Vielfalt im Fernsehen - Steffen Kolb - E-Book

Vielfalt im Fernsehen E-Book

Steffen Kolb

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Beschreibung

Die Einführung des privaten Rundfunks in Westeuropa war mit hohen ökonomischen Erwartungen und medienpolitischen Zielen verbunden. Neue mediale Akteure und der Wettbewerb mit den traditionellen öffentlich-rechtlichen Anbietern sollten – so die Idealvorstellung – zu einer Vervielfachung des Medienangebots führen und damit die Informationsfreiheit der Bürger vergrößern sowie die demokratische Meinungs- und Willensbildung erleichtern und befördern. Einer der zentralen Begriffe war – zu einer Zeit, die im Mediensektor durch starke ökonomische und redaktionelle Konzentrationsprozesse gekennzeichnet war – der Terminus der 'publizistischen Vielfalt'. Steffen Kolb zieht in seiner Studie eine empirische Bilanz und fragt, inwieweit diese Ziele erreicht wurden. Hierfür stellt er die vorliegenden Daten der kontinuierlichen Fernsehprogrammforschung erstmals ländervergleichend gegenüber und analysiert sie aus einer breit fundierten theoretischen Perspektive neu. Die Arbeit fasst den extrem fragmentierten und umfangreichen Forschungsstand zur publizistischen Vielfalt zusammen und entwickelt auf der Basis großer empirischer Datenbestände einen neuen theoretischen Ansatz mit einem anwendbaren und transparenten Analyseschema.

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Forschungsfeld Kommunikation

Herausgegeben von

Christoph Neuberger, Jörg Matthes und Gabriele Siegert

Seit mehr als zwei Jahrzehnten erscheinen in der Buchreihe »Forschungsfeld Kommunikation« wichtige Monografien der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft. Als thematisch offenes Forum gibt die renommierte Reihe Impulse für die Weiterentwicklung des Faches und Anregungen für die Diskussion zentraler Fragen. Viele der über 30 Bände sind Standardwerke geworden, die nicht nur im engen Kreis der Spezialisten auf reges Interesse gestoßen sind, sondern ein breites Publikum in Wissenschaft und Gesellschaft gefunden haben.

Auch in Zukunft will die Reihe diesem Anspruch gerecht werden: Der gegenwärtige Wandel von Kommunikation, Medien und Öffentlichkeit verändert auch die Kommunikationswissenschaft. Diesen Wandel wird die Reihe mit fundierten Analysen begleiten. Sie ist der Publikationsort für Ergebnisse empirischer Forschungsprojekte und theoretischer Entwürfe, ebenso wie für herausragende Dissertationen und Habilitationsschriften. Mit ihr verbindet sich ein Bekenntnis zur Monografie – jenseits der auf Schnelligkeit des Schreibens und Lesens getrimmten Kurzformen des wissenschaftlichen Publizierens. Sie will Wegmarken setzen, die von Bestand sind.

Die 1992 von Walter Hömberg (Eichstätt), Heinz Pürer (München), Ulrich Saxer (Zürich) und Roger Blum (Bern) begründete Reihe wird seit 2013 von Hannes Haas (Wien), Christoph Neuberger (München) und Gabriele Siegert (Zürich) herausgegeben. Für den 2014 verstorbenen Hannes Haas ist seit 2015 Jörg Matthes (Wien) Mitherausgeber der Reihe.

www.uvk.de/fk

Inhalt

1Historische Einleitung und Problemstellung

1.1Öffentlich-rechtliches bzw. staatliches Monopol

1.2Liberalisierung bzw. Etablierung des Marktes

1.3Problemstellung und Forschungsfrage

1.4Ausdifferenzierung der Forschungsfrage und Vorgehensweise

2Vielfalt: Herleitung und Begriffsbestimmung

2.1Definition der Vielfalt und Abgrenzung von Ausgewogenheit

2.2Typen von Vielfalt

2.3Funktionen der Massenmedien und Vielfalt

2.4Öffentlichkeit, Pluralismus und Vielfalt

2.5Vielfalt aus normativ-analytischer Perspektive

2.6Vielfalt und Qualität

3Vielfalt in der Kommunikations- und Medienwissenschaft

3.1Bereiche der Vielfalt: Genres, Themen, Akteure, Meinungen

3.2Ebenen der Vielfalt: Makro-, Meso- und Mikroanalysen

3.3Angebotsvielfalt und Nutzungsvielfalt

4Vielfalt, Wettbewerb und Medienkonzentration

4.1Konvergenzhypothese

4.2Wettbewerbstheoretische Überlegungen

4.3Medienkonzentration

5Vielfalt und Programmplanung

6Zwischenfazit, Forschungsstand und Forschungsfragen

7Forschungsdesign und -methoden

7.1Internationaler Vergleich

7.1.1Auswahl der Länder

7.1.2Quasi-experimentelle Modellierung

7.2Inhaltsanalyse

7.2.1Stichprobe I: Auswahl der zu analysierenden Programme

7.2.2Stichprobe II: Auswahl innerhalb der ausgewählten Programme

7.2.3Operationalisierung der Vielfalt

7.2.4Qualität der empirischen Studien

7.3Sekundäranalyse

7.4Fernsehnutzungsmessung

7.5Vielfaltsmessung mit Indexwerten

7.5.1Entropiebasierte Indizes

7.5.2Konzentrationsbasierte Indizes

8Ergebnisse

8.1Strukturelle Vielfalt

8.1.1Strukturelle Vielfalt einzelner Programme und Programmgruppen

8.1.2Strukturelle Vielfalt der Fernsehmärkte

8.1.3Strukturelle Vielfalt zu einzelnen Tageszeiten

8.1.4Genutzte strukturelle Vielfalt

8.1.5Zwischenfazit

8.2Thematische Vielfalt

8.2.1Thematische Vielfalt der einzelnen Programme und Programmgruppen

8.2.2Thematische Vielfalt der Fernsehmärkte

8.2.3Thematische Vielfalt zu einzelnen Tageszeiten

8.2.4Genutzte thematische Vielfalt

8.2.5Zwischenfazit

8.3Akteurs- und Meinungsvielfalt

8.3.1Akteurs- und Meinungsvielfalt der einzelnen Programme

8.3.2Akteurs- und Meinungsvielfalt der einzelnen Fernsehmärkte

8.3.3Genutzte Akteurs- und Meinungsvielfalt

8.3.4Zwischenfazit

9Zusammenfassung und Fazit

10  Ausblick auf eine Theorie der Fernsehmarktentwicklung

Literatur

1Historische Einleitung und Problemstellung

Für die europäische Medienentwicklung und besonders die der audiovisuellen Medien war das Ende des zweiten Weltkriegs eine erste historische Zäsur (Humphreys, 1994). Das gilt namentlich für den im Zentrum dieser Studie stehenden deutschsprachigen Raum: Nach 1945 entwickelten sich in Deutschland – je einer in Ost-1 und Westdeutschland (Stuiber, 1998, S. 184-267) – und in Österreich (Steinmaurer, 2002, S. 31-32) neue Staaten mit neuen Mediensystemen; auch in der Schweiz (Egger, 2000, S. 150) entwickelte sich das Fernsehsystem über anfängliche Testausstrahlungen hinaus erst ab den 1950er Jahren (Ehnimb-Bertini, 2000, S. 175-183). In allen drei westlichen Fällen geschah dies zunächst auf Basis eines öffentlich(-rechtlich)en Monopols wie in Europa üblich (Dahlgren, 2000a). Die Schweiz hebt sich hiervon mit der SRG SSR in der Organisationsform eines privatrechtlichen Vereins auf Grundlage des Aktienrechts (Meier W. A., 2009, S. 597-598) ab, wenngleich der österreichische Rundfunk zwischenzeitlich ebenfalls als GmbH im 99-prozentigen Besitz des Staates organisiert war (Steinmaurer, 2002, S. 33). Nach Maßgabe der spezifischen Leistungsaufträge und der im Großen und Ganzen parallel verlaufenden historischen Entwicklungen sind die Programme der SRG SSR als äquivalent zu den öffentlich-rechtlichen Programmen der anderen Länder anzusehen (Troxler, 2010, S. 66), wie in der Folge noch für jedes einzelne Land und spezifiziert für die diversen zeitlichen Etappen verdeutlicht wird. Für eine Vereinfachung der Lesbarkeit aus deutscher Perspektive wird in der Folge für alle nicht kommerziellen Programme öffentlich-rechtlich verwendet.

1.1Öffentlich-rechtliches bzw. staatliches Monopol

Als ein Hauptcharakteristikum der nach der »Stunde null« (Humphreys, 1994, S. 4, Übers. d. Verf.; also nach 1945) des deutschen Rundfunks in den Westsektoren installierten Ordnung ist der Föderalismus zu sehen, der sich im Grundgesetz in Form des dort verankerten Prinzips der Kulturhoheit der Länder und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes mit der Klassifizierung des Rundfunks als Kultur (und nicht als Telekommunikation mit Bundeskompetenz) widerspiegelt. Zusätzlich wurde der Rundfunk von der Staatsebene abgekoppelt, indem die Sender als Anstalten öffentlichen Rechts organisiert wurden (Humphreys, 1994).

Der Grundsatz der Staatsferne des Rundfunks findet sich außer im »alliierten Erbe« (Stuiber, 1998, S. 209) auch in der Idee der Selbstkontrolle durch sog. Rundfunkräte wieder, die mit Vertretern möglichst vieler wichtiger gesellschaftlicher Gruppen des Landes besetzt waren und immer noch sind. Als weiteres Element der Unabhängigkeit stellt sich die Mischfinanzierung der Anstalten über Werbung und Gebühren dar: Nicht der Staat entscheidet jedes Jahr neu über Höhe und Vergabe der Gebührengelder an die Anbieter, sondern letztere haben Planungssicherheit, da die Gebührenanteile auf Vorschlag der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (KEF) und durch Beschluss der Länder festgeschrieben werden und nicht willkürlich – und schon gar nicht vom Bund – Jahr für Jahr geändert werden können (Dreyer, 2009, S. 263).

Die deutschen Rundfunkveranstalter waren somit einerseits in öffentlicher Hand, aber dennoch deutlich vom Staat getrennt. Die jeweilige Bundesregierung hat hier de jure nur geringe Einflussmöglichkeiten. In der historischen Entwicklung des Rundfunksystems haben sich diese im Laufe der Jahre de facto jedoch erweitert (Humphreys, 1994). Für die deutschen Fernsehzuschauer ergab sich bis Ende der 1970er Jahre ein Angebot von drei öffentlich-rechtlichen Sendern, allerdings mit regionalen Unterschieden (Stuiber, 1998, S. 211-230).

Auch in Österreich (Segalla, 2009, S. 109) wurde nach der Besatzungszeit in den 1950er Jahren zunächst de facto – ab 1974 auch de jure – ein öffentlichrechtliches Monopol für den Rundfunk eingeführt. Im Unterschied zu Deutschland wurde der Rundfunk nach (bzw. kurz vor Ende) der Aufteilung des Landes in die vier von den Alliierten besetzten Regionen wieder zentralisiert, der Rundfunk war damit in Österreich also eine Angelegenheit des Bundes (Steinmaurer, 2002, S. 32).

So stellte sich – anders als in Deutschland – bereits zu Beginn der Rundfunkentwicklung ein starker politischer Einfluss als problematisch dar, war das österreichische Fernsehen doch direkt der Bundesregierung unterstellt. Vor dem Hintergrund dieser Besitzverhältnisse und der Proporzbesetzung der wichtigsten Posten (Steinmaurer, 2002, S. 32-33) müsste also bis in die 1970er Jahre hinein streng genommen von Staatsfernsehen in Österreich gesprechen werden. Erst durch die Reformen 1974 wurden regierungsunabhängigere Aufsichtsinstanzen geschaffen, die aber Orte politischer Auseinandersetzungen blieben (Steinmaurer, 2002, S. 34). Wie in Deutschland hatten die Rundfunkgebühren den größten Anteil an der Finanzierung des Fernsehens (Brantner, 1988). Seit den 1960er Jahren waren in den grenzferneren Gebieten Österreichs lediglich die beiden Fernsehprogramme des ORF empfangbar. In die Grenzregionen strahlten die Programme der Nachbarstaaten ein.

Die Schweiz stellt hier – wie gesagt – einen Sonderfall dar: Die Monopolistin SRG SSR ist rechtlich gesehen noch immer ein Verband privater Vereine, der durch die Verpflichtung auf einen »Service public« und die fehlende Gewinnorientierung allerdings eher den öffentlich-rechtlichen Anstalten der Nachbarn ähnelt als rein kommerziellen Rundfunkveranstaltern (Künzler, 2009).

Eine weitere Besonderheit ist die Mehrsprachigkeit der Schweiz, die es nötig macht, (zumindest) drei Fernsehmärkte zu unterscheiden: den deutschsprachigen, den französischsprachigen und den italienischsprachigen (Trebbe, Baeva, Schwotzer, Kolb & Kust, 2008). Im rätoromanischsprachigen Teil der Schweiz hat sich wegen dessen geringer Größe kein eigener Fernsehmarkt etabliert, die deutschsprachigen Sender der SRG (Allemann, Fiechtner & Trebbe, 2010) sowie seit den 1990er Jahren hauptsächlich deutschsprachige Programme kommerzieller Veranstalter (Kolb, Baeva & Schwotzer, 2013) versorgen dieses Gebiet mit speziellen Sendungen.

Am öffentlichen Rundfunkmonopol der SRG SSR wurde bis in die 1990er Jahre festgehalten (Meier W. A., 2009, S. 598). Eine Aufsicht über die SRG-Programme war – wohl auch wegen fehlender rechtlicher Grundlagen – neben der politischen Kontrolle als Selbstregulierung quasi nicht vorhanden, wie Diskussionen um die Publikumseinbindung sowie um Radio- und Fernsehrat in den 1970er Jahren zeigen (Schneider, 2006, S. 93-96). Für die Schweizer Fernsehzuschauer bedeutete dies eine Entwicklung bis in die 1980er Jahre, in der in den drei größeren Sprachregionen eine »Auswahl« zwischen zunächst einem – erst ab 1997 zwischen zwei (Troxler, 2010, S. 70) – Programm(en) in der jeweiligen Sprache und zumindest einem in den jeweils anderen beiden Sprachen (Schneider, 2006, S. 83-84) angeboten wurde.

1.2Liberalisierung bzw. Etablierung des Marktes

Zu Beginn der 1980er Jahre entstand in Deutschland die Diskussion um eine Ausweitung des Programmangebots durch privat-kommerzielle Anbieter auf dem audiovisuellen Medienmarkt verbunden mit der Diskussion um die Kabelpilotprojekte. Letztere bedeuteten eine technische Erweiterung der Empfangsmöglichkeiten, die den Empfang von einer Vielzahl von Programmen erst ermöglichte (Stuiber, 1998).

In der Folge differenzierte sich das Fernsehangebot im Zuge dreier Kommerzialisierungswellen aus (Eick, 2007, S. 12):

1983-1987:

RTLPLUS

(heute

RTL

) und

SAT

.1

1987-1993:

PROSIEBEN

,

VOX

,

KABELKANAL

(heute

KABEL EINS

),

RTL II

und als erste Spartenkanäle

N

-

TV

und das Deutsche Sportfernsehen

DSF

(heute

SPORT

1)

Ab 1995:

SUPERRTL

,

TM

3,

ONYX

etc. (Hickethier, 1998, S. 423-424), die in der Regel keine Vollprogramme sondern Sparten sind (Gonser & Baier, 2010, S. 104)

Die aktuelle Zahl von generell empfangbaren Fernsehprogrammen zu bestimmen, ist wegen der Vielzahl der Übertragungswege schwierig. In Bereichen mit digital terrestrischem Empfang liegt das Programmangebot bei rund 20 Programmen, wovon acht klassische Vollprogramme (ARD DAS ERSTE, ZDF, RTL, VOX, RTL II, SAT.1, PROSIEBEN, KABEL EINS) sind. Bis zu sieben Regionalprogramme der ARD sowie 3SAT, ARTE und PHOENIX runden das Angebot ab – kommerzielle Spartenprogramme werden kaum eingespeist. Je nach Digitalisierung empfangen Kabel- und Satellitenhaushalte – letztere analog nur noch bis 2012 – zwischen 40 und einer quasi unbegrenzten Zahl von (deutschen und internationalen) Sendern. Trotzdem vereinen die acht klassischen Vollprogramme im herkömmlichen Fernsehmarkt2 noch einen Marktanteil von zusammen rund zwei Dritteln auf sich. Darunter sind – wie gesagt – zwei öffentlich-rechtliche und sechs kommerzielle Angebote (Gonser & Baier, 2010, S. 105-108).

In Österreich setzten die Entwicklungen zur Liberalisierung des Rundfunks deutlich später ein, obwohl auch in den 1980er Jahren bereits die Verkabelung und etwas später die Ausstattung der Haushalte mit Satellitenempfang begannen (Steinmaurer, 2002, S. 52). Damit waren zunehmend auch kommerzielle Programme aus Deutschland empfangbar, was ebenso wie in anderen kleinen Staaten (z. B. in Schweden) einen Schub in Richtung Privatisierung auslöste (Dahlgren, 2000b, S. 24f.). Dessen ungeachtet trat das Privatfernsehgesetz erst 2001 nach einer vorangegangenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des ORF-Monopols in Kraft (Segalla, 2009, S. 109-114), obwohl erste, zumeist lokale Kanäle über die Kabelnetze bereits empfangbar waren. Erst 2003 startete die terrestrische Verbreitung des nationalen Privatsenders ATV, 2008 bzw. 2009 kamen PULS 4 und SERVUS TV als zweites und drittes nationales kommerzielles Angebot hinzu (Neumüller, 2010, S. 20-21) – zu einer Zeit also, als in Deutschland die Ausdifferenzierung der kommerziellen Kanäle beinahe abgeschlossen war. Die nationalen öffentlich-rechtlichen Programme ORF 1 und ORF 2 haben zusammen noch rund 36 Prozent Marktanteil. Neun deutsche öffentlich-rechtliche Sender erreichen rund 15 Prozent des österreichischen Fernsehmarkts, elf kommerzielle Programme aus dem großen Nachbarland etwa 30 Prozent. Die eigenen kommerziellen Sender sind mit knapp vier Prozent für ATV, mit knapp drei Prozent für PULS 4 und mit knapp einem Prozent für SERVUS TV deutlich schwächer positioniert, werden aber in der Tendenz stärker (ORF Medienforschung, 2012; ORF Medienforschung, 2011).

Mit der weitreichenden Verkabelung entfiel auch in der Schweiz der analoge Frequenzmangel als Argument für die Monopolisierung des Fernsehens (Meier W. A., 1993, S. 204). Folgerichtig schuf das Radio- und Fernsehgesetz (RTVG; Schweizerische Eidgenossenschaft, 1991) Anfang der 1990er Jahre die rechtliche Grundlage für kommerzielles Fernsehen im Rahmen des Dreiebenenmodells auf lokaler bzw. regionaler, sprachregionaler und internationaler Ebene. Für die sprachregionale Ebene, auf der die SRG-Programme tätig waren, wurde das Monopol trotz Ausnahmeregelung zunächst de facto beibehalten (Künzler, 2009). Eine gewisse Nähe zur Politik ergibt sich in der Schweiz formell dadurch, dass die Aufsichtsbehörde, das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) direkt dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation unterstellt ist, also einem Ministeriumsäquivalent (Müller R. C., 2008, S. 202-205). Insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz kam es um die Jahrtausendwende zu einem »Überlebenskampf« (Meier W. A., 2009, S. 598), der zwischenzeitlich zur Einstellung aller sprachregionalen kommerziellen Aktivitäten im Fernsehbereich führte. Bis heute sind schweizerische kommerzielle Fernsehangebote hauptsächlich auf regionaler bzw. lokaler Ebene zu finden (Kolb & Luzio, 2011).

Eine Besonderheit des Schweizer Systems ist die Beteiligung der kommerziellen Anbieter an den Gebühreneinnahmen: Mit so genannten Splittinggeldern, bis 2008 maximal 1 Prozent danach maximal 4 Prozent der Gebührenmittel, wurden und werden die kommerziellen Anbieter öffentlich subventioniert (Kolb & Luzio, 2011). Die Öffnung des Marktes erfolgte also ähnlich wie in Österreich relativ spät. Die Subventionierung und das Einstellen verschiedener kommerzieller Fernsehprogramme wie TELE 24 oder TV3 belegen eindrücklich, dass sich private Schweizer Anbieter neben der SRG angesichts der starken kommerziellen Konkurrenz aus den benachbarten Ländern nicht nennenswert etablieren konnten. Die erste Welle des Auftretens kommerzieller Sender war in den 1990er Jahren zu verzeichnen, eine zweite kleinere folgte nach Inkrafttreten des neuen RTVG (Schweizerische Eidgenossenschaft, 2006) im Jahre 2007 mit der Konzessionierung von 13 regionalen Programmen mit Leistungsauftrag (Kolb & Luzio, 2011). Die Fernsehhaushalte der Schweiz verfügen – ähnlich wie in Deutschland und Österreich – je nach Digitalisierungsgrad über vier terrestrisch digital empfangbare bzw. mehr als 100 über Satellit, Kabel oder IP-TV zu empfangende Programme.3 Ähnlich wie in Österreich decken aber die sprachregionalen Programme der SRG SSR sowie die acht großen deutschen und die österreichischen Programme mit über 70 Prozent einen großen Teil des herkömmlichen Fernsehmarktes ab (Publica Data AG, 2011a).

1.3Problemstellung und Forschungsfrage

Die hier für drei Länder skizzierten Öffnungen des jeweiligen Fernsehsystems für kommerzielle Anbieter waren medienpolitische Richtungsentscheidungen (Brants & de Bens, 2000; Dahlgren, 2000a; Dahlgren, 2000b; Wieten, Murdock & Dahlgren, 2000). In Deutschland ging die Liberalisierung schnell vonstatten, während die Schweiz und besonders Österreich viel später die Weichen auf kommerziellen Rundfunk, parallel zum öffentlichen, gestellt haben. Hier drängt sich bereits die Frage auf, ob das nur an der Größe des Fernsehmarktes liegt und kleinere Länder in der Regel später kommerzielles Fernsehen zugelassen haben oder ob es andere Kriterien gibt, die eine frühere oder spätere Liberalisierung erklären können.

Um aus dieser ersten offenen Frage die forschungsleitende Fragestellung entwickeln zu können, muss in der Folge genereller und abstrakter argumentiert werden: Die westeuropäischen Staaten setzen in der Tradition der öffentlich-rechtlichen Rundfunkorganisation auf unterschiedliche medienpolitisch erzeugte Rahmenbedingungen, um die Informationsfunktionen der Massenmedien möglichst gut, das heißt in der Regel (auch) vielfältig in Bezug auf Themen, Meinungen usw., zu erfüllen und damit die demokratietheoretisch konstitutive Voraussetzung für Demokratie, die Mündigkeit der Bürger, optimal zu unterstützen (Künzler, 2009).

Gemeinsam ist den resultierenden dualen Systemen, dass nun bestimmte Kräfte nicht mehr durch politische Eingriffe kontrolliert werden können (Rössler, 2008). Das ist ein deutlicher Unterschied zur ursprünglichen politischen Ausgestaltung des Mediensystems und zur laufenden Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung im Medienbereich, die unter medienpolitischer Kontrolle stand. Damit wird letztlich dem Markt bzw. dem Wettbewerb eine Eigendynamik zugesprochen, die sich positiv auswirken soll auf die Informationsfunktion und insbesondere auf die Vielfalt der Angebote. Umgekehrt argumentiert Dahlgren (2000b), wenn er die Liberalisierung des Fernsehmarktes mit einer generellen ideologischen Veränderung der westeuropäischen Gesellschaften verknüpft sieht: mit der Abkehr vom Wohlfahrtsstaat und der Hinwendung zum neoliberalen Kapitalismus. Hierbei wird durch die Ausweitung der Angebote hauptsächlich der Konsum gefördert und die Vielfalt reduziert.

Die Frage nach möglichst großer »Fernsehvielfalt« stellt sich eindringlich gerade in modernen Demokratien, in denen den Massenmedien eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung mit gesellschaftlich relevanten Informationen zugeschrieben wird (Rössler, 2008; Baker, 2007).4 Trotz international unterschiedlicher Nutzung der Printmedien (Hallin & Mancini, 2004) kann das Fernsehen auch für Länder mit relativ hoher Zeitungsnutzung für politische Informationen als das am weitesten reichende Medium bezeichnet werden (Zubayr & Geese, 2009). Eine hervorgehobene Rolle spielen dabei Informationsund darunter besonders Nachrichtensendungen, die von vielen Bürgern hauptsächlich bzw. ausschließlich zur Information über Politik und Gesellschaft genutzt werden.

Überraschenderweise liegen für den westeuropäischen Raum kaum einschlägige systematische Analysen vor, die versuchen, die auf den ersten Blick recht simple Frage zu klären, ob die unterschiedlich aber flächendeckend erfolgte Marktöffnung zu einem gesellschaftlich erwünschten Effekt geführt hat oder nicht. Wadbring (2013) geht sogar noch weiter und merkt an, dass eine Kausalität ausgehend von verschiedensten Aspekten der Kommerzialisierung in vielen Fällen angenommen aber so gut wie nie untersucht wird. Daher wird hier als forschungsleitende Frage Folgendes formuliert (Russi, 2013):

Welchen Einfluss hat die Einführung des kommerziellen Fernsehens bzw. eines Fernsehmarktes auf die Vielfalt des Fernsehens?

1.4Ausdifferenzierung der Forschungsfrage und Vorgehensweise

Um Antworten auf die Forschungsfrage zu finden muss in der Theoriearbeit erstens definiert und operationalisiert werden, was unter Vielfalt zu verstehen ist. An systematischen empirischen Studien zum Fernsehen gibt es im deutschsprachigen Raum insbesondere Auftragsstudien der Sendeanstalten und der Aufsichtsbehörden. Diese haben in der Regel einen ausgeprägt deskriptiven Charakter. Aber auch vergleichende Ansätze, wie die Analyse der größten europäischen Fernsehmärkte von Köster – mit Daten von 2004 – (Köster, 2008) und die Vielfaltsanalysen aus und über Skandinavien (Lund & Berg, 2009) unterziehen sich der Mühe einer theoretischen Herleitung der Vielfalt nur ansatzweise. Die hier vorzulegende Studie muss also im ersten Schritt vorhandene theoretische Ansätze zusammentragen und systematisieren, um sie danach mit den oft wenig theoretisch fundiert erhobenen empirischen Daten zu verknüpfen.

Dazu zeigt Kapitel 2 auf, dass der zentrale Aspekt der Vielfalt einer demokratietheoretischen Debatte entstammt und darüber Eingang in die Mediengesetzgebung gefunden hat. Hier wird eine erste allgemeine Definition von Vielfalt erarbeitet. Eine allgemeine Herleitung und Definition des Begriffs Vielfalt reicht für eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit dem skizzierten Themenfeld der Fernsehmarktentwicklung aber nicht aus. Es stellt sich vielmehr eine ganze Reihe von Anschlussfragen, für welche Facetten des Fernsehprogramms das Vielfaltsgebot gelten oder in welchem Bezugsrahmen Vielfalt herrschen sollte. Für eine intersubjektiv nachvollziehbare Argumentation muss hier eine eindeutige Position bezogen werden, aus der sich eine bestimmte Perspektive auf Vielfalt ergibt, wie anhand einer skizzierten Systematisierung der Qualitätsforschung in Kapitel 2.6 verdeutlicht wird. In diesem Buch wird eine normative Perspektive eingenommen, aus der der gesellschaftlich wünschenswerte Prozess der Entwicklung von Vielfalt im Fernsehen wissenschaftlich betrachtet wird.

Zweitens kann erst nach dieser Perspektivdefinition herausgearbeitet werden, was eigentlich auf welcher Ebene vielfältig sein sollte: Kapitel 3.1 zeigt die besondere gesellschaftliche Bedeutung der Vielfalt von Genres, Themen, Akteuren und Meinungen auf. Die Forschungsfrage kann damit nach den Bereichen der Vielfalt ausdifferenziert werden, indem getrennt nach den potenziellen Einflüssen auf die Genre-, Themen-, Akteurs- und auf die Meinungsvielfalt gefragt wird, da sich die Einflüsse ja durchaus unterscheiden könnten. Es wäre beispielsweise denkbar, dass ein Fernsehmarkt vermehrt Genres hervorbringt (der Anzahl nach), die Meinungsvielfalt aber trotzdem auf der Strecke bleibt.

Die diversen Ebenen der Ausprägungen von Vielfalt spielen bereits in den Definitionsversuchen der Kommunikationswissenschaft eine große Rolle (Kapitel 3.2). Gemeint sind damit aus der Politikwissenschaft entlehnte Unterteilungen in Makro-, Meso- und Mikroebene, auf der sich Vielfalt einstellen kann – oder eben nicht. Während die Makroebene der Vielfalt des gesamten Medien- oder zumindest des Fernsehangebots sich besonders gut aus der normativen Perspektive des gesellschaftlich Wünschenswerten herleiten lässt, ist die Vielfalt auf der Mesoebene einzelner Programme oder Senderfamilien und auf der Mikroebene der einzelnen Sendungen oder sogar einzelner journalistischer Beiträge nicht direkt mit dieser verbunden. Durch die Ausdifferenzierung der abhängigen Variablen Vielfalt werden im zweiten und dritten Kapitel vier (Bereiche) mal drei (Ebenen) gleich zwölf potenzielle Unterfragen begründet, die in der erweiterten Forschungsfrage zusammengefasst werden können:

Welchen Einfluss hat die Einführung des kommerziellen Fernsehens bzw. eines Fernsehmarktes auf die Genre-, die Themen-, die Akteursund die Meinungsvielfalt in einem Fernsehmarkt, innerhalb eines Senders und innerhalb einer Sendung?

Drittens werden im Theorieteil die kommunikationswissenschaftlichen und medienökonomischen Forschungsfelder behandelt, die sich mit Vielfalt beschäftigen. An erster Stelle ist hier die Qualitätsforschung (Kapitel 2.6) zu nennen, bei der Vielfalt und Grad der Ausgewogenheit in der Regel als zentrale Qualitätsaspekte gelten. In der Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung der Vielfalt zeigt sich hier, dass journalistische Qualität besonders auf der Mikroebene (z. B. Meinungsvielfalt innerhalb eines Beitrages, Themenvielfalt innerhalb einer Sendung) und analytisch allenfalls noch auf der Mesoebene (Sender A ist z. B. thematisch vielfältiger als Sender B) relevant ist. Die Erforschung von Medienkonzentration (Kapitel 4) – oder: »Why ownership matters« (Baker, 2007, Untertitel) – befasst sich mit ganzen Programmen oder Programmfamilien bzw. Zusammenschlüssen, also mit der Mesoebene. Das gilt auch für wettbewerbstheoretische Analysen und die Konvergenzhypothese aus den 1990er Jahren. Die Analyse der Einflüsse programmstrategischer Überlegungen und Ausrichtungen – oder im amerikanischen Fachjargon »Scheduling« (Johne & Forster, 2004) – auf Vielfalt (Kapitel 5) kommt ebenfalls nicht über die Mesoebene hinaus. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist aber die Makroebene besonders wichtig, präsentiert sich auf dieser doch das Angebot der Gesellschaft an ihre Mitglieder.

Mit Konzentrationsprozessen und wettbewerbsorientierten Ausrichtungen einzelner Programme wird darüber hinaus die unabhängige Variable ausdifferenziert: Als ökonomische Einflüsse müssen also zumindest Konzentration und Verflechtung (Kolb & Durrer, 2012) sowie programmstrategische Ausrichtungen auf der Basis systematischer Publikumsforschung betrachtet werden, deren Effekte auf allen drei Ebenen und in allen vier Bereichen auftreten können. Die vorliegende Arbeit wird also mindestens 24 Zusammenhänge zu überprüfen haben, wenn sie ihrem Anspruch auf systematische Aufarbeitung des Forschungsfeldes der Vielfalt im Fernsehen gerecht werden will. Die abschließende breit gefasste (und daher in der Formulierung etwas sperrige) Forschungsfrage lautet:

Welchen Einfluss haben die Medienkonzentration, die Verflechtung sowie das Programm-Scheduling auf die Genre-, Themen-, Akteursund Meinungsvielfalt in einem Fernsehmarkt, innerhalb eines Senders und innerhalb einer Sendung?

Auf der Basis dieser theoriegeleiteten kommunikationswissenschaftlichen Operationalisierung von Vielfalt und von Wettbewerb im Fernsehmarkt muss im Schwerpunkt des empirischen Teils dieser Arbeit eine systematische diachron und international vergleichende Auswertung der vorliegenden Daten durchgeführt werden. Nur durch solche Vergleiche können verschiedene rechtliche Rahmenbedingungen, Wettbewerbssituationen und Medienkonzentrationsverhältnisse in Beziehung zueinander gesetzt werden. Das geschieht, indem Messungen in verschiedenen Ländern und/oder für verschiedene Zeiträume bzw. in Korrespondenz gesetzte Zeitpunkte durchgeführt werden. Damit folgt diese Studie der quasi-experimentellen Logik, die für internationale Vergleiche vielfach vorgeschlagen wird (Wirth & Kolb, 2003): Durch den Vergleich zweier ähnlicher Staaten, die sich im Idealfall nur in einer einzelnen unabhängigen Variablen voneinander unterscheiden, kann diese Variable quasi-experimentell kontrolliert analysiert werden. Man kann in einem solchen Fall davon ausgehen, dass die Unterschiede bei der abhängigen Variablen nur durch den Unterschied bei einer der unabhängigen Variablen erklärt werden können. Das Forschungsdesign wird im Kapitel 7 genauer dargestellt. Im Kern der empirischen Arbeit werden Deutschland (1998-2011) und Österreich (2007-2009 mit einem Ausblick auf 2011) mit der Schweiz (2008-2011) verglichen. Für alle drei Länder liegen umfangreiche Daten zur Sekundäranalyse vorliegen.

Aus dieser vergleichenden Anlage der Untersuchungen ergeben sich nun aber weitere potenziell die Ausgestaltung von dualen Systemen beeinflussende Faktoren, da in verschiedenen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten z. B. unterschiedliche rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen bzw. unterschiedliche journalistische Kulturen vorherrschen (können). Der oben skizzierte Vergleich könnte z. B. durch die unterschiedliche Größe der drei nationalen Fernsehmärkte ökologische Fehlschlüsse provozieren. Solche intervenierenden Variablen müssen folglich in jedem Fall kontrolliert bzw. ebenfalls als potenzielle Ursachen für unterschiedlich vielfältige Fernsehangebote in die Analyse einbezogen werden. Um die Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu erhöhen, werden den Daten der drei deutschsprachigen Fernsehmärkte eigene Studien mit deutlich reduzierten Stichproben zu Frankreich (2008), Italien (2008), Großbritannien (2010) und Irland (2010) gegenübergestellt. Insgesamt verfolgt diese Studie fünf Ziele:

Ziel 1:die Integration und systematische Aufarbeitung des theoretischen Hintergrundes des Vielfaltsbegriffs,

Ziel 2:die darauf aufbauende Operationalisierung von Vielfalt,

Ziel 3:die international und zeitlich vergleichende empirische Anwendung dieser Operationalisierung,

Ziel 4:die Erprobung und der Vergleich verschiedener die Vielfalt erfassender Messverfahren,

Ziel 5:das Erarbeiten eines Theorieentwurfs für die Fernsehmarktentwicklung in kleinen und großen Staaten mit öffentlichrechtlicher Tradition.

1In der Folge wird nur das westdeutsche Fernsehsystem analysiert, weil die Entwicklung und Transformation des ostdeutschen Systems eine völlig neue Dimension zum angestrebten Vergleich hinzufügen würde. Die Arbeit hat die Entwicklungen und die erreichte Vielfalt in Angebot und Nutzung des Fernsehens in westlichen Demokratien im Fokus. Dazu ist die Betrachtung Ostdeutschlands, obschon an sich spannend, nicht nötig. Wenn in der Folge von Deutschland vor 1989/1990 die Rede ist, dann ist stets die westdeutsche Bundesrepublik gemeint.

2Die Fernsehnutzung über das Internet, Mediatheken, etc. kann bei diesen Werten bislang nicht berücksichtigt werden. Da das Fernsehen aber immer noch eine Tagesreichweite von nahezu 90 Prozent hat, können diese Werte einen guten Einblick in die Fernsehnutzung der Deutschen geben (Gonser & Baier, 2010, S. 108).

3Insgesamt wird bereits diskutiert, ob die in den letzten Jahren verstärkt einsetzende Digitalisierung der Übertragung noch weiter reichende Auswirkungen haben kann: Der Fernsehbereich ist aktuell eben durch Entwicklungen etwa von IP-TV und Online-Videorekordern gekennzeichnet. Zur Ausdifferenzierung und Erweiterung des Programms kommt so die Option des zeitversetzten Sehens. Die technischen Neuerungen entkoppeln das Fernsehprogramm von der Zeitachse (Ytreberg, 2002). Insbesondere die angebotene Vielfalt sollte sich doch durch das Internet nahezu unermesslich erhöhen (Baker, 2007). Dennoch hat die in der Folge entwickelte Fragestellung Relevanz (Eick, 2007, S. 7, 18-23): Das Fernsehen erreicht noch immer täglich große Teile der Bevölkerung (Baker, 2007). So sind die durchschnittlichen Tagesreichweiten in der Schweiz im ersten Halbjahr 2011 mit rund zwei Dritteln (Publica Data AG, 2011d) und in Deutschland 2009 mit weit über 80 Prozent (zehnvier GmbH, 2010) nur leicht rückläufig, in Österreich steigt sie auf niedrigem Niveau von 2009 auf 2010 sogar leicht auf knapp zwei Drittel an (Statistik Austria, 2011). Für eine tiefer gehende Diskussion der Relevanz und der Auswahl der Sender sei hier auf das Stichproben-kapitel 7.2.1 und die Auswahl im Euromedia Handbuch (Kelly, Mazzoleni, & McQuail, 2004) verwiesen.

4Zerback (2013, S. 80-84) komplettiert die Sicht auf Vielfalt mit einem kurzen Anreißen der Fragmentierungsthese, nach der zu viel Vielfalt zu einer Fragmentierung der Gesellschaft führt, also negative Auswirkungen haben soll. Extrem vielfältige Medienangebote könnten danach ihre Integrationsfunktion nicht mehr erfüllen. Da aber die Zulassung kommerzieller Fernsehanbieter zu mehr Vielfalt führen sollte, kann hier in jedem Fall davon ausgegangen werden, dass bei den untersuchten Fernsehvollprogrammen eher zu wenig als zu viel Vielfalt gegeben war. Darüber hinaus räumt auch Zerback (2013, S. 82) Zweifel an der (empirischen) Brauchbarkeit der These ein.

2Vielfalt: Herleitung und Begriffsbestimmung5

In den Fokus des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses gerückt sind die Fernsehprogramme und Programmstrukturen – oder genauer deren Entwicklung – in Europa seit Mitte der 1980er Jahre (Steemers, 1999). Diese Zeit ist z. B. in Deutschland – wie in den Beispielen in Kapitel 1.2 erläutert – durch das Aufkommen neuer Übertragungswege (Kabel, Satellit) geprägt. Mit dem Wegfall der Knappheit der Übertragungsfrequenzen ging die Zulassung kommerzieller Anbieter einher (Stuiber, 1998), die das Angebot vervielfacht und ausdifferenziert hat (Aslama, Hellman & Sauri, 2004). Einer der Hauptgründe, der Zulassung privatwirtschaftlich organisierter Programmveranstalter auf den Fernseh- und Radiomärkten zuzustimmen, war die erhoffte Steigerung der Vielfalt (Nikoltchev, 2007, S. 8f.), wie z. B. Maier (2002, S. 23ff.) für Deutschland und auch Köster (2008) für andere große Märkte – wie die Frankreichs, Italiens und Spaniens – verdeutlichen. Großbritannien ist diesbezüglich wie Finnland (Österlund-Karinkanta, 2007) ein Sonderfall, da kommerzielle Programmveranstalter bzw. -fenster bereits frühzeitig zugelassen wurden (Köster, 2008).

Die Vergabe zusätzlicher Frequenzen setzte sich aber nicht in allen Ländern durch: In Frankreich haben z. B. auch Mitte der 1990er Jahre die meisten Haushalte noch immer terrestrisch analoges Fernsehen empfangen. Die Programmauswahl war damit auf sechs bis sieben Programme beschränkt, unter denen aber drei kommerzielle Anbieter waren (Meise, 1995). Auch für Spanien gilt diese Einschränkung; noch 2007 ist terrestrisches Fernsehen am meisten verbreitet und daher durch besondere Programmauflagen gekennzeichnet (Pérez Gómez, 2007).

Für kleinere Länder liegen diesbezüglich wenige Erkenntnisse vor, wie die Forderung nach (vergleichender) Erforschung kleiner Märkte von Puppis und Kollegen (2009) aufzeigt. Die Fernsehforschung in Skandinavien belegt allerdings (Lund & Berg, 2009), dass auch hier eine Ausdifferenzierung der Märkte stattgefunden hat. Länder, die einen sprachgleichen oder -ähnlichen direkten Nachbarn haben, scheinen sich jedoch in einer besonderen Situation zu befinden, wie sich am Beispiel des deutschsprachigen Raums demonstriert werden kann: Sowohl Österreich als auch die Schweiz zeichnen sich durch eine späte Öffnung des eigenen Marktes aus, die in der Schweiz sogar dazu geführt hat, dass es bis heute kaum nennenswerte kommerzielle Schweizer Sender über das regionale Fernsehen hinaus gibt (Kolb & Luzio, 2011). Letzteres wird zudem größtenteils öffentlich subventioniert (Kolb & Schwotzer, 2011).

Mehr erhältliche Frequenzen führten hier also nicht unbedingt zu einer schnelleren Verbreitung und Ausweitung (nationaler) kommerzieller Angebote: In der Schweiz waren Anfang der 1990er Jahre trotz schneller und weitreichender Verkabelung nur etwa 10 Programme zu empfangen, und die SRG lancierte zur publizistischen Vielfaltssteigerung ein viertes, sprachübergreifendes Zusatzprogramm S PLUS bzw. ab 1995 SCHWEIZ 4 (Saxer, 1998, S. 210), das jedoch zugunsten der zweiten sprachregionalen Programme 1997 wieder eingestellt wurde. In Österreich waren Mitte der 1990er Jahre bereits rund die Hälfte aller Haushalte durch Kabel oder Satellit mit Fernsehen versorgt (Steinmaurer, 1998, S. 176), im Jahr 2001 waren es über 80 Prozent mit sehr hohem Satellitenanteil und über 20 empfangbaren Programmen (Steinmaurer, 2004, S. 482-483). Die kommerzielle Konkurrenz kam allerdings in beiden Ländern zumeist aus Deutschland, hatte also nur einen beschränkten Einfluss z. B. auf die Vielfalt an journalistischer Berichterstattung über nationale Themen.6 Anhand dieser Beispiele lassen sich verschiedene Herangehensweisen an die wissenschaftliche Betrachtung von Vielfalt identifizieren, die in der Folge genauer behandelt werden sollen.

2.1Definition der Vielfalt und Abgrenzung von Ausgewogenheit

Um der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Vielfalt näher zu kommen, muss zunächst in einer Art Arbeitsdefinition aufgezeigt werden, was im Allgemeinen unter Vielfalt zu verstehen ist (McDonald & Dimmick, 2003). Die besondere Herausforderung besteht darin, dass der Begriff in vielen Disziplinen verwendet wird, wie auch andere Begriffe (z. B. Biodiversität, Diversity Management etc.) zeigen. In einer ersten Dimension des Begriffs wird dennoch einheitlich die Anzahl an (besetzten) Kategorien bzw. die Anzahl diskreter Klassen innerhalb einer Verteilung bezeichnet (Junge, 1994).

Damit wird ein Problem der Operationalisierung bereits angesprochen, das im Methodenkapitel 7.5 erneut thematisiert werden muss: Geht man von Klassifikationen in einer gegebenen Verteilung aus (was aus biologischer Perspektive der Verteilung verschiedener Spezies innerhalb einer Probe durchaus sinnvoll sein kann), so ist klar, dass alle Klassen mindestens einmal vorkommen bzw. besetzt sein müssen. Das bedeutet aber, dass bei (theoretisch) vorgegebener Kategorisierung, wie sie in der Medien- und Kommunikationswissenschaft als Sozialwissenschaft relevanter sein dürfte, durchaus »leere« Kategorien vorkommen können, also beispielsweise Meinungen, die in einem bestimmten Medium nicht publiziert werden. Letztlich wird ja genau das problematisiert, wenn von mangelnder Vielfalt gesprochen wird (Kapitel 3). Für solche Fragestellungen könnte also die (unkritische) Übernahme der Begriffsbestimmung ebenso problematisch sein wie die Verwendung von naturwissenschaftlichen Mess- bzw. Auswertungsmethoden (Kapitel 7.5 und 8). In erster Annäherung könnte also Vielfalt so charakterisiert werden: Je mehr Kategorien vorkommen, desto größer die Vielzahl, d. h. nach Junge (1994) die Vielfalt der sog. ersten Dimension.

Als zweite Dimension identifiziert Junge (1994) den Fall einer gleichen Anzahl in jeder Kategorie oder statistisch: eine möglichst flache Verteilung. Am vielfältigsten ist demnach etwa eine Probe von Mikroorganismen, wenn alle gefundenen Arten von Organismen gleich häufig vorkommen (McDonald & Dimmick, 2003, S. 64). Auf den ersten Blick scheint dies eine plausible Erweiterung der ersten Dimension zu sein. Die Vielfalt der hier vorliegenden zweiten Dimension könnte genauer mit dem Begriff der Ausgewogenheit erfasst werden.

Ist diese in der Biologie untrennbar mit der ersten Dimension verbunden, so muss man in der Kommunikationswissenschaft in einigen Bereichen anders über Vielfalt nachdenken: Würde man in einem fiktionalen Beispiel einem Fernsehsender A mit gleichen Anteilen an Politik-, Wirtschafts-, Kultur-, Human-Interest-, Sport- und Wetterberichten wirklich zuschreiben wollen, dass sein Programm vielfältiger ist als dasjenige eines Senders B, der auf Human-Interest-Berichte verzichtet und wenig Sport und Wetter bringt, dafür aber den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur mehr Aufmerksamkeit widmet? Vermutlich nicht, aber das hängt von der Perspektive des Betrachters ab, wie in der Folge noch zu diskutieren sein wird.

Umgekehrt wäre ein Sender, der alle politischen Meinungen zu einem Thema gleichgewichtig zu Wort kommen lässt, sicherlich als vielfältiger zu bezeichnen als ein Sender, bei dem die Regierung 90 Prozent der Berichterstattungszeit mit ihrer Meinung dominiert. Hiermit deutet sich an, dass die Resultate der Vielfaltsmessung von der Anzahl und der Festlegung der verwendeten Kategorien und/oder von der Genauigkeit der Messung abhängen. Dies wird weiter in Kapitel 7.5 und 8 diskutiert.

McDonald und Dimmick bezeichnen den Begriff Vielfalt zusammenfassend als ein »duales Konzept [Übers. d. Verf.]« (2003, S. 63-66), das die Anzahl Klassen bzw. besetzter Klassen (als erste Dimension) mit dem Grades der Gleichverteilung der Elemente auf die verschiedenen Klassen oder der Ausgewogenheit (als zweite Dimension) verknüpft (Junge, 1994, S. 16).

Im Sinne einer Arbeitsdefinition und für die in dieser Studie verwendeten Begrifflichkeiten sei hiermit vorübergehend vereinbart, beide Dimensionen zunächst getrennt zu betrachten. Die erste Dimension (Anzahl der besetzten Klassen) wird in Relation zur theoretischen Anzahl der Kategorien gesetzt als Vielzahl oder Vielfalt im engeren Sinne bezeichnet. Die zweite Dimension (die des Grades der Gleichverteilung) wird mit dem Begriff der Ausgewogenheit erfasst (Kolb, 2013). Mit dieser Arbeitsdefinition können empirische Studien aber dennoch die Messung der tatsächlich relevanten Vielfalt verfehlen (Baker, 2007, S. 20ff.). Es bedarf weiterer Klärung der Begriffe in ihrer kommunikationswissenschaftlichen Anwendung auf das Fernsehen. Zerback (2013, S. 114-128) geht hier einen ersten Schritt weiter, indem er neben der Gleichverteilung aus normativer Perspektive zwei andere Idealverteilungen annimmt, nämlich die an der Realität gespiegelte Verteilung (»Spiegelungsprinzip«, Zerback, 2013, S. 116), bei der Parteien im Fernsehen z. B. Sendezeit nach den Wähleranteilen bei der letzten Wahl zuerkannt bekämen, und die überdurchschnittliche Berücksichtigung der Minderheiten (»Prinzip der abgestuften Chancengleichheit«, Zerback, 2013, S. 116), die kleinen Parteien im obigen Beispiel etwas mehr und großen etwas weniger Sendezeit zubilligt, als ihnen vom Wähleranteil zustehen würde. Leider sind nicht nur für einen empirischen Vergleich der Meinungsanteile die Herausforderungen hoch; auch die Berichterstattung an sich bräuchte, um solchen Idealen der Vielfalt nacheifern zu können, valide Realitätsindikatoren für die Meinungsverteilungen zu bestimmten Zeitpunkten. Da diese in der Regel nicht vorliegen, bringen diese zwei Idealtypen keinen Gewinn für die Auseinandersetzung mit Vielfalt.

2.2Typen von Vielfalt

Trotz der großen Zahl von medien- und kommunikationswissenschaftlichen Publikationen, die sich mit Vielfalt beschäftigen, hat sich in der englischsprachigen Literatur ein vielzitiertes Werk hervorgetan. In seiner klassischen Kategorisierung, die im Übrigen unter dem Titel Media Performance7 erschienen ist, definiert McQuail (1992) Vielfalt erstens als Zugang zu Medienangeboten für alle gesellschaftlich relevanten Gruppen, zweitens als freie Auswahlmöglichkeiten für die Rezipienten sowie drittens als die facettenreiche Repräsentation der Gesellschaft (Stark, 2008).

Der erste Aspekt kann bei der Untersuchung etablierter dualer Fernsehsysteme, die allesamt in westlichen Demokratien zu finden sind, außer Acht gelassen werden, weil vom allgemeinen und unbeschränkten Zugang zu den Massenmedien ausgegangen werden kann. Um empirischen Studien einen einheitlichen Vielfaltsbegriff zu Grunde legen zu können, ist eine solche Ausblendung weniger relevanter Aspekte der Vielfalt unumgänglich, wie der zitierte Autor selbst zugesteht (McQuail, 2007, S. 29). Für die weitere Analyse spielt dieser erste Aspekt, der als Zugänglichkeit oder Zugangsvielfalt8 bezeichnet werden soll, keine Rolle mehr, da die Nichtexistenz von Zugangsbarrieren für Deutschland, Österreich und die Schweiz vorausgesetzt werden kann: Wer Zugang zum Fernsehen haben will, kann ihn haben.

Die Bedeutung der begrifflichen Trennung von Vielzahl und Ausgewogenheit wird hier erneut deutlich: Alle Massenmedien müssen für die gesamte Gesellschaft zugänglich sein, es darf keine Beschränkungen z. B. im Verkauf von Zeitungen etwa nur an Gebildete oder Reiche geben. Dessen ungeachtet muss die Mediennutzung nicht ausgewogen sein; es müssen also nicht alle dieselben Medien mit demselben Zeitaufwand rezipieren. Wenn also nur Gebildete und Reiche Zeitungen tatsächlich nutzen, ist das eine andere Frage. (Für westliche Demokratien nur fiktiv). Vorstellbar sind hier nur angebotsseitige Zugangsbarrieren, also z. B. Verkaufsverbote.

Der zweite Aspekt spricht ganz allgemein die Angebotsebene an: Eine Vielfältigkeit der Auswahlmöglichkeiten beim Rezipienten dürfte – bei gewährleisteter allgemeiner Zugänglichkeit (erster Aspekt, s.o.) – dann gegeben sein, wenn eine Vielzahl von unterschiedlichen Angeboten vorliegt. Auch an dieser Stelle geht es also nicht darum, dass alle Angebotsarten in gleicher Menge und gleichem Umfang vorkommen. Es geht in der Betrachtung der zwei Dimensionen der Vielfalt erneut um die Vielzahl und nicht um (den Grad der) Ausgewogenheit.

Der dritte Aspekt betrifft direkt die inhaltliche Seite (aber auch die der Macher). Eine vollständige, facettenreiche Repräsentation der Gesellschaft dürfte annähernd erreicht werden, wenn thematisch vielfältig mit verschiedenen, in den Beiträgen handelnden Akteuren berichtet wird. Hier wird über die Dimensionen der Vielfalt noch nicht direkt eine Aussage gemacht. Die Vielzahl (erste Dimension) ist in jedem Fall von Bedeutung. Dass v. a. für Akteure auch der Grad der Ausgewogenheit wichtig ist, wird in der Folge noch deutlich.

Für die weitere Betrachtung der letzten beiden Aspekte, die sich als Angebotsvielfalt bezeichnen lassen, können drei verschiedene Verständnisse oder Typen von Vielfalt unterschieden werden:

Typ 1Das erste Verständnis deckt sich weitgehend mit dem zweiten Definitionsaspekt von McQuail (1992). Hier wird davon ausgegangen, dass durch ein Mehr an sehbaren Kanälen bzw. durch eine erhöhte Zahl von Anbietern auf dem Markt quasi automatisch die Vielfalt gesteigert wird (Prosser, 2007).

Bei »Studien«, die einer solchen Herangehensweise folgen, spielen inhaltliche Kategorien keine oder eine stark untergeordnete Rolle. Betrachtet wird in der Regel nur der gesamte Fernsehmarkt, indem die Marktanteile bzw. Reichweiten der öffentlich-rechtlichen und der kommerziellen Sender verglichen werden, wie Hellman (2001, S. 183-184) kritisiert. Auch in Kombination mit der Analyse der Besitzverhältnisse der einzelnen Programme bzw. bei den Sendeanstalten ist diese Herangehensweise auf der Makroebene9 angesiedelt (Rössler, 2008, S. 476ff.). Sie untersucht also Vielfalt im gesamten Medien- oder zumindest im gesamten Fernsehsystem, indem Anzahl, Reichweiten und Marktanteile von im jeweiligen Markt empfangbaren Programmen bzw. von Medienunternehmen miteinander verglichen werden (ALM, 2010b). Damit wäre ein imaginäres Fernsehsystem mit mehreren Hundert Spartenkanälen, die ausschließlich fiktionale Unterhaltung anbieten, also z. B. amerikanische Serien und Filme zeigen, vielfältiger als eines, das mit zwei öffentlichen und zwei unabhängigen kommerziellen Vollprogrammen auch gesellschaftlich relevante journalistische Berichterstattung anbietet.

Die Aussagekraft einer solchen Analyse muss also sehr beschränkt bleiben, wenn sie nicht mit weiteren inhaltlichen Erhebungen oder zumindest mit den tatsächlichen Nutzungszahlen einzelner Programme und Programmelemente verknüpft wird (Baker, 2007, S. 20ff.). Im Sinne einer (externen) Vielfaltsteigerung durch mehr Angebot von mehr Programmveranstaltern scheint das Vorhaben der Marktöffnung ohnehin geglückt: Die Vielzahl kommerzieller Anbieter ist da und die Angebote werden vom Publikum angenommen, wie oben bereits gezeigt wurde. Ein Einbezug der Ausgewogenheit wäre hier nicht zielführend: Das Fernsehsystem ist sicherlich nicht dann besonders vielfältig, wenn z. B. alle Anbieter gleich viele Kanäle haben oder wenn alle Kanäle gleich stark genutzt werden.

Typ 2Das zweite Verständnis kann als interne Vielfalt begriffen werden. Damit ist – verkürzt – der Abwechslungsreichtum innerhalb des Programms einzelner Sender oder von Sendergruppen (z. B. öffentlich-rechtliche vs. kommerzielle) gemeint (van der Wurff, 2004), wie auch andere Autoren (Brosius & Zubayr, 1996) unter z. T. anderen Bezeichnungen anführen: »diversity« (Aslama, Hellman & Sauri, 2004, S. 121) oder »vertical choice« (Hellman, 2001, S. 184). Auf den Rezipienten bezogen wird damit die Chance bezeichnet, mit unterschiedlichen Inhalten in Kontakt zu kommen, wenn nur ein Programm oder Angebotstyp geschaut wird. Sie wird durch Untersuchungen auf der Mesoebene (Rössler, 2008, S. 481ff.) also zu verschiedenen (informierenden) Programmteilen (Bruns & Marcinkowski, 1997) und durch (»Gesamt«-)Programmanalysen (Krüger, 1992) – auch anhand von Programmzeitschriften (Merten, 1994) – mit in die Diskussion einbezogen.

Aus der großen vergleichenden Studie von Köster (2008) lassen sich folgende Ergebnisse extrahieren: Die öffentlich-rechtlichen Kanäle haben (Daten von 2004) in den großen Fernsehmärkten Europas im Großen und Ganzen ihre Kernkompetenzen in den Bereichen Information, Kultur und Sport (Curran, Iyengar, Lund & Salovaara-Moring, 2009). Das spiegelt sich auch in deren Strategien wider (Bardoel & d´Haenens, 2008). Ausnahmen finden sich z. B. in Italien mit CANALE5 (relativ hoher Informationsanteil) bzw. RAI2 (relativ niedriger Informationsanteil) (Köster, 2008). Bei Ausstrahlung mehrerer Programme in Regie einer Organisation bzw. eines Konzerns werden natürlich Überlegungen angestellt, wie die einzelnen Kanäle gestaltet werden können, damit sie sich nicht untereinander Zuschauer abwerben (Meier H. E., 2003). Solche Strategien entscheiden oftmals zwischen einer Fokussierung auf interne Vielfalt (oder auch Binnenpluralismus) auf der einen Seite, also auf das Angebot eines möglichst breiten Programms – z. B. ARD/ DAS ERSTE und ZDF (Köster, 2008) – und der Konzentration auf externe Vielfalt (s.u.) (oder auch Außenpluralismus) auf der anderen, also auf das Angebot bestimmter sender- bzw. markenspezifischer Programminhalte – wie z. B. bei SF 1 und SF ZWEI (Trebbe, Baeva, Schwotzer, Kolb & Kust, 2008).

Typ 3Das dritte Verständnis kann verbunden mit der Anbieter- oder Kanalvielfalt (Typ 1) und im Gegensatz zum Abwechslungsreichtum innerhalb eines Programms (Typ 2) als externe Vielfalt bezeichnet werden (van der Wurff, 2004). Damit ist also der Abwechslungsreichtum zwischen den Programmen der Sender oder Sendergruppen gemeint (Brosius & Zubayr, 1996), wie andere Autoren (Hillve, Majanen & Rosengren, 1997) mit anderen Bezeichnungen auch klarstellen: »dissimilarity« (Aslama, Hellman & Sauri, 2004, S. 121) oder »horizontal variety« (Hellman, 2001, S. 184). Auf den Rezipienten bezogen wird hiermit die Chance im gesamten Fernsehmarkt (oder zumindest im jeweils betrachteten Ausschnitt) bezeichnet, mit unterschiedlichen Inhalten in Kontakt zu kommen. Vielfalt des dritten Typs wird v. a. durch vergleichende Inhaltsanalysen der Nachrichtensendungen oder der Programmstrukturen auf der Mesoebene (Rössler, 2008, S. 481ff.) untersucht.

Der Forschungsstand ist ernüchternd (Rössler, 2008; Baker, 2007, S. 20ff.): Die zahlreichen Analysen konnten bis jetzt keine eindeutigen Antworten auf die gesellschaftlich brisanten Fragen rund um die Kommerzialisierung von Informationssendungen oder Fernsehprogrammen insgesamt geben (Brosius, 1998). Auch internationale Studien zeichnen kein einheitliches Bild (Köster, 2008). Selbst regional beschränkte Vergleiche können keine eindeutigen Ergebnisse vorweisen (Hellman & Sauri, 1994). Sowohl öffentliche bzw. öffentlich-rechtliche Programme als auch kommerzielle Veranstalter fokussieren sich z. T. auf interne, z. T. auf externe Vielfalt. Die Auswirkungen auf das Gesamtangebot für den Rezipienten sind dabei ebenso wenig in die Tiefe gehend erforscht wie die Ausgestaltung eines – im Sinne des gesellschaftlich Wünschenswerten – optimalen Fernsehsystems: Rössler (2008, S. 467ff.) diskutiert kritisch verschiedene Ansätze optimaler Vielfalt und macht als Gegenpol die Integrationsfunktion von Medien aus. Daraus ergeben sich für die folgende theoretische Fundierung weitere Arbeitsbereiche: Es ist für die Auseinandersetzung mit Vielfalt unerlässlich, sich mit der (gesellschaftlichen) Funktion von Massenmedien auseinanderzusetzen (Kapitel 2.3), wie bereits der Titel des Standardwerks »Media Performance« (McQuail, 1992) zeigt. Die »Performance« oder Medienperformanz (Kolb, 2013) bezeichnet dabei das Erbringen der gesellschaftlich erwünschten Leistungen. Damit verbunden muss also die Bedeutung der Vielfalt für die Gesellschaft tiefer diskutiert werden (Kapitel 2.4), um letztlich die Relevanz der Fragestellung über die pragmatische Frage nach dem Erfolg der Marktöffnung hinaus wissenschaftlich fundieren zu können.

Mit den Bezügen zum Erbringen von Leistungen bzw. zur Erfüllung der Funktionen sowie zu »optimaler« Vielfalt wird ein weiterer Bereich angeschnitten: die Medienqualitätsforschung, die in den gesellschaftlichen Debatten oftmals gemeinsam mit der Öffnung der Märkte diskutiert wurde (Schwarb, 2007). Die diesbezüglichen gesellschaftlichen Debatten folgten oftmals zu stark vereinfachend und normativ dem Credo Unterhaltung ist schlecht, Information ist gut (Syvertsen, 2003), auch bezeichnet als »the ›light‹ and the ›demanding‹« (Ytreberg, 2002, S. 289). Da die kommerziellen Programme z. B. in Deutschland mit (günstigen) Unterhaltungsprogrammen gestartet sind, wurde ihre mangelnde Qualität festgestellt (Kolb, 2000). Dies wurde oftmals ergänzt durch oder übertragen auf den oben erläuterten Forschungsbereich der Vielfalt, die gängigerweise als ein wichtiges Qualitätskriterium gilt (Schatz & Schulz 1992), hier erneut plakativ zusammengefasst: Vielfalt ist gut, keine Vielfalt ist schlecht (Bruns & Marcinkowski, 1996). Die Beziehung von Vielfalt zu Qualität wird daher im Kapitel 2.6 kurz diskutiert.

2.3Funktionen der Massenmedien und Vielfalt

Die Analyse von Funktionen und Leistungen, die Massenkommunikation für die Gesellschaft erbringen soll, geht mindestens bis in die 1940er Jahre zurück (Lasswell, 1948). Da es weit reichende Aufarbeitungen zu diesem Thema gibt (Burkart, 1998, S. 368-400), sollen an dieser Stelle weder die systemtheoretische Grundlage noch die spezifisch funktionalistische Analyse detailliert behandelt werden. Es reicht aus, Funktionen nach Beck (2006) zu verstehen als spezifische Problemlösungsprozeduren. Massenmedien erbringen demnach als Funktion Leistungen für andere soziale Systeme, also für Politik und Wirtschaft aber auch für Wissenschaft oder für Kultur. Mit diesem Verständnis wird deutlich, dass eine gewisse, kategoriale Nähe zur »Media Performance« (McQuail, 1992) besteht. Die Qualität von Medienleistungen kann dann als das mehr oder minder gute Erfüllen solcher Funktionen bezeichnet werden (Schwarb, 2007, S. 81-88). Dies verkörpert die systemtheoretisch fundierte erste Herangehensweise an das Problem journalistischer Qualität nach Arnold (2008).

Entscheidend für eine solche Einstufung guter und schlechter Medienleistungen sind also zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen: Die z. B. von McQuail (1992) formulierten Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Ordnung gelten freilich nur für demokratisch verfasste Gesellschaften (Schwarb, 2007, S. 82), ebenso wie die von Beck (2007) schematisch aufgelisteten Funktionen der Massenmedien. Hier kommt die kapitalistisch marktorientierte Verfasstheit bzw. Struktur der Wirtschaft hinzu, wie die Vielzahl und die Ausgestaltung der ökonomischen Funktionen (z. B. Transparenz, Zirkulation und Reproduktion) zeigen. In der Folge wird noch konsequenter als bei Zerback (2013, S. 73-77) der Bezug der einzelnen Funktionen der Massenmedien zur Vielfalt im Mittelpunkt stehen.

Beck (2007, S. 90-97) hebt zunächst auf die übergeordneten Informations- und Bildungsfunktionen der Massenmedien ab. Durch Selektion von Berichtenswertem aus dem aktuellen Zeitgeschehen und von Tradierenswertem aus dem sozialen und kulturellen Wissensbestand wird zur Erfüllung dieser Funktion eine informierende und bildende Medienrealität konstruiert. Erst mit Hilfe dieser allgemeinen Funktionen lassen sich die untergeordneten ökonomischen, sozialen und politischen Funktionen erfüllen. Während ökonomische Funktionen für diese Arbeit eine weniger ins Gewicht fallende Rolle spielen, werden mit sozialen und politischen Funktionen Leistungen zu Gunsten eines guten Funktionierens der »nicht-ökonomischen« (wenn es diese gibt) Gesellschaft bezeichnet.

Zu den sozialen Funktionen der Massenmedien für die demokratische Gesellschaft gehört zuerst die Sozialisation, die sich nach Beck (2007, S. 92-94) vor allem durch die Kommunikation von Rollenmustern, Werten und Verhaltensweisen in fiktionalen Unterhaltungs- und Reality-Formaten vollzieht. Auch die soziale Integration oder »Identifikation von Individuen und Gruppen mit der Gesellschaft und ihrer Kultur« (Beck, 2007, S. 93) sollten die Massenmedien fördern, indem gemeinsame Gefühle geweckt und gemeinsame Gesprächsthemen geliefert werden. Unter anderem durch gelingende Sozialisation und Integration entsteht soziale Orientierung, die von Beck (2007, S. 94) als Problemlösungskompetenz im Alltag beschrieben wird. Integration und soziale Orientierung werden dabei vermutlich am ehesten durch publizistische Inhalte erreicht, wenngleich Beck (2007) das nicht ausführt. Zuletzt benennt der Autor die Rekreation als gesellschaftliches Phänomen der Entspannung und des Abschaltens vom Alltag zur »Wiederherstellung der Kräfte« (2007, S. 94), die wiederum eher durch fiktionale und nonfiktionale, unterhaltende Medienangebote oder auch durch Sportsendungen erreicht werden dürfte. Zusammengenommen schaffe dies gesellschaftlichen »Zusammenhalt und ein friedliches Miteinander« (Beck, 2007, S. 94).

Diese allgemeine Betrachtung legt nahe, dass die Massenmedien zunächst strukturell, also in Genres und Formaten der Programme, vielfältig sein sollten: Ein Mediensystem mit durchgängig sachlichem Bildungsprogramm kann einige der genannten Funktionen ebenso wenig erfüllen wie ein rein auf Unterhaltung ausgerichtetes Angebot. Es werden also fiktionale und nonfiktionale Unterhaltungsprogramme sowie journalistische Berichterstattung über Aktuelles und Relevantes benötigt. Die journalistische Berichterstattung ist dabei insbesondere als Grundlage für die politischen Funktionen der Massenmedien anzusehen. In Kapitel 3.1 wird dies als der erste der inhaltlichen Bereiche der Vielfalt genauer diskutiert, um klarzustellen, was eigentlich vielfältig sein soll.

Im Hinblick auf die Politik sollen die Massenmedien ebenfalls spezifische Funktionen erfüllen: Das Herstellen von Transparenz und Öffentlichkeit für politische Themen ist zusammen mit der Politikvermittlung die erste zu erbringende Leistung. Ohne das Wissen um politische Probleme kann es genauso wenig ein gut funktionierendes demokratisches Miteinander geben wie ohne Kenntnis der Funktionsweisen der Politik. Als Ziel kann hier das Erreichen einer »kollektiven Willensbildung« (Beck, 2007, S. 95) gesehen werden, die als Grundlage für die jeweils anstehenden politischen Entscheidungen und Handlungen dienen soll. Auch Kontrolle und Kritik der Politik(er) bzw. von Legislative, Exekutive und Judikative gehören zu den politischen Funktionen der Massenmedien (Beck, 2007, S. 94-95). Hier spricht Beck neben der Freiheit (McQuail, 1992) zum ersten Mal implizit die Vielfalt an, indem er auf die Bedeutung verschiedener Meinungen hinweist, die in der Artikulations- oder Forumsfunktion expliziert wird: Ohne Kenntnis der oder gar aller einzelnen (relevanten) Meinungen zu den politischen Themen ist keine vollkommen rationale Entscheidung auf Ebene des Individuums bzw. kein breiter rationaler Konsens möglich (Beck, 2007, S. 94-95). Zwei weitere wichtige inhaltliche Bereiche, was vielfältig sein soll, sind also mit den gesellschaftlich relevanten Meinungen und deren Trägern gefunden, wie in Kapitel 3.1 genauer auszuführen sein wird.

Mit solchen Zusammenhängen beschäftigt sich vornehmlich die Politikwissenschaft, so dass im folgenden Kapitel auf die dortigen Ansätze eingegangen werden muss. Es ist klar, dass die politischen Funktionen der Massenmedien weniger durch fiktionale Formate oder Reality-TV erfüllt werden können. Die Erfüllung politischer Funktionen kann nur durch journalistische Selektion und fundierte Bearbeitung von Themen erfolgen: »Indem Journalismus auf die aktuellen Orientierungsprobleme der Akteure in der komplexen Gesellschaft eingeht, nimmt er eine gesellschaftliche Funktion wahr, die darin besteht, aktuelle Themen aus den diversen Teilsystemen der Gesellschaft zu sammeln, auszuwählen, zu bearbeiten und dann diesen Systemen als Medienangebote zur Verfügung zu stellen, um so eine möglichst anschlussfähige Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu ermöglichen.« (Arnold, 2008, S. 493). Als erstes Qualitätskriterium identifiziert Arnold bei dieser Herangehensweise dann auch die Vielfalt von Themen, Argumenten und Akteuren. Für die journalistische Qualitätsbestimmung spielt daneben noch die Vielfalt der Quellen eine besondere Rolle (Arnold, 2008, S. 494). Für die weitere Auseinandersetzung sind also drei Bereiche von Vielfalt angesprochen: die Themen, (erneut) die Akteure und die Quellen (Kapitel 3.1).

2.4Öffentlichkeit, Pluralismus und Vielfalt

Eine bedeutende Lesart der Frage, wie die Gesellschaft Selbstbeobachtung betreibt oder betreiben sollte, ist dabei sicherlich in der von Habermas (1962) in seiner Habilitationsschrift entwickelten und seitdem mehrmals modifizierten Theorie der Öffentlichkeit zu sehen. Diese kann und muss hier nicht in ihrer gesamten Tragweite diskutiert werden; es soll lediglich über den wenig komplexen Kern seiner Gedankengänge die Möglichkeit des Anschlusses an die vorigen Überlegungen aufgezeigt werden. Ausgangspunkt einer vereinfachten Darstellung der Öffentlichkeit ist die Vorstellung des griechischen Theaters bzw. des römischen Amphitheaters, das aus den drei wichtigen Bereichen Sprecher, Publikum und Arena besteht. Die Arena fungiert als Schauplatz für alle wichtigen Ereignisse in diesem Theater als das »offene Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen« (Neidhardt, 1994). Publikum und Sprecher sollten also nicht oder zumindest nicht räumlich voneinander getrennt sein.

Dies kann als eine Weiterentwicklung und Aktualisierung der Ausgangsüberlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Medien verstanden werden (Beierwaltes, 2002): Öffentlichkeit entstand in der Antike unmittelbar auf der Agora, also durch Volksversammlung in der Regel auf dem Marktplatz. Die Teilnahme war beschränkt durch die Mündigkeit bzw. das Alter, das Geschlecht, die Herkunft und die eingetragenen bzw. (z. B. Sklaven) verweigerten Bürgerrechte (Neumann, 1998). Diese Konstellation überwindet, vom Gleichheitsgrundsatz hergeleitet, die Herrschaft von wenigen oder einzelnen: Alle Bürger waren aufgefordert, »gleichberechtigt […] am öffentlichen Leben – in der Vollversammlung, im Rat und in den Geschworenengerichten – teilzunehmen« (Neumann, 1998, S. 17). Die formell gleichen Möglichkeiten, politische Ziele zu verfolgen und auch zu erreichen, wurden neben der eingeführten Vergütung der Teilnahme an Versammlungen besonders durch die Redefreiheit und das gleiche Recht zu reden hergestellt (Bleicken, 1995). Diese formaliter gleichen Voraussetzungen führten jedoch schon in der Antike nicht zur Herrschaft aller und auch nicht zur Thematisierung durch alle: Unterschiede in punkto Eloquenz und Redebereitschaft schränkten den Kreis der aktiven Teilnehmer am Diskurs zusätzlich ein (Neumann, 1998).

Öffentlichkeit an sich bzw. das Herstellen derselben ist aber nun nicht das alleinige Ziel, sondern ist zunächst funktional für eine demokratische Gesellschaft: Neidhardt (2005) sieht die primäre Funktion politischer Öffentlichkeit darin, dass »durch die Wahrnehmung von Problemen, Problemlösungsansprüchen und darauf bezogenen Entscheidungen Transparenz« (Neidhardt, 2005, S. 23) erzeugt wird. Diese Transparenz- oder Beobachtungsfunktion soll »das wahrnehmbar […] machen, wovon man sonst nichts wissen kann« (Neidhardt, 2005, S. 24). Die Unterteilung in Sprecher, also professionelle Kommunikatoren aus Politik und Gesellschaft, aber auch als Vertreter der Bevölkerung, und Publikum macht hier wieder Sinn, wie eine kurze Darstellung der antiken Demokratie zeigt. Das Publikum »beobachtet [dabei] die Beobachtungen der anderen [sic!]« (Neidhardt, 2005, S. 23). Damit kann das Spiegelmodell der Öffentlichkeit beschrieben werden, bei dem allein durch Publizität die eigentliche gesellschaftliche Leistung erbracht bzw. Funktion erfüllt wird (Luhmann, 1990). Diese gesellschaftliche Funktion erinnert stark an die oben zitierte politische Funktion des Journalismus: Sammeln, Auswählen, Bearbeiten und Publizieren (Arnold, 2008).

Erst durch die diskursive Behandlung der Themen, bei der »Öffentlichkeitsakteure […] ihre eigenen Themen und Meinungen unter dem Druck der Argumente anderer gegebenenfalls revidieren« (Neidhardt, 1994, S. 8), kann diese Beobachtung der Beobachtung konstitutiv werden für die eigene Meinungsbildung und für die Willensbildung in der Gesellschaft. Diese Validierungsfunktion der Öffentlichkeit ist eng verbunden mit der Orientierungsfunktion: Diskursiv erzeugt Öffentlichkeit, nämlich sog. öffentliche Meinung, die vom Publikum als einleuchtend wahrgenommen wird und daher rational verarbeitet und akzeptiert werden kann (Neidhardt, 1994, S. 8-9). Hier scheint die ideale Sprechsituation des herrschaftsfreien Diskurses und somit die normative Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas (1981) durch. Dieses weiter reichende Öffentlichkeitsmodell wird auch als »Diskursmodell« bezeichnet (Neidhardt, 1994, S. 38).

Ob man nun die Meinungs- und Willensbildung als Teil des Öffentlichkeitsprozesses ansieht oder nur die Transparenzherstellung, spielt für diese Arbeit keine wesentliche Rolle; die Debatten um den theoretischen und den empirischen Wert der beiden Öffentlichkeitsmodelle müssen hier nicht detailliert geführt werden. Entscheidend ist, dass die Transparenzfunktion nur dann gut erfüllt werden kann, wenn eine Pluralität der Redenden und dadurch auch der Themen erreicht werden kann (Neidhardt, 2010). Hier schließt sich der Kreis: Öffentlichkeit benötigt zur Erfüllung der an sie gestellten Mindestanforderung von Transparenz also Vielfalt (Doyle, 2006, S. 16), eine Vielfalt der Themen sowie der Akteure und Meinungen (Kapitel 3.1).