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Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt sich Berlin zur Kunstmetropole von europäischem Rang. Literaten, Dramatiker, bildende Künstler und Musiker ziehen in die Stadt und küren, wie einst die Pariser Boheme, Künstlerlokale zu ihrem geselligen und geistigen Treffpunkt: das Romanische Café, Schwannecke und Mutter Maenz, das Restaurant Schlichter, das Adlon, das Eden, das Kampinski oder die Mampestuben – Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Joseph Roth, Stefan Zweig, Erich Kästner, Gustaf Gründgens und viele andere verkehren hier.
Mit zahlreichen Anekdoten und Zeitdokumenten führt Jürgen Schebera unterhaltsam und kurzweilig durch die Berliner Szenetreffs der Goldenen Zwanziger und stellt die Künstler vor, die dort diskutierten und stritten, erste literarische Versuche wagten – oder trickreich versuchten, an Geld für einen Kaffee zu kommen, Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten zu knüpfen oder einfach nur einen Sitzplatz im Lokal zu ergattern.
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Seitenzahl: 160
Jürgen Schebera
Vom Josty ins Romanische Café
Streifzüge durch Berliner Künstlerlokale der Goldenen Zwanziger
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag
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Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe des 1988 unter dem Titel Damals im Romanischen Café im Verlag Edition Leipzig erschienenen Buches.
eBook Insel Verlag Berlin 2020
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4757.
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln
eISBN 978-3-458-76429-8
www.suhrkamp.de
Streifzüge durch Berliner Künstlerlokale der Goldenen Zwanziger
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Prolog: Café des Westens. 1895 bis 1915 – »Café Größenwahn« als erstes Berliner Künstlerlokal
Café Josty. Man trifft sich am Potsdamer Platz
Romanisches Café. Wartesaal des Genius und Künstlerbörse
Schwannecke und Mutter Maenz. Treffpunkt der Berliner Bühnengrößen
Restaurant Schlichter. Ein Jahrhunderterfolg wird geboren
Adlon, Eden und Kempinski. Nobellokale der Dichteraristokraten
›Die Insel‹. Künstlerlokal mit Galeriebetrieb
Café Carlton und Mampestuben. Der Marmortisch als Arbeitsplatz
Epilog: Der Exodus des Geistes
Anmerkungen
Literaturhinweise
Personenregister
Bildnachweis
Informationen zum Buch
»Ich habe einen guten Teil meines Lebens im Kaffeehaus verbracht, und ich bedaure es nicht«, bekennt Hermann Kesten als Sechzigjähriger, rückblickend auf bewegte Jahre. Und weiter: »Bald wird es ein halbes Jahrhundert sein, dass ich in meinen Cafés sitze und schreibe.«1
In den zwanziger Jahren entwickelte sich Berlin zu einer europäischen Metropole. Blick auf die Kreuzung Kurfürstendamm/Ecke Joachimsthaler Straße, Aufnahme von 1930.
Von dem Verleger Bruno Cassirer stammen die Sätze: »Ohne Kaffeehaus kann man überhaupt keine Literatur machen. Jeder Mensch ist im Café ein ganz anderer als an seinem Arbeitsplatz. Dort entwickelt er seine verborgenen Eigenschaften und Wunschträume.«2
An keinem Ort und zu keiner Zeit des 20. Jahrhunderts konnten Literatencafés und Künstlerlokale auf eine solche Galerie klangvoller Namen verweisen wie im Berlin der (gar nicht so) Goldenen Zwanziger, wo Egon Erwin Kisch den Satz prägte: »Das Kaffeehaus erspart uns sozusagen eine Wohnung, die man nicht unbedingt haben muß, wenn man ein Kaffeehaus hat.«3
Längst sind Romanisches Café, Restaurant Schwannecke oder die Destille der Mutter Maenz zu einem Stück Berliner Kulturgeschichte geworden – mit Sicherheit nicht dem wichtigsten, aber dennoch einem unverzichtbaren und vor allem erzählenswerten.
Die Jahre der Weimarer Republik, zwischen 1919 und 1932, waren eine Periode in der damals fast siebenhundertjährigen Geschichte Berlins, in der die Stadt nicht nur die Einwohnerzahl von vier Millionen überschritt, sondern sich zugleich zu einer Kunstmetropole von europäischem Rang entwickelte. Nie zuvor hatte sich in Deutschland eine solche Konzentration nicht nur ökonomischen Potentials, sondern auch geistiger Kräfte an einem Ort vollzogen wie im Berlin der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Die Großstadt übte eine fast magisch zu nennende Anziehungskraft auf Künstler und Geistesschaffende aus. Vor allem junge Schriftsteller, Theaterleute und bildende Künstler kamen von überall her in Deutschland, um nach dem Wegfall vieler Behinderungen während der wilhelminischen Ära nun an der Erneuerung der geistig-kulturellen Werte mitzuarbeiten. »Wer Berlin hatte, dem gehörte die Welt«, erinnerte sich später Carl Zuckmayer an die Jahre ab 1920, als der Vierundzwanzigjährige aus dem Rheinland gleich vielen anderen die neue Kunstmetropole zu erobern versuchte. »Berlin schmeckte nach Zukunft, und dafür nahm man den Dreck und die Kälte gern in Kauf.«4
Für die Entwicklung der Künste wurde die produktive Aufnahme und Verarbeitung ausländischer Einflüsse zum wichtigen Impuls: der avantgardistischen Strömungen aus Frankreich und der jungen Sowjetunion ebenso wie der kommerziellen Massenkultur aus den USA. »Berlin als ein Zentrum europäischer Gesittung war neu«, hielt Heinrich Mann fest. »Berlin empfing, es war zugänglich noch mehr als schöpferisch. Die Schöpfer kamen zu ihm von überall, die große Stadt repräsentierte, das ist Beruf der wahrhaft großen Stadt. Dazu der Einschlag fremder Kulturen.«5
Einhergehend mit der Entwicklung neuer technischer Massenmedien wie Rundfunk, Schallplatte und Film etablierten sich in Berlin zahlreiche neue Produktions- und Verbreitungsinstitutionen für die Künste. Ein solcher Markt für geistige Produkte fand sich vergleichbar in keiner anderen europäischen Metropole. Ein Blick in die Statistik verdeutlicht diese Ausnahmestellung:
»Kudammbummel 1928«, so hat der Scherl-Fotograf damals dieses Bild bezeichnet. Rund um die Gedächtniskirche befanden sich am Kurfürstendamm und in der Tauentzienstraße mehrere große Kinopaläste, bekannte Cafés, Restaurants und elegante Geschäfte.
1927 spielten in Berlin allabendlich 49 Theater, einmalig in der Welt war die Existenz von gleichzeitig drei Opernhäusern. Es gab drei große Varietés sowie 75 Kabaretts, Kleinkunstbühnen und Lokale mit Unterhaltungsprogramm.
1929 gab es in der Stadt 363 Kinos; 37 Filmgesellschaften produzierten jährlich rund 250 abendfüllende Spielfilme.
In Berlin erschienen 1929 allein 45 Morgenzeitungen, zwei Mittagsblätter und 14 Abendzeitungen. Fast 200 Verlagsunternehmen arbeiteten in der Stadt, darunter so namhafte Häuser wie S. Fischer, Ernst Rowohlt, Bruno Cassirer und Gustav Kiepenheuer. Hinzu kamen bedeutende linksorientierte Verlage wie Malik, Die Schmiede, Erich Reiss, der Neue Deutsche Verlag und die Büchergilde Gutenberg. Ullstein und Scherl waren die Großproduzenten von Unterhaltungsliteratur.
Ein solcher Markt verlangte natürlich nach entsprechender Ware – nicht zuletzt war es auch die materielle Seite geistiger Produktion, die Berlin so anziehend machte. Als der dreiundzwanzigjährige Schriftsteller Ödön von Horváth 1928 zum ersten Mal nach Berlin kam, notierte er nach wenigen Wochen: »Und nun das Wichtigste: bekanntlich braucht man zum Denken einen Stuhl, auf dem man sitzt. Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß das Materielle unentbehrlich ist. Und das bietet dem jungen Schriftsteller nur Berlin, von allen deutschen Städten. Berlin, das die Jugend liebt und auch etwas für die Jugend tut, im Gegensatz zu den meisten anderen Städten, die nur platonische Liebe kennen. Ich liebe Berlin.«6
Neben den traditionellen Produktions-, Diskussions- und Umschlagplätzen für Kunst und geistige Produktion (Theater, Ateliers, Galerien, Verlage, Redaktionen) erlangte nun ein weiterer zunehmende Bedeutung: das Künstlerlokal. Hier traf man sich, um neue Projekte zu debattieren und vor allem »an den Mann zu bringen«. Ob bei Josty am Potsdamer Platz, bei Schwannecke in der Rankestraße oder im Restaurant Schlicher in der Lutherstraße: Hierher kamen die Künstler nur im Ausnahmefall, um zu arbeiten; viel wichtiger waren solche Treffpunkte, um mit den Dramaturgen der Berliner Bühnen über die Annahme eines neuen Stückes zu verhandeln, von den Feuilletonredakteuren Aufträge für Artikel und Rezensionen zu erhalten oder mit Galeristen Ausstellungen und Ankäufe zu vereinbaren. Nicht zuletzt galt hier auch das Sehen und Gesehenwerden – vor allem im Romanischen Café, das zum Inbegriff des Berliner Künstlerlokals der zwanziger Jahre wurde.
So reizvoll ein Buch über diesen Bereich künstlerischer Kommunikation ist, so muss es doch zwangsläufig vieles aussparen. Weder kann hier eine Berliner Literatur- und Kunstgeschichte der zwanziger Jahre vorgelegt werden, noch spiegeln sich in der Szene der Künstlerlokale die ästhetischen wie politischen Polarisierungen der Jahre bis 1933. Entscheidende Prozesse der gesellschaftlichen Entwicklung wie der künstlerischen Produktion verliefen außerhalb der Kaffeehäuser. Der interessierte Leser findet dazu im Literaturverzeichnis entsprechende Hinweise zu weiterführender Lektüre.
Dessen ungeachtet wird in einem solchen Buch ein wichtiger Impuls für die bis heute faszinierende Vielfalt im geistigen Leben Berlins der zwanziger Jahre unmittelbar nachvollziehbar: die äußerst produktive Rolle von Gespräch und Debatte für die künstlerische Produktion. Natürlich hat Brecht den Text der Dreigroschenoper nicht im Restaurant Schlichter geschrieben, sondern in seinem möblierten Zimmer in der Spichernstraße; Leonhard Franks Romane entstanden nicht im Romanischen Café, sondern an seinem Schreibtisch in Halensee. Und doch verdanken viele Werke die unterschiedlichsten Anregungen den Gesprächsrunden am Tisch des jeweiligen Stammlokals.
Diese Atmosphäre so authentisch wie möglich wiederzugeben, bestimmt die Machart des vorliegenden Bandes. Da der Autor nicht mehr zur Generation der »Augenzeugen« gehört, werden eine große Zahl originaler Texte der zwanziger Jahre in die Darstellung einbezogen, ergänzt um Auszüge aus später veröffentlichten Erinnerungen. Dass auch die überlieferte Anekdote zu ihrem Recht kommt, mag das Vergnügen an der Lektüre noch erhöhen. So fügt sich die Beschreibung der Lokale und ihrer wichtigsten Stammgäste – die ja erst den Nachruhm ausmachen – zusammen zu einer Dokumentation, welche die umfangreiche Berlin-Literatur um ein unterhaltsames Kapitel erweitern möchte.
Freisitze des Café König Unter den Linden. Die Billard-, Schach- und Spielsäle im Innern des Lokals waren ein beliebter Treffpunkt schon ab zehn Uhr morgens. Aufnahme von 1931.
Blick auf die Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße. Hier befand sich das beliebte Café Kranzler, meist »Kranzler-Eck« genannt. Aufnahme von 1924.
Ein Gesamtüberblick ist weder beabsichtigt noch zu leisten, zu bunt und vielfältig war die Szenerie. 1928 betrug die Gesamtzahl der Berliner Gaststätten rund 16 000, davon 550 Kaffeehäuser sowie 220 Bars und Tanzlokale. In etwa hundert davon verkehrten Künstler und Geistesschaffende. Es gab Treffpunkte in unmittelbarer Nähe der Arbeitsorte, etwa das Café Jädicke in der Kochstraße nahe dem Zeitungsviertel, wo die Journalisten unter sich waren, oder die Kleine Scala, wo die Varieté- und Zirkusleute nach ihrem Auftritt saßen. Wichtiger noch als solche »brancheninternen« Lokale waren die »öffentlichen« Künstlertreffpunkte, wo von morgens bis in die späte Nacht ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und sich Vertreter aller Richtungen begegneten.
Bereits um das Jahr 1815 hatte sich in Berlin erstmals ein Künstlerstammtisch etabliert – der Kreis um E. T. A. Hoffmann in den Weinstuben von Lutter & Wegner; wenige Jahre später sollte Heinrich Heines Tischrunde in der italienischen Konditorei Stehely folgen. Doch erst mit dem 1895 eröffneten Café des Westens bildete sich schließlich jener Typ eines Künstlerlokals heraus, der durch seine Stammgäste und Besucher aus der Boheme geprägt wurde. Dieser »wegbereitenden« Institution – obwohl lange vor den Zwanzigern als »Café Größenwahn« auf der Höhe seines Ruhms – gilt folgerichtig das einleitende Kapitel unserer Darstellung, ehe wir uns danach auf den Streifzug durch die Jahre der Weimarer Republik begeben.
Der abschließende Epilog skizziert dann den Exodus des Geistes nach dem 30. Januar 1933 mit seinen Auswirkungen nicht zuletzt auch auf die Szenerie der Berliner Künstlerlokale.
Die Weimarer Republik, den Kern ihres Scheiterns, nämlich die fehlende Majorität an wirklichen Demokraten, von Anbeginn in sich tragend, war durch die Kräfte der Reaktion am Ende planmäßig vernichtet worden. Daran konnte auch die große Zahl an Künstlern und Geistesschaffenden aufrechter Gesinnung, die jahrelang ihre Stimme für die Verteidigung der Republik erhoben hatten, letztlich nichts ändern. Die meisten von ihnen mussten Nazideutschland verlassen, fortan »öfter als die Schuhe die Länder wechselnd«7, wie Brecht es in seiner poetischen Metapher ausgedrückt hat. Nicht zuletzt ist unser Buch auch eine Erinnerung an ihre großen Berliner Jahre vor Einbruch der braunen Nacht über Deutschland.
1895 bis 1915 – »Café Größenwahn« als erstes Berliner Künstlerlokal
Im Jahr 1893, als der Kurfürstendamm in Richtung Halensee noch eine nur teilweise bebaute Gegend war, eröffnete ein Herr Kirchner im Haus Nr. 18 ein kleines Café. 1895 wechselte es den Besitzer, hieß nun Café des Westens und wurde alsbald zum Treffpunkt der Berliner Boheme. Im Herbst 1896 fand sich hier ein erster Stammtisch von Malern aus umliegenden Ateliers zusammen, denen sich ab 1898 zunehmend Literaten und Theaterleute anschlossen. Es war die Zeit, da sich das aus Frankreich stammende Cabaret als neues Genre Kabarett auch in Berlin etablierte. Ernst von Wolzogen und Otto Julius Bierbaum brachten die »zehnte Muse« in die Stadt, Unternehmen wie Überbrettl oder Schall und Rauch-Bühne kündigten sich an.
Umschlag einer Festbroschüre, erschienen 1913.
Café des Westens, Kurfürstendamm 18. Bei der Eröffnung im Jahre 1893 war die Gegend noch ein ruhiger Winkel. Aufnahme um 1905.
Zu den ersten Stammgästen des Cafés gehörte der Maler Edmund Edel. Er redigierte 1913 eine Festschrift 20 Jahre Café des Westens, in der sich die folgende Reminiszenz an Ereignisse zu Ende des Jahres 1899 findet:
»In dem kleinen abgeschlossenen Nebenzimmer des Café des Westens wurden die Vorbereitungen zur Sylvesterfeier 1900 getroffen, die in den Parzivalsälen des Theaters des Westens stattfinden sollte. In wenigen Nächten entstand hier Max Reinhardts berühmte Parodie des [Schiller'schen] Carlos. Und es wurde die Schall und Rauch-Bühne geboren.«8
Sechzig Jahre später berichtete der Schriftsteller Peter Edel über seinen Großvater Edmund und dessen Freund und Förderer, den Kunstkritiker Max Osborn – der zusammen mit Edmund Edel viele Nächte im Café des Westens verbracht hatte –: »Er geriet in Verzückung, der Dr. Osborn, wenn er seines Freundes Edmund Glanz- und Pioniertaten schilderte: die zahlreichen Plakate, die im kühnen Jugendstilstrich, frech, einprägsam, eine ganze Schule mitbegründet hatten.«9 Zu den bildenden Künstlern aus der Frühzeit des Cafés gehörten auch der Bildhauer Ottomar Begas, der die Marmorplatten der Tische mit Skizzen und Porträts versah, und der Maler Baron von Schennis.
Werbeplakat für die B. Z. am Mittag von Edmund Edel, 1904.
Sehr bald wurde ein zweiter Kreis im Café des Westens heimisch. 1903 hatten der Kunstkritiker Herwarth Walden und die Dichterin Else Lasker-Schüler geheiratet, große Teile ihres Lebens verbrachten die beiden fortan in »ihrem« Café, wo Walden zahlreiche Künstler und Schriftsteller um sich versammelte, die dann ab 1904 in seinem Verein für Kunst zusammenarbeiteten. Wichtigste Vertreter dieses »Walden-Kreises«, der sehr bald die Atmosphäre des Lokals bestimmte, waren die Schriftsteller Erich Mühsam, Richard Dehmel, Julius Hart, Peter Hille sowie der Arzt und Dichter Alfred Döblin. Auch der Kunsthändler Paul Cassirer mit seiner Gattin, der Schauspielerin Tilla Durieux, gehörten zu dieser Runde. Später hat die Durieux über Walden und Lasker-Schüler notiert: »Dieses Ehepaar, mit ihrem unglaublich verzogenen Sohn, konnte man nun von mittags bis spät nachts im Café des Westens unter all den wilden Kunstjüngern und Kunstfrauen antreffen. Die kleine Familie nährte sich, wie ich vermute, nur von Kaffee.«10
Der Künstlerkreis um die von Herwarth Walden herausgegebene Zeitschrift »Sturm« traf sich regelmäßig im Café des Westens. Skizze von John Höxter, 1928.
Das »Café Größenwahn« lieh 1905 sogar einem Roman den Titel. Auf dem Umschlag sind die zwei wohl berühmtesten Stammgäste verewigt: Else Lasker-Schüler und Erich Mühsam.
Zu dieser Zeit, etwa um 1903, erhielt das Lokal jenen Beinamen, mit dem es in die Kulturgeschichte eingegangen ist: »Café Größenwahn«. Vorbild dafür war das Münchner Boheme-Café Stephanie, das ein Jahr zuvor unter dem gleichen Namen zu einem Künstler-Karneval eingeladen hatte.
Bereits 1905 findet sich in einem Buch über Berliner Kaffeehäuser der Name festgeschrieben. Im Kapitel zum »Café Größenwahn« kann man lesen: »Dicke, überhitzte Luft brütet in dem kleinen Eckcafé, das zu ebener Erde liegt, niedrig, nur wie ein paar Zimmer, zwischen denen die Wände ausgebrochen sind. Billige Gobelins an den Wänden. Verräucherter Stuck an den Decken. Alles in einem lächerlich falsch verstandenen Rococo. Aber gerade diese niedrigen, schlecht geschmückten Decken, die keine genügende Ventilation ermöglichen; gerade dies enge Beisammensein, zu dem die kleinen Räume nötigen – gerade das macht die Gemütlichkeit des Lokals. Gerade das lockt all die jungen Leute von Berlin W. hierher, die es in ihren Ateliers nicht gemütlich haben und in deren möblierten Zimmern es im Winter scheußlich kalt ist.«11
Jakob van Hoddis. Der expressionistische Dichter zählte bis 1914 zu den Stammgästen im Café des Westens. Porträtzeichnung von Ludwig Meidner, 1913.
Café Größenwahn. Die Zeichnung von Rudolf L. Leonhardt, eine Erinnerung an das Café des Westens, entstand 1920.
Ab etwa 1907 stießen die frühexpressionistischen Dichter um Kurt Hiller zu den Stammgästen des Lokals: Ernst Blass, Jacob van Hoddis, Georg Heym und Alfred Lichtenstein. Immer stärker wurde das Café des Westens nun zum zentralen Treffpunkt Berliner Künstler, die u. a. aus dem Nollendorf-Casino in der Kleiststraße und aus dem Café Kutschera am Kurfürstendamm ins »Größenwahn« umzogen.
In der bereits erwähnten Jubiläumsschrift von 1913 geht Edmund Edel der Frage nach, was denn die Anziehungskraft gerade dieses Lokals ausgemacht habe: »Wieso gerade dieses kleine Café zum Hauptsitz des Geistes geworden ist, kann kein Geschichtsschreiber ergründen. Eines Tages war es offenbar Tatsache, daß nur hier im großen Berlin sich der Geist und die Seele in den nötigen Schwung bringen lassen können. Allmählich überzogen Scharen von Geisteshelden aller Fakultäten das Kaffeehaus, saßen und lagerten an den Marmortischen am hellichten Tage und in tiefdunkler Nacht, und wenn es hochkam, hatten sie eine Zeche von 55 Pfennig gemacht. Aber sie saßen an den Marmortischen wie an den Wassern Babylons.«12
Die wichtigsten dienstbaren Geister des Lokals waren Herr Hahn, der Oberkellner, und der »rote Richard«, ein spezieller Zeitungskellner, so genannt wegen seiner Haarfarbe. Herr Hahn war Vertrauter, Kreditgeber und Pfandleiher seiner Gäste in einer Person. Er hatte geheime Abkommen mit manch zahlungskräftigem Mäzen und Kunstförderer, so dass oft Rechnungen stillschweigend gar nicht erst präsentiert wurden und etwa Paul Cassirer für die Zeche der Lasker-Schüler oder einer der Ullstein-Brüder für die Erich Mühsams aufkam.
Für die Stammgäste war das »Café Größenwahn« längst zu einem Teil ihres Lebens geworden. »Ich bin nun zwei Abende nicht im Café gewesen«, schreibt Else Lasker-Schüler 1911, da sie krank zu Bett lag, »ich fühle mich etwas unwohl am Herzen. Dr. Döblin kam mit seiner lieblichen Braut, um eine Diagnose zu stellen. Er meint, ich leide an der Schilddrüse, aber in Wirklichkeit habe ich nur große Sehnsucht nach dem Café.«13 An ihrem Tisch prägte die Dichterin für sich und ihre Freunde die phantastischsten Namen. Richard Dehmel nannte sie den »Waldfürst«, Peter Hille »Sankt Peter«, Gottfried Benn »König Giselher« und Karl Kraus, der bei keinem seiner Berliner Aufenthalte vor dem Ersten Weltkrieg versäumte, ins Café des Westens zu kommen, erhielt den Ehrennamen »Kardinal«.
Caféhaus. Radierung von Ludwig Meidner, 1914.
Else Lasker-Schüler. Von 1903 bis 1912 mit Herwarth Walden verheiratet, war sie im Café des Westens ein Mittelpunkt der Berliner Boheme. Aufnahme von 1907.
Der expressionistische Maler und Zeichner Ludwig Meidner schrieb über das Café um 1910: »Man konnte dort bei einer Tasse Kaffee oder einem Glase Bier, die beide je 25 Pfennig kosteten, die ganze Nacht hindurch sitzen, ohne daß man von einem Kellner ermahnt wurde, etwas Neues zu bestellen. Es hatten sich dort im Laufe der Jahre einige Tafelrunden zusammengefunden, und einer dieser Stammtische war abgebildet in einem großen Wandbild, einem anspruchslosen plakathaften Machwerk, das hoch oben an der Wand prangte und den Kreis um den Schriftsteller Erich Mühsam darstellte. […] Die Atmosphäre dieses Milieus war angenehm, ja sie hatte für uns sogar etwas Anheimelndes und Gemütliches. Das Lokal war nicht so grell beleuchtet wie andere Cafés. Wenn man jemand stets antraf, so war es John Höxter, ein junger Mann ohne bestimmten Beruf, obschon er sich als Maler ausgab, dem man aber den Bohemien sogleich ansah.«14
Dieser John Höxter, um 1905 aus Düsseldorf nach Berlin gekommen, ein begabter Zeichner, wurde hier für fast zweieinhalb Jahrzehnte zum Kaffeehaus-Bohemien par excellence. Den größten Teil dieser Jahre verbrachte er zunächst im »Café Größenwahn« und danach im Romanischen Café. Nach immer gleichem Ritus kassierte der liebenswürdige Schnorrer an den Tischen feststehende Sätze zwischen 50 Pfennig und 1 Mark, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestritt. Im Jahr 1929 veröffentlichte Höxter seine Erinnerungen an 25 Jahre Berliner Boheme. Darin findet sich auch der Text Ein Tag im Café des Westens, authentische Schilderung des Lokals als Mittelpunkt, Kommunikationszentrum und Lebensweise: