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Traurig und einsam blickt der Mann auf die trübe Landschaft des nicht enden wollenden Winters. Doch plötzlich setzt sich ein kleiner Vogel unverhofft auf den Ast eines kargen Baumes, der wie von Zauberhand unmittelbar anfängt zu blühen. Kaum fliegt der Vogel davon, kehrt der Winter jedoch zurück. Der Mann erkennt, wie sehr er sich nach der Wärme und Schönheit des Frühlings sehnt, und macht sich auf, den geheimnisvollen Vogel zu finden. Auf seiner Reise erwarten ihn Abenteuer, und er begegnet Menschen, die ihn daran erinnern, was im Leben wirklich wichtig ist. Begeisterte Stimmen "Die Autorin zaubert eine Schule des Lebens aufs Papier. Fast ein Wunder: So viel Magie steckt in Vernunft!" Wolfgang Herles, ZDF-Redakteur & Journalist, Schriftsteller "Dieses faszinierende Buch beschreibt auf berührende Weise die Suche nach sich selbst auf den irreführenden Straßen des Lebens. Es erzählt von Träumen, verpassten Chancen und neuen Möglichkeiten." Manfred Lütz, Bestsellerautor "Eine poetische Glücksuche." Roger de Weck, Generaldirektor Schweizer Fernsehen und ehemaliger Chefredakteur Die Zeit "Ein modernes Märchen – eine zauberhafte Anleitung zur Gelassenheit." René Scheu, Feuilletonchef der NZZ "Dieses Buch nimmt uns mit auf eine wunderbare Reise, an deren Ende die Erkenntnis steht: Was das Leben an Schönem für uns bereithält, erfahren wir oft erst, wenn wir die gewohnten Wege verlassen. Lesen Sie sich glücklich!" Kai Diekmann, Herausgeber BILD "Spannend, berührend und im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaft führt dieses Buch in eine andere Welt. Diese einzigartige Geschichte beginnt mit einer Sehnsucht, die wir alle haben. Und endet mit einem Weg, den nur wenige finden - den eigenen." Jean-Remy von Matt, Mitbegründer der Werbeagentur Jung von Matt "Eine Zauberwelt von der ersten Seite an. Ein berührendes Buch, das einen nicht mehr loslässt." Willi Weitzel, Fernsehmoderator und Filmproduzent
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Das Buch
»Er sah sich um, und ihm fiel auf, dass die Magnolie nicht blühte. Als er die Knospen mit seinem Finger berührte, brachen sie in voller Blüte auf. Sanft rieselte der Duft des Frühlings von den Zweigen herab.«
Ein Mann steht am Fenster und schaut hinaus auf den nicht enden wollenden, Winter. Plötzlich setzt sich ein kleiner Vogel auf einen kargen Ast, und wie von Zauberhand berührt, sprießen aus den Zweigen Blüten hervor.
Kaum fliegt der Vogel davon, kehrt der Winter zurück. In dem Moment erkennt der Mann, wie sehr er sich nach der Wärme und Schönheit des Frühlings sehnt, und er macht sich auf, den geheimnisvollen Vogel zu finden. Auf seiner Reise begegnet er Menschen, die ihn daran erinnern, was im Leben wirklich wichtig ist.
Diese fantasievoll erzählte Geschichte entführt uns auf märchenhafte Weise in eine Welt der Träume, Hoffnungen und Möglichkeiten. Sie zeugt von Weisheit, Lebenskunst und dem Glauben an eine Kraft, die jedem von uns innewohnt. Lassen Sie sich verzaubern – dieses Buch ist voller Magie.
Die Autorin
Clara Maria Bagus hat in den USA und in Deutschland Psychologie studiert und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig.
Ihr beruflicher Lebensweg führte sie durch zahlreiche Länder. Dort begegneten ihr immer wieder Menschen auf der Suche nach sich selbst. In einer Welt, in der Orientierung schwer zu finden ist, hat sie ihnen durch ihre geheimnisvollen Geschichten geholfen, den roten Faden ihres Lebens wiederzufinden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Bern.
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ISBN 978-3-7934-2307-2
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Wie ein Frühlingswind, nicht mehr zu sehen, aber immer zu spüren.Im Gedenken an meine Mutter.
1. Kapitel
Der Morgen riss die schwarze Nacht vom Himmel. Blässe von Horizont zu Horizont. Diese unendliche Palette an Graustufen. Die Wolkendecke erlaubte nicht die kleinste Lücke, durch die ein Sonnenstrahl sich hätte drängen können. Winter – noch immer.
Der Frost bedeckte die Landschaft mit seinem Kleid aus Eis und erstickte alles Leben. Kein einziger Vogel war zu sehen, weder Bäume noch Sträucher blühten. Die Welt als Bleistiftzeichnung. Als wäre die Zeit eingefroren. Außer der klirrenden Kälte hörte man nur den Wind. Garstig fegte er über das Land, sein Atem so eisig, dass alles unter ihm erstarrte.
Still saß der Mann am Fenster, die Hände um eine Tasse Tee geschlungen, und wartete. Doch er kam nicht, der Frühling. Es war, als ob er diesen Teil der Erde vergessen hatte.
Der Mann wusste nicht, was er gerade dachte. Er beugte seinen Kopf über den Tee: Dampfwolken über der Tasse. Ab und an eine Lücke, darin schwach und zitternd der Abglanz seines Gesichts. Sein Spiegelbild zeigte ein Abbild weniger dessen, der er war, als vielmehr dessen, zu dem ihn das Leben gemacht hatte. Eine matte Schwärze hockte in seinen Augen.
Nach einer Weile hob er den Kopf und stützte ihn in die Hände. Verloren blickte er nach draußen in den Garten voller Schnee und Eis. Die Zweige der Bäume wie mit Tusche in den blassen Himmel gezeichnet, die Stämme in Eis gefasst wie Flaschen aus grauem Glas.
In den tiefsten Winkeln seiner Gedanken erinnerte er sich, wie er sich in jungen Jahren eine blühende, fabelhafte, grenzenlose Landschaft an Möglichkeiten erträumt hatte, ein prächtiges Leben, das ihm zwar noch nicht gehörte, er sich aber nur noch pflücken musste. Man sah ihn an und fand es in seinen Augen.
Nun saß er da. In der Mitte des Lebens. Der Glanz in seinen Augen war erloschen. Was war nur aus seinen Träumen geworden? Wie konnte ihm das Leben so entrinnen? Wer war er überhaupt?
Mit beiden Händen nahm er seine Brille ab, als wolle er die Schwere aus seinem Gesicht ziehen. Dann griff er nach der Tasse und führte sie zum Mund. Er trank den Tee aus und mit dem Tee sein Spiegelbild.
Und dann, plötzlich, draußen auf dem Fenstersims ein Vogel. Bunt wie ein Malkasten. Noch nie hatte er einen prächtigeren Vogel gesehen. Er war handgroß, zierlich, und sein Gefieder leuchtete wie ein Feuerwerk.
Durch die Scheiben hindurch hörte der Mann, wie der Vogel zu zwitschern begann. Mit einem Mal legte sich der Wind und stellte seinen frostigen Atem ein. Der Gesang des Vogels war so lieblich, dass sogar die eine oder andere Blume den Kopf aus der Erde streckte. Der Mann öffnete ganz leise das Fenster. Ein betörender Duft von Frühling umfing ihn – eine Sinfonie aus süßen Blüten, würzigen Gräsern und feuchtem Moos.
Einen Augenblick später breitete der Vogel seine Flügel aus, flog zur Magnolie im Garten und ließ sich in der Baumkrone nieder. Sofort brach der Baum in Blüten aus. Der Mann rieb sich die Augen – was nichts am Bild änderte. Dann schwang sich der Vogel erneut auf und näherte sich wieder dem Fenster. Er schlug mit den Flügeln, als wolle er dem Mann etwas mitteilen, und so unerwartet, wie er gekommen war, schwirrte er davon. Gleich darauf zogen die Blüten ihre Köpfe ein, und es wurde wieder Winter – im Baum, im Garten, in diesem Teil der Welt.
Der Mann stieß sich von der Tischkante ab, sprang auf und lief zur Tür. Hastig drehte er den Schlüssel. Kaum war die Tür auf, eilten seine Augen dem Vogel nach. Sie folgten seinem Flug, bis er kaum noch zu sehen war.
Auf dem Feld am Waldrand ließ sich der leuchtende Zauber in der Krone eines Kirschbaums nieder. Im selben Moment färbte sich der Baum in sattes Grün. Aus den Zweigen sprossen Blüten wie Perlen. Wie Puderzucker rieselte ihr Duft auf die Erde hinab.
Gefesselt von der Magie des wundersamen Vogels, überlegte der Mann nicht lange. Er rannte ins Haus zurück, zog sich den wärmsten Pullover an, der grad zu finden war, stieg in seine Stiefel, schlüpfte in den Mantel und schnürte sich den Rucksack um. Dann löschte er das Feuer im Kamin, die Kerzen auf dem Tisch und schritt hinaus in die zähe Kälte. Die Tür fiel ins Schloss. Er stapfte die Treppe hinunter auf den vereisten Weg, der zum Wald führte.
Der Vogel saß noch immer zwischen den Kirschzweigen und sang. Als sich der Mann dem Baum näherte, breitete der Vogel erneut seine Flügel aus und flog vom Ast. Auch diesmal rollten sich die Blätter des Baumes wieder ein, und die Blüten krochen zurück in ihre Knospen. Der Duft von Frühling lag noch einige Augenblicke auf der Schneedecke, bevor er verging.
Der Mann kniff seine Augen zusammen. Wie konnte das bloß sein? Er schaute dem Vogel nach, wie dieser im Wald verschwand. Forsch schritt der Mann voran. Sein Blick klebte am Himmel auf der Suche nach diesem merkwürdigen Zauber.
Im Wald war es düster und klirrend kalt. Eiszapfen hingen wie Dornen von den Ästen, und die Schneedecke hatte den Waldboden so dick verpackt, dass der Mann mit jedem Schritt stiefeltief in sie einsank. Immer wieder blitzte der Vogel auf, um gleich wieder hinter Baumwipfeln zu verschwinden. Unermüdlich stapfte der Mann weiter. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen. Die Luft war so eisig, dass er sie als beinahe undurchdringlichen Widerstand empfand.
Nachdem er dem Vogel viele Stunden ohne Rast gefolgt war und seine Beine mit jedem Schritt tiefer in den Schnee einsanken, erblickte er in der Ferne eine alte Holzhütte, auf deren Giebel sich der Vogel niedergelassen hatte. Auf einmal schmolz der Schnee vom Dach, und die Eiszapfen krachten zu Boden.
Wenig später erreichte der Mann die Hütte. Kaum zu glauben: Die vom Dach gefallenen Eiszapfen waren allesamt weggeschmolzen, aus der feuchten Erde dampfte es frühlingshaft, und ringsherum traten Krokusse zutage. Doch nur wenige Schritte von der Hütte entfernt herrschte noch immer tiefster Winter.
Er trat ein. Ein Stuhl und ein Tisch standen neben dem Fenster, in der Ecke ein Kamin, vor dem noch etwas Brennholz lag, und neben dem Kamin ein Bett. Erschöpft ließ er sich darauffallen. Mit letzter Kraft erhob er sich noch einmal, kramte in seinem Rucksack nach Streichhölzern und einem Blatt Papier, legte Holz auf und machte Feuer. Dann tauchte ihn die aufsteigende Wärme in einen tiefen Schlaf.
2. Kapitel
Das Feuer war schon eine Weile erloschen, als der Mann erwachte. Er rieb sich die Augen.
Lange musste er geschlafen haben. Durchtränkt von Traumfetzen griff er nach seiner Taschenuhr. Sieben Uhr. Er stieg aus dem Bett und stieß die Tür der Holzhütte auf. Draußen Morgendämmerung. Ein zäher, dunkler Winter. Nein, nicht ganz. Da stand ein Baum in leuchtendem Grün – eine Waldkiefer, der einzige Baum weit und breit, der den Mantel aus Schnee abgelegt hatte – und der Zaubervogel hockte in ihrer Krone und zwitscherte. Der Mann wusste zwar nicht, was es mit diesem Vogel auf sich hatte, und verstand auch nicht die Bedeutung des Gesangs, aber er spürte, dass der Vogel eine Art Botschafter war.
Entschlossen, diesen Vogel nie wieder aus den Augen zu verlieren, packte der Mann seine Sachen zusammen. Aus seinem Rucksack kramte er ein schwarzes Notizbuch hervor, schlug es auf und zeichnete eine Karte. Darauf markierte er sein Haus und den Weg, den er am Vortag bis zu dieser Hütte zurückgelegt hatte. Dann klappte er das Notizbuch zu, verstaute es in seiner Hosentasche, schwang den Rucksack über die Schultern und zog los.
Der Mond schwebte noch immer wie eine silberne Scheibe knapp über dem Horizont. Der Weg zum Vogel war eisglatt. Auf der Fläche spiegelte sich das Mondlicht, bis es vor jener gelb-rot blühenden Kiefer, in der der Frühlingsvogel saß, im geschmolzenen Eis erlosch.
3. Kapitel
Die Landschaft, durch die der Mann wanderte, war karg, leblos und grau, verwandelte sich aber in einen farbenprächtigen Landstrich, sobald der Vogel einen Ast, einen Busch oder einen Halm streifte. Durch die zarteste Berührung seiner Federn brach der Frühling aus und zog sich wieder in sein Versteck zurück, sobald er weiterflog. Gefangen von der Magie, die dieses Schauspiel versprühte, hielt der Mann immer wieder inne und staunte. Und immer wieder blieb er stehen, um den zurückgelegten Weg in seinem Notizbüchlein zu markieren. Weil ihm die Gegend zunehmend fremder wurde, nutzte er die Sonne zur Orientierung.
Er war viele Stunden durch den Schnee gestapft, als er an eine alte Mühle gelangte. Der merkwürdige Vogel ließ sich auf dem benachbarten Feld nieder. Die Sonne stand im Zenit. Dort, wo Frost und Eis gerade noch jegliches Leben in einen Winterschlaf versetzt hatten, brach der Boden auf, und kräftige Weizenhalme sprossen heraus. Der Mann staunte: Binnen weniger Minuten hatte sich vor ihm ein Ackerland aus erntereifem Weizen ausgerollt. Mit flacher Hand strich er über die gedrungenen Ähren. Die sonnengereiften Körner rochen so würzig wie ofenfrisches Brot. Ein Knarren riss ihn aus dem Staunen.
»Guten Tag, Reisender«, rief ihm jemand entgegen. Der Mann sah sich um. Der Müller lugte durch die Tür. Sein Blick verriet die freundliche Gelassenheit eines Menschen, die aus einem erfüllten Leben anstrengender und ehrlicher Arbeit erwächst.
»Guten Tag«, erwiderte der Mann.
»Du kommst gerade recht«, sagte der Müller, »du kannst mir bei der Ernte helfen. Der Bauer, der einst das Land bestellt hat, lebt nicht mehr, und meine Mühle hat ihren Geist aufgegeben.«
»Tut mir leid, ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich bin in Eile.«
»Manchmal verliert man Zeit, wenn man in Eile ist.«
»Es geht wirklich nicht. Ich muss einem rätselhaften Vogel folgen, der dein tristes Ackerland gerade in dieses fruchtbare Weizenfeld verwandelt hat. Ist das nicht unglaublich! Dort, wo vorher noch karger Boden lag, steht die Frucht jetzt in herrlicher Dichte. Siehst du ihn, den Vogel? Dort drüben kreist er über dem Feld, und er wird sicher gleich weiterfliegen. Wenn ich mich hier zu lange aufhalte, verliere ich ihn aus den Augen.«
»Manchmal reicht es, jemandem eine gewisse Zeit zu folgen, dann muss man wieder den eigenen Weg einschlagen. Und wie soll man den finden, wenn man den Weg eines anderen sucht?«
»Das verstehst du nicht, Müller. Ich muss los!«
»Dieser Weizen hier ist kein gewöhnlicher Weizen«, sagte der Müller und zeigte auf das Feld.
»Dieser Vogel ist kein gewöhnlicher Vogel.«
»Der Weizen steht nur wenige Stunden in seiner Reife. Wenn er in dieser Zeit nicht geerntet wird, ist seine Saat in diesem Jahr dahin.«
»Nur wenige Stunden?«
»Alles im Leben hat seine Zeit, und für manche Dinge gibt es nur eine einzige Gelegenheit. Bleibt sie ungenutzt, ist sie für immer verloren.«
»Genau darum muss ich dem Vogel folgen.«
»Was du hier siehst, ist eine ganz besondere Frucht. Wenn wir sie nicht ernten …«
»Für mich sieht der Weizen aus, als sei er ganz gewöhnlich«, unterbrach ihn der Mann.
»Um das zu beurteilen, benötigst du das Wissen über die fünf Aromen des Lebens«, sagte der Müller.
»Die fünf Aromen des Lebens?«
»Die Kenntnis über jedes einzelne Aroma zeigt sich an deinen bisherigen Lebensentscheidungen. Lass mich prüfen, wie viel du vom Leben verstehst. Sobald du eine meiner Fragen mit ›Ja‹ beantwortest, lass ich dich ziehen. Solange du mit ›Nein‹ antwortest, hilfst du mir auf dem Feld und in der Mühle. Einverstanden?«
»Also gut«, sagte der Mann, denn nun war er neugierig geworden auf das, was der Müller mit ihm vorhatte.
Der Müller verschwand in der Mühle und kam kurz darauf mit zwei Sensen zurück. Eine davon drückte er dem Mann in die Hand. »Mit dieser Sense lässt sich der Weizen ohne große Anstrengung schneiden.« Die Klinge war scharf wie ein Samuraischwert. Dann schritt er aufs Feld und begann zu mähen. Der Mann folgte ihm wortlos. In monotonen Schwüngen schnitten sie die Halme knapp über der Erde ab.
Lange Zeit schwiegen beide. Die harte Arbeit ließ keine Gedanken zu. Zum Glück war das Feld nicht allzu groß. Als die Sonne etwa drei Handbreit aus dem Zenit nach Westen gewandert war, hatten sie den Weizen bereits geerntet, zu Garben zusammengebunden, und eingefahren.
Auf dem Platz vor der Mühle hievte der Müller eine der Garben vom Leiterwagen herunter und warf sie auf das Kopfsteinpflaster. Dann zerschnitt er mit einem Bajonett die Schnur, die er erst kurz zuvor darumgebunden hatte, und breitete die Halme mit den Ähren auf dem Platz aus.
»Warum reparierst du die Mühle nicht?«, fragte der Mann.
»Herkömmliche Dinge benötigen herkömmliche Methoden«, antwortete der Müller. »Außergewöhnliches benötigt außergewöhnliche Handlungen.« Er strich sich eine Spelze aus dem Gesicht. »Du hast mir bei der Ernte geholfen, nun will ich mein Versprechen einlösen und dich ziehen lassen, sobald du eine meiner Fragen mit ›Ja‹ beantworten kannst.«
»Einverstanden«, sagte der Mann.
»Nehmen wir an, ein Fremder beobachtet dich über mehrere Tage. Könnte er aus deinen Handlungen schließen, was dir wichtig ist?«, erkundigte sich der Müller.
Der Mann rieb sich den Nacken. »Nein, das gelänge ihm nicht«, sagte er schließlich.
»Dann solltest du die Spreu vom Weizen trennen«, sagte der Müller und drückte dem Mann einen Dreschflegel in die Hand. »Nennen wir es das Herausklopfen der Essenz.«
Ohne nachzufragen, tat der Mann, was der Müller ihm aufgetragen hatte. Er verstand zwar nicht ganz, worauf er sich eingelassen hatte, aber das ungewöhnliche Wesen des Müllers machte ihn neugierig, und etwas mehr Aroma im Leben konnte er sicherlich brauchen. Mit aller Kraft schlug der Mann die Körner aus den Ähren und befreite sie von der Spreu. Anfangs kam er sich ungelenk vor, hölzern. Doch schon bald ging es besser, und die Schwünge kamen natürlich und kraftvoll. Der Müller hob unterdessen das Langstroh mit einer Heugabel ab. Schließlich fragte er weiter: »Wenn du achtsam betrachtest, womit du dich tagtäglich befasst – könntest du deine Lebensführung weiterempfehlen?«
Der Mann wunderte sich über die Frage und verneinte nach einer kurzen Denkpause.
»Dann solltest du das hier reinigen.« Der Müller deutete auf das Gemisch aus Körnern, Spreu und Spelzen auf dem Kopfsteinpflaster.
»Wie?«, fragte der Mann.
»Du musst es worfeln«, sagte der Müller und reichte ihm eine flache, aus Stroh geflochtene Schale. »Wirf die gedroschenen Ähren in die Luft. Spelzen und Spreu sind leichter als das Korn. Der Wind wird sie davontragen, und nur das Korn wird zurück in deinen Korb fallen. Nennen wir es das Einfangen des Wesentlichen.«
Der Mann warf die Ähren in die Luft und fing die Körner auf, die geradewegs in seinen Korb fielen. Da lag er, der in Schale gekleidete Weizen mit seinen spitzen Bärtchen. Der Müller schaute den Mann besorgt an.
»Wenn ich aus meiner Haut könnte, würde ich also nicht in deine schlüpfen wollen?«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte der Mann.
»Das eigene Leben nicht weiterempfehlen zu können ist eine traurige Bilanz.«
»Was soll ich sagen, alles, woran ich in jungen Jahren geglaubt hatte, ist im Laufe der Zeit zerbrochen – wie ein Schneckenhaus, auf das man tritt.«
»Manchmal genügt ein Augenblick«, sagte der Müller.
»Nun betrachte ich mein Leben und stelle fest, dass es der Lebensentwurf anderer ist.«
»Das Leben der anderen ist das Leben der anderen. Es muss in deinem Leben doch etwas geben, was dich an dich erinnert. Was findest du, wenn du in den Spiegel siehst?«
»Gewöhnliches«, seufzte der Mann.
»Dann ist es Zeit, in die Mühle zu gehen und mit dem Sieben zu beginnen.«
»Mit dem Sieben?«
»Von den fünf Aromen des Lebens habe ich dir gerade zwei beigebracht. Es gibt noch drei weitere.«
Der Mann sagte kein Wort und folgte dem Müller.
Sie betraten die Mühle. Auf einem Tisch ein eiserner Mörser mit einem schweren Stößel. Daneben drei Siebe mit unterschiedlicher Flechtstruktur – von sehr grobem bis hin zu ganz feinem Geflecht. Der Müller deutete auf den Mörser und sagte: »Nun kannst du mit dem Ausmahlen beginnen.«
Der Mann nahm ein Sieb nach dem anderen vom Tisch, fuhr mit den Fingern über die drahtige Struktur, um sie dann, nach genauer Prüfung, wieder zurückzulegen. Schließlich griff er in die Schale, nahm eine Handvoll Weizenkörner heraus und warf sie in den Mörser. In kräftigen, gleichförmigen Bewegungen stieß er mit dem Stößel auf sie ein. Schnell war das spitze Bärtchen entfernt, das einen Teil der äußeren Schale bedeckte. Das Korn, noch völlig unversehrt, glänzte in seiner glatten Hülle. Mit dem gröbsten Sieb trennte er Körner von Hülsen. Dazu warf er das Weizen-Hülsen-Gemisch in gleichmäßigen Schwüngen im Sieb auf und ab. Die Körner verblieben im Sieb. Die zerbröselten Hülsen fielen hindurch.
»Das Sieb der Einmaligkeit«, sagte der Müller, »das Gewöhnliche gleitet durch sein Geflecht, das Einzigartige bleibt darin hängen.«
»Einmalig sein. Wenn das so einfach wäre«, sagte der Mann und warf die glänzenden Körner zurück in den Mörser.
»Jeder ist ein Kunstwerk seiner Art«, sagte der Müller, »es braucht nur Mut. Mahle weiter. Das nächste Sieb ist das Sieb des Mutes.«
Der Mann stampfte mit dem Stößel kräftig auf die Körner ein und löste die Samenschalen, bis die Mehlkörper zutage traten. Dann siebte er die Schalenfetzen aus. Die zähen Mehlkörner verblieben im Sieb des Mutes. Der Mann prüfte sie mit seinen Händen.
»Nun«, fragte der Müller, »mit dem Mut in den Händen, was meinst du fehlt dir noch?«
»Glaube.«
»An was?«
»An mich!«
»Dazu musst du loslassen, ohne dich an Sorgen festzuhalten. Bring Zuversicht in dein Leben hinein, und Gelassenheit kommt heraus.«
Der Müller zerrieb ein Mehlkorn mit Daumen und Zeigefinger, und löste das klebrige Mehl vom Keim.
»Wir kommen dem Kern näher«, murmelte er.
Dann fuhr der Mann mit dem Mahlen fort. Mit dem Stößel trennte auch er das Mehl von den Keimen. Ungewöhnlich, dass die Keimlinge dabei nicht zerbrachen. Als er nach dem dritten Sieb griff, sagte der Müller: »Das letzte Sieb. Es ist so geflochten, dass es alles hindurchfallen lässt, was einen ruhigen Geist stören würde. Es ist das Sieb der Leichtigkeit.«
Wieder siebte der Mann. Das Mehl rieselte zu Boden, die Keimlinge verblieben im Sieb.
»Schau sie dir genau an, die Keimlinge. Auch wenn der Keim nur einen winzigen Teil des Korns ausmacht, enthält er doch die Anlage für das gesamte Leben. Wer den Keimling richtig zu gebrauchen weiß, kann all seine Anlagen lebendig werden lassen.«
Die Männer sahen sich schweigend an.
»Die letzte Prise für ein volles Leben«, sagte der Müller. »Nimm die Keimlinge und zerreibe sie sanft zwischen deinen Handflächen.«
Der Mann tat es. Mit einem Mal brachen sie auf. Staub aus feinstem Gold rieselte wie Puderzucker herab.
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