewollt, das macht keinen Sinn. Die Frau seufzte. Dieser Satz ist grammatikalisch unrichtig, wandte die Hebamme ein. Die Frau musste laut gedacht haben, und sie verdrehte die Augen. Wie sehr hasste sie sprachliche Klugscheißerei, die Erregung ob vermeintlicher Unrichtigkeiten. Alles muss gerade sein in diesem Land, und es muss Sinn haben. Man benötigt Diplome für jeden Bereich, ob man staatlich geprüfte Reinigungskraft oder Nachtwächterin ist, man muss Klassiker zitieren können, es ist unabdingbar, dass jeder Gebäudereiniger das Periodensystem der Elemente beherrscht. Selbst die Leitung eines Toilettenhauses verlangt nach einem Eignungstest, einer Ausbildung und schreit geradezu nach fortlaufender Kontrolle der geistigen Verfassung des Verantwortlichen.

Ihre Verfassung war verschwommen, da lag ein Baby auf ihr, das alle schweigen ließ, mit seinem großen Kopf.

Es war nur wegen ein paar Sekunden auf der Welt, wegen jenem Moment in einer Nacht, die nach Thekenholz und Alkohol gerochen hatte. Der kleine polnische Kohlenträger, der dicke alte Hausmeister, beide Männer vermutlich nicht mit überragendem Erbgut ausgestattet, kamen als Erzeuger in Frage, oder auch nicht, sie hatte sich am Morgen nur so verschwommen erinnert, dass es sich auch um einen Traum gehandelt haben konnte. Die Frau, jetzt Mutter, hatte die Schwangerschaft zu spät bemerkt, zu fremd war sie sich und zu unklar ihr Leben, sie würde sich vermutlich bis zum Ende an das bedauernde Kopfschütteln der Frauenärztin erinnern. Und an den Heimweg aus der Praxis, der ihr wie der lange Lauf durch ein Kriegsgebiet erschien. Nie mehr würden die traurigen Straßen ihrer traurigen Stadt so angenehm einsam wirken.

Als sie vom Gebärstuhl geschnallt wurde, stützte eine Schwester sie tatsächlich beim Aufstehen, eine Dienstleistung, die man nicht hatte erwarten können, eine andere nahm das Baby und verschwand damit, sie selbst war noch ein wenig unsicher auf den eingefrorenen Beinen. Sie wurde in ihr Krankenzimmer geführt und durfte sich ankleiden, sogar eine Dusche hätte ihr zur Verfügung gestanden. Duschen oder Baden war ein luxuriöses Geschenk, das sie unter anderen Umständen sofort angenommen hätte, doch leider war auch das Wasser kalt in jenem Sommer, und so reinigte sie sich nur flüchtig, vor den Augen der sechs anderen Frauen im Krankenzimmer. Eine Geburt ist keine besonders glamouröse Geschichte, die Frau begab sich mit ihrer kleinen Reisetasche, wie man es ihr angetragen hatte, ins Sprechzimmer des Chefarztes.

Soso, Frau…, sagte Chefarzt Doktor Wagenbach und blickte sie nicht an, ein kahler Mann mit auffallend ausgefransten Ohren, als ob sie nachts mit Katzen raufen gingen, die Ohren, herzlichen Glückwunsch zur Geburt ihres Babys, sagte Doktor Ohr, und bevor sie antworten konnte, dass es völlig hinreichend sei, sie einfach nur als Frau zu bezeichnen, fuhr er fort. Dass ein Kind mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren wird, ist ja nun keine Seltenheit. Wir können da operativ erstaunliche Dinge machen. Sehen Sie, wir haben hier einen Penis, der aber auch Klitoris sein könnte, das Röntgen zeigt uns Eierstöcke und Hoden. Seit Doktor Money ist es üblich, uneindeutige Kinder dem Geschlecht zuzuweisen, das sich operativ leichter herstellen lässt. Ist das Glied so klein, dass vorhersehbar ein gebrauchsfähiger Penis auch mit umfangreichen operativ-rekonstruktiven Maßnahmen nicht hergestellt werden kann, dann muss entschieden werden, dass es sich um ein Mädchen handelt. Wir legen eine Neovagina an, die muss allerdings lange Zeit durch das regelmäßige Einführen eines Gegenstandes gedehnt werden. Eine Gurke zum Beispiel. Sagte der Chefarzt und lachte noch nicht einmal über sich selber. Die Frau konnte die Sätze des Arztes nicht mit dem Baby in Zusammenhang bringen, mit dem sie ebenfalls in keiner Verbindung stand. Wonach sieht es denn eher aus, fragte sie den Arzt. Der schaute sie kurz an, und die Frau meinte einen leichten Ekel in seinem Gesicht auszumachen.

Es ist ein Nichts. Sagte er.

Wenn sie gestatten, mache ich schnell ein paar Aufnahmen, und ohne die Antwort abzuwarten, nahm er das Baby und hielt es in der einen Hand, während er mit der anderen fotografierte. Die Frau sah das Kind an. Ein Nichts hätte sie gutgeheißen, doch das Baby sah zu wenig nach Nichts aus, als dass sie es einfach hätte ignorieren können. Es hing an der Hand eines Ohrbehinderten und schaute sie an. Lasst mich einfach in Ruhe, schien der Blick zu sagen, aber das war vermutlich wieder eine Interpretation, denn die Frau hatte einmal gelesen, dass der Intellekt eines Babys nicht weit über dem eines Staubsaugers liegt. Sie könne im Moment keine weiterreichenden Entscheidungen treffen, später, wenn sie ausgeruht wäre, sagte sie und verabschiedete sich. Kurz verzog das Gesicht des Arztes sich unwillig, er hatte sich wohl bereits ausgemalt, wie er eine Grube ausheben würde, in dem Babyleib, an das Blut mochte er gedacht haben und an das Wohlgefühl, wenn er Handschuhe über die sterilisierten Hände gestülpt bekam, von devoten Assistentinnen.

Das Baby wie ein geschrumpfter Erwachsener auf ihrem Arm, sogar seine dichten schwarzen Haare hatten sich eigenständig korrekt um einen Seitenscheitel geschichtet, verließ die Frau das Krankenhaus, nach dem Unterzeichnen eines Dokuments, dass sie das auf eigene Verantwortung tat. Eine ungewöhnliche Wortwahl, in dem Land, in dem alte Nationalsozialisten Kommunismus spielten und fast jeder jede Verantwortung mit großer Bereitschaft abgegeben hatte. Es ist etwas genetisch Verankertes in diesem Volk, egal, was für ein Theaterstück es gerade aufführt, dieses Abgeben von Verantwortung, und sie tun es gerne, um danach abhängig von Anerkennung und Bestrafung zu sein. Eine sadomasochistische Volksseele, falls ein Volk eine Seele haben kann, falls es so etwas gibt und es nicht nur die verkürzte Darstellung der Stimmung ist, die ein Fremder auf den Straßen eines Landes spürt.

Kalter Wind wehte träge hängende Regenwolken über die Straßen, an deren Rändern niemand stand, um der Frau zur Erfüllung ihrer evolutionären Pflicht zuzujubeln.

Auf dem Weg, dem leeren, nicht von Passanten gesäumten, kam sie an der Behörde vorbei, deren Aufgabe es war, Kinder zu registrieren und Totenscheine zu katalogisieren. Da das Baby schwieg und die Frau keine Ahnung hatte, wie lange das der Fall sein würde und ob sie in absehbarer Zeit irgendwohin gehen könnte, ohne dass ein eventuell schreiendes Kind an ihr hing, konnte sie die Formalitäten auch sofort erledigen und betrat das Gebäude, in dem, wie überall auf der Welt, dem Bürger gezeigt wurde, wo sein Platz ist, in demütiger Wartehaltung auf unbequemen Bänken. Doch die Frau war dankbar für die Atempause, denn sie wusste nicht recht, wie sie sich nach der Rückkehr in ihr Leben verhalten sollte.

Nach zwei Stunden, während das Baby interessiert ihr Gesicht betrachtet hatte, stand sie am Schreibtisch einer Person, die auch vor einem Pflug keine schlechte Figur gemacht hätte. Die Stimme der Beamtin auf Lebenszeit hatte jenen beißenden Überton, der das Trommelfell in unangenehme Schwingungen versetzt. Das also ist es, was die Sprache des Landes andernorts in Verruf gebracht hat, was sie zum Pseudonym schnarrender Befehlserteilung hat werden lassen, in jenem Rest der Welt, den die Frau nie kennenlernen würde. Sie sah die Beamtin rot anlaufen. Das haben wir hier ja noch nie gehabt, dass ein Geschlecht unbestimmt ist, das kann ich so nicht dulden, wo kämen wir da hin, wenn jeder in der Bestimmung seines Geschlechts nach Lust und Laune agiert. Wie sollen wir denn aussagekräftige Statistiken erstellen, wenn alle mit ihren Genitalien Kraut und Rüben spielen wollten. Einen Vater hat ES sicher nicht, fragte die Beamtin, ohne die Frau anzusehen. Ihr von Kratern des Elends dicht bestandenes Gesicht erlaubte es, den Film in ihrem Inneren zu betrachten. Eine Schlampe, vermutlich eine Künstlerin, jede Nacht mit einem andern Alkoholiker im Bett, und dann kommt eben sowas dabei heraus. Nachdem die Frau sich den Vortrag der Beamtin angehört hatte, ohne ihn mit der Bemerkung zu unterbrechen, dass auch in deren Fall eine Geschlechterzuordnung schwierig sei, entschied sie sich, aus ihrem Kind einen Jungen zu machen. Sofort beruhigte sich die Staatsdienerin. Ihr Gesicht nahm eine normale Färbung an, die Ordnung war hergestellt, die Anmeldung vollzogen, das Baby offiziell ein Mensch.

Und weiter.

Als die Frau später ihre Wohnung betrat, schlug ihr der abgestandene Geruch ungelüfteter Zimmer entgegen. In den Räumen herrschte bei aller Verwahrlosung eine große, bürgerliche Zeigefreudigkeit; der Kanon der Weltliteratur, Stapel klassischer Schallplatten, antike Möbel bildeten den Hintergrund für das wie von einem einfallslosen Bühnenbildner mit leeren Flaschen und gefüllten Aschenbechern inszenierte Elend. Da läuft wohl mal wieder was von Brecht, und alle können mitsingen.

Das Baby schien sich übertrieben langsam, fast provozierend umzusehen. Die Frau beobachtete, wie sein großer Kopf träge den Augen folgte. Nach einem Schwenk von 180 Grad schloss das Baby die Augen, und die Frau meinte es seufzen zu hören.

Niemand freute sich auf den neuen Menschen, kein Bett gab es da, keinen Himmel, kein Spielzeug wartete auf ihn oder sie, oder was ist es nun eigentlich. Die Frau legte das Kind auf der Matratze ab und begann es zu entkleiden. Mit vorsichtigem Ekel entfernte sie Windellagen, hielt inne, atmete tief, um schließlich zwischen seine Beine zu sehen und zu entspannen. Nichts Furchterregendes gab es, das Kind ähnelte einer Plastikpuppe, es sah sauber aus, geschlossen, vernäht, soso, flüsterte sie, ein Ding bist du also, ein Hündchen, da will ich dich Toto nennen.

Toto.

Das Kind schaute sie ruhig an, als ob ihm seine Lage klar wäre, nackt auf einer Matratze, in einer Wohnung, in der sich niemand freut, es zu sehen, befremdet, aber nicht angetastet in seiner Ehre. Die Frau, unangenehm berührt ob des seltsamen Blickes, packte das Baby wieder ein und verließ das Haus, um Kindernahrung und Windeln zu besorgen. Und vielleicht ein wenig Alkohol. Oder vielleicht, um nicht zurückzukehren. Es war damals noch nicht üblich, Kindern übertriebene Aufmerksamkeit zu schenken. Sie wurden weder bis zum sechsten Lebensjahr gestillt, noch mit Knieschonern in Spielgruppen gefahren, sie wurden nicht in Waldkindergärten oder zum Kinderpsychologen verbracht. Kinder waren nicht der Lebenssinn von Erwachsenen, Ritalin noch nicht erfunden, und dennoch zögerte die Frau kurz, als ahnte sie, dass man Babys nicht allein in Trinkerwohnungen liegen lassen soll, doch sie konnte auf ihr Zögern keine Rücksicht nehmen. Zu stark war ihre Sehnsucht nach Entspannung und einem farbigen Schleier, zu mächtig der Wunsch zu fliehen, ich bin kurz weg, fass nichts an, sagte sie zu Toto, schloss die Tür und atmete tief durch. Zwischen den Häusern aber wurde sie sofort traurig, die Stimmung, die von den bröckelnden Fassaden, von den unbehandelten Einschusslöchern aus dem letzten Krieg und den leeren Läden auszugehen schien, machte sie langsam, wie wenn sie im Stillstand unter Wasser liefe, ein Teil der Lähmung, die alle ergriffen hatte, die mit gesenktem Kopf über die Straßen schlichen, nur nicht aufblicken, nicht munter werden, einfach weiterschlafen, auf ein Ufo warten. Die Stimmung im Feldversuch Sozialismus war so durchdringend trostlos, die Gesichter waren so müde, dass selbst Sonnenschein kaum helfen konnte. Als würden sich sogar die jungen Menschen nicht einmal mehr verlieben, aus Langeweile paaren und nur, um im Anschluss eine eigene Wohnung zu bekommen, in der sie dann sitzen und warten konnten. Wenn man den Menschen den Kapitalismus nimmt, bleibt von ihnen wohl nicht viel übrig.

Die Frau kaufte Stoffwindeln, man musste sie nach Verwendung auskochen, das alles war ihr ein Rätsel, sie kaufte Trockenfutter, in der Hoffnung, damit hätte die Ernährungsfrage sich geklärt, vielleicht konnte sie die Nahrung einfach in einen Napf am Boden geben, aus dem das Baby sie zu sich nehmen würde. Der Rückweg führte an einem der Lokale vorbei, in dem sie noch bis vor wenigen Wochen die Nächte verbracht hatte. Seltsam fremd lag der verrauchte Raum, der nach Bier roch und nach zu viel Dunkelheit. Für einen Moment fragte sie sich, was sie hier getan hatte. Mit wem hatte sie geredet und wodurch war der Irrtum entstanden, dass hier ihre Freunde verkehrten? Am Tresen saß ein Mann, eingesunken, an den Strand gespült, ein Stück Abfall, schien es, von keinem je berührt. Die Frau kannte ihn. Er war einer dieser Menschen, die in Krankenhäusern leben. Immerzu hängen Schläuche aus den Bäuchen von Männern wie ihm, da wird abgeschnitten, transplantiert, verpflanzt, um etwas am Leben zu halten, das doch so gar nicht leben will. Die Frau trat zu dem gelblichen Mann, der kurz aufblickte, mit Augen, wie Hunde sie haben, so schwer und verzweifelt, und sie wusste wieder, was sie hier gemacht hatte. Ein altes französisches Chanson aus dem Radio, Schwermut umhüllte die Frau und den Mann, sie saßen da, an Rollstühle gefesselte Passagiere im Tanzsaal eines untergehenden Schiffs.

Sie waren verzweifelt, und sie betranken sich, sie drängten ihre Körper aneinander im Rausch, der sie von Hemmungen befreite, und um nicht mehr einsam zu sein.

Der Frau fiel ein, dass sie einen neuen, sehr kleinen Menschen hatte, den sie wachsen lassen könnte und der immer bei ihr wäre, zumindest so lange, bis er sie zu hassen begann, mit eintretendem Verstand. Sie könnte mit ihrem Kind im Bett liegen, draußen würde Schnee fallen, und sie würden zusammen Bücher lesen und Gebäck essen.

Fast rannte die Frau zurück in ihre Wohnung, eine Angst war da, das Kind hätte sich etwas angetan, doch als sie die Tür öffnete und das Kind sah, wie es noch immer in unveränderter Position lag und abzuwarten schien, ahnte sie, dass sie sich mit ihm nie würde anfreunden können.

Wie es schaute. Und wenn es doch wenigstens schreien wollte. War es verblödet? Normale Kinder schreien doch und fuchteln mit den Armen, und das hier, das lag da und betrachtete ruhig seine Hand, es sah diese Hand an, als ahnte es, dass da keiner war, dem er sie hätte zeigen können.

Warte nur, die Frau, die aus unerfindlichem Grund eine Aggression gegen die Ruhe des Kindes in sich aufsteigen fühlte, lachte, warte, da wird nichts erfolgen. Keine Tür sich öffnen, aus der deine richtigen Eltern springen, Überraschung! rufend, um dich ins kapitalistische Ausland zu transportieren, wo sie ein Gestüt unterhalten. Keiner kommt, es gibt nur mich.

Die Frau setzte sich vorsichtig, sie hatte gehört, dass man sich als Besitzer eines Kleinkindes leise zu verhalten hat.

Sie musste nachdenken. Das hatte sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft vermieden. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben mit einem Kind aussehen sollte, sie konnte es sich ja nicht einmal ohne eine zusätzliche Person vorstellen, dieses Leben, das in den Abfluss gefallen war und nun irgendwo in der Kanalisation auf eine neue Fäkalwelle wartete, die es endlich wegspülte.

Von sich ermüdet, versuchte die Frau ihr Kind mit einem liebevollen Gesicht zu betrachten.

Sie verzog ihren Mund. Ihr Gesicht merkwürdig verzerrt, ein wenig schräg hielt sie den Kopf, doch es stellte sich kein Gefühl ein, nichts in ihr verlangte danach, das Baby an die Brust zu nehmen, es zu wiegen und zu beschützen.

Wer wollte beschützen, was da mit einem Ausdruck der Überlegenheit lag, ohne sich zu rühren, wer konnte mögen, was wie ein Buddha tat, wenn man noch nicht einmal wusste, was ein Buddha ist? Was willst du von mir? Kannst du mir das verraten? Warum hast du dich in meinen Organen eingenistet, du Parasit, nur um von mir zu essen, zu wachsen und nun hier zu liegen und mich anzustarren? Du verachtest mich, ja? Ist es das, was du mir sagen willst? Oder willst du nicht mit mir reden? Red schon! Sag was! Das Kind sagte nichts. Toto empfing Signale, er sah Farben, Formen, die er noch nicht mit Gegenständen oder Menschen in Zusammenhang bringen konnte. Und er fühlte. In Anwesenheit seiner Mutter allerdings nicht viel. Er sah ihr Gesicht, da war nichts Warmes vorhanden. Toto fühlte sich unwohl und versuchte alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um das zu ändern. Er riss die Augen auf, spitzte den Mund, er schwieg, um nicht zu stören, doch das Gesicht seiner einzigen Beziehungsperson veränderte sich nicht. Also gab er auf. Er musste sich schonen, denn das Leben scheint anstrengend zu werden.

Die Frau wusste nicht recht, was zu denken sei oder zu planen, da lag einfach ein fremdes Kind in ihrem Zimmer und würde bleiben, bis es volljährig war. Ein kleines Glas Martini würde helfen, und so trank sie, bis ihr Bewusstsein wieder in den Abfluss glitt, dann legte sie sich neben das Kind zu Bett.

Als sie erwachte, mit einem schlechten Geschmack im Mund und mit einem Schmerz im Kopf, wie jeden Morgen seit Jahren, nahm sie das Kind zuerst nicht wahr, sondern sah für einen Moment nur das Zimmer in seiner Unverständlichkeit. Ein Gasherd stand in der Ecke, daneben eine Badewanne und ein bis unter die Decke gewachsener Wasserboiler, den man mit Kohle beheizen musste, die es nicht gab. Es war der Frau angenehmer, seit sie ihre Matratze in die Küche gelegt hatte. Das Schlafzimmer sah in den dunklen Hof hinaus, dort war es kalt, zu jeder Jahreszeit, und der Geruch der Toiletten, die sich auf jedem Stockwerk befanden, scharf. Das Wohnzimmer hingegen war nicht zum Leben gemacht, es diente ihr als Museum, um Bilder aus der Vergangenheit zu erzeugen, mit denen keine Gefühle verbunden waren. Sie sah die Bücher und wusste, dass sie alle irgendwann einmal gelesen hatte. Damals, als sie noch an eine Zukunft glaubte.

Die Küche war der kleinste und wärmste Raum, alles, was sie brauchte, war in Griffnähe neben der Matratze, der Plattenspieler und immer, jeden Morgen, die gleiche Musik, Robert Schumann, Klavierkonzert a-Moll, op. 54, gespielt von Svjatoslav Richter in Begleitung der Warschauer National-Philharmonie. Sie kochte Wasser, goss es zum Kaffeepulver und füllte die Tasse mit Wodka auf. Die Minuten am Morgen, zwischen Wachheit und erneutem Rausch, begleitet von der Musik ihrer Jugend, waren ihr unberührt. Sie saß auf dem Küchenstuhl, und das Baby schrie zum ersten Mal. Leise, als sei es ihm peinlich, noch nicht die passenden Worte für seine Bedürfnisse zu kennen. Toto war ungehalten, weil er sich nicht ausdrücken konnte, ein furchtbarer Zustand, den ein Erwachsener nur mit dem Notfall in einem fremden Land vergleichen kann, wo man kein Wort der Sprache versteht. Seine ersten Tage auf der Welt machten Toto ratlos. Warum da keine Freundlichkeit war, das konnte er noch nicht verstehen.

Die Kopfschmerzen der Frau verstärkten sich, unwillig bereitete sie eine Flasche mit klumpender Babynahrung, die sie dem Kind gern in die Hand gedrückt hätte, um es nach draußen zu schicken, und doch war es dann fast ein Moment des Friedens, als sie ihren Kaffee mit Wodka trank, das Kind sein mehliges Getränk zu sich nahm und danach die Frau ansah, mit einem Blick, der fast weinen machte, weil er so demütig schien. Die Frau sprang auf, denn wenn sie eines nicht wollte, dann einen Menschen, der von ihr abhängig war. Das macht doch solche Angst, dass da einer von dir abhängt, plötzlich, obgleich sie das doch kennen sollte, in ihrem Beruf. Sie betreute alte Menschen, Senile, Trinker, Bettnässer, die außer ihr keinen hatten, der sie am Leben hielt.

Bis vor einigen Jahren hatte sie in einem Museum für Ur- und Frühgeschichte gearbeitet. Damals benutzte sie noch ihr Wohnzimmer, trank morgens Kaffee ohne Wodka und träumte davon, Archäologin zu werden, doch dann hatte sie begriffen, dass auch die Archäologie sie nicht aus dem Gefängnis des kleinen Landes und aus der umfassenden Sinnlosigkeit des Lebens befreien würde. Sie war einer jener unglücklichen Menschen, die das Geschenk des Lebens, um das sie nicht gebeten haben, gerne an den Absender zurückgesandt hätten.

Ihr war die Vergänglichkeit klar, und das Wissen darum war ihr keine Befreiung. Sie konnte, je älter sie wurde, immer weniger verstehen, warum man gegen seine Müdigkeit ankämpfen soll. Schmerzen überstehen, einen Krebs bekämpfen, verlorene Liebe überleben, sich gesund halten und fit, sich bilden und zu einem gütigen Menschen entwickeln, wenn man doch schon bald unter der Erde liegt, von allen vergessen.

Jeden Morgen, damals, als sie noch in ihrem Wohnzimmer verkehrt und über Buchrücken gestrichen hatte, war sie mit einem Faltenrock, einer braunen Strickjacke und derben Halbschuhen zu ihrer Arbeitsstelle gegangen und hatte sich in dem Bild der Museumsangestellten gefallen. Sie war während des gesamten Tages angenehm allein, nur dann und wann kurz gestört von Schulklassen, die staunend vor den nachgebildeten Höhlen mit Steinzeitmenschen und Feuern standen. Die Kinder wünschten sich nichts mehr, als zu den Steinzeitmenschen klettern zu können. Das musste verhindert werden, denn außer ihr war keiner befugt, über die gläserne Trennscheibe zu steigen und sich neben das Lagerfeuer zu setzen, das von roten Glühbirnen dargestellt wurde. Sie verbrachte den größten Teil des Tages, wenn keine Schulklassen da waren, neben den interessanten rothaarigen Männern und wartete, dass sie zu sprechen begännen. Wie viele junge Frauen von einer alleinerziehenden, meist abwesenden Mutter aufgezogen, hatte sie kein Wissen vom anderen Geschlecht und träumte von Männern, die über jene Mischung aus äußerer Kraft, Brutalität und niederer Stirn verfügten, die sich mit etwas paart, das zart und leise ist. Anders sollten sie sein als die Männer in ihrer Stadt, die saßen in den Verwaltungen, waren Vorgesetzte wie der Genosse Museumsdirektor, bei dem die Frau ab und zu antreten musste, um mit ihm den Fünfjahresplan zu besprechen. Ein teigiger Mann mit Halbglatze, der sich außer durch den Besitz männlicher Geschlechtsorgane durch nichts auszeichnete.

Die emanzipatorische Umsetzung des realen Sozialismus bestand darin, dass alle Frauen arbeiteten, dass sie jeden Beruf, von der Bauleiterin bis zur Professorin, ausüben konnten, ja sollten, der Wirtschaft ging es nicht blendend, da mussten die Frauen ran, da wurden sie gebraucht, jede Hand wurde da benötigt, die Frauen verfügten über Geld, das nichts wert war, und die Männer verfügten über die Entscheidungsgewalt.

Nachdem die Frau nach Jahren immer noch nicht befördert worden war, sah sie sich eines Morgens in den mittleren Jahren, die damals mit Ende dreißig begannen, in einem Faltenrock neben einem Plastiklagerfeuer sitzen. Es war ihr erbärmlich gewesen. All die Anpassung, das gute Betragen, die Pünktlichkeit wurden ihr nicht gedankt, sie würde alt werden in diesem Museum und in ihrer feuchten kleinen Wohnung.

Eine halbe Flasche Wodka leerte sie an jenem Abend, überrascht über deren freundliche Wirkung. Am folgenden Tag hatte sie gekündigt und bei der Volkssolidarität als Altenpflegerin zu arbeiten begonnen, zusammen mit vielen, die aus dem Alltag gefallen waren. Alkoholiker, gescheiterte Republikflüchtige, Soldaten, die den Dienst an der Waffe ablehnten.

Altenpfleger waren Hoffnungslose, am Leben gehalten durch den Anblick jener, in denen noch weniger Freude vorhanden war, auf den letzten Metern.

Der erste Arbeitstag war es, als sie die Matratze in ihre Küche schob und die Schränke leerte, um Platz für Alkohol zu schaffen.

Drei Jahre hatten genügt, und sie hatte sich in ihrem neuen Dasein als Angehörige einer, wenn auch in ihrem Land sehr großen, Randgruppe eingerichtet, und hielt den Geruch ihrer Ausdünstungen für Normalität. Sie würde sich wohl auch an ein Kind gewöhnen.

In den folgenden Wochen fand die Frau in einen Rhythmus, der bewirkte, dass sie nicht mehr nachdenken musste, denn dafür sind sie ja gemacht, die Riten und geregelten Abläufe, als lebenserhaltende Maßnahmen. Sie trank ihren Kaffee, fütterte das Kind, packte es, zusammen mit Windeln und drei fertig zubereiteten Klumpengetränkflaschen, in einen Rucksack und machte sich auf den Weg zur Arbeit, fuhr über Landstraßen, in kleine Dörfer ihres Zuständigkeits-Kreises, um dort alte Menschen zu besuchen, die in Häusern vegetierten, welche man andernorts als Ruinen bezeichnet hätte.

Die Dörfer des sozialistischen Landes wirkten aus der Entfernung wie die auf Bildern holländischer Impressionisten, es fachwerkte und rauchte, dass es einem Romantiker Schauer über den Rücken jagen wollte.

Bei näherer Betrachtung waren die Dörfer aber nicht mehr als Verwahreinrichtungen für gestrandete Asoziale. Mit einem Konsum, der Rot- und Weißkohl verkaufte, zwei Stunden täglich. Die Häuser, die sich bis auf das Stroh von ihrem Putz befreit hatten, lagen da mit undichten Fenstern, teils zerbrochen und durch Pappe ersetzt, in den dunklen Stuben Eisenöfen und natürlich keine Kohle. Warum auch, es war ja Sommer. Sie hatten kein Holz, um den Herd anzufeuern, die Rentner, oder um Wasser heiß zu machen, für einen Kaffee. Wozu auch, der Kaffee war ohne Wodka ungenießbar, und Wodka konnte man auch unerhitzt zu sich nehmen. Der Sozialismus hatte die Alten vergessen, sie taugten nur für schwarzweiße Fotos in der Zeitung, denn falls einer mal den hundertsten Geburtstag erleben sollte, war immer auch ein Parteivorsitzender mit Nelkenstrauß zur Stelle.

Der reale Sozialismus schien wie eine Architektenzeichnung. Neubauten, auf deren Vorplätzen Figuren im Schatten von Bäumen schlendern. Die gebaute Wirklichkeit waren dann trotzdem immer nur Verwahrungsboxen mit zugigen, menschenleeren Plätzen. Der glückliche Volkskörper wollte sich nicht einstellen, warum denn nicht, verdammt noch mal. Sie waren alle betrogen worden, um den Westen, um den Joghurt, und die kollektive kommunistische Verzückung ließ auf sich warten. Die schönen Bilder von lachenden jungen Menschen auf Traktoren, paarungsbereit und mit gesunden Erbanlagen, unsere liebe LPG, und was war da geworden: einstürzende Altbauten mit schlechtriechenden Suchtkranken darin.

Hast du dich wieder nicht auf die Toilette getraut, fragte die Frau einen alten Mann, dessen Holzboden mit zerknülltem Zeitungspapier bedeckt war. Es ist doch so kalt, sagte der Mann, und von unten werden sie kommen und mich in den Hintern beißen. Ja, sagte die Frau, das passiert. Alles Böse kommt von unten, sagte sie und sah einem Reflex folgend zu Boden, da lag ihr Kind und schwieg. Es schien zu träumen. Kann es träumen, da sind ja noch keine Bilder vorhanden, die zusammengesetzt werden können. Träumen Babys so wie Hunde, die Hasen hinterherlaufen? Und denken Hunde im Traum: Mann, ein Hase, dem setz ich jetzt mal nach? Im Vergleich zu Affen, Oktopussen und Gemüsesorten schneiden Babys im Intelligenztest schlecht ab; setzt man eines neben einen Primaten, sind sie nicht in der Lage, Bananen von Bleistiften zu unterscheiden. Dass Menschen, auch ausgewachsene, zu nicht viel mehr imstande sind, als den Ort, an dem sie sich aufhalten, mit Kot zu beschmieren, ist ein trauriger Umstand. Die Frau fegte das Zeitungspapier vom Boden des Rentners. Ihr Kind lag schweigend und beobachtete den alten Mann. Dein Kind schaut mich an. Sagte der, und begann zu zittern, wegen der Kälte und weil er noch nicht betrunken genug war. Ja, es schaut immerzu. Es sagt nichts, es schreit nicht, es scheint sich zu schämen, wenn ich seine Windeln wechsle, unter uns, mir graust ein wenig vor dem Kind, hast du was zu trinken. Sagte die Frau, und dann saß sie mit dem Rentner, trank von dem Alkohol, den einer im Dorf schwarz gebrannt hatte, und betrachtete ihre Zukunft. Wenn kein Wunder geschieht, werd ich irgendwann so ähnlich enden wie der alte Mann, und das war wirklich keine Aussicht, die man mit Bocksprüngen feiern möchte.

Vor dem Krieg war der Alte Bauer gewesen. Ein paar Hektar Land, diverse Tiere, die Eltern im Nebengebäude, schwere Arbeit, rauhe Hände, Krieg verloren, schade. Denn danach wurden alle im Dorf enteignet, das nannte nur keiner so. Das Land wurde verstaatlicht, Landwirtschaftliche Produktionsstätten entstanden, wo alle bei schlechter Bezahlung arbeiteten, wie früher nur die Knechte. Wie Knechte, sagten die Bauern und spuckten auf den Boden, denn Bauern ohne Land, das geht nicht auf, da spuckten sie auf den Boden und tranken danach, um die alten Zeiten zu bedauern, sich zu bedauern, in diesem Dorf, das zerfiel, in den Häusern, die zugig waren, und dabei gab es doch Neubauten in der Stadt. Die Milchviehanlage ließ sich auch betrunken bedienen, der Dorfkonsum verkaufte Rosenthaler Kadarka, Doppelkorn und Bärenblut. Neben einigen weiteren Grundnahrungsmitteln.

Prost, Heidi.

Der alte Mann hatte seinen Verfall nicht bei vollem Bewusstsein miterlebt, es war nichts mehr in ihm, das sich selber hätte beobachten können, beim morgendlichen Erwachen in dem seit Jahren ungewaschenen Bett, in dem nie eine Frau geschlafen hatte, da war immer etwas dazwischengekommen, das Kälbchen, irgendwas. Wie fast alle seines Alters im Dorf war er frühpensioniert worden, als sich seine Unfallstatistik zu negativ auf den Fünfjahresplan auswirkte. Irgendwann konnten die Genossen Bauern nicht einmal mehr den Vakuumsauger ans Kuheuter heften, in der Karussellmelkanlage, vom Bedienen schweren Geräts ganz zu schweigen. Was geriet da an Beinen in Häcksler, an Schlafenden in Mähmaschinen, und wurden sie pensioniert, saßen zu Hause und beobachteten, was aus ihren Wänden wucherte.

Der alte Mann wusch sich kaum, aß nichts außer Makrelen in Tomatensoße, woher kamen nur die tausend Dosen im Keller, trank und wartete, dass der Tag vorüberging und er sich wieder in sein Bett legen durfte.

Das Kind starrt mich an, nuschelte der Alte, die Zähne waren ihm abhandengekommen, und ein Gebiss hatte er sich nie machen lassen, denn die waren für alte Leute und er hatte sich, wie die meisten Menschen, in einem bestimmten Abschnitt seines Lebens zementiert, der nichts mit einer alten Person zu tun hatte.

Ach, lass doch das Kind in Ruhe, sagte die Frau, sie hatte sehr zügig drei Wassergläser Doppelkorn getrunken, die Wohnung des Mannes schien ihr nun wie etwas Freundliches aus ihrer Kindheit. Vielleicht hatte es mit Ferien zu tun. Oder mit ihrem Großvater, obgleich sie sich nicht erinnern konnte, einen besessen zu haben.

Die landwirtschaftliche Großproduktion steht im antagonistischen Widerspruch zur Evolution, sagte die Frau. Dieses Land ist gefängnisgewordene Monokultur. An manchen Tagen klang etwas an in ihrem Hirn, von früheren Zeiten, als sie noch hoffte und an Veränderung glaubte. Jetzt war sie überzeugte Pessimistin, sie saß neben dem Alten, der nickte, jaja, die Monokultur, murmelte und mit seinem Fuß ein Stück Zeitung auf dem Boden nach links schob.

Das Baby bewegte sich, es sah aus, als mache ein alter Chinese Tai-Chi. Hätte jemand beobachtet, mit welch langsamer Sorgfalt das Kind sich zur Seite drehte, hätte er sagen können: Sind das für ein Baby nicht befremdliche Bewegungsabläufe? Doch da schaute keiner.

Dem Kind war es unangenehm, durch zu lautes Geschrei darauf hinzuweisen, dass es sich nicht wohlfühlte. Vielleicht entsprach es seinem Charakter, oder die Intelligenz von Babys ist doch größer als angenommen, es schien zu wissen, dass Geschrei ihm nicht weiterhelfen würde. Die Windel würde nicht gewechselt werden, nicht in den nächsten Stunden, am Abend irgendwann, zu Hause, auf der Matratze, wenn der Geruch zu stark geworden war und bevor die Frau sich wieder auf ihre Tour durch die Nacht begab.

Die Frau erhob sich schwankend, packte ihre Sachen, zu denen das Kind gehörte, und taumelte über den zeitungsbedeckten Boden. Sie hatte den alten Mann vergessen, noch während ihrer Anwesenheit in seinem Raum, auch der alte Mann wusste nicht mehr, wo er sich aufhielt, er starrte an die Wand und überlegte, was er als nächstes trinken konnte.

Die Frau befand sich anschließend, ohne ausufernde Verabschiedung, wieder auf einer Landstraße, mit so guter Laune, dass sie lachen mochte und singen. Und das Kind, was war das für ein wunderbares Kind, und wie es sie verstand, in ihrem Vortrag von den großen Zusammenhängen, und wie sie doch alles besser wüsste, wollte da nur endlich einer ihren Rat einholen! Sie bewegte sich, als rolle sie in einem Ballon. In einem anderen verdreckten kleinen Dorf wartete eine alte Dame mit starker Hemiplegie, sie war der Berner Sennhund der Landbevölkerung, launig war die Frau, vielleicht eine halbe Stunde, ehe der Alkoholpegel sank und die Euphorie einem Unwohlsein wich.

Wie krumme Finger standen die Obstbäume an der Allee mit all ihren Löchern. Ochsen könnten sich darin verbergen, und die Frau sah ihre Beine zu nah unter sich, um sie lange Glieder nennen zu können. Mund und Kopf füllten sich mit feuchter Watte. Einen Schluck brauchte sie, oder ein Bett. Und irgendwen brauchte sie, aber nicht dieses Kind, das da an ihr hing. Neben der Klarheit, die sich einstellte, kam diese abgrundtiefe Langeweile, die nur Menschen kennen, die nicht in sich vorhanden sind.

Die Frau hockte am Wegesrand, starrte die Apfelbäume an, den wilden Kerbel, den Mohn. Keine Mitteilung.

Da ist doch kein Anreiz, dem Alkohol zu entkommen, der sich wie eine beige Decke über die Umgebung legt. Die farblosen Menschen, die in ihren Plastikkleidern über die Straßen schlingern, die genormten Köpfe mit geplatzten Adern und flachsblondem dünnem Haar, diese teigigen, traurigen Kinderköpfe mit den wässrigen Augen, wie leere Teiche. Das hält doch keiner aus.

Bevor die Frau begann, sich mit Tränen zu betrauern, kam ihr ein Moment des kurzen Träumens, in dem sie sah, wie es sein könnte: Eine Wiege und gemalte Wolken an der Decke, eine Spieluhr und sie, die in fließenden Gewändern innig mit ihrem Kind auf dem Arm durch eine Wohnung schreitet, auf weißgestrichenen Fußböden. Und dann war der Moment vorüber, die Idee von einem Gefühl verschwunden, übrig nur das Bündel, das sie wahnsinnig machte mit seinem Blick, die können doch so nicht schauen, diese verdammten Babys, so, als ob sie einen verachten. Das war eine fixe Idee von ihr geworden, die Augen des Babys, die sie überallhin verfolgten, auch in der Nacht, in der Kneipe, wo sie saß, umringt von Männern, die Kohleträger waren oder Nachtwächter, aber meist invalid, und asozial waren sie alle, und sie tranken der Frau zu, die sie im normalen Leben nie hätten berühren dürfen, und die löste sich auf in Spiritus, und jeder konnte einmal hinlangen.

Immerwährend wurde sie beobachtet von den Augen dieses Nichts, das sie mit sich herumtrug, das sie neben sich legte, dessen Ausscheidungen sie entfernte; es wendete sich ihr nicht einmal zu, nicht jetzt, hier, unter dem Baum, wo sie saß, zu müde für das Leben, und nicht daheim, wenn sie sich wusch, den Kohlenträger abwusch oder den Hausmeister, dann sah es sie an, und sie meinte, eine Wertung in seinem Blick zu erkennen.

Ich hasse dich, murmelte sie, und das Kind sah sie an, mit einem Blick wie ein Hund, wenn man ihn vor die Tür stellt. Sie verachtete das Kind, weil es bei ihr war, an dem Ort, den sie so hasste. Je zufriedener das Baby wirkte, desto mehr knuffte sie es in die Seiten, um es ihm unbehaglich zu machen, um es zur Abreise zu bewegen, mit seinen albernen Windeln unterm Arm, mit seinem merkwürdigen Leib, seiner Andersartigkeit, Unverwundbarkeit und Reinheit. Sie war doch so verletzt, von der großen Enttäuschung, die ihr die da draußen bereitet hatten.

Früher hatte das Leben oft am Kopfende ihres Bettes gestanden und sanft geflüstert: Du schönes Mädchen du, ich bin bereit für dich. Dann war es verschwunden, das Leben. Zurück blieben Küchenmöbel und die Hoffnung, dass es Orte gab, die Zustände herstellen würden, anders als jene, in denen alle schwammen. Draußen hatten die fünfziger Jahre gestanden, die Spießigkeit trug ein Kopftuch, hatte eine Nelke im Knopfloch und erstickte die Jugend in Biederkeit. Irgendwo hinter den abbröckelnden Fassaden, den einzelnen Zweitaktern, den Rot- und Weißkohlköpfen in den immer dunklen Läden, dem Dederon und den Kittelschürzen, da würde ihre Zukunft nie stattfinden. Sie trug das blaue Hemd der Jugendbewegung und bekam ein Diplom und eine Stelle und war am Morgen schon so müde, dass sie die Beine kaum aus dem Bett rauszustellen vermochte. Es war ein schwieriges Leben, in dem kleinen sozialistischen Land, ohne Götter, die die Welt in Geschichten gefasst hätten. Götter, die eine übergreifende Ordnung in Millionen parallele Leben gebracht hätten und einen Sinn erzeugt. So gab es nur Gegenwart ohne jede Klammer, außer der Partei und der Aufgabe, eine Zukunft zu gestalten. Aber eine Zukunft ist doch keine Ordnung. Eine Zukunft war nichts, und kein Gott, der aus dem Nichts eine Welt geformt hätte.

Es gab keinen Alkohol. Der Kopfschmerz ließ nach, die schlechte Laune blieb, warum nur, ihre Umgebung war unverdächtig. Sah aus wie jeder Ort in Mitteleuropa, die Apfelbäume sauber, die Straßen geteert. Und wenn es Sommer war, ab und zu war es doch Sommer, dann war dieses leichtbeschwingte Laufen auf Landstraßen wie Meditation, wenn es das Wort schon gegeben hätte, doch das meint, dass man keinen Quatsch denkt.

Sie nahm sich zu wichtig, die Frau; wie alle Depressiven war sie überzeugt, dass alles sich gegen sie verschworen hatte, doch auf die einfache Idee, dass sie allen egal war und dieses Kind der einzige Mensch, für den sie eine Bedeutung haben, bei dem sie alles richtig machen konnte, auf diese Idee kam sie nicht.

Es war fast Abend, als sie ein Dorf erreichte, das jenem, das sie Stunden vorher verlassen hatte, befremdlich glich. Eine Straße, zehn Häuser, eine seit Jahren geschlossene Kneipe. Ein Hund war nicht da. Noch nicht mal Hunde gibt’s in diesem System, sagte die Frau, und das Kind schien zu nicken. Toto war inzwischen ein paar Monate auf der Welt, und es wäre interessant gewesen, ihn zu fragen, ob er sein Leben fortsetzen wollte. Und falls ja, warum. Alles, was ihm bisher begegnet war, schien kaum dazu geeignet, Lust auf neunzig weitere Jahre zu machen.

Die Frau würde in absehbarer Zeit den Entschluss fassen, sich von ihrem Kind zu verabschieden. Allein geblieben, verfiel sie weiter und sollte fünf Jahre später in einer schlechtgelaunten Nacht um zwei Uhr dreiundvierzig in ihrem Bett an einem Makrelenbrot ersticken. Bei der Beerdigung war niemand anwesend außer dem Genossen Krematoriumsvorsteher.

Und weiter.

Toto wollte Kasimir zum Freund. Er verwendete das Wort Freund nicht in seinen Gedanken, es war ihm unbekannt.

Er wünschte sich Kasimir nah.

Er sah sich mit ihm am Boden sitzen. Er sah sich mit ihm im Bett liegen und an die Decke schauen. Und dann gebrach es ihm an Bildern, denn Toto hatte noch nie in seinem kurzen Leben einen ihm nahen Menschen gekannt, und er wusste daher nicht, was man mit dem unternehmen sollte.

Kasimir lag ein paar Meter von Toto entfernt und betrachtete die Wand, was in Toto ein großes Gefühl von gemeinsamen Interessen entstehen ließ.

Kasimir hatte, seit er vor drei Wochen angekommen war, mit niemandem geredet. Geschrien hatte er ununterbrochen, als ihm sein Stoffbär abgenommen wurde. Im Kinderheim Michael Niederkirchner waren Plüschtiere nicht erlaubt. Sie hätten die Kinder ablenken können, hindern, Teil der Gruppe zu werden und die Erziehungspersonen zu respektieren. Meist erforderte die Inhaftierung der Plüschtiere keinen großen Aufwand. Die Gepäckstücke der Kinder wurden durchsucht; was nicht willkommen war, entfernt, und traurig waren sie sowieso, die Kinder, was sollten sie auch guter Dinge sein, abgestellt wie kleine Möbel, meist noch Teil ihrer Eltern, so versoffen die auch gewesen sein mochten.

Kasimir hatte, wie sein Geschrei vermuten ließ, eine enge Bindung zu seinem Bären aufgebaut, nachdem seine Mutter sich nicht mehr um ihn gekümmert hatte, weil sie verstorben war.

Irgendwann hatte der Junge das Weinen eingestellt, das Ausdruck seiner wütenden Hilflosigkeit gewesen war und ihn so verspannt hatte, dass er kaum mehr Luft bekam. Seitdem war er stumm, und ein Geheimnis umgab ihn, das die anderen auf Abstand hielt.

Die meisten Kinder im Heim hatten keine Geheimnisse. Sie waren aggressiv oder verstört, aber verbunden durch das fast identische Elend ihrer Biographien.

Unklarheit wurde nicht geschätzt, in der Gruppe der Ausgestoßenen mochte man keine Andersartigkeit, und so blieb Kasimir allein. Darum war auch Toto allein. Er verstand noch nicht, dass er für die anderen wirkte wie von einer gelben Wolke umgeben. Anders als Kasimir, der in der Wand einen Freund gefunden zu haben schien, hätte Toto gern geredet, sich abends mit den anderen Gruselgeschichten erzählt. Er wollte nicht allein in einer Ecke sitzen. Er wollte sein wie alle und wusste nicht, dass es eine unsichtbare Mauer gab, die ihn von den anderen trennte.

Toto hatte kein Gefühl für eine Vergangenheit oder eine Zeit, für ihn gab es den Moment, und der fand im Heim statt. Toto erinnerte sich nicht an seine Mutter, nicht an Alleen mit Apfelbäumen, unruhig wurde er nur, wenn er Alkohol roch, doch den kleinen Tick teilte er mit den meisten Kindern im Kinderheim Michael Niederkirchner.

Früher waren in dem Haus russische Soldaten stationiert gewesen, denen war das Gebäude wohl zu zugig geworden, vielleicht benötigte der junge Staat auch weniger Überwachung des Freundesbruders, weil sich der Sozialismus verselbständigt, die früher überzeugten Faschisten sich zu vorbildlichen Kommunisten gewandelt hatten. Nun schwangen sie wieder Fahnen: Scheiß der Hund drauf, welche Farbe!

Das Gebäude der ehemaligen Kaserne war auf die Bedürfnisse von Kindern eingerichtet.

Fließendes Wasser war vorhanden.

Auf drei Etagen Schlaf- und Aufenthaltssäle, im Keller eine Ping-Pong-Platte. Der Keller war sehr kalt, auch im Sommer. Die Heizung lief immer zögerlich, im Winter gab es Eisblumen am Fenster, qualmende Mülltonnen im Hof, im Speisesaal wurden nahrhafte Kartoffelgerichte serviert, neben Kohl, nach dem es ständig roch. Viele Kinder würden als Erwachsene später starken Brechreiz beim Geruch von Kraut verspüren und sich fragen warum.

Und dann würden sie sich in der Nacht an das Waisenhaus erinnern, in dem sich jedoch nur zwei Kinder aufhielten, die wirklich ohne Erziehungsberechtigte in der Welt standen, der Rest der zweihundert Insassen stammte von Eltern ab, denen das Sorgerecht wegen Alkoholismus oder Republikflucht entzogen worden war.

Selten kam es vor, dass Pflegeeltern eines zu sich nahmen. Wer will schon fremde Kinder, die noch nicht einmal exotisch aussehen, sondern einfach nur verwahrlost, mit laufenden Nasen und schmutzigen Ohren, so etwas will doch keiner um sich haben.

Totos Bett stand allein, quer an einer Wand stand es, neben dem Eingang. Die anderen Kinder schliefen in Reihen von je fünf Betten, längs im Raum. Toto wusste nicht, warum ausgerechnet er alleine schlief, er war in einem Alter, da man über solche Dinge noch nicht nachdenkt. Es war ihm vertraut, dass die anderen abends miteinander redeten, sie flüsterten und lachten, sie tuschelten und ärgerten sich, sie bildeten ein Myzel, zu dem Toto nicht gehörte, er war der Pilz oberhalb des Bodens, er genoss die Geräusche, die ihn schläfrig machten, und wunderte sich nicht über die hohen Decken, die eisernen Betten, die Atmosphäre, die an ein Gefängnis erinnern würde, wäre er schon in einem gewesen. Das hier war sein Zuhause, ein anderes kannte er nicht. Bald würde es ruhig sein, und manchmal kam ein Gespenst durch das Fenster. Es warf ein helles Licht, huschte an der Wand und verschwand wieder. Toto hatte keine Angst vor den Gespenstern, er fürchtete nur den Morgen.

Die Kinder wurden um sechs geweckt. Wie kleine, schlecht programmierte Roboter fielen sie aus ihren Betten, über ihre Füße, sie hatten ihre Kissenzipfel in den Mündern. Toto hatte kein Tier gehabt, das man ihm hätte nehmen können, seine Mutter hatte ihn eines Abends angezogen, ihm einen kleinen Koffer gepackt und ihn im Heim abgegeben. Seitdem war er allein, ohne zu wissen warum, aber er vermutete, dass es mit dem Duschen zu tun hatte.

Das erfolgte im Anschluss an das Taumeln über den zugigen Flur.

Die Kinder stellten sich in Reihe auf, die Jüngsten im ersten Stock; die Größeren in den darüberliegenden Etagen existierten im Universum der Kleinen nur, weil sie von ihnen in die Toiletten gesteckt, ohne Unterhosen in den Hof gehängt wurden, aber nicht am Morgen, am Morgen waren sie unschuldig, vereint in ihrer Angst vor dem Wasser, vor der Nacktheit und den Blicken der Erzieher.

Die Duschräume auf den drei Etagen fassten jeweils zehn Kinder, und natürlich war das Wasser kalt, denn kaltes Wasser dient der Ertüchtigung des Körpers. Die Genossin Haupterzieherin der Kleinen hieß Frau Hagen und war bereits am frühen Morgen in rechter Erziehungslaune. Da war nichts zu hören auf den Gängen, außer ihrer starken Stimme.

Toto saß auf seinem Bett, ein Augenblick, der sich in seinem Leben wiederholen sollte, dieses ratlose Sitzen auf Betten, und er beobachtete das Zimmer. Frau Hagen hatte ihm irgendwann gesagt: Du wartest, bis ich dich hole. Toto war nicht der Typ, der klare Ansagen anzweifelte, er saß, wartete auf Frau Hagen, die ihn vom Bett reißen würde, immer aus Gedanken. Ihre Hand ekelte sich davor, ihn zu berühren, das war sehr deutlich, vermutlich hatte sie schlechte Erinnerungen an das Berühren kleiner Jungen. Toto hatte also seine Einzeldusche, jeden Morgen, er drehte das Wasser auf, stellte sich in sicherer Entfernung dazu, und freute sich über den ersten Betrug des Tages. Draußen schrie nach einigen Minuten Frau Hagen.

Sie konnte nicht anders,

Schreien war ihr angeboren.

Frau Hagen war fünfunddreißig. Für die Kinder war sie, wie alle Erzieher und jeder über fünfzehn, eine alte Person. Weder pervers noch sadistisch, war es ihr ein Anliegen, Ordnung zu halten. Wenn man Ordnung hält und Ruhe, dann findet sich der Rest von allein, sagte sie zu ihren Kollegen, die sie bewunderten. Frau Hagen war eine anerkannte Lehrkraft und hatte mehrfach die Auszeichnung Erzieherin des Jahres erhalten. Sie hatte eine positive Statistik zu verzeichnen. Seit sie Leiterin der Abteilung der Drei- bis Achtjährigen war, hatte sich nur ein Kind umgebracht, zwei waren ausgerissen und fünf hatten schlechte Noten. Der Rest gliederte sich hervorragend ein in die Klassen oder Kindergartengemeinschaften. Frau Hagen hatte sich ebenfalls immer hervorragend in das System eingefügt. Sie war Pioniervorsitzende gewesen, bei der Freien Deutschen Jugend hatte sie die Blaskapelle geleitet, und sie war trotz mäßiger Intelligenz zur Erweiterten Oberschule zugelassen worden. Fast jedes System schätzt Bürger, die über eine normale Intelligenz verfügen. Verformungen über oder unter dem Durchschnitt verursachen Kosten und sind überwachungsaufwendig. Der Vorteil von Bürgern, deren Intelligenzquotient sich unter 100 aufhält, ist es, dass sie ihre Beschränkung nicht erkennen. Da erscheint kein kleiner gelber Kollege an der Datenautobahn des Gehirns und reißt ein Schild empor: Hier geht’s nicht weiter. Die gelben Kollegen tauchen erst ab 130 auf und machen unzufrieden.

Frau Hagen war bereits in der Erweiterten Oberschule zum Jugendmitglied der Staatssicherheit geworden. Es befremdete sie nicht, Klassenkameraden zu überwachen und gegebenenfalls zu melden; ihr Charakter hatte sich bereits nach ihren Ansprüchen geformt, und sie wollte es gut haben. Sie bestand mit Bestnote, sie konnte mit einer Delegation nach Kuba reisen.

Frau Hagen hatte keine Hemmungen, die alte Frau wegen Staatshetze zu melden, deren Wohnung sie im Anschluss bezog. Frau Hagen atmete jeden Morgen durch, in der Wohnung, die nun ihre war, sie strich sich ihren inneren Rock gerade und betrat das Heim wie einen Löwenzwinger. Frau Hagen fühlte sich im Recht. Und damit beginnt jedes Elend auf der Welt.

Und weiter.

Toto nahm seine Einheitskleidung aus dem Schrank.

Jedes Kind besaß seinen eigenen Spind, das lehrte sie, Verantwortung für Dinge zu übernehmen, Ordnung zu halten, verdammt noch mal Ordnung zu halten, wo sie doch die personifizierte Unordnung waren. Frau Hagen wusste, dass es ein fast aussichtsloses Anliegen war, aus Kindern von Dissidenten und Suchtkranken brauchbare Mitglieder des Arbeiter- und Bauernstaates zu machen. Doch wenn es einem von zehn gelänge, seine Genetik zu überwinden, dann hätte sich Frau Hagens Einsatz gelohnt.

In Totos Schrank hing die Anstaltskleidung, Jacke, Unterwäsche; er war noch nicht Mensch genug, um darüber nachzudenken, warum da nichts Persönliches existierte, keine kleine Schachtel mit Fotos von den Eltern, kein Lieblingshemd, kein Bilderbuch. Toto versuchte, auf einem Bein zu stehen und das andere in die Hose zu stecken, das hätte einen rühren können, dieses Bild eines unfertigen Menschen, der noch nicht klar zu stehen vermag, und keine Eltern da, ihm die kleinen krummen Beine in Trikotagen zu stecken. Nur Frau Hagen, die ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, stand bereit. Beeil dich, die anderen wollen ja nicht warten, sagte sie und hatte nicht genug Humor, um sich belustigt dabei zu beobachten, wie sie ein Kleinkind ängstigte.

Toto beeilte sich, verhedderte sich, fiel hin, weinte nicht. Keiner weinte hier. Sie hatten begriffen, dass die Erwartung von Trost einen schwächer macht, empfänglicher für Bosheit.

Vielleicht war heute der Tag, an dem Kasimir neben ihm laufen würde, und diese Idee versetzte Toto in gute Laune. Über Gebühr schnell sprang er die Treppen hinter Frau Hagen hinab, sie war eine gute Erzieherin. Ein kurz gezischeltes: Wie steigen wir eine Treppe hinab? genügte, das Kind zum gemessenen Schreiten zu veranlassen.

Die Kinder, die noch nicht in Schule oder Vorschule gingen, sollten an diesem Tag mit Frau Hagen einen Naturlehrgang unternehmen, der Kindergarten war geschlossen, es wurde renoviert. Es war kalt. Die Kinder trugen keine Mäntel, denn es war Sommer und Frau Hagen hatte auch zu diesem Thema eine unumstößliche Meinung. Man muss die Jahreszeiten respektieren. Wenn ich meinem Körper die Anweisung gebe, dass er sich sommerlich zu verhalten habe, dann wird er das tun. Menschenkörper sind zu erstaunlichen Leistungen befähigt. Ich las von Indern, die durch den Bauchnabel atmen können. Und ich meine, Inder, das sind Inder, die haben keinen Kontakt zum Sozialismus. Wenn also Inder sich dermaßen anpassen können, dass sie, wenn es zum Beispiel bei einer Flut erforderlich ist, durch den Bauchnabel zu atmen, tatsächlich durch den Bauchnabel atmen, dann können wir das auch. Es ist ja eine Unsitte kapitalistischer Eltern, ihre Kinder zu verziehen. Sie setzen den Kindern Helme auf, wenn diese das Laufen erlernen. Ich meine, wenn ein Kind einen Helm bräuchte, um zu laufen, dann wäre es ja wohl mit einem Helm geboren worden. Wir verhätscheln unsere Kinder nicht, das Leben wird später auch nicht sanft mit ihnen umgehen, nur weil ihre Eltern versagt haben. Wir erziehen unsere Kinder zu widerstandsfähigen Menschen, die ihren Körper beherrschen und nicht auf Witterungen reagieren, erklärte sie immer wieder dem Erziehungspersonal, wenn einer wissen wollte, ob Kinder mit roten Knöchlein im Sinne des Sozialismus seien.

Die Kinder froren. Es war Sommer, der Himmel grau, leichter Niederschlag, und es herrschten um die zehn Grad. Die Kinder bewegten sich langsam, wie in Öl. Toto, wie immer, als letzter der Gruppe, allein, am Ende, und Kasimir direkt vor ihm.

Toto lief gerne, es stellte sich bei ihm nach wenigen Schritten ein leiser Ton im Kopf ein, und er spürte seinen Körper nicht mehr, fast als sei er nicht mehr anwesend. Heute war der Ton nicht gut zu hören, denn Toto konzentrierte sich auf Kasimir, den er hätte berühren können, die Schulterblätter, die sich unter dem engen Baumwollhemd abzeichneten, die spitzen Wirbel. Toto verspürte den Wunsch, Kasimir unter eine warme Decke zu stecken.

Toto zupfte ein Blatt vom Baum, um es in seiner Hand zu falten und dran zu riechen. Irgendein Wohlgefühl bereitete dieser Geruch, und als er gerade nachdenken wollte, ob stinkende Pflanzen überhaupt existieren oder ob der schlechte Geruch Menschen vorbehalten ist, erschreckte ihn Frau Hagens schrille Stimme.

Toto, hast du gerade ein Blatt abgerissen? Toto nickte. Frau Hagen hielt den Schritt an, metergroß stand sie über Toto und schrie: Du hast die Natur bestohlen. Schaut alle her, Kinder, hier steht ein Dieb vor uns, der brutal ein Teil von einem Baum abgerissen hat, einer, der die Natur vernichtet. Wie würde es dir gefallen, wenn ich dir einen Finger abreißen würde? Frau Hagen riss an Totos Hand herum, bis dem die Tränen kamen. Die Kinder der Gruppe hatten einen Kreis um ihn gebildet. Und duschen muss er auch immer alleine, sagte ein dicker Junge, vor dem alle ein wenig Angst hatten. Er zeigte die Anzeichen eines Raufboldes, zwar war er erst sechs, doch wenig später würde er sich zu einer Plage entwickeln. Toto stand mit gesenktem Kopf und war von einem so großen Unglück erfüllt, dass er kaum mehr atmen konnte. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, wurde er sich seiner Lage bewusst: Er war allein. Er wusste nicht, wie es ist, einen Menschen zu haben, er kannte nur einsame Kinder, aber die meisten hatten doch wenigstens einen Freund gefunden, mit dem sie nachts die Angst halbieren konnten. Alleinsein bedeutet, dass man der Welt ohne jeden Schutz gegenübersteht.

Es waren die siebziger Jahre, und im kapitalistischen Teil der Welt versuchten Eltern ihren Kindern Markenartikel auszureden. Sie wollten, dass ihre Kinder Kind sein konnten, in jener erlogenen Reinheit, die Erwachsene sich in einem Kind vorstellten. Viele hätten eine Wiedereinführung der Schuluniform bejubelt, es war die Zeit, da die ersten Psychoanalysepatienten die Praxen verließen und ohne Scheu sagten: Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, meine Individualität zu betonen.