Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nicht die Jahre, sondern die Art, wie wir das Leben zu unserem eigenen machen, entscheiden über unser Glück. Doch sind es die eigenen Voraussetzungen, welche die Vorstellungen von der Welt modellieren und ein lebenslanges Fundament für unser Denken und Handeln bilden. Um die Realität des anderen zu begreifen, reicht Verständnis allein nicht. Nur durch totale Offenheit kann es gelingen, sich ein Bild voneinander zu machen. Dabei gewonnene Erkenntnisse helfen nicht nur, gegenseitige Vorbehalte aufzugeben, sondern erlauben auch Resonanz und Anteilnahme. So kann die Einsicht reifen, dass der lange Weg zu sich selbst über den anderen führt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 383
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Einführung
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Nachwort
Mein Alter und mich trennt mehr, als man vielleicht glauben mag.
Ich weiß gar nicht, wie es auf mich gekommen ist. Einbestellt habe ich es jedenfalls nicht. Die Jahre werden Einem einfach aufgezwungen, ob es Einem passt oder nicht. Vielleicht hat man sich dieses schleichende Ärgernis in der Jugend eingehandelt, als man aus purer Neugier nichts unversucht ließ, um älter zu erscheinen. Dass man es damals nicht erwarten konnte, älter zu werden, lag hauptsächlich an der Vielzahl der mit Jugendverbot belegten Kinofilme und strengen Zutrittsregelungen für Tanzlokale. Wer hätte geglaubt, dass man im Leben nur diesen einen Wunsch frei hat und es danach kein Zurück mehr gibt?
Anders verhält es sich, wenn es um mein Alter Ego geht. Damit ist die zu meinem anderen Ich gewordene Seele gemeint, die mich nach Jahren der Zweisamkeit so genau kennt, dass sie mich nicht nur nach Kräften ergänzt, sondern auch oft selbstständig entscheidet, was für mich gut ist. Selten nur geht dabei etwas daneben. Darüber sehe ich gerne hinweg, denn schließlich bin ich auch selbst nicht immer zufrieden mit mir. Man sollte gerecht sein und sein zweites Ich nicht schlechter behandeln als das eigene.
Keineswegs aber sollte sich jene in ihrer Art unnachahmliche Person mir gegenüber so objektiv verhalten wie ein Unbeteiligter. Natürlich habe ich mir gerade deshalb auch Vorwürfe anzuhören, die ein Außenstehender vermeiden würde. Ich will mir nichts vormachen, aber ich bin eben der, der ich bin. Wie ich sein möchte, muss ich stets von neuem herausfinden. Wie ich sein sollte, hat mir lange Zeit mein Über-Ich zugeflüstert. Nun aber höre ich lieber auf das Gewissen meiner besseren Hälfte. Es nagt nicht so an Einem wie das eigene und beruhigt sich auch gleich wieder, sobald man sich gefügig zeigt und tut, was verlangt wird. Obwohl es mir unter diesen Bedingungen nicht immer leichtfällt, zu mir selbst in ein Verhältnis zu treten, pflege ich darüber hinaus auch ein gewisses Eigenleben, so dem nichts entgegensteht.
Was den interaktiven Bereich meiner Identität betrifft, möchte man allein des reiferen Alters wegen annehmen, dieser erweise sich als stabilstes Element meiner Persönlichkeit, doch das Gegenteil ist der Fall. Immer wieder muss ich erleben, wie unter dem Einfluss meines Gegenübers so manches Konstrukt in sich zusammenbricht. Wenn ich mich wieder so halbwegs gefangen habe, merke ich, dass ich zwar noch derselbe bin, doch etwas hat mir zu denken gegeben und meine Einstellung ins Wanken gebracht.
Dies kann nur das Ergebnis jener Offenheit sein, die ich nach meinem Rückzug ins Privatleben entwickelt habe. Der muntere Diskurs, zu dem ich mich am einzigen dörflichen Veranstaltungsort, dem Gasthaus, ermuntert fühlte, hat mich aus der Reserve gelockt und mir gezeigt, dass es dafür oft mehr geschickter Wendigkeit als starren Wissens bedurfte. Nicht nur, dass mir gewisse Worthülsen oder das rhetorische Rüstzeug dafür über die Zeit entfallen waren, es fehlte mir anfangs auch an der nötigen Geduld. Mit ihren nicht enden wollenden Beiträgen strapazierten manche meine Nerven über Gebühr; bei derart aufgereizter Stimmung wäre es früher rasch zu einem Handgemenge gekommen. Der intolerante Geist früherer Jahre wird mir für immer im Gedächtnis bleiben, erbrachten jene handfesten Auseinandersetzungen doch auch manche Erkenntnis, welche heute auf Grund einer stetig zunehmenden Correctness so nicht mehr zu gewinnen wäre. Bestimmte Themen schienen schon damals dem reiferen Lebensalter vorbehalten zu sein, weshalb es mir oft wie den Jüngeren erging, bei denen das Gesagte auf taube Ohren stieß.
Vielleicht liegt es am schwindenden Erinnerungsvermögen, dass manche nicht mehr zu ihren Jugendsünden stehen. Nachdem auch ich manches schon vergessen habe, ist davon auszugehen, dass mein Ich zwar weiß, wie alt ich bin, mein Selbst aber nicht zu überzeugen ist, dass ich in die Jahre gekommen bin.
Wider besseres Wissen stehe ich also der Zahl an Jahren distanziert gegenüber. Andere bekennen sich aus mir unbekannten Gründen zu ihrem Alter. Ich halte es mir vom Leib, wo ich nur kann. Immerhin liegt mein biologisches Alter um einige Jahrzehnte niedriger als mein tatsächliches. Das sieht man mir wahrscheinlich ebenso wenig an wie den Umstand, dass ich zumindest innerlich jung geblieben bin. Immerhin sagt man mir aber, dass ich noch recht frisch aussehe. Ich möchte nicht prahlen, aber es freut mich natürlich schon, wenn mir die Fitness-App attestiert, ich sei fit wie ein alter Turnschuh.
„Jung ist man nicht, jung muss man werden“, erklärte Peter Handke, als er nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde mit seiner ehemals ablehnenden Haltung konfrontiert wurde. Wie er betonte, hätte sein Gesinnungswechsel keineswegs etwas mit dem Alter, sondern mit der Freiheit seiner jugendlichen Einstellung zu tun. – Meine eigene Entwicklung mag vielleicht besser Conrad Ferdinand Meyers Satz aus dem Jahre 1871 beschreiben: „Was langsam reift, das altert spät“.
Jene, die nie jung waren, tun sich wahrscheinlich leichter damit, dass sie nicht mehr Fünfzig sind. Wer jedoch einmal über sein vorgealtertes Ich nachgedacht hat, verwirft vielleicht auch einmal Ansichten, welche ihn schon damals alt aussehen ließen. Manche verleitet jedoch ein neues Glück zu einer Kehrtwende. Dann legen sie die alten Klamotten ab, lassen sich die Haare färben und spielen den wilden Hund. Manche wollen mit aller Gewalt beweisen, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehören; dabei schrecken sie auch nicht davor zurück, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. So ein Verhalten ist peinlich und wirft ein schlechtes Licht auf die ganze Altersgruppe. Man will schließlich nicht in Verruf kommen, nur weil andere mit dem Alter nichts Besseres anzufangen wissen, als unangenehm aufzufallen.
Heute frage ich mich oft, ob es eine Gabe oder ein Fluch ist, die Realität als etwas wahrzunehmen, das so ist, wie es erscheint. Sicher ist, dass objektives Wissen nicht dazu angetan ist, sich aus seinem Innersten heraus zu verstehen. Immerhin sind es die eigenen Voraussetzungen, welche die Vorstellungen von der Welt modellieren und ein lebenslanges Fundament für die Art unseres Denkens und Handelns bilden. Subjektive Sichtweisen dominieren den Alltag und oft hat es die Vernunft schwer, den objektiven Argumenten zum Durchbruch zu verhelfen.
Wenn ich daran denke, was ich früher selbst alles überbewertet oder gar als unbedeutend abgetan habe, schätze ich dann doch die Jahre, die zwar rasend schnell vergangen sind, mir jedoch die Gelegenheit gaben, manche Fehleinschätzung zu korrigieren. Meine Voreingenommenheit ist offener Erwartungshaltung gewichen, sodass es mich auch wenig überrascht, wenn heute vieles anders kommt, als ich ursprünglich annahm.
Heute fliegen mir Geschichten zu, von denen ich früher sogleich gewusst hätte, wie sie ausgehen würden. Was das alles mit mir zu tun hätte, fragte ich voreilig, da mir damals die Zeit fehlte, mich auf anderes als meine Agenda einzulassen. Sollte nur das Älterwerden an diesem Wandel schuld sein, ändere ich gerne auch einmal meine Meinung darüber.
Was die Wahrnehmung der persönlichen Realität durch andere betrifft, besteht der eigene Beitrag im freimütigen Bekenntnis zu den eigenen Lebensumständen und Befindlichkeiten. Dies mag nicht immer allen leichtfallen, vor allem, wenn man sich bewusstwird, dass dadurch auch andere vor den Vorhang gezerrt werden und alles nach Abrechnung aussieht. Die Bedeutsamkeit solcher Offenheit liegt jedoch darin, dass das Bild, das man sich von uns macht, ohne die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz unvollständig bliebe, weshalb sich so auch manche Fehleinschätzung aufklären lässt. Manch einer wurde schon für einen Misanthropen gehalten, obwohl der wahre Grund für sein Verhalten in komplexhaften Kontaktängsten lag.
Existenz kann nie allein durch Selbstverwirklichung gelingen, sondern bedarf immer auch anderer. Existentielle Kommunikation bedeutet das gegenseitige Hervortreiben des Selbst im anderen, was natürlich auch die Verpflichtung einschließt, von sich aus zu einem ermutigenden und vertrauensvollen Klima der Verständigung beizutragen. Ich habe diese Art der Unterhaltung vor allem bei einfachen, aber mit viel Humor und Menschenkenntnis ausgestatteten Leuten gefunden. – Nicht nur, wenn es zu fortgeschrittener Stunde um das Eingemachte ging. Wann immer persönliche Angelegenheiten zur Sprache kamen, tat es gut zu hören, wie andere darüber dachten. So bekam ich Anhaltspunkte über so manche Baustelle oder persönliche Stärke, so lernte ich insbesondere auch mich selbst besser kennen.
Small Talk war nie meine Sache. Wenn dabei manche vermeinten, die Glanzlichter ihrer Karriere in den Mittelpunkt stellen zu müssen, doch sich in persönlichen Angelegenheiten bedeckt hielten, so verriet sich mir darin fehlendes Vertrauen. Möglicherweise hätte man nicht alles verstanden, was sie lieber bei sich behalten wollten, doch vielleicht wäre es auch ihnen danach besser ergangen. Viele verrennen sich in einer Realität, die gar nicht die ihre ist. Sie kommen dann oft zu spät darauf, dass sie einem Trugbild aufgesessen sind.
Je mehr ich im Laufe der Zeit von mir wegkam, umso mehr haben mich auch zufällige Bekanntschaften in ihren Bann gezogen, sodass es sein konnte, dass mich deren Angelegenheiten bald mehr beschäftigten als die eigenen. Auch wenn kein besonderer Sinn dahinter erkennbar schien, zeigte sich bei der Nachbetrachtung all jener Schicksale, dass der Mensch weniger sinnstiftender Narrative wegen, sondern infolge von Grenzsituationen zu sich kommt und erkennt, was für ihn wesentlich ist. Nicht die Jahre, sondern die Art, wie wir das Leben zu unserem eigenen machen, entscheiden über unser Glück. Was der Mensch sein kann, ist mit seinem bloßen empirischen Dasein noch nicht gegeben, sondern eine Aufgabe, die er in seiner Freiheit leisten muss.
Ich nutzte die Jahre auch, um im Spiegel der Zeit auf Bedingungen zu reflektieren, wie man sie im tagtäglichen Leben beobachten kann, die uns jedoch stets von neuem zu denken geben. Beim Versuch, die Gründe dafür herauszufinden, ergeben sich nicht nur neue Einsichten. Es bieten sich immer auch Anreize, das Inventar seiner fraglosen Geborgenheit umzustellen und Dinge sichtbar zu machen, welche sonst kaum zur Geltung gekommen wären. Manchmal verschwimmen dabei die bunten Bilder von Wirklichkeit und Fiktion. Auf diese Weise entstehen Geschichten, die ohne die eigene nicht möglich wären.
Beste Jahre
Von den besten Jahren erhoffen sich viele ein von den Lasten des Alltags befreites Dasein, in dem sie anfangen können, was ihnen gerade in den Sinn kommt; vielleicht nicht gleich von Beginn an. Doch nach und nach zumindest.
Mit einer Umstellungsphase hat man gerechnet. Niemand erwartet jedoch, dass ihn bald öfter, als ihm lieb ist, die Vergangenheit einholen wird. Der Blick zurück ist nicht immer schön und meist sind es Ereignisse, die auch nach Jahren noch Zorn oder Reue auslösen und in Träumen wiederkehren. Ohne unmittelbaren Anlass sieht man sich mit Entscheidungen oder Verhaltensweisen konfrontiert, die nicht mehr gutzumachen sind. Obwohl man gar nicht mehr erinnert werden möchte, muss doch auch ein Sinn darin liegen, dass sich die alten Erinnerungen unserer Gedanken bemächtigen und auf die Stimmung drücken. Früher hatte man Angst vor der Zukunft, heute ist es meist die Vergangenheit, die uns zu schaffen macht. Doch verhielte es sich anders, hätte man nichts aus dem Leben gelernt.
Vielleicht ist die verbleibende Lebenszeit dazu da, für das getane Unrecht einen Ausgleich zu schaffen und mit mehr Konzilianz auf jene zuzugehen, die es früher schwer mit uns hatten. Wer den wahren Charakter der Wirklichkeit erkannt hat, wird begreifen, dass wir alle viel zu wenig über sie wussten und zu wenig Zeit war, um sich gegen die schrecklichsten Irrtümer zu wappnen. Was das Leben aus jedem und was jeder aus dem Leben gemacht hat, präsentiert sich zuweilen als unentwirrbarer, aus Eigenwillen und Zufall gesponnener Knäuel, aus dem das Bewusstsein seine Gedanken strickt. Das Muster bleibt zwar immer dasselbe, doch die Menschen sind zu verschieden, als dass dabei etwas Einheitliches herauskäme.
So wie die mentale Umstellungsphase ihre Zeit braucht, passen sich oft auch die körperlichen Funktionen nur zögerlich an die neuen Verhältnisse an. Um morgens auf Touren zu kommen, bedarf es eines fein abgestimmten Zusammenspiels der inneren Uhr gehorchender, physiologischer Vorgänge. Zwischen dem Erwachen und Aufstehen sorgt das Hochfahren vitaler Körperfunktionen für zunehmende Spannkraft und Wachheit. Während bei manchen sogleich eine Aktivierung ihres Liebeslebens einsetzt, wechseln die meisten ohne viel Umstände in ihren Tagesrhythmus und begeben sich in Küche und Bad.
Was mich betraf, so machte sich schon vor dem ersten Gähnen Spannung in mir breit. Es fühlte sich an, als stünde ein Tag mit vollem Terminkalender bevor. Wen nichts Dergleichen erwartet, sollte sich diese Tatsache allmorgendlich ins Bewusstsein rufen. Fällt es trotzdem schwer, die körpereigenen Weckamine als wohltuende Muntermacher zu verspüren, besteht immer noch die Möglichkeit, diesen Zustand durch sofortiges Aufstehen zu beenden.
So hatte auch ich mich schon früh auf den Weg gemacht. Freudig gestimmt durchstreifte ich den taufrischen Auwald, ehe mich ein lauter und langgezogener Schrei aus meinen Betrachtungen aufschreckte. Verstört darüber, dass der Morgen des ersten Sommertags solchen Schrecken für mich bereithielt, fragte ich mich für einen kurzen Moment, ob es sich nicht um einen Nachhall jener tumultartigen Traumszenen handelte, die mich aus dem Schlaf gerissen hatten.
Dann aber hörte ich dieselbe Stimme wieder, sodass ich nun auch wahrnahm, aus welcher Richtung die Rufe kamen. Als ich der befürchteten Katastrophe nahe genug gekommen war, entdeckte ich am Flussufer einen Mann reiferen Alters, der nach der kürzesten Nacht des Jahres seine weit geöffneten Arme der aufgehenden Sonne entgegenstreckte und unter eigentümlichen Verrenkungen seines Körpers immer wieder nur ein Wort brüllte: „Frei! Frei! Frei!“
Unter derart erfreulichen Umständen zu fragen, ob man helfen könne, wäre natürlich unangebracht gewesen. Ich nahm also an, dass zu jener frühen Stunde gerade eine schwere Last von den Schultern des Mannes abfiel. Später, als ich am örtlichen Ausflugslokal vorbeikam, sah ich bereits eine fröhliche Runde beisammensitzen, in der man die Gläser auf Gerry erhob, um nach dessen allerletztem Nachtdienst den Eintritt in den heißersehnten Ruhestand zu feiern. „Gerry, Gerry, Gerry!“, hallte es weithin.
Ich selbst gehörte damals schon zu den erfahrenen Vertretern der in die Jahre gekommenen 68er-Generation und wusste, was jeden Neuling an diesem Übergang erwartete. Gerry war mir vom Sehen her kein Unbekannter, Näheres wusste ich über ihn nicht. Doch konnte man sich ungefähr ausmalen, wie auch in diesem Fall die nächsten Wochen und Monate ablaufen würden. Manches passiert jedoch unerwartet und so kam es, dass man Gerry schon vor Mittag mit einem Vollrausch zu Bett brachte, weshalb der erste Tag der Freiheit, von dem er seit einer Ewigkeit geträumt hatte, quasi mit ihm zusammen unter den Tisch fiel.
Der phänomenale Unterschied zwischen den besten und den guten Jahren besteht bekanntlich darin, dass sich das Ego in eine Überfülle von Zeit geworfen sieht, weshalb sich das Verhältnis von Sein und Zeit ins Gegenteil zu verkehren pflegt. Entsprach bisher das, was ich von den Dingen hielt, meiner Auffassung von Wahrheit, brachte es die Zeit mit sich, dass mir das Sein nun selbst das Seiende vor Augen führte. So wartete vieles darauf, durch den unverstellten Blick des Staunenden entdeckt zu werden.
Wer meint, sein Glück in der alleinigen Hingabe an lange versagte Genüsse zu finden, wird sich nach einem ersten Hochgefühl am Boden der Realität wiederfinden. Der vordergründige Halt an Ausreden bekommt unversehens einen Spiegel vorgehalten. Die Aufkündigung hohler Rituale, das Überdenken von Beziehungen oder die Aufgabe von Abhängigkeiten sind Möglichkeiten, um sich den Wunsch nach freier Selbstentfaltung zu erfüllen.
Der vorzeitige Austritt aus dem Kollektiv der Werktätigen bedeutete für mich die Chance, wenigstens im Ausgedinge Zeit für mich selbst zu haben und eigene Konzepte zu entwickeln. Nur anders sein zu wollen als die anderen, sich vordergründig abzuheben und lautstark auf sich aufmerksam zu machen, mag anderen gefallen, mir entsprach diese Art nicht.
Zu erkennen, wer ich wirklich war, erschien mir dabei nicht immer vorrangig. Nicht selten ergibt die Resonanz auf unser Auftreten ein verlässlicheres Bild über eigene Stärken und Schwächen. Wie ich zu mir selbst stehe, kann andererseits nicht allein von der Akzeptanz oder Kritik anderer abhängen.
Das Selbstverständnis muss sich notwendigerweise auch an jenen Vorstellungen orientieren, die man gewöhnlich nicht nach außen trägt; immerhin geht es dabei nicht nur um persönliche Präferenzen, sondern auch um die geheimsten Wünsche! Obwohl es für das gegenseitige Verständnis das Beste wäre, in völliger Offenheit damit umzugehen, scheint es für das Interesse aneinander doch auch von Vorteil zu sein, zumindest nicht mehr über sich zu verraten, als man selbst weiß.
Die Selbstreflexion hält uns gerade in dieser Lebensphase die Inkonsequenz vor Augen, mit der wir unsere Vorsätze verwirklichen und unsere Einstellungen leben. Allein des guten Gewissens wegen beginnt man dann so etwas wie ein Verständnis für die eigenen Schwächen zu entwickeln. Wenn es im Nachhinein etwas zu bereuen gibt, so erweisen sich vermeintliche Fehler oft als durchaus positiv, denn auch Selbstkonzepte sind nicht in Stein gemeißelt.
Manches geschieht auch gegen unseren Willen. Mögen die Absichten noch so gut gewesen sein, manches misslingt eben bei der Ausführung und es liegt nicht immer an uns selbst, sondern daran, dass sich manche Mitmenschen plötzlich so anders verhalten oder sich eine Situation als so unübersichtlich herausstellt, dass man sie lieber nicht umsetzt. Die Unbeständigkeit unseres Wesens und wechselnde Seelenzustände tragen überdies dazu bei, dass wir immer wieder auch selbst auf Orientierungshilfen angewiesen sind, die uns dabei helfen, das innere Gleichgewicht wiederzufinden.
So unergiebig unsere Selbstreflexion auch sein mag, nehmen wir dabei doch wahr, dass unser Selbst keine Konstante ist, nichts Substanzielles, sondern eine wechselnde Beziehung zwischen meinem Ich und mir selbst darstellt. Die Konflikte, die bei allen möglichen Entscheidungen in Erscheinung treten, stellen dieses Verhältnis ständig auf die Probe. Sie machen jedem unmissverständlich klar, dass die besten Jahre nicht umsonst zu haben sind und wir, obwohl das Ende nicht mehr fern ist, vor einer ungekannten Herausforderung stehen.
Es geht nun darum, den Bestand einer Neubewertung zu unterziehen. Haben Zweckdenken und Effizienz unser bisheriges Leben bestimmt, so erlaubt es nun der Wegfall derartiger Erfordernisse, die Gedanken über den Anlassfall hinaus schweifen zu lassen und Dinge aufzufinden, welche ohne irgendeine Absicht zu haben sind.
Am Beginn der physischen Aktivitäten steht meist die Trennung von Gegenständen, die nur mehr von symbolischem Wert sind. Nennen wir es die Entrümpelungsphase, was sich in dieser Zeit als Ausdruck unseres Veränderungswillens kundtut.
„Brauch ich nicht mehr, weg damit!“, hämmerte es Gerry im Kopf, ehe der Kahlschlag begann.
Manche schrecken davor zurück und halten inne, sobald ihnen bewusstwird, dass nun eigentlich die Zeit gekommen wäre, sich den gesammelten Werken der Weltliteratur oder der klassischen Musik zu widmen.
„Beseitigen!“, murrte sein Ordnungssinn und er lag dabei gar nicht so falsch, denn der Stellenwert von Bildung war bei den Müllers ohnehin nie großgeschrieben. Irgendwann einmal hatte der regelmäßige Quartalsbezug von Büchern zum guten Image gehört, später auch jener von Klassik-CDs. Den jahrzehntelang als Bildungshintergrund des Mannes dienenden Bücherbestand, der für das weibliche Geschlecht, mit Verlaub, nie recht viel mehr als ein bloßer Staubfänger war, für immer zu beseitigen, wurde nun auch in diesem Fall zur Causa prima. „Stell dir vor, was wir dann alles gemeinsam unternehmen können, wenn die Hausarbeit weniger wird“, flötete Ilse, und entledigte sich urplötzlich des beim Hausputz getragenen, über der Stirn verknoteten Staubtuchs.
Mit einer Hand richtete sie sich die herabfallende Lockenpracht zurecht, während die andere keck zur Hüfte griff. Als ob ihr auch innerlich ein Knopf aufgegangen wäre, schlüpfte sie augenblicklich in die Rolle der Verführerin.
„Noch einmal ein neues Schlafzimmer“, hauchte sie mit unwiderstehlichem Augenaufschlag. Das gefiel Gerry.
„Aber nicht gleich“, zwinkerte er ihr zu.
Seine kantigen Gesichtszüge vermittelten Entschlusskraft und Begehrlichkeit, der Schlafzimmerblick von Ilse wies in dieselbe Richtung wie seiner. Er zog sie an sich und bekam Lust, sie zu vernaschen. – Was das Triebleben betraf, bewegte sich sein sprachliches Denken auf dem Niveau der 70er Jahre, als man die Mädchen noch selbst auszog. Ab nun wurde es manchmal schon am helllichten Tag laut in der Hütte. Auch die Spielchen auf der Terrasse blieben von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt, zumal die Bushaltestelle und die Bäckerei ganz in der Nähe lagen und auch ein beliebter Spazierweg daran vorbeiführte.
Der vom neuen Lebensabschnitt entfesselte Schwung kann so weit gehen, dass mancher sich kurzum entschließt, sich von allem zu trennen. So mussten schon die tüchtigsten Hausfrauen zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur das Schlafzimmer, sondern auch sie selbst ausgetauscht wurden. Ein herber Rückschlag für die Lebensplanung. Jetzt, wo man es schöner hätte, möchten Männer noch einmal durchstarten. Frauen treffen derartige Entscheidungen meist viel früher. Nicht selten wird der rührige Hausmeister zu Hilfe gerufen, wenn Frau sich nicht mehr als solche wahrgenommen fühlt.
Wenn nach Wochen oder Monaten der Alltag an die Türe klopft, sieht sich nun mancher vor eine ungekannte Herausforderung gestellt. Jetzt zeigt sich, was von seinem Selbst noch vorhanden ist, nachdem es chronisch vernachlässigt wurde. Schlimmstenfalls ergeht man sich in blankem Aktionismus. Der erste Frust entlädt sich in unerklärbaren Reaktionen, sodass sich hinterher die Frage stellt, ob man das selbst war.
„Er war nie so!“, versucht sich das bemitleidenswerte Umfeld zu trösten.
Ilse, die ein Leben lang gewohnt war, den Tag für sich zu haben, kam in die Krise, da ihr Gerry nun durch ständige Anwesenheit glänzte.
„Tu doch was!“, polterte das Hausmütterchen, von dem man nie geglaubt hätte, dass eine Furie in ihm steckte.
„Ich kann mich doch nicht in Luft auflösen“, schrie Gerry zurück, wenn es sein Hormonspiegel erlaubte.
Ein schlechtes Gewissen zu haben, weil man jetzt ständig zuhause ist, belastet die Männerseele und will sie nicht verstehen, so folgen die üblichen körperlichen Attacken auf dem Fuße: Staubsaugerbürsten gegen die Zehen, Anrempeln (nach dem Motto: „hinten hab‘ ich keine Augen!“) oder Tür auf, Tür zu sind dann die üblichen Störaktionen, welche die Selbstbeschäftigung des Mannes auf unerträgliche Weise torpedieren. Also geht Mann lieber eine Weile spazieren oder pflegt den Garten, um den Torturen zu entgehen.
Die Übertragung von Besorgungen unterschiedlichster Art ist ein beliebter Trick, um auf sanfte Weise fortgewiesen zu werden. Die Schelte danach muss man wegstecken können; wer erklärt mir, bitte, den Unterschied zwischen Mohn und Mohn? Mohnfülle sei etwas ganz Anderes als Mohn, geifern die Hausdrachen mit missbilligendem Kopfschütteln und geben es einem richtig.
„Dann gibt es eben keine Mohntorte! Selbst schuld!“
„Jahrzehnte haben sie verlangt, dass man mit ihnen etwas unternimmt, und dann können sie nichts mit dir anfangen, wenn du Ihnen mit vollen Händen deine Zeit schenkst“, klagte Gerry in verzagtem Ton vor sich hin und es klang, als ob er erstmals in seinem Leben unglücklich wäre.
Was jeder mit sich selbst vorhat, wenn er an seine Zukunft denkt, ist nicht immer gleich klar. Manche haben den Kontakt zu ihrem Innersten schon früh verloren und müssen sich erst wiederfinden. Andere machen, was alle machen.
Jene, die bereits im beruflichen Alltag gegen die totale Vereinnahmung durch ihren Beruf revoltiert haben, führen das Leben, das sie bereits vorher für sich entdeckt haben, einfach fort und bringen es möglicherweise noch zu letzter Blüte. Das Haus, das sie bis dahin bewohnten, präsentiert sich nach dem letzten Arbeitstag so, wie sie es immer gewohnt waren vorzufinden. Sie schließen dieses Kapitel ihres Lebens mit dem guten Gefühl ab, keine Pläne in der Schublade zu haben, die sie nicht schon verwirklicht hätten. Sie sind für mich die wahren Lebenskünstler, denn sie haben sich ihre Ursprünglichkeit bewahrt und es verstanden, das eine mit dem anderen in Einklang zu bringen.
Jene, die alles verändern wollen, damit sie die Schrecken der Vergangenheit vergessen, sehen sich einem Fiasko gegenüber, wenn sie zum letzten Male todmüde heimkehren, ohne wirklich zu wissen, was sie jetzt an jenem Ort der Einöde anfangen sollen. Es ist, als hätten sie den Großteil ihres Lebens als Schiffbrüchige verbracht. Unfähig, Boden unter die Füße zu bekommen, trieben sie in einem Ozean, zwischen dessen Wogen und Strömungen sie sich an den anderen orientierten, die selbst auch nicht wussten, wohin die Reise gehen sollte.
Manche haben schon Monate davor in einem All-inklusiv-Hotel ein Zimmer mit Meeresblick gebucht, um diesem Tag einen unwirklichen Glanz zu verleihen. Andere begeben sich auf eine Schiffsreise, um ihr altes Leben zu vergessen. Bei Landgängen begeben sie sich an Orte, wo im Zwielicht dunkler Gassen geschäftiges Treiben herrscht. Ablenkung aller Art bedeutet für sie nun alles, weshalb die Heimkehr immer nur von kurzer Dauer ist.
Unerschrockene Draufgänger suchen ihr Heil in immer ferneren Welten und größeren Tiefen, wo sie sich selbst für das Auftauchen nicht die nötige Zeit nehmen. Ein eigenartiger Tiefenrausch befällt sie. So man sie noch in die Unterdruckkammer bekommt, sieht man sie mit den Geistern ringen, denen sie nachgestellt hatten.
Manche wollen das wilde Element des Wassers gar nicht mehr verlassen. Sie haben Schwimmhäute und Schuppenpanzer entwickelt, dafür aber Eigenschaften wie Verstand und Mitgefühl eingebüßt. Sie sind zu Kaltblütern mutiert und regen sich erst, wenn die Sonne schon hoch am Zenit steht.
Um Gerry, so schien mir, musste man sich diesbezüglich keine Sorgen machen. Soweit es der Blick auf die gut einsehbare Terrasse und den Swimmingpool erlaubte, gab es nach allerlei Anlaufschwierigkeiten keine weiteren Probleme mehr mit Ilse. Wie man hörte, hatte er nach kurzer Zeit der Untätigkeit die Obmannschaft des Siedlungsvereins übernommen, dessen Aussendungen ihm nun als Sprachrohr dienten. Als Ergebnis seiner Umtriebigkeit stieg die Anzahl der Mitglieder in schwindelnde Höhen. Auch ich konnte nicht umhin beizutreten, als Gerry vor der Haustüre stand und mich mit kräftigem Händedruck davon überzeugte, dass man nur gemeinsam stark sei. Nachdem er meine Unterschrift erhalten hatte, sagte er:
„Franky, wir sehen uns, ich setze auf dich!“
Was immer ihm dabei vorschwebte, eigentlich wollte ich lieber Frank bleiben. – Seit einem längeren Aufenthalt in den USA hatte er nämlich die Gewohnheit entwickelt, alle Vornamen, die sich dafür eigneten, zu amerikanisieren. In unserer Altersgruppe gab es eben noch keinen Kevin oder Mike und auch keinen Dustin.
Dann wieder blieben die Rollläden der Müllers wochenlang geschlossen, sodass man auch von einer gewissen Reiselust ausgehen durfte. Die mitgebrachte Bräune war oft beträchtlich. Nachher kam immer viel Besuch, wobei die Stimmung zum Leidwesen vieler erst zu später Stunde ihren Höhepunkt erreichte. Doch als Mitglied des Siedlungsvereins wollte man nichts sagen.
Mir hingegen fehlte die Gabe, das freie Leben von Beginn an wie ein Fest zu feiern. Wie schon in den Jahren davor, wurde ich auch jetzt von einem wiederkehrenden Traum heimgesucht, dem ich nun endlich Beachtung schenken wollte. In quälender Deutlichkeit sah ich mein eigenes Haus vor mir, das als letztes der kleinen Siedlung noch immer nicht fertiggestellt war. Obwohl der Einzug bevorstand, war das Dach undicht und manches Fenster noch nicht eingesetzt. Zu den ständig neu entdeckten Mängeln kam, dass im Boden der Diele ein Loch klaffte, durch das man in den Keller sah, wo ein schwarzes Pferd stand. Alle Versuche, es aus seiner misslichen Lage zu befreien, scheiterten daran, dass es noch immer keine Stufen gab. Es war auch niemand zu bekommen, der all die Mängel behoben hätte.
Langsam wurde mir bewusst, dass ich wohl zu viele Dinge auf später verschoben hatte, weshalb tatsächlich vieles unfertig geblieben war. Doch was hatte das bemitleidenswerte Pferd im Keller damit zu tun? Vielleicht symbolisierte diese Botschaft des Unterbewussten jene mir selbst versagten Wünsche, welche der selbst gesetzten Ziele wegen unerfüllt geblieben waren. Übermächtig vielleicht auch die Angst, vom einmal eingeschlagenen Weg abzukommen und dafür vom Leben bestraft zu werden. – Immerhin hatte ich in der Härte gegen mich schon im Knabenalter einen Ausweg gesehen, die aus nichtigem Grunde an mir ausgeübte Gewalt zu ertragen. Als ich mir überlegte, wie lange sich jene Erinnerungen von mir ferngehalten hatten, wurde mir bewusst, dass sie zu den ersten gehörten, welche mir im Gedächtnis geblieben waren.
Um nachzuvollziehen, was damals alles in mir durcheinandergeraten war, half es in den Jahrzehnten danach wenig, mich an einzelne Details zurückzuerinnern. Als aufschlussreicher erwiesen sich jene Defizite, deren Quelle im zerstörten Urvertrauen liegen mochten. Die damaligen Verformungen jener noch kaum als Welt begriffenen Lebensspanne waren im Unterbewusstsein versunken; sie traten erst wieder zutage, als mir die leichtlebige Art anderer mein Dilemma vor Augen führte.
Diese Kluft erregte den Kampfgeist in mir und mit den Jahren auch meine Abneigung gegen jene, die daraus eine Überlegenheit ableiteten, die anderweitig nicht zu erkennen war. So kam ich auch zu der für mich wertvollen Einschätzung, ich würde im künftigen Leben wohl mehr durch Leistung, denn durch mein Auftreten erfolgreich sein.
Warum sonst hätte ich mir Ziele gesetzt, welche selbstvergessene Opferbereitschaft voraussetzten? Bedurfte es dieser Selbstbeweise aus einem nie auszugleichenden Mangel?
Die Lichtverhältnisse, unter denen ich zu anderer Zeit nach meinen Fundamenten gegraben hatte, entsprachen manchmal eher dem trüben Grau eines verregneten Herbsttages. Das Leben in einer fremden Stadt führte mir überdies vor Augen, dass mit der Reifeprüfung nicht mehr als eine Voraussetzung erfüllt war, doch die eigentlichen Ziele noch in weiter Ferne lagen. Die schwankenden Stimmungslagen, die meine Studienjahre begleiteten, beeinträchtigten mich jedenfalls mehr, als ich als aufstrebender junger Mann zu bewältigen wusste.
In Gedanken an jene Zeit versunken, erschienen manchmal auch die Stunden demütigender Ohnmacht wieder, in denen ich der verhängten Strafe mit Bangen entgegensah. Man hoffte, dem Vater würde vorher selbst ein Unglück widerfahren. Irgendwann hatte die Gewalt ein Ausmaß erreicht, dass ich den Mut verlor, mich gegen Gleichaltrige zu wehren. Mich zu verständigen konnte zur Herausforderung werden, wenn Scheu und Abscheu von mir Besitz ergriffen hatten. Als brächten die Umstände nur umständliche Sätze hervor, stockte meine Sprache, wenn dunkle Schatten auf meiner Seele lagen.
Welche inneren Kämpfe ich je zu führen hatte, sie entstammten einem Gegensatz zur Welt, der lange nicht überbrückbar schien. Ich stand mir selbst im Wege; mir widerstrebte der Alltagstrott, der mein Leben zu beherrschen begann. Ehe ich fähig wurde, darin so etwas wie Glück zu sehen, bedurfte es noch vieler Jahre.
Der Aufbruch zu mir selbst bewahrte mich dann davor, die Realität als ständige Reflexionsfläche wahrzunehmen. Ich müsste gleichgültiger werden, nahm ich mir vor. Doch was nicht in einem ist, kann man nicht werden. – Nicht ich selbst sein zu wollen, wäre dagegen fatal gewesen, denn es hätte am Ende bedeutet, nie zu meinem eigenen Wesen gefunden und damit nie selbst existiert zu haben.
So beschloss ich mit Alma, uns irgendwann einmal davonzumachen, um jenes Leben zu führen, das durch unser beider Schicksal längst vorgezeichnet war.
Welch anderer Mensch ich ohne das Vorgefallene geworden wäre, war eine Frage, die ich mir so noch nie gestellt hatte, die sich nun aber ohne direkten Anlass aufdrängte. Dass etwas zurückgeblieben wäre, konnte ich mir jedenfalls immer gut vorstellen. Nun, da ich alles aus großem Abstand betrachtete, brachte mich noch ein letztes Nachsinnen dazu, Löcher in die Luft zu starren. Draußen hatte schon der Frühling Einzug gehalten, sodass mich nichts mehr in diesem dunklen Verließ hielt, welches aufzusuchen, für mich stets außer Betracht stand.
Auf einem meiner weiten Spaziergänge verlief ich mich nach längerer Zeit im Wald, wo durch Windwurf umgelegte Bäume kreuz und quer übereinander lagen; ein einziger Tritt hätte die unter starker Spannung stehenden Stämme hochschnellen lassen. Um kein Wagnis einzugehen, wich ich von alten Pfaden ab und fand mich bald in dichtem Buschwerk wieder. Als ich an eine Lichtung kam, gaben mir die nahen Hügelketten Orientierung. Ich sah das Flusstal aufwärts, wo die jenseits des Auwaldes sich hinbreitenden Felder bis zu der sich an die Abhänge des Dürrnbergs anlehnende Straße reichten.
Nahe einer Geländekuppe befand sich eine kleine Ortschaft, die aus nicht mehr als Wirtschaftsgebäuden und einer Bierbrauerei bestand, welche früher ihr Malz von Brechmühlen auf der gegenüber liegenden Salzachseite bezogen hatte. Damals lag noch der Geruch angerösteter Gerste in der Luft, der bei Westwind bis hinauf zur Flussinsel zog, wo sich Dämpfe und Rauch aus der Siedesaline verbreiteten.
Inzwischen ist aus der Industrieanlage ein Spielort der gehobenen Unterhaltungsindustrie geworden, was man von Seiten der Festspiele natürlich nie so sehen würde. Nicht weit davon erscheinen die ersten, zwischen Flusslauf und bewaldeten Fels sich zwängenden Bürgerhäuser der ihrer schmutzigen Fassaden wegen früher von mir gemiedenen Stadt Hallein, von der aus man einst das weiße Gold verschiffte.
Zeitvertreib
Warum der eine davon ausgeht, seine eigene Lage beeinflussen zu können und der andere sich ihr hilflos ausgeliefert fühlt, liegt nicht zuletzt an der Einschätzung, selbst etwas bewirken zu können. Dem Gefühl, die Dinge und sich im Griff zu haben, kommt eine ebenso zentrale Rolle beim Aufbau der eigenen Identität zu.
Ohne Selbstvertrauen wird vieles erst gar nicht angedacht oder nicht nachdrücklich genug verfolgt. Dass sich einige dennoch überwinden, ist möglicherweise einem sittlich motivierten Ehrgeiz zuzuschreiben, der sie dazu drängt, sich an anderen ein Beispiel zu nehmen und es ihnen gleichzutun. Wenn dieser Vorsatz auch nicht immer von Erfolg gekrönt ist, so erweckt der erkennbare Wille zumindest Anerkennung. Auf welche Weise sich dabei jemand durch seine Besonderheit oder gar Einzigartigkeit von anderen unterscheidet, erweist sich oft erst, wenn sein Talent entdeckt wird. Meist ist sich der Betreffende dessen gar nicht bewusst. Manche Befähigungen werden durch Lehrer erkannt und gefördert.
Ich hatte das Glück, einen besonderen Menschen als Volksschullehrer gehabt zu haben und zusammen mit einigen anderen Mitschülern von ihm an der Hand genommen und mit väterlicher Güte für die Aufnahmeprüfung in das Gymnasium vorbereitet worden zu sein. Wie wichtig dieses zarte Pflänzchen der in mich gesetzten Hoffnung für meine weitere Entwicklung gewesen ist, kann ich erst heute ermessen. Warum Menschen ihr Schicksal meistern und andere aus der Bahn geraten, liegt wohl an ihrem konfliktfähigen Selbst. Dieses, sagt man, sei ein Selbst, das menschliches Handeln in einem konflikthaften Leben lebensentfaltend zu organisieren vermöge. – Woher meine innere Kraft rührte, vermag ich nicht zu sagen, doch glaube ich, dass nicht allein die Angst vor Schande eine wichtige Triebfeder war.
Ich weiß nicht, was ein anderer mit meinem Leben angefangen hätte. Nicht alles war gut, doch niemand kann aus sich heraus, keiner kann ein anderer sein.
Manchem vermittelt erst die Liebe eine erste Idee davon, was es bedeutet, jemandem etwas wert zu sein. Da ich selbst erleben durfte, dass man darüber hinaus nichts Größeres geschenkt bekommen kann, verstehe ich es bis heute nicht, wie leichtfertig manche damit umgehen. Anderen lässt ständiger Zeitmangel keine andere Wahl und auch mir drohte dieses Unglück.
Anfangs schien es, die Zeit wäre nur enger bemessen. Doch bald reichte es auch nicht mehr, persönliche Angelegenheiten hintanzustellen und zu hoffen, alles renke sich wieder von selbst ein. Sich die Zeit mit anderem zu vertreiben, kam einem zwar in den Sinn, doch gab es an Wochenenden genug nachzuarbeiten. Mich länger an die Zeit zu halten, wäre mein Verderben gewesen, weshalb ich sie vertrieb und durch eine To-do-Liste Liste ersetzte.
Viel zu tun zu haben klingt zwar besser als keine Zeit zu haben, doch auch hier stößt man an seine Belastungsgrenzen. Denn es konnte sein, dass immer neue Listen abzuarbeiten waren. Persönliche Vorhaben platzten wie Seifenblasen, Verabredungen mussten kurzfristig abgesagt und neue Anläufe gewagt werden. Wer die Unentrinnbarkeit dieses Systems nicht verstand, gab nach etlichen Versuchen auf und wandte sich anderen Freunden zu. Es hieß, man wäre unzuverlässig.
Im reiferen Alter geht es kaum mehr um derlei Dinge, sondern schon eher um Bestandspflege. Wozu man noch imstande ist, wird nun zur Messlatte. Neue Herausforderungen zu suchen, trägt in jener Lebensphase dazu bei, sich seine Lernfähigkeit und sein Gedächtnis zu erhalten. Doch so weit war es noch nicht. Was ich tun sollte, stand nun nicht mehr von vorneherein fest. Was ich jedoch wusste, war, dass ich etwas tun wollte, wofür sich bisher nie Gelegenheit geboten hatte.
Aufschlussreich waren in meinem neuen Leben zunächst jene Tageszeiten, zu denen es mir versagt geblieben war, das öffentliche Treiben direkt zu verfolgen. Stoßzeiten geben ein falsches Bild vom wirklichen Leben. Auf der Heimfahrt fuhr man Stoßstange an Stoßstange, sah auf hell erleuchtete Firmenschilder; an langen Einkaufstagen erlebte man vielleicht noch die hektische Betriebsamkeit vor Geschäftsschluss. Morgens strömte wieder alles zur Arbeit.
Überrascht war ich erst, dass in der größten Gaststätte der Umgebung schon weit vor Mittag kein Platz mehr zu bekommen war, was hauptsächlich am Zustrom von Pensionisten lag. An Nachmittagen fanden dort manchmal auch Verkaufsveranstaltungen statt, bei denen man Matratzen oder Heizdecken erwerben konnte. Kaffeefahrten übten immer noch magische Anziehungskraft aus, nicht zuletzt auch deshalb, weil dabei alles, außer den Matratzen und Heizdecken, gratis war. Die Überzeugungskraft und Eloquenz der Verkäufer faszinierten mich dabei ebenso wie die Kaufwut betagter Mitbürger, die sich an die kalten Schlafkammern ihrer Jugend erinnert sahen und auch den Entbehrungen der Kriegsjahre getrotzt hatten. Nun, da man sich etwas leisten konnte, griff man zu und deckte sich ein.
Obwohl ich über die schlechten Zeiten gerne mehr erfahren hätte, ist es bei dem Vorsatz geblieben, künftig öfter an einschlägigen Tagesfahrten teilzunehmen. Ich wollte nach vorne blicken und die Tage nützen, um in dieses neue und andere Leben einzutauchen, das dem Werktätigen weitgehend verwehrt bleibt, doch nicht jedem gleich erstrebenswert erscheint, solange ihn die Schaffensfreude in Atem hält.
Bei meinen Hörsaalbesuchen fiel mir auf, dass gerade Senioren zu den interessiertesten Studenten gehörten, da sie offenbar in der Lage sind, auf verschiedensten Ebenen der Intelligenz mitzudenken. Heute fällt man nicht mehr auf, so man in reiferem Alter an Lehrveranstaltungen teilnimmt.
Doch auch Schweißband und Piratenlook haben ihre Berechtigung, solange es um die Erhaltung der Gesundheit geht. Dass man darunter auch die inzwischen geschwundene Haarpracht verbergen und durch Übertreibung das eigene Ego hervorkehren kann, sind erwünschte Nebeneffekte. Challenge heißt das Zauberwort, in dessen Bann sich einstige Träger der Leistungsgesellschaft gezogen fühlen. Sinnvolles Innehalten haben sie verlernt, denn das unbändige Streben nach Action, Abwechslung und Spannung bedeutet für sie auch weiterhin wahre Erfüllung. Das innere Vakuum saugt alles an, was es finden kann. Im Kampf gegen die Langeweile sind sie bereit, die letzten Reserven aus sich herauszupressen.
Erschöpfende Betätigungen aller Art sind Teil einer Kultur geworden, welche die eigene Natur an ihre Grenzen bringt und die Müdigkeit gesellschaftsfähig macht. Irgendetwas muss immer gehen. Was sich davon in der Rückwärtsbetrachtung als substanziell erweist, wird sich vielleicht nie herausstellen. Aber Hauptsache, man hat nichts versäumt. Manche finden sich noch einen Lebensabschnittspartner, worauf für den letzten Abschnitt im Leben noch weniger Zeit bleibt. Doch man wollte neugierig bleiben und einen neuen Anlauf wagen. Manchem mag die Wiederentdeckung seines jugendlichen Zeitgefühls helfen, die tickende Uhr anzuhalten. Man fühlt sich noch jung und keiner will so recht glauben, dass er verbraucht und nicht mehr zu Allem fähig ist, was die Leichtigkeit des Seins ausmacht.
Für andere kann es erfrischend sein, jene Bereiche für sich herauszufinden, die abseits von Tennis, Golf und Besserwisserei liegen und erst in der Hinwendung an weniger bekannte Angebote ins Blickfeld rücken.
Jenen, die es nicht erwarten können, all das durchzuziehen, was sie sich einmal vorgenommen haben, fehlt noch die lebensoffene Haltung. Sie wissen nicht, dass sich die Bedürfnisse schlagartig ändern können, sobald die Freiheit gewonnen ist. Wessen Vorstellung bisher darin bestand, sich auf den Wegfall von Pflichten zu freuen, muss sich jetzt entscheiden, wofür er seine Zeit nützen möchte. Es muss nicht immer etwas Sinnvolles sein.
Manche hingegen wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben. Sie erklären sich bereit, regelmäßige Altenheimbesuche zu absolvieren oder eine Ausbildung in Sterbebegleitung auf sich zu nehmen. Das Gute im Menschen bahnt sich seinen Weg, wo es will. Die Bereitschaft, sich derartigen Aufgaben zu widmen, kann jedoch auch darüber hinwegtäuschen, dass es einem selbst an Fantasie und Kreativität fehlt.
Was immer sich sonst an neuen Erfahrungen ergab, das meiste davon erwies sich als belanglos. Doch erhielt ich Anregungen, die mir eben deshalb, weil sie nicht viel Bedeutung für mich hatten, Anlass genug waren, den Wert von Normalität neu zu bedenken. Manche Wahrheit ergibt sich erst beim unverstellten Blick auf das Seiende. Manches erklärt sich dann ganz von selbst. Oft mochten die Vorstellungen, wie ich sie im Laufe der Zeit entwickelt hatte, nicht so recht zu jener Wirklichkeit passen, die ich nun vorfand. Man hatte die Dinge aus völlig anderer Perspektive betrachtet.
Da ich nun selbst erlebte, wie offen auch mir diese Welt stand, nach der ich mich schon ein halbes Leben lang gesehnt hatte, hellte sich alles auf, wurde durchsichtig, lichteten sich die Schleier. Die Grenzen wurden fließend; sprunghaft das unbändige Verlangen, in unbekannte Sphären vorzustoßen. Schritt für Schritt zu planen, riet die Vernunft. Ein scheinbarer Zufall schließlich ließ keine Wahl, da es um das Vorziehen längst fälliger Schritte ging. Die Zeit war reif, es musste und es würde etwas geschehen, war ich mir sicher.
Inwieweit sich dabei auch einstige Erwartungen erfüllten oder neue Inspirationen an deren Stelle traten, erwies sich als unerheblich, wenn das Ereignis mein Innerstes berührte. Manche Erkenntnis zog auch den Abschied von alten Gewohnheiten nach sich.
So einigen sich verwandte Seelen oft ganz von selbst, künftig von gegenseitigen Besuchen Abstand zu nehmen und die Welt der Lokale und Kneipen für sich zu entdecken. Der typischen Knauser ist dagegen nicht davon zu überzeugen, das freundschaftliche Zusammensein auszulagern und besteht auch weiterhin auf Besuchen. Eigentlich hat man es aber satt, ständig Blumensträuße zu besorgen und dann in den beengten Verhältnissen eines antiquierten Wohnzimmers ganze Abende zu verbringen.
Inzwischen habe auch ich mein Stamm-Café in der Stadt gefunden, in dem sich nicht nur mein Bekanntenkreis, sondern auch mein Blickwinkel für das scheinbar Banale erweitert hat. Ohne die alten Kulissen, ohne den Heimvorteil werden auch die Rollen neu verteilt. Manch altgedienter Langeweiler, der seinen Status allein der Frau an seiner Seite zu danken hatte, fand sich auf dieser Bühne unvermittelt als Statist wieder.
Eine Form der Lebensstiländerung kann auch darin bestehen, sich kraft- und ausdauerspendenden Trainingseinheiten in einem Fitness-Center zu unterziehen; am besten regelmäßig. Das strukturiert den Alltag. Wenn mancher bedenkt, wie viele Jahre vor dem Wechsel ins Privatleben er seinem Körper kaum mehr als das gerade noch vertretbare Maß an gesunder Bewegung abverlangt hat, bemächtigt sich seiner vielleicht auch die Einsicht, dass es diesbezüglich einiges nachzuholen gäbe. Um sich in Form zu bringen, bedarf es zuweilen ebensolcher Hingabe, wie sie bei der Verrichtung des Tagwerks zu beweisen war.
Falls jemand in diesem Lebensabschnitt auch noch gerne ein Studium beginnen möchte, der wird bald erkennen müssen, dass die Kraft für zwei derart konträre Tätigkeiten einfach nicht ausreicht. Denn wer bei seinen körperlichen Aktivitäten überpowert hat, schwächelt bis in den Nachmittag des nächstfolgenden Tages, sodass für die geistige Arbeit nur mehr in sehr beschränktem Maße Kraft bleibt. Dabei wäre der Geist willig und dazu bereit, sich ebenso zu verausgaben.
Manche machen es sich noch jenseits der geistigen Blüte bewusst schwer und opfern die besten Jahre ausgerechnet der Philosophie, nur weil sie vielleicht einmal davon gehört haben, Philosophie bedeute Vorbereitung auf den Tod. An den schönsten Tagen des Jahres beschäftigen sie sich mit Heidegger. Wer sich bis dahin nicht mit den fundamentalen Grundweisen des Seins beschäftigt hat, der wird sich dabei über Wortschöpfungen den Kopf zerbrechen, die das Sein komplizierter erscheinen lassen, als man meint. Erfreulicherweise ergeben sich auch immer wieder Lichtblicke, nur weil sich nach dem Besuch der Volkshochschule einige Missverständnisse aufgeklärt haben. Garantien, die Welt doch noch zu verstehen, gibt es jedoch keine!
Zudem wird jedem nach gewisser Zeit auch klar, dass man sein Bewegungsprogramm nicht einfach zurückschrauben kann, nur weil es anderem abträglich ist. Denn man wird süchtig danach, seinen Körper zu spüren und unter der Stimulanz der Endorphine zu stehen. Außerdem hört man immer, dass man nicht alt wird, weil man eben älter geworden ist, sondern weil man aufgehört hat, regelmäßig zu trainieren! Unter diesem Aspekt erscheinen dann auch die nicht unbeträchtlichen Kosten des Zweijahresvertrags, den man mit dem Fitcenter abgeschlossen hat, in neuem Licht. Irgendwann glaubt man es auch selbst, was einem ständig von den Werbeplakaten an den Wänden suggeriert wird: Bewegung ist Leben. So tut man gerne auch mehr, als man tun müsste, denn man möchte schließlich gesund sterben, wenn es denn einmal sein muss.
So sehr es einen danach dürstet, dann und wann die körperlichen Trainingseinheiten entsprechend einzuschränken, um zu geistigen Höhenflügen anzusetzen, so schwierig wird es dann wieder zuhause. Das Problem derart produktiver Phasen besteht nämlich darin, dass man sich mit seiner Liebsten in kürzester Zeit auseinandergelebt hat. Die wiedererwachte kritische Einstellung kann man nicht wie den PC abschalten; sie glüht noch nach, weil man sich in eine Welt eingelebt hat, in der es weder Kaugeräusche noch Nebensächlichkeiten gibt. Im Grunde stört bereits die Anwesenheit einer weiteren Person, solange die häusliche Gemeinschaft nicht wieder im Normalmodus läuft. Sonst läuft privat immer weniger!
Erhöht man in solchen Phasen dann doch wieder seinen Einsatz an den Geräten, merkt man erst, was einem wirklich guttut. Man spürt sich wieder, was umgehend den partnerschaftlichen Beziehungen Auftrieb verleiht.
Ich weiß, wovon ich spreche, denn es erging mir nicht anders.
Es ist schwierig, das rechte Maß zu finden! Solange nicht das selbstständige Überleben des Geistes gesichert ist, würde zumindest ich mich, vor die Wahl gestellt, für den pfleglichen Umgang mit meinem Körper entscheiden und jedes Risiko meiden, was die Trennung von ihm betrifft.
Ich war also in die von mir bislang vernachlässigte Welt des Sports eingetreten und schon nach wenigen Wochen hatte sich ein ganz neues Körpergefühl eingestellt. Mich selbst zu spüren, machte meinen Kopf frei. Der Morgengruß galt nun anderen, die ich nur flüchtig oder meist gar nicht kannte. Ich durfte auch an ihnen vorbeisehen, ohne für unfreundlich gehalten zu werden, wenn ich auf dem Laufband wandern ging. Die Kalorienanzeige lief unaufhaltsam im Takt aerober Pulswerte. Niemand begegnete mir mehr widerrechtlich im Fahrverbot des Auwaldes, der Biber nagte ungestört am Böschungsholz. Die Schleichwege, auf denen ich vor mir selbst geflüchtet war, wuchsen zu und die Schreie, die ich vernahm, kamen zweifelsfrei aus der Ecke der Gewichtheber.
Kein grelles Märzlicht blendete mich mehr, die Jalousien des Studios beraubten den Frühling seiner die Seele überfordernden Pracht. Die Verließe der Vergangenheit lagen wie leere Schneckenhäuser herum. Keine Wehmut mehr, die in allem Erblühen das innewohnende Vergehen sah. Alles wurde wieder so wie es eben ist: Am Rande der Lachen und Rinnsale vergilbt der stürmisch entfaltete Zauber, der Blütenstaub hin geweht auf blecherne Vordächer und die Glaswände der Wintergärten. Ein verregneter Montagmorgen nur.
Neuland
Meine Gedanken drängten bald auch hinaus in die Ferne, als läge das Heil außer Landes. Die Wünsche, die ich auf später verschoben hatte, schienen allerdings verschollen. Ich wusste zwar nicht, wo ich sie verlegt hatte, doch sie konnten sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Dabei war ich mir sicher, die Ruinen des Verzichts hätten unübersehbare Spuren hinterlassen, die aufgetürmten Halden begrabener Ideen müssten weithin sichtbar sein, wenn die Zeit gekommen wäre. Wann es zuletzt in meiner Hand gelegen wäre, mir selbst einen Traum zu erfüllen, erinnerte ich mich nicht mehr. Ein einziger großer Vorsatz wenigstens müsste doch auffindbar sein, hoffte ich, als ich mich rückwärtswandte.