Vielfalt von Anfang an - Timm Albers - E-Book

Vielfalt von Anfang an E-Book

Timm Albers

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Beschreibung

Das Buch gibt eine prägnante und praxisorientierte Einführung zum hochaktuellen Thema der »Inklusion« in Krippe und Kita. Ergänzend zu den Grundlagen beleuchten Fachartikel namhafter Autorinnen und Autoren einzelne Aspekte der Inklusion. Beispiele aus der Kita-Praxis verschaffen Einblick in die gelebte Pädagogik der Vielfalt.

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Seitenzahl: 318

Veröffentlichungsjahr: 2015

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»Im Dialog«

Vielfalt von Anfang an

Timm Albers | Stefan Bree | Edita Jung | Simone Seitz

Vielfalt von Anfang an

Inklusion in Krippe und Kita

Impressum

Titel der Originalausgabe: Vielfalt von Anfang an

Inklusion in Krippe und Kita

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012, 2014

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Weiß-Freiburg GmbH – Graphik und Buchgestaltung

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagfoto: © Harald Neumann, Freiburg

Fotos im Innenteil: Karsten Herrmann

E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

ISBN (E-Book): 978-3-451-80495-3

ISBN (Buch): 978-3-451-32540-3

Inhalt

Vorwort

Karsten Herrmann | Maria Thünemann-Albers

I Zentrale Aspekte einer inklusiven Pädagogik

Inklusion in Kindertageseinrichtungen – eigentlich ganz normal …

Simone Seitz | Nina-Kathrin Finnern

Inklusion als Beitrag zur Chancengerechtigkeit – Diversity und Verschiedenheit in der Elementarpädagogikt

Wiebke Warnecke

Inklusion und ethnisch-kulturelle Vielfalt

Petra Wagner

Kinder mit Behinderungen in Krippe und Kita – von der Integration zur Inklusion

Timm Albers

»Man muss satt sein, bevor man lernen kann« – Überlegungen zum Umgang mit sozialen Benachteiligungen

Birgit Behrensen

Mädchen und Jungen in Krippe und Kita – Inklusive Denk- und Handlungsmodelle

Maria Eleonora Karsten

II Pädagogische, strukturelle und bildungspolitische Perspektiven der Inklusion

Inklusion und Resilienz – Konzeptionelle Gemeinsamkeiten und Konsequenzen für professionelles Handeln

Klaus Fröhlich-Gildhoff

Inklusion als kreativer Dialog mit Menschen und Dingen – auf dem Weg zu einer inklusiven Didaktik

Stephan Bree

Inklusion und Qualität in Kindertageseinrichtungen – ein dialogischer Entwicklungsprozess

Ulrich Heimlich

Bildungspläne für Kindertageseinrichtungen – eine Annäherung an die inklusive Frühpädagogik?

Edita Jung

Inklusion von Kindern mit besonderen Bedarfen – durch Interdisziplinarität und Vernetzung

Andrea Caby

Pädagogik – Therapie: WAS ist WAS aus der Perspektive des Kindes?

Jürgen Kühl

Anschlussfähigkeit durch Inklusion? – Gemeinsames Lernen im Elementar- und Primarbereich

Anke König

Bildung konsequent inklusiv – Wir sind dabei!

Norbert Hocke

III Wie Inklusion in der Praxis umgesetzt und gelebt wird

Vielfalt als Chance – Teilhabe in der Kita

Heike Bornhorst

Inklusion durch Partizipation – zur vielfältigen Mitwirkung unserer Kinder

Angelika Oest

Irgendwo zwischen Inklusion und Exklusion – Aspekte zur vorschulischen Bildung tauber und schwerhöriger Kinder

Bengt Förster

Inklusive Genderpädagogik in einer Elterninitiative

Thekla Bergen

Inklusion durch sprachliche Bildung und Elternbildung – am Beispiel des Programmes Griffbereit

Livia Daveri | Miriam Weilbrenner

Eine Kita macht sich auf den Weg zur Inklusion – eine Einzelintegration für Jakob

Erika Schußmann | Hans Peter Schmidtke

Kreativer Tanz für Kinder mit und ohne Behinderung – auf gleichberechtigter Ebene treffen

Tamara McCall

Inklusion aus der Sicht der Eltern – der lange Weg zur gemeinsamen Erziehung

Stefanie Lüpke | Heide Tremel

Inklusion mit Namen Olga – ein Integrations-Arbeitsplatz entsteht

Susanne Waller

Verzeichnis der AutorInnen

»Eine humane Bildungspraxis selektiert nicht.

Sie geht von der Gleichwürdigkeit aller Menschen aus und

nimmt auf die Vielfalt von individuellen Lebensformen, Interessen,

Begabungen und kulturellen Prägungen Rücksicht.«

Julian Nida-Rümelin

Vorwort

»Ohne Angst verschieden sein können«

Theodor W. Adorno

Vielfalt als Chance und Ressource

Der Grundgedanke der Inklusion – also die Einbeziehung und Teilhabe aller Kinder – geht auf eine lange pädagogische Traditionslinie zurück. Sie reicht von Pestalozzi und Montessori bis zu Annedore Prengel und der von ihr geprägten »Pädagogik der Vielfalt«. Der Begriff der Inklusion setzte sich dann in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts durch, bezog sich hier aber noch weitgehend auf den schulischen Kontext. Die Umsetzung der Inklusion auf allen gesellschaftlichen Ebenen wurde schließlich im Rahmen der UNESCO-Weltministerkonferenz im Jahr 2006 als Auftrag an alle Mitgliedstaaten formuliert. Auch Deutschland und damit die Länder und Kommunen haben sich verpflichtet, im Sinne einer inklusiven Chancengerechtigkeit die Würde des Kindes und seine Subjektstellung in das Zentrum ihrer Politik zu stellen.

Die Deutsche UNESCO-Kommission veröffentlichte 2009 die von allen Bundesländern unterzeichneten Leitlinien für die Bundesrepublik. Der erste Satz bringt Programm und Ziel auf den Punkt: »Inklusive Bildung bedeutet, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen.«

Als Meilenstein für die Umsetzung dieser Zielsetzung wurde der von ExpertInnen aus Theorie und Praxis am »Centre for Studies on Inclusive Education« in Großbritannien entwickelte »Index für Inklusion« auch in Deutschland eingeführt. Eingebettet in eine humanistische Wertehaltung verbindet der Index grundlegende konzeptionelle Ausführungen mit detaillierten praxisbezogenen Anregungen zur Umsetzung in Kitas und Schulen. Inzwischen ist so im Praxisfeld heutiger Elementar- und Kindheitspädagogik auch eine Vielfalt einzelner »Blütenblätter« der inklusiven Arbeit entstanden.

Das vorliegende Buch hat seinen Ausgangspunkt in einer im Oktober 2010 gemeinsam mit der Hochschule Emden-Leer durchgeführten Tagung des nifbe unter dem Motto »Unterschied macht schlau – Gemeinsamkeit macht stark«. Im Dialog zwischen Forschung, Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Praxis wurde hier eine Standortbestimmung vorgenommen und der Blick in die Zukunft gerichtet. Zweierlei wurde dabei deutlich: Der erste Schritt im Inklusionsprozess ist gemacht, aber der Weg zu einer tatsächlich inklusiven Gesellschaft ist noch lang. Alle Beteiligten – von der Politik und Administration über die Forschung, Aus- und Weiterbildung bis hin zur Praxis – müssen dabei an einem Strang ziehen und den notwendigen Professionalisierungsprozess Hand in Hand gestalten. Neben verbesserten strukturellen Rahmenbedingungen ist hier insbesondere auch ein grundsätzliches Umdenken aller Beteiligten notwendig: Es gilt, eine Haltung zu entwickeln und zu verinnerlichen, die Vielfalt tatsächlich als Chance und als Ressource im Prozess der kindlichen Entwicklung und Bildung versteht!

Mit unserem Buch knüpfen wir an die Erkenntnisse unserer Tagung an und beleuchten die verschiedenen Facetten und Ebenen der Inklusion im Wechselspiel von Theorie und Praxis. Durch die verschiedenen Blickwinkel und die Berücksichtigung unterschiedlicher Fachdisziplinen möchte es sowohl den theoretische Rahmen als auch die praktischen Implikationen und Umsetzungsszenarien der Inklusion für PraktikerInnen, Auszubildende und StudentInnen sowie MultiplikatorInnen aus dem Bereich der frühkindlichen Bildung und Entwicklung erschließen.

Unterschied macht schlau– Gemeinsamkeit macht stark

Nach einer grundlegenden Einführung in das Thema der Inklusion werden im ersten Teil dieses Buches zentrale Inhalte einer inklusiven Pädagogik und ihre Schnittstellen zu anderen aktuellen Diskursen wie »Diversity« dargestellt. Die inklusive Pädagogik wird dabei als eine zentrale Dimension der Elementarpädagogik kenntlich, die weit über die Integration von Kindern mit Behinderungen oder mit Migrationshintergrund hinausgeht.

Im zweiten Teil des Buches werden verschiedene pädagogische und strukturelle Aspekte der Inklusion vertiefend und praxisorientiert beleuchtet – von der Resilienz über die Frage der Qualität und die Sicht der Eltern bis hin zu bildungs- und berufspolitischen Voraussetzungen für eine gelingende Umsetzung. Am Beispiel der Ästhetischen Bildung werden in diesem Abschnitt darüber hinaus auch zentrale Ansätze für eine inklusive Didaktik sichtbar.

Im dritten Teil zeigen PraktikerInnen, wie die Inklusion in Krippen und Kitas tatsächlich umgesetzt und gelebt werden kann. Die Sieger-Kitas des landesweiten nifbe-Wettbewerbs zum Thema »Vielfalt als Chance« stellen so beispielsweise ihr Konzepte der gelebten Vielfalt und der »Inklusion durch Partizipation« vor. Zwei weitere Kita führen auf mitreißende Weise den Prozess der Inklusion eines Kindes bzw. einer Mitarbeiterin mit Behinderung vor Augen. An diesen und weiteren »Best Practice«-Beispielen wird deutlich, welche Chancen und Mehrwerte sich trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten auf dem Weg zur Inklusion eröffnen – sowohl für das einzelne Kind, als auch für die Gruppe und die ganze Gemeinschaft.

Wir wünschen Ihnen mit diesem Buch viele neue Erkenntnisse und Anregungen zu unserem gemeinsamen Ziel einer inklusiven Bildung von Anfang an. Wir hoffen, dass es Ihnen Mut macht, Ihren eingeschlagenen Weg zur Inklusion weiterzugehen oder diesen auch ganz neu zu betreten – denn auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt!

Für den Herausgeber:

Karsten Herrmann

Maria Thünemann-Albers

Teil I 

Zentrale Aspekte einer inklusiven Pädagogik

Inklusion in Kindertageseinrichtungen – eigentlich ganz normal …

Simone Seitz | Nina-Kathrin Finnern

INKLUSION IST EIGENTLICH ganz normal – das können wir am einfachsten von Kindern in Kindertagesstätten lernen. Denn für sie ist die Vielfalt, der sie dort begegnen, der Normalfall. In allen Krippen und Kitas haben Kinder Kontakte mit einer Vielzahl von Jungen und Mädchen verschiedenen Alters und aus soziokulturell unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Sie erfahren, dass Kinder unterschiedliche und veränderliche Befähigungen, Lebensbedingungen und Entwicklungswege haben können. Besuchen Kinder eine inklusive Einrichtung, so ist die dort erlebte Verschiedenheit unter den Kindern für sie selbstverständlich. Geht die Einrichtung reflektiert mit Vielfalt um, erhalten Kinder gutes Rüstzeug, um auch im Erwachsenenalter in einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft bestehen und verantwortlich handeln zu können.

Wenn jungen Kindern ein anderes Kind auffällt, dann suchen sie aus ihrem Erfahrungshorizont heraus nach Erklärungen. So sagt Cem über seinen Freund Joel: »Der muss noch lernen.« Denn: »Der ist noch klein, der ist erst drei Jahre.« Daran erinnert, dass Joel vier Jahre alt ist, erklärt er: »Ach, das habe ich vergessen …, der muss trotzdem noch lernen.«1 Für junge Kinder sind Unterschiede im Lernen und der Entwicklung ganz normal, wenn wir sie Erfahrungen hiermit machen lassen. Das Recht auf gemeinsames Spielen und Lernen mit anderen Kindern würden sie von sich aus wohl nicht infrage stellen. Und doch ist gerade dieses Recht in Deutschland erst seit kurzer Zeit als Menschenrecht für alle Kinder anerkannt worden.

Inklusion als Menschenrecht

Das Recht auf Bildung ist bereits seit 1948 anerkanntes Menschenrecht (vgl. United Nations 1948). Doch wurde es aktuell in der UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert, um die Pflicht zur Umsetzung für alle Menschen verbindlich zu verankern (vgl. United Nations 2006). Das Recht auf Bildung ist in der Konvention direkt mit dem Recht auf Partizipation verbunden. Dies ist für die Gestaltung inklusiver (Früh-)Pädagogik zentral, denn es macht deutlich, dass Bildung auf soziale Eingebundenheit angewiesen ist und in Sonderinstitutionen nicht angemessen umgesetzt werden kann. Der Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention schreibt daher die staatliche Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Erziehungs- und Bildungssystems auf allen Ebenen fest und ist somit verbindlicher Handlungsrahmen auch für Kindertagesstätten geworden. Es ist nun staatliche Aufgabe, geeignete strukturelle Bedingungen zur Umsetzung des Rechts auf Erziehung und Bildung für alle Kinder in einem inklusiven frühpädagogischen Erziehungs- und Bildungsangebot zu schaffen.

Die Ablehnung eines Kindes durch eine Kindertagesstätte mit der Begründung einer »Behinderung« stellt eine Diskriminierung und damit einen direkten Verstoß gegen die Konvention dar (Artikel 24). In den Einrichtungen sind daher entsprechende Rahmenbedingungen notwendig, um die Konvention im Konkreten wirksam und umsetzbar zu machen. Wenn eine spezifische individuelle Unterstützung für einzelne Kinder notwendig ist (z.B. zusätzliches, spezifisch ausgebildetes Personal), so ist dies der Konvention gemäß in den Kindertagesstätten sicherzustellen und darf nicht an den Besuch eines Sonderkindergartens gebunden werden.

Die Idee inklusiver Erziehung und Bildung ist nicht neu. Die Entwicklungen integrativer bzw. inklusiver Strukturen begannen in Deutschland bereits vor mittlerweile vier Jahrzehnten. Eltern erstritten damals für ihre Kinder das Recht auf gemeinsame Erziehung im Kindergarten. Wissenschaftliche Begleitforschungen und Theoriebildungen integrativer bzw. inklusiver Pädagogik nahmen im Elementarbereich ihren Anfang und wurden späterhin auf die Schule übertragen (vgl. im Überblick Kron 2006; Seitz 2009). Kindertagesstätten können damit heute gleichermaßen auf umfassende Praxiserfahrungen sowie abgesicherte Forschungsergebnisse zurückgreifen, wenn sie sich zu einer inklusiven Einrichtung weiterentwickeln wollen. Die frühen Forschungsarbeiten in diesem Praxisfeld erarbeiteten grundlegende Erkenntnisse zur – in der damaligen Lesart ausgedrückt – gemeinsamen Erziehung von »behinderten« und »nichtbehinderten« Kindern. In diesen Arbeiten konnte zunächst gezeigt werden, dass integrative Erziehung erfolgreich funktioniert und vor allem wichtige Impulse zum sozialen Lernen der Kinder bieten kann (vgl. zusammenfassend Kaplan et al. 1993). Späterhin galt es übergreifender nach dem Umgang mit Heterogenität zu fragen. Denn gesellschaftliche und soziale Entwicklungen hatten den pädagogischen Umgang mit der Heterogenität von Lebensformen und Lebenslagen insgesamt in den Fokus rücken lassen. In Überwindung der binären Unterscheidung »behindert – nichtbehindert« nahm auch die inklusive (Früh-)Pädagogik die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse auf, und die Forschung bearbeitete die hiermit verbundenen Fragen. Zuschreibungen von Kulturalität, Geschlechterzugehörigkeit, Befähigung und Beeinträchtigung sowie hieran anknüpfende Bewertungen wurden dabei als Ausdruck von zeitgebundenen und kulturell geprägten Diskursen und Meinungsbildungsprozessen deutlich gemacht und kritisch reflektiert. In der hier ansetzenden Grundlegung einer Pädagogik der Vielfalt wurde auch die enge Verknüpfung von inklusiver und demokratischer Erziehung und Bildung theoretisch und konzeptionell genauer ausgearbeitet (vgl. Prengel 1993).

Im Zuge des quantitativen Ausbaus integrativer Erziehung und Bildung im Elementarbereich zeigten sich neben der erfolgreichen Konzeptentwicklung (vgl. u.a. Fritzsche/​Schastok 2002) auch problematische Auswirkungen der inkonsequenten Umsetzung integrativer Strukturen. Denn so lange integrative Kindertagesstätten lediglich ein »Alternativprogramm« zu Sonderkindergärten darstellten, führte dies dazu, dass entwicklungsgefährdete Kinder durchsetzungsfähiger und engagierter Eltern auffallend häufig integrative Einrichtungen besuchten, während vergleichbare Kinder aus Familien mit weniger Ressourcen tendenziell häufiger eine Sondereinrichtung besuchten und zudem erst in vergleichsweise höherem Alter aufgenommen wurden (vgl. Riedel 2008). Solche Effekte »institutioneller Diskriminierung«. (vgl. Gomolla 2006) sind auch gegenwärtig noch wirksam. Dabei sind heute die Lebens- und Entwicklungsbedingungen einer steigenden Zahl von Kindern durch materielle Armut und/​oder soziale Risikolagen geprägt, was erhebliche Auswirkungen auf ihre Entwicklung hat (Weiß 2007, S.78ff.). Eine sozial schwache Ausgangslage korreliert dabei weiterhin mit Diagnosen von »Behinderung«. Entsprechend sind heute unter den Kindern, die den gesetzlichen Regelungen entsprechend die Komplexleistung Frühförderung erhalten, immer mehr Kinder in (psycho-)sozialer Risikolage ohne klare medizinische Diagnose im Sinne einer organischen Beeinträchtigung oder eines Syndroms (Weiß 2000).

Im Gesamtblick ist die Entwicklung in Richtung inklusiver Strukturen in Kindertagesstätten heute wesentlich weiter entwickelt als in Schulen. Aktuell besuchen circa 60 Prozent der Kinder im Vorschulalter, denen Unterstützungsbedarf im Sinne der Eingliederungshilfe attestiert wurde, eine integrative bzw. inklusive Kindertageseinrichtung (vgl. Klemm 2010, S.32), während die entsprechende schulbezogene Quote derzeit lediglich bei rund 18 Prozent liegt (Kultusministerkonferenz 2010). Zu bedenken ist jedoch, dass Kinder mit attestiertem Unterstützungsbedarf im Sinne der Eingliederungshilfe weiterhin erst verhältnismäßig spät – oft erst im vierten oder fünften Lebensjahr – in Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (Riedel 2008). Bis dahin partizipieren diese Kinder entweder gar nicht an institutionalisierter Bildung und Erziehung oder sie erhalten – in der Regel wöchentlich – ein Frühförderangebot. Insbesondere Kinder mit Unterstützungsbedarf im Alter bis zu drei Jahren werden nur selten in Kindertagesstätten betreut, was auch für deren Eltern soziale Ausgrenzung bedeuten kann. Hier gibt es enormen Entwicklungs- und Ausbaubedarf (vgl. Seitz et al., im Druck).

Was meint der Begriff »Behinderung«?

Wenn wir ein Kind als behindert bezeichnen, so sagen wir damit vor allem etwas über die Bedingungen aus, unter denen es sich entwickelt. Behinderungen entstehen im komplexen Zusammenwirken von Risikofaktoren in der kindlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozessen (vgl. u.a. World Health Organization 2001). Der Begriff »Behinderung« beschreibt folglich keine feststehende Eigenschaft einzelner Kinder oder bestimmter Gruppen von Kindern, sondern primär die unvollständige Umsetzung von sozialer Teilhabe und Bildungsteilhabe. Mit dem Begriff lässt sich sinnvoll hinweisen auf einen Mangel an Möglichkeiten zu gesellschaftlicher Beteiligung sowie dazu, das eigene Potenzial auszuschöpfen, nicht aber das Verhalten eines Kindes zu erklären.

So geht es in der inklusiven Pädagogik um die Analyse von Situationen, in denen Partizipation und/​oder Lern- und Entwicklungsprozesse durch bestimmte Barrieren bzw. deren Zusammenwirken behindert werden. Inklusion bedeutet also einen bewussten und reflektierten Umgang mit der Heterogenität des Lernens sowie von Entwicklungs- bzw. Sozialisationsbedingungen insgesamt. Risiken für Ausgrenzung oder Marginalisierung können sich dabei in unterschiedlicher Ausprägung zeigen und gegenseitig überlagern. Daher ist ein wesentlicher Aspekt, der gegenwärtig mit der begrifflichen Weiterentwicklung von der Integration zur Inklusion verknüpft wird, die gedankliche Zusammenführung verschiedener Dimensionen von Heterogenität wie kulturelle Zugehörigkeit, Religion, Alter, Gender und Befähigung. Für die Weiterentwicklung inklusiver Konzepte ist das komplexe Zusammenwirken der vielschichtigen Heterogenitätsdimensionen, welche die Lebenslage eines Kindes kennzeichnen können, in ihrer Verschränkung und Dynamik im Hinblick auf Barrieren für gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe in den Blick zu nehmen. Es geht insgesamt um eine besondere Aufmerksamkeit für Risiken und Gefährdungen von Kindern, die an den Rand gedrängt oder ausgegrenzt werden (Marginalisierung bzw. Exklusion) und/​oder die eigenen Potenziale für Lernen und Entwicklung nicht entfalten können (vgl. UNESCO 2009).

Um dieser Komplexität Rechnung zu tragen, sollte für eine inklusive Praxis milieu-, kultur- und geschlechtersensible Pädagogik verknüpft gedacht werden. In der Umsetzung in der Kindertagesstätte geht es darum, Unterschiede zwischen Kindern anzuerkennen, ohne dies mit einer Bewertung zu verbinden, d.h. zu hierarchisieren (»egalitäre Differenz«, Prengel 1993). Vielmehr werden diese Unterschiede als Ausgangspunkt für soziale Lernprozesse gesehen. Menschliche Vielfalt wird hier als Quelle möglicher kultureller Bereicherung betrachtet (vgl. Bielefeldt 2009, S.7) und als eigener Wert anerkannt. Jedoch ist diese Betrachtungsweise nicht mit einer undifferenzierten Befürwortung gleichzusetzen. Insbesondere mit Blick auf materielle Armut und soziale Ungleichheit ist ein reflektierter Umgang mit Heterogenität gefordert, eingebettet in gerechtigkeitstheoretische Fragestellungen (vgl. Prengel 2010). Dies stellt die pädagogischen Fachkräfte vor die Herausforderung, eine Balance zu schaffen zwischen Wertschätzung verschiedenster Lebenssituationen und der Schaffung einer entwicklungsförderlichen Umgebung, in der sie die Barrieren für Partizipation abbauen helfen, damit das Kind sein Potenzial entfalten kann.

Bildungs- und Entwicklungsbegleitung

In der aktuellen bildungs- und sozialpolitischen Debatte zur Frühpädagogik wird auch die Bildungsfähigkeit junger Kinder gezielter in den Blick genommen. Bildungsanforderungen werden verstärkt an Krippen und Kindergärten gestellt. Im Zuge dessen wurden zum Beispiel in allen Bundesländern Bildungspläne für die Kindertageseinrichtungen verfasst. Damit verbunden sind auch Diskussionen über Qualitätsentwicklung, höhere Qualifikationsanforderungen und Professionalisierung in der frühkindlichen Bildung. Dabei wird insbesondere die Bedeutung guter Startbedingungen in den ersten Jahren für die Bildung und Entwicklung von Kindern hervorgehoben. Herausforderungen und Chancen, die sich aus der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen ergeben, werden in diesem Diskurs jedoch bislang kaum berücksichtigt. Hieraus erwächst die Frage, wie sich die frühen Bildungsanforderungen mit den Herausforderungen, die sich durch die Umstrukturierung auf inklusive Praxis ergeben, vereinbaren lassen. Zwar finden sich Aspekte von Inklusion in der allgemeinen Grundlegung vieler Bildungspläne, nicht aber in der Konkretion der Bildungsanforderungen. Hier besteht weiterer Entwicklungsbedarf. Die vielfältigen Lebenslagen, Entwicklungsbedingungen und Gefährdungen von Kindern sollten konzeptioneller Ansatzpunkt für die Gestaltung der konkreten Bildungsbegleitung werden (vgl. Seitz et al., im Druck).

Kindertagesstätten, die sich auf den Weg in Richtung Inklusion begeben, öffnen sich für die Idee, Barrieren für Partizipation und Lernen innerhalb der Strukturen, dem Konzept sowie der Arbeitsweisen in der Einrichtung zu erkennen und abzubauen sowie hierfür notwendige Ressourcen zu mobilisieren (vgl. Booth et al. 2006). Ein- und Ausgrenzungsprozesse innerhalb der Einrichtungen müssen kritisch betrachtet und reflektiert werden. Es gilt, die pädagogische Praxis so zu gestalten, dass allen Kindern individuelle Bildungs- und Lernprozesse ermöglicht werden. Eine inklusive Bildungs- und Entwicklungsbegleitung berücksichtigt zum einen die vielfältigen individuellen Bedürfnisse und unterstützt zum anderen die Partizipation aller Kinder.

Interaktionen zwischen Kindern unterschiedlicher Kompetenz- und Entwicklungsniveaus bieten ein hohes Anregungspotenzial. Kind-Kind-Interaktionen haben einen besonderen Motivationscharakter, denn auch junge Kinder interessieren sich in hohem Maße für andere Kinder. Soziale Interaktionen, zum Beispiel im freien Spiel, sind eine wichtige Ressource für Bildungsprozesse und Ko-Konstruktionen und sollten gezielt gefördert werden. Aktivitäten in der Kindergruppe werden so gestaltet, dass die Kinder entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen sozial eingebunden herausgefordert werden (vgl. Seitz et al. 2010).

Jedes Kind kann individuelle Unterstützung brauchen, um seine Entwicklungspotenziale auszuschöpfen. Einige Kinder benötigen aber spezifische, fachlich fundierte Unterstützung in einem bestimmten Entwicklungsbereich, um sich entwickeln zu können und damit ihre Teilhabe abgesichert wird. Der in diesem Zusammenhang üblicherweise gebrauchte Begriff der Frühförderung ist hierbei zunächst irreführend, denn er legt nahe, das Kind würde von einer pädagogischen Fachkraft in seinem Entwicklungsweg »befördert« – obgleich wir wissen, dass Bildung und Entwicklung selbstgesteuerte Prozesse sind, die ein Kind letztlich selbst vollzieht. Das pädagogische Umfeld und gezielte Unterstützung können lediglich Impulse und Anreize setzen. Konzepte der Frühförderung setzen denn auch hier an und zielen primär auf die Stärkung und Begleitung des Kindes in seinem Umfeld. Denn Gefährdungen der individuellen Entwicklung sind nur im Gesamtblick auf die Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen eines Kindes zu verstehen (vgl. u.a. Sohns 2010). Spezifische Unterstützung im Format der Frühförderung sollte in der inklusiven Kindertagesstätte stets unter der Leitidee der sozialen Einbindung umgesetzt werden (vgl. Seitz, im Druck).

Zusammenarbeit – mit Eltern, im Team und mit externen Kooperationspartnern

Inklusion betrifft stets die gesamte Kindertagesstätte und ist ein Prozess, der von allen, die an der Erziehung und Bildung der Kinder beteiligt sind, gemeinsam gestaltet wird.

Um inklusive Prozesse zu ermöglichen, ist insbesondere eine gelingende Gestaltung von Erziehungspartnerschaften grundlegend, bei der sich pädagogische Fachkräfte und Eltern bzw. Bezugspersonen gleichberechtigt begegnen. Auch wenn Wert- und Erziehungsvorstellungen der Eltern von denen der pädagogischen Fachkräfte abweichen, wird stets ein professioneller respektvoller Umgang gepflegt. Besonders für Eltern, die bereits früh mit der medizinischen Diagnose einer Behinderung ihres Kindes konfrontiert wurden, sowie für Mütter und Väter, die sich Sorgen um die Entwicklung ihres Kindes machen, etwa weil es als »von Behinderung bedroht« gilt, ist ein sensibler Umgang wichtig.

Ein wesentlicher Aspekt der Zusammenarbeit mit den Eltern bzw. Bezugspersonen ist die Eingewöhnung. Diese Phase ist für die Gestaltung sicherer Bindungen in der Kindertagestätte entscheidend. Kinder, die sich sicher fühlen, sind eher bereit, sich auf die neue Situation in der Einrichtung einzulassen und für neue Erfahrungen und Lernprozesse zu öffnen. Daher geht es nicht einseitig um die Schaffung von Vertrauen, sondern stets um das Zusammenspiel von Vertrauen und Exploration. Je nach Kind ergeben sich bei der Eingewöhnung individuelle Bedarfe. Dies bedeutet auch, dass Bezugspersonen auf verschiedene Weise in den Eingewöhnungsprozess einbezogen werden. Die Eingewöhnung kann zudem unterschiedlich lange dauern. So kann ein Kind, das zum Beispiel durch einen Krankenhausaufenthalt frühe Erfahrungen mit Trennung gemacht hat, besondere Ängste zeigen, auf die sensibel reagiert werden muss. Einem anderen Kind genügt dagegen schon bald ein kurzer Augenkontakt als Sicherheit und Unterstützung bei der Erkundung der neuen Umgebung. Darüber hinaus finden die unterschiedlichen Möglichkeiten der Kinder zu kommunizieren und sich auszudrücken bei der konkreten Gestaltung der Eingewöhnung Beachtung. Das Eingewöhnungskonzept geht auf verschiedene Bindungstypen, spezifische Ausdrucksformen sowie familiäre und kulturelle Unterschiede ein und wird den jeweiligen Bedarfen entsprechend flexibel angepasst (vgl. Seitz et al., im Druck).

Inklusive Kindertageseinrichtungen betrachten deshalb nicht verengt die Kinder mir ihren spezifischen Bedürfnissen, sondern werden auch die Lebensformen und soziokulturellen Lebenslagen der Familien vorurteilsbewusst reflektieren. Die konzeptionelle Berücksichtigung des sozialen Umfeldes ist für Kinder in Risikolagen besonders relevant. Hier ist das Konzept der Familienzentren (vgl. Diller 2005) hervorzuheben. Durch die enge Vernetzung im Stadtteil und Kooperationen mit (Familien-)Bildungs- und Beratungsangeboten ermöglichen Familienzentren eine Bündelung und Koordination von Maßnahmen, sodass Kinder in schwierigen Lebenslagen im Verbund mit ihren Eltern und Bezugspersonen Unterstützung erfahren können – wichtige Anknüpfungspunkte für eine familienorientierte inklusive Praxis.

Mindestens ebenso bedeutsam wie die Zusammenarbeit mit Eltern und Bezugspersonen ist die Arbeit im Team. Inklusion in der Kindertagestätte lässt sich nicht als Zusatzprogramm neben einem unverändert bleibenden pädagogischen Alltag umsetzen, sondern ist eine Innovationsaufforderung an alle Ebenen der Einrichtung – sie kann daher eine Chance zur Organisationsentwicklung sein, aber auch ein Hinweis auf notwendige Reformprozesse.

Ein hilfreiches Instrument zur Entwicklung inklusiver Qualität ist der Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen (vgl. Booth et al. 2006). Mit diesem Instrument können Einrichtungen ihren Entwicklungsprozess in die eigene Hand nehmen, realistische Entwicklungsziele festlegen und überprüfen. Das Manual gibt Hilfe für alle Dimensionen von Qualitätsentwicklung – für inklusive Strukturen (Strukturqualität), inklusive Kulturen (Orientierungsqualität) und inklusive Praktiken (Prozessqualität). Es verbindet Anfragen an die Beteiligten zum vorhandenen Wissen, den gesammelten Erfahrungen, Ideen und bestehenden Ressourcen sowie zu möglichen Barrieren in der Einrichtung und folgt dabei stets einem übergreifenden Blick auf Heterogenität.

Entscheidend für das Gelingen inklusiver Praxis ist eine intensive Kommunikation innerhalb des Teams. Die pädagogischen Fachkräfte und multiprofessionalen Teams übernehmen jeweils die gemeinsame Verantwortung für alle Kinder der Gruppe und teilen ihre Zuständigkeiten aufgabenbezogen statt kindspezifisch auf. Dies betrifft insbesondere die Abstimmungsprozesse zwischen pädagogischen Fachkräften und Integrations- bzw. Frühförderkräften. Das regelhafte Herausnehmen einzelner Kinder aus der Gruppe, die unter der Maßgabe von Eingliederungshilfe Unterstützung erhalten, ist letztlich ein Relikt eines medizinischen Modells von Behinderung. Es kann zur Ausgrenzung dieser Kinder beitragen und die Abstimmung der pädagogischen Fachkräfte erschweren (vgl. Seitz/​Korff 2008). In der inklusiven Praxis sollte individuelle Unterstützung einzelner Kinder nicht auf Kosten von sozialer Einbindung gehen und die Ressource des Lernens von Kind zu Kind aktiv nutzen. Bei so verstandener gelingender Zusammenarbeit können die jeweiligen Kompetenzen der verschiedenen pädagogischen Fachkräfte allen Kindern zugute kommen; auch Abstimmungen zu diagnostischen Einschätzungen und geeignetem pädagogischem Handeln können auf diese Weise besser gelingen (vgl. Seitz, im Druck).

Die Kooperation mit externen Partnern bietet ebenfalls vielfältige Chancen zur Erweiterung der eigenen fachlichen Perspektive. Durch die intensive Zusammenarbeit des Teams mit externen TherapeutInnen und Frühförderkräften können die unterschiedlichen Praxiskompetenzen und das fachspezifische Wissen zusammengeführt werden. Die gemeinsame Fallberatung ermöglicht es besonders im Hinblick auf Kinder in Risikolagen, frühzeitig gemeinsame Strategien zu entwickeln. Eine wichtige Grundlage dieser fachlichen Kooperation ist eine dialogische Haltung. Dazu gehört sowohl die Bereitschaft, eigene Kompetenzen zu teilen, als auch im Sinne kollegialer Beratung auf die Kompetenzen von anderen Fachkräften zurückzugreifen und sich dabei reflektiert mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.

Wie geht es weiter? – Ein Ausblick

Inklusive Kindergruppen bieten soziale Vielfalt, in der Kinder von Anfang an mit menschlicher Verschiedenheit und mit verschiedenen Erfahrungswelten vertraut werden können. Hier können wichtige Grundlagen für gesellschaftliche Partizipation und soziale Eingebundenheit aller Kinder gelegt werden.

Damit dies gelingt, ist es bedeutsam, die Heterogenität der Lebenslagen aller Kinder – unabhängig von spezifischen Diagnosen – zu erkennen und reflektiert damit zu arbeiten. Zukunftsbezogen ist es sinnvoll, spezifische Unterstützung und zusätzliche Ressourcen nicht länger an individuelle Diagnosen einzelner Kinder zu binden, sondern sie systemisch den Einrichtungen zuzusprechen, damit diese hiermit flexibel umgehen können. Individuelle Unterstützung ist dann kein Privileg einzelner Kinder, das mit dem Etikett »behindert« oder »von Behinderung bedroht« versehen werden muss.

Inklusion in Kindertagesstätten ist als ein übergreifendes Konzept für alle Kinder zu verstehen. Die Frage nach einem gelingenden Umgang mit Heterogenität sollte in alle Aufgaben der Einrichtung eingebunden werden. Erst dann kann das Innovationspotenzial, das sich aus der Weiterentwicklung in Richtung Inklusion für die Erziehung und Bildung in Kindertagesstätten insgesamt ergibt, zum Tragen kommen.

Auch beim derzeitigen Ausbau von Tagesbetreuungsplätzen für Kinder bis zu drei Jahren sollte an eine Verknüpfung mit dem Leitbild der Inklusion gedacht werden, damit von Anfang an strukturelle und konzeptionelle Voraussetzungen für eine Bildung, Betreuung und Erziehung aller Kinder geschaffen werden. In diesem neu erschlossenen Feld gilt es angesichts des hohen Drucks zum quantitativen Ausbau ganz besonders, Qualität zu sichern und differenzielle Effekte zu vermeiden. Es geht also auch darum, Unterschiede in Bildungsausgangslagen durch frühe Betreuung und spezifische Förderung nicht zu verstärken (vgl. Seitz et al., im Druck), sondern allen Kindern Teilhabe an früher – inklusiv strukturierter – institutioneller Bildung, Erziehung und Betreuung zu ermöglichen.

Wenn es gelingt, einen inklusiv gestalteten, gemeinsamen frühen Einstieg in die Betreuung für alle Kinder als selbstverständlich zu etablieren, so wäre dies eine gute Ausgangsbasis für die weitere Entwicklung inklusiver Strukturen, Werte und Handlungspraxen auf allen Ebenen des Erziehungs- und Bildungssystems als Normalfall – und für die Kinder ist das ohnehin ganz normal …

Literatur

Aichele, V. (2008): Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll. Ein Beitrag zur Ratifizierungsdebatte. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.

Bielefeldt, H. (2009): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. Institut für Menschenrechte URL. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/​de/​publikationen/​behindertenrechte/​

Booth, T./​Ainscow, M./​Kingston, D. (Hrsg.) (2006): Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Frankfurt/​M.: GEW.

Diller, A. (2005): Eltern-Kind-Zentren: Die neue Generation kinder- und familienfördernder Institutionen. München: Deutsches Jugendinstitut, S.2-39.

Fritzsche, R./​Schastok, A. (2002): Ein Kindergarten für alle. Kinder mit und ohne Behinderung spielen und lernen gemeinsam. Neuwied: Luchterhand.

Gomolla, M. (2006): Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem. In: R. Leiprecht (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch. Schwalbach/​Taunus: Wochenschau-Verlag, S.97-109.

Kaplan, K./​Rückert, E./​Garde, D. et al. (1993): Gemeinsame Förderung behinderter und nichtbehinderter Kinder. Handbuch für den Kindergarten. Weinheim/​Basel: Beltz.

Klemm, K. (2010): Gemeinsam lernen. Inklusion leben. Status Quo und Herausforderungen inklusiver Bildung in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Kron, M. (2006): 25 Jahre Integration im Elementarbereich – ein Blick zurück, ein Blick nach vorn. In: Zeitschrift für Inklusion (Online-Magazin) 1. http://www.inklusion-online.net

Kultusministerkonferenz (2010): Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz Dokumentation Nr.189 – März 2010. http://www.kmk.org/​fileadmin/​pdf/​Statistik/​Dok_189_ SoPaeFoe_2008.pdf

Prengel, A. (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: Opladen.

Prengel, A. (2010): Inklusion in der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. München: Deutsches Jugendinstitut.

Riedel, B. (2008): Kinder mit Behinderungen. In: Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/​Universität Dortmund (Hrsg.): Zahlenspiegel 2007. Kindertagesbetreuung im Spiegel der Statistik. München: Deutsches Jugendinstitut, S.141-158.

Seitz, S. (2009): Mittendrin verschieden sein – inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen. Studienbrief Modul 9: Integrative und inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen, Studiengang »Inklusive Frühkindliche Bildung«. (BIB), Hochschule Fulda.

Seitz, S. (im Druck): Frühförderung inklusive? Inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen mit Kindern bis zu drei Jahren. In: B. Gebhard/​B. Henning/​Ch. Leyendecker (Hrsg.): Interdisziplinäre Frühförderung: Exklusiver Ansatz, kooperative Praxis und inklusive Orientierung. Stuttgart: Kohlhammer.

Seitz, S./​Korff, N. (2008): Förderung von Kindern mit Behinderung unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen. Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe.

Seitz, S./​Korff, N./​Thim, A. (2010): Inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen mit Kindern unter drei Jahren – Herausforderungen, Erkenntnisse, Perspektiven. In: U. Schildmann (Hrsg.): Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.79-86.

Seitz, S./​Finnern, N.-K./​Korff, N./​Thim, A. (im Druck): Kinder mit besonderen Bedürfnissen bis zu drei Jahren in der Tagesbetreuung. München: Deutsches Jugendinstitut.

Sohns, A. (2010): Frühförderung. Ein Hilfssystem im Wandel. Stuttgart: Kohlhammer.

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World Health Organization (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF).

Inklusion als Beitrag zur Chancengerechtigkeit – Diversity und Verschiedenheit in der Elementarpädagogik

Wiebke Warnecke

»IT’S NOT FAIR« – mit diesem Satz beginnt eines der führenden englischsprachigen Praxisbücher zum Thema Inklusion und Diversity in der Arbeit mit Kindern (Griffin 2008, S.6). Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, wie sehr soziale und individuelle Dispositionen Bildungsteilhabe und -erfolg beeinflussen, aber »…  alle Kinder … haben das Recht, sich in einem Umfeld von Gleichwürdigkeit und Respekt für Vielfalt zu entwickeln und zu entfalten …«. (DECET 2007, S.1).

Dieses Recht und seine Umsetzung sind in unserem Bildungssystem gewollt, aber immer noch nicht gewährleistet. Und so sehr wir um benachteiligende Faktoren wissen und um Lösungswege ringen, so hartnäckig halten sich tradierte Überzeugungen, institutionelle Traditionen und Verunsicherung bei den AkteurInnen.

Verschiedenheit und Vielfalt in der Erziehungswissenschaft

Die Diskussion um Vielfalt und Verschiedenheit ist nicht neu in der Erziehungswissenschaft – von Adornos »Miteinander der Verschiedenen«, der »Verschiedenheit der Köpfe« von Herbart über neuere Perspektiven im Kontext von Pluralität, Vielfalt und Verschiedenheit (vgl. Hinz 1993; Gogolin et al. 1997; Prengel 2006; Lutz/​Wenning 2001). Der Umgang mit Vielfalt war und ist eine Hauptherausforderung in pädagogischen Institutionen – und damit auch in unserer Gesellschaft.

Begriffe wie Verschiedenheit, Diversity, Chancengerechtigkeit und Heterogenität halten zunehmend Einzug in der Elementarpädagogik – zu Recht: Heterogenität ist ein sozialer Tatbestand, mit dem es umzugehen gilt, und das von Beginn an. International ist die Verbindung dieser Bereiche bereits mit größerem Selbstverständnis in wissenschaftlicher Forschung und pädagogischer Praxis etabliert (vgl. DECET 2004). Hier tut sich ein Feld auf, das in Deutschland noch breiter interdisziplinär hinterfragt und verankert werden muss.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden diverse methodische, didaktische und institutionelle Herangehensweisen diskutiert, um einen besseren Umgang mit Vielfalt – als Beitrag zur Chancengerechtigkeit – zu erreichen. Besonders die Schulpädagogik kennt diesen Diskurs. Aber wie gehen wir in elementarpädagogischen Kontexten mit Verschiedenheit um? Wie begegnen wir der Vielfältigkeit kindlicher Existenz?

Orientierung an Norm(wert)en

»Für viele Menschen definiert sich Heterogenität … als Streuung um oder als Differenz zu einer unterstellten ›Norm‹. Viele betrachten zum Beispiel als normal, … was häufig ist. Andere nehmen … den Mittelwert der sogenannten Normalverteilung, auch wenn er vielleicht nur eine Minderheit darstellt. Für wieder andere ist normal, wer normgerecht ist, wer vorgegebenen Ansprüchen genügt. … In allen … Sichtweisen bedeutet:

Heterogenität ›Abweichung‹ von einer Norm

Integration Einbeziehung des ›Andersartigen‹

Differenzierung ›Sonderbehandlung‹ gegenüber der Normalgruppe.

Verstehen wir aber unter ›Normalität‹, dass jeder Mensch einzigartig (und in diesem Sinne ›immer anders‹) ist, dann bedeutet:

Heterogenität schlicht ›Unterschiedlichkeit‹

Integration ›Gemeinsamkeit‹

Differenzierung Raum für die ›Individualität‹ aller«

.

(Brügelmann 2002, S.

31

f.).

Wir stoßen hier auf diverse Begriffe, die die Debatte um Vielfalt und Verschiedenheit prägen: andersartig, Mittelwert, Unterschiedlichkeit und das ewig lebendige Paar »Norm« und »Abweichung«. Die Auseinandersetzung mit Kindheit war und ist oft geprägt von dem Wunsch nach klarer Identifizier- und Zuordbarkeit sowie Orientierung an einer festgelegten »Normalität« – ein Versuch der Standardisierung kindlicher Entwicklung, der unter anderem dazu führt, dass Kinder immer häufiger als zu fördernde oder gar gefährdete Menschen wahrgenommen werden (vgl. Kelle/​Tervooren 2008). Aber wie individuell kann Förderung geschehen, wenn wir uns an einer Skala und einem (vermeintlich objektiven) Mittelwert orientieren? Wie individuell lassen wir Kinder sein, wenn wir sie nach Rastern beurteilen und aufgrund derer einer bestimmten Entwicklungs-, Lern- bzw. Leistungsgruppe zuordnen? Aus welcher Berechtigung heraus definieren wir Normen und deren Abweichung?

»… Aus empirisch feststellbaren Durchschnittswerten werden in der Aufmerksamkeit der Erzieherin Normen, an denen die Entwicklung von Kindern gemessen wird. Der Blick auf Kinder verschiebt sich: Nicht mehr das Interesse an der Individualität der Kinder steht im Vordergrund, sondern die Fixierung auf Abweichungen von Entwicklungsnormen. Die elementarpädagogische Arbeit verlagert sich von der schwerpunktmäßigen Förderung individueller Interessen und Kompetenzen, die über das Lernen am Modell auch auf andere Kinder ausstrahlen können, zu einer kompensatorischen Bearbeitung von Defiziten …«. (Knauf 2009).

Die Fokussierung auf Normalität, Abweichungen und Defizite ist, neben Stereotypisierung und drohender Stigmatisierung, insofern auch problematisch, als Diagnostik in der Pädagogik anders verläuft als zum Beispiel im medizinischen Bereich – in der Pädagogik kann es kein Patentrezept geben, gerade mit Blick auf eine wirklich individuelle Unterstützung des jeweiligen Kindes. Und ausschlaggebend ist noch immer, dass PädagogInnen nicht »Defekte« diagnostizieren, sondern vor allem Stärken wahrnehmen sollten. Ressourcenorientierung ist das Schlüsselwort, auch wenn die Realität momentan leider noch davon abweichen mag.

Differenzkonstruktionen – die Herstellung vermeintlicher Unterschiedlichkeiten –, die, wie das Wort schon sagt, »konstruiert« sind, sind nicht »nur« Ordnungs- und Zuweisungskategorie, um gesellschaftliche Gefüge überschaubar und fassbar zu machen. Das damit einhergehende Prinzip der Grunddualismen (z.B. »männlich – weiblich«) stellt in seiner Polarisierung – dem Ansinnen, zwei gegensätzliche Positionen festzulegen – eine konstruierte Ungleichheit her. Hier geht es schnell um (Be-/​Ab-)Wertungen. Diese Ungleichheit schlägt sich in dem Moment, in dem eine Abweichung vom Normalitätskonstrukt von außen festgemacht wird, nachgewiesenermaßen auf Bildungserfolg und die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe nieder: »… Komplementarität beruht nicht nur auf Ungleichartigkeit, sondern bedeutet auch Ungleichwertigkeit und Hierarchie …«. (Klinger, zit. nach Lutz/​Wenning 2001, S.17).

Intersektionalität: Alles wirkt miteinander

Griffin plädiert im Kontext von Diversity in der frühkindlichen Bildung vornehmlich für eine Auseinandersetzung mit den Feldern Gender, Ethnizität, kultureller Hintergrund (inkl. Religionszugehörigkeit und Sprache), soziale Herkunft (inkl. familiale Gefüge), »Behinderung« und Sexualität (Griffin 2008, S.29). Wagner kommt mit Blick auf die deutsche Situation ebenfalls zu einer Fokussierung auf Geschlecht, körperliche Handikaps, Migrationshintergrund, Ethnizität und/​oder Hautfarbe, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung und Religionszugehörigkeit (vgl. Wagner 2008).

Allerdings wird der Intersektionalität von Verschiedenheitskategorien immer noch zu wenig Rechnung getragen: Jeder Mensch ist in sich vielfältig; es treffen also immer verschiedene Dimensionen von Verschiedenheit auf ein Individuum zu, die sich untereinander bedingen (Kunze/​Solzbacher 2008, S.16). Die Zuordnung eines Individuums zu einer der Differenzkategorien ist ein »… analytisches Hilfsmittel, aber auch immer eine grobe Vereinfachung …«. (ebd.).

Vor diesem Hintergrund ist auch die Kita ein Ort institutionalisierter Diskriminierung – wobei Kindertageseinrichtungen von allen Bildungseinrichtungen wahrscheinlich das größte Potenzial bergen, hier in einer Art Pionierfunktion positiv voranzugehen.

»… Jedes Kind hat einen Anspruch darauf, als Individuum in seiner Eigenart und Einzigartigkeit gesehen und anerkannt zu werden. Es hat ein Recht auf Differenz. Gleichzeitig hat es einen Anspruch darauf, als eines unter Gleichen behandelt zu werden, gleichberechtigt zu sein …«. (Bräu 2005, S.138).

Bislang fehlt ein in der gesamten Kita-Landschaft selbstverständliches, breites Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reflexion von Differenz und Diversität. Die Förderung und Unterstützung unserer Kinder beruht auf guter Diagnostik –, wenn diese jedoch von einem konstruktgeprägten diagnostischen Blick beeinflusst wird, werden wir der Einzigartigkeit und dem Potenzial eines jeden Kindes nicht gerecht. Griffin schlägt vor diesem Hintergrund für pädagogische Fachkräfte auch die besondere Auseinandersetzung mit Themen wie Diskriminierung, Vorurteilen, Stereotypen und Chancengerechtigkeit vor (Griffin 2008, S.11).

Doing difference – institutionalisierte Benachteiligung

Die Einrichtung Kindertagesstätte ist, wie alle anderen Bildungseinrichtungen auch, nicht frei von »doing gender«, »doing ethnicity« oder anderen Manifestationsprozessen von Verschiedenheitskonstrukten. Da aber in der frühkindlichen Pädagogik, wie wohl in keiner anderen Bildungsinstitution sonst, Beobachtung und Wahrnehmung durch die pädagogischen Fachkräfte in Förder- und Entwicklungsprozessen eine so wichtige Rolle einnehmen, gilt es hier besonders, sich die Macht von Zuweisungskategorien bewusst zu machen.

Wir wissen, dass Wahrnehmung bewusst und unbewusst an unsere bisherigen (Lebens-)Erfahrungen in unserer sozialen Umwelt gekoppelt ist. Wahrnehmung ist dabei keineswegs immer ein bewusster Prozess. Sie steuert aber unser Denken und Handeln und hängt direkt zusammen mit unserem Selbstkonzept, unserer Selbstwahrnehmung, unseren Erwartungseffekten und unseren Interaktionen und Einschätzungen, zum Beispiel in der Personenbeurteilung (vgl. Kanning 1999). Eigene, internalisierte Konstrukte und Stereotypien wirken auf unsere Wahrnehmungen und Entscheidungen. Dies ist gerade für eine Einrichtung wie den Kindergarten von Bedeutung, wo Beobachtung, Wahrnehmung und Dokumentation als Formen der pädagogischen Diagnose zum Alltagsgeschäft gehören und Förderprozesse initiieren und steuern. Aus der Praxis wird in diesem Kontext oft der Ruf nach Checklisten oder ähnlich pragmatischen Alltagslösungen laut. Angesichts der organisatorischen Rahmenbedingungen in Kitas – man denke an den Personalmangel und andere fehlende Ressourcen – ist das Verlangen danach absolut verständlich und nachvollziehbar. Die Verwendung solcher Raster oder Screenings ist jedoch generell mit Vorsicht zu genießen. Gerade im Kontext individualisierter Förder- und Unterstützungsprozesse dürfen wir nicht versuchen, Vielfältigkeit und Individualität durch das Aufzwingen einer Normalskala zu reglementieren und letztlich dadurch wieder zu homogenisieren. Diese Versuche stehen nicht auf einem wissenschaftlich gesicherten Sockel, sondern scheinen vielmehr Indikator für das Ausmaß an Unsicherheit im Umgang mit Differenz zu sein.

Wenn hier aber ein hohes Reflexions- und Handlungsniveau von der Praxis erwartet wird, bedarf es einer entsprechenden inhaltlichen »Grundbesohlung«, und zwar als durchgängiges Prinzip. Konstruktive Schritte zu einem flexibleren, souveränen Umgang mit Heterogenität könnten zum Beispiel durch neue, vertiefende Forschung, engeren Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis und bessere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Bildungsträgern entstehen. Hier steckt ein großes Potenzial für eine inhaltliche und praxisorientierte Professionalisierung.

Reflexion von Vielfalt – Der Blick über den Tellerrand

Gerade in den englischsprachigen Ländern werden die Dynamiken von Diversity und Verschiedenheit in der Elementarpädagogik von Wissenschaft und Praxis sehr vielfältig angegangen (vgl. Robinson/​Diaz 2010) und verschiedene Projekte und Handlungsansätze erprobt. Der Intersektionalität von Verschiedenheitskategorien wird dabei versucht, zunehmend Rechnung zu tragen (vgl. Newman 2007; Cole 2006).

Als ein Beispiel im Umgang mit Verschiedenheit wird hier auf den Anti-Bias-Approach aus den USA hingewiesen (vgl. Gramelt 2010). ErzieherInnen sind auf die Mitarbeit und Unterstützung von Trägern und Eltern angewiesen. Der Anti-Bias-Ansatz ist unter anderem deswegen so wertvoll, weil er bewusst pädagogische Fachkräfte, Kinder und Eltern miteinander denkt. Ziele für Kinder umfassen zum Beispiel:



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