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Der junge Glasbläser Aviv erhält von dem zwielichtigen Arzt Kaminski den Auftrag, fünfzig Glasfläschchen zu produzieren. Dieser schmiedet den perfiden Plan, Sterbenden die Seelen zu rauben, um sich daraus eine eigene, eine vollkommene zu erschaffen. Seit er herausgefunden hat, warum er zu keiner Art von Liebe fähig ist, beschleicht ihn die Ahnung, die anderen seien mehr als er, mehr Mensch. Doch Aviv deckt die Machenschaften des Arztes auf, und es beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod. Wird es ihm gelingen, die in den Fläschchen gefangenen Seelen zu befreien? Die Erkenntnisse, die Aviv bei seinen Entdeckungen sammelt, führen ihn zu einem tieferen Verständnis des Menschseins. Nach ihrem erfolgreichen Debut zeigt Clara Maria Bagus in ihrem neuen Roman wieder mit ungeahnter Tiefe wie jeder aus sich selbst eine Welt hervorbringen kann, in der sich zu leben lohnt. Die Autorin ist eine großartige Erzählerin existentieller menschlicher Fragen.
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Clara Maria Bagus hat in den USA und in Deutschland Psychologie studiert und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig. Ihr beruflicher Lebensweg führte sie durch zahlreiche Länder. Dort begegneten ihr immer wieder Menschen auf der Suche nach sich selbst. In einer Welt, in der Orientierung schwer zu finden ist, hat sie ihnen durch ihre berührenden Bücher geholfen, den roten Faden ihres Lebens wiederzufinden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Bern. Clara Maria Bagus ist ihr Künstlername
Der junge Glasbläser Aviv erhält von dem zwielichtigen Arzt Kaminski den Auftrag, fünfzig Glasfläschchen zu produzieren. Dieser schmiedet den perfiden Plan, Sterbenden die Seelen zu rauben, um sich daraus eine eigene, eine vollkommene zu erschaffen. Seit er herausgefunden hat, warum er zu keiner Art von Liebe fähig ist, beschleicht ihn die Ahnung, die anderen seien mehr als er, mehr Mensch. Doch Aviv deckt die Machenschaften des Arztes auf, und es beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod. Wird es ihm gelingen, die in den Fläschchen gefangenen Seelen zu befreien?Die Erkenntnisse, die Aviv bei seinen Entdeckungen sammelt, führen ihn zu einem tieferen Verständnis des Menschseins. Nach ihrem erfolgreichen Debut zeigt Clara Maria Bagus in ihrem neuen Roman wieder mit ungeahnter Tiefe wie jeder aus sich selbst eine Welt hervorbringen kann, in der sich zu leben lohnt. Die Autorin ist eine großartige Erzählerin existentieller menschlicher Fragen.
Clara Maria Bagus
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ISBN: 978-3-96366-001-6
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
VORSPANN
Aviv
Kaminski
FRÜHLING
Aviv
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv trifft auf Kaminski
Kaminski
Aviv
Kaminski
SOMMER
Aviv
Kaminski
Aviv
HERBST
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv
WINTER
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv
Kaminski
Aviv
Epilog
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit einer lebenden oder verstorbenen Person ist zufällig.
Es ist unmöglich, ein größeres Glück zu empfinden,als wenn man liebt.
Für meinen Mann und unsere Zwillingsbuben.
Wenn sich der kleine Junge etwas von der Zukunft wünschen dürfte, wäre es eine andere Vergangenheit, damit er in einer Gegenwart leben könnte, in der er ein Zuhause fände.
Plötzlich entdeckt er am Himmel einen blauen Vogel, der eine Feder fallen lässt und ihm zuruft: »Vergiss nicht, dass deine Seele Flügel hat!«
In einem fernen Land, bevor der Nebel über die Felder zog, sich über jene Stadt legte, in der unsere Geschichte ihren Lauf nahm, und dort Farben, Klänge, Düfte, ja sämtliche Natur zudeckte und gleichsam die Seelen der Menschen mit sich nahm, wurde am Tag der längsten Schatten ein kleiner Junge geboren, dessen Name Aviv war. Aviv bedeutet »Frühling«, und so ist es nicht verwunderlich, dass diesem Jungen Jahre später die Aufgabe zufallen sollte, die Stadt vor dem Verlust der Seele zu bewahren und ihr den Duft des Frühlings zurückzubringen.
Die Stadt, in der sich die seltsamen Ereignisse zugetragen haben, wirkte wie jede andere Stadt, und man brauchte ein wenig Zeit, um wahrzunehmen, was sie von anderen Städten der Welt unterschied. Wie soll man auch eine Stadt beschreiben, in der einem von Jahr zu Jahr weniger Blumen, Düfte, Flügelschläge begegneten, weniger blühende Bäume, Farben und Melodien. Es war eine sterbende Stadt, und nur wenige Menschen nahmen die von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Monat zu Monat eintretenden, schleichenden Veränderungen wahr. Es war eine Stadt ohne Ahnungen.
Genau um Mitternacht des einundzwanzigsten Dezembers gebar Helene einen Jungen, dessen Haut glatt, zart und rosig war wie die Blüte einer Winterkirsche. Eingehüllt in den süßlichen, weichen Duft beginnenden Lebens, glänzten seine Augen in dem wie aus Rosenquarz geschnitzten Gesicht, und sein erstes Weinen war so unaufdringlich und leise, dass es dem Gesang der Vögel glich.
Es war, als hätte Helene über den Zeitpunkt der Geburt eine Vereinbarung mit der Natur getroffen, denn auch die Natur brachte gerade in aller Stille ihre letzten Winterblüten zur Welt, die genau wie Avivs Wesen ein Geheimnis hüteten.
Selma, die Hebamme, wusste nicht viel von der Familie. Das Einzige, was sie über die Wurzeln des kleinen Aviv gehört hatte, war, dass sein Vater nicht mehr lebte. Man erzählte sich, er sei kurz nach der Zeugung gestorben. Doch sie kannte Helene inzwischen gut genug, um den Geschichten keinen Glauben zu schenken.
Behutsam wickelte Selma den kleinen Körper in ein weiches Tuch und legte ihn Helene auf den Bauch. Es war Helenes schönster Moment im Leben, der jedoch nur wenige Atemzüge andauern sollte. Denn plötzlich durchzog mehr und mehr Blut das Laken, auf dem Helene gebettet war. Sie blutete so stark, dass sich das Leinen binnen weniger Minuten dunkelrot färbte. Mit zitternden Händen versuchte Selma den Grund für die starke Blutung zu finden und sie zu stillen, ohne Erfolg.
Tropfen von Schweiß perlten auf ihrer Stirn. Was auch immer Selma tat, das Blut sprudelte nur so aus Helene heraus. Sie legte Avivs Wange an die seiner Mutter und begann in kreisenden Bewegungen den Unterleib von Helene zu streichen. Doch es half nichts. Helene verlor immer mehr Blut, wurde schwächer und schwächer.
Wie konnte das nur sein? Die kleine Welt um Selma drehte sich auf einmal so schnell, dass ihr schwindlig wurde. Sie hockte sich auf den Rand des Bettes und merkte, wie Helenes lauwarmes Blut ihren Kittel durchnässte. Unermüdlich strich sie über Helenes Bauch. Es änderte nichts – Helene würde verbluten.
Als für beide Frauen unleugbar war, dass Helene sterben würde, bat sie um ein Blatt Papier und eine Feder. Sie wollte ihren kleinen neugeborenen Jungen nicht ohne Botschaft verlassen. Doch wie sollte ein kleines Stück Papier für ihre Flut an Gefühlen ausreichen? Für viele Worte fehlten ihr Kraft und Zeit. Helenes Augen füllten sich mit Tränen. Bei jedem Lidschlag verfingen sie sich in ihren Wimpern, die dicht wie Gräser waren, lösten sich mit einem Zittern und tropften auf das Köpfchen des kleinen Aviv. Sie ließen sein kleines Haupt schimmern, als wäre es mit unzähligen, irisierenden Glasperlen bedeckt. Helene drehte den Kopf zu dem ihres Sohnes, strich mit ihrer Nase zärtlich über seine, schloss die Augen und nahm einen so tiefen Atemzug, als wolle sie sich Avivs Duft einverleiben und mit in die Ewigkeit nehmen. Langsam schlug sie wieder die Lider auf und begann zu schreiben.
Einzig das Kratzen der Federspitze auf dem Briefbogen durchbrach die erstickende Ruhe. Und das Rauschen von Helenes letzten Atemzügen, mit denen sie die Tinte trocken blies.
Schachzug eines launischen Schicksals. Einen Wimpernschlag später war sie tot. Für einen Augenblick legte sich eine unerbittliche Stille über die Zeit. Auch der kleine Junge gab keinen Laut von sich. Ein Schweigen, das sich wie eine Schlingpflanze um das Herz der Hebamme wand. Selma presste ihr Gesicht in die Hände, und als sie es wieder löste, waren die Abdrücke ihrer Finger darin zu sehen. Weiße Zeichen der Sorge hatten sich in ihre Züge gegraben und verschwanden erst, als sie sich wieder mit Blut füllten.
Regungslos blieb Selma auf dem Bettrand sitzen. Versunken in den Tiefen ihrer Gedanken, verharrte sie dort.
Schon nach wenigen Stunden fühlte sich Helenes ausgekühlter Körper steif und wächsern an, doch der kleine Junge lag noch immer auf ihrem Bauch. Er atmete kräftig und tief, ganz so, als ob er die letzten Lebenssäfte der Mutter eingesogen hätte. Der Körper der toten Helene bewegte sich durch seine Atemzüge leise auf und ab.
Selma öffnete das Fenster. Es wurde Morgen, und die Welt um sie herum hatte wieder zu atmen begonnen. Alles erstrahlte in einem besonderen Licht, und etwas Seltsames war geschehen: Die Blüten in Helenes Garten hatten sich aus den Knospen gefaltet wie Geheimnisse. Auch die Bäume zeigten sich in weißen und rosafarbenen duftenden Gewändern. Mitten im Winter. Ein sachter Wind hauchte eine blaue Feder ins Zimmer, die auf dem Rücken des kleinen Jungen zu liegen kam.
Das Morgenlicht floss über Helenes Haar, ihren zierlichen, toten Körper und fiel in strahlenden Bündeln auf den kleinen Jungen. Und Selma war, als höre sie Musik.
Der Blick nach draußen war tröstend. Es war wärmer geworden. Sachte fing der Schnee an zu schmelzen, Eiskristalle in Ästen und Sträuchern zerflossen und wurden zu glitzernden Perlen. Das Sonnenlicht ließ sie funkeln wie Hunderte von Sternen. Überall tropfte es leise. Selma spürte, wie es mit dem unmerklich fließenden Wasser friedlicher in ihr wurde. Ihre mit Schrecken durchtränkten Gedanken zerfielen in der klaren, kalten Morgenluft allmählich zu ungebundenen, zusammenhanglosen Worten, bis von ihnen nichts zurückblieb als unfassbares Leid.
Selma nahm einen tiefen Atemzug, schloss das Fenster und setzte sich auf die Bettkante. Sie knotete ihr silbrig glänzendes Haar hinter dem Kopf zusammen, nahm den kleinen Aviv vom Bauch der toten Mutter und wiegte ihn im Arm. Wie lange sie so dasaß, wusste sie nicht.
Was sollte nun mit dem Kind geschehen? Helene hatte zwar eine Botschaft hinterlassen, aber nur für ihren Sohn. Natürlich las Selma den Brief, bevor sie ihn faltete und zusammen mit der blauen Feder in die Tasche ihres Kittels steckte. Sie hoffte, darin etwas zu finden, was ihr eine Antwort gab. Doch alles, was sie der Nachricht entnahm, war, dass sie nicht für den winzigen Aviv bestimmt war – sondern für den großen. Und Selma wollte in Helenes Sinne handeln.
Wahrscheinlich hatte Helene darauf vertraut – wie wir Menschen es oft tun und genau wie Selma es jetzt hoffte –, dass irgendein Zufall sie aus der Pflicht befreien würde, eine solch weitreichende Entscheidung in einem solch gedrängten Augenblick treffen zu müssen. Doch was für ein Ereignis sollte das sein?
Selma selbst fühlte sich alt. Hatte gesehen, wie sich die Welt von Jahr zu Jahr wandelte, wie sie sich immer fieberhafter zu drehen schien, zunehmend um Dinge, die die Herzen vieler Menschen vergifteten. Eine Welt, deren Rhythmus ihr fremd war, in die sie gar nicht mehr zu passen schien. Wie sollte sie ein Kind das Leben an einem solchen Ort lehren?
Doch dieses hilflose Bündel Mensch in ihrem Arm hatte nichts und niemanden auf dieser Erde. Das einzige Vermächtnis: ein Stück Papier, sorgfältig gefaltet in Selmas Schürzentasche, mit den letzten Zeilen der Mutter, den ersten und letzten Worten an ihren Sohn. Ein Brief, der ihn durch die Welt führen sollte, allerdings erst, wenn Aviv alt genug wäre, die Botschaft zu verstehen. Im Gleichklang von Helenes letzten und Avivs ersten Atemzügen hatte ihre Seele einfach diese Welt verlassen und Selma mit dem Kind allein gelassen.
Was sollte Selma nur tun? Hunderte Kinder anderer Frauen hatte sie zur Welt gebracht. Wie gerne hätte sie als junge Frau eigene gehabt. Doch das Schicksal hatte anders entschieden. Als Selma erfuhr, sie könne nie Kinder bekommen und ihr Mann ihr vorwarf, sie sei unergiebig wie trockene Erde, und sich mit einer anderen fortmachte, um eine Familie zu gründen, zehrte sie der Schmerz fast auf. Ihre Lebenstemperatur schwand bis aufs Geringste, als sie einige Jahre später hörte, ihr Mann sei Vater zweier Kinder, die ihm die andere Frau geschenkt hatte. Dieses Ereignis hatte sie von Tag zu Tag weiter aus der Zeit herausgespült. Der Tod eines Lebenstraums, der gleichzeitig auch ihr eigener war.
Unzählige Momente hatte es von da an gegeben, in denen sie vor Sehnsucht nach etwas, was sie selbst nie erleben durfte, fast zerbrochen wäre. Ein eigenes Kind. Die Stelle ihres Herzens, die in jungen Jahren mit Hoffnungen, Träumen und Möglichkeiten ausgefüllt war, blieb leer. In ihren Augen traf man seitdem auf eine tiefe Traurigkeit, in ihrem Gesicht auf einen welken Ausdruck, in ihrer Haltung auf eine in sich zusammengesunkene Existenz. Doch jetzt? Da lag er plötzlich vor ihr in der Gestalt des kleinen Aviv: der Duft des Lebens.
Auch wenn es Selma noch nicht recht ins Bewusstsein gedrungen war, reifte in ihr seit Helenes letztem Atemzug der Entschluss, sich selbst um den kleinen Jungen zu kümmern. Vielleicht war es die Entschlossenheit einer Verzweifelten, vielleicht aber auch die einer vom Leben Überraschten.
Selmas unbesiegbare Hoffnung, das Universum erfülle tief verwurzelte Lebensträume, wenn man nur lange genug daran glaubte und Gutes in die Welt brachte, schien sie nicht getäuscht zu haben. So erlaubte sie ihrem letzten Funken Zuversicht, der jahrzehntelang tief in ihrem Herzen unter der Asche geglommen hatte, mit einem Mal zu einer Flamme aufzuglühen und sie vollends mit Wärme zu erfüllen. Ihr Gesicht brach auf wie eine Blüte. Das jahrelange Brennen in ihren Augen, das heilende Tränen hervorbringen sollte, von denen sie aber keine mehr besaß, hörte mit einem Male auf, und gläserne Tropfen liefen über ihre Wangen. Das Leben gab zwar nicht leicht etwas preis, aber es beschenkte jeden. Und: Es war voller Geheimnisse.
Selma nahm den kleinen Jungen auf, umfasste sein Köpfchen und hielt seine Wange an die eigene. Auch wenn sie nicht die Mutter dieses winzigen Knaben war, so schmiegte sich der Kopf des Kleinen so passend an den ihren, als sei er ihr bisher fehlendes Gegenstück. Und ihr wurde klar: Seit dem damals Verlorenen hatte sie nie mehr den Mut aufgebracht, für sich und ihr Leben wieder etwas Bedeutsames zu erlangen, sondern immer nur Angst gehabt, die Geschenke des Lebens schließlich doch wieder entbehren zu müssen. Inzwischen jedoch gab es nichts mehr zu verlieren, sodass die Zweifel der Hoffnung Platz machten, in ihren letzten Jahren völlig unerwartet doch noch etwas Kostbares zu gewinnen.
Ein sonderbares Gefühl von Leichtigkeit verspürte sie beim Gedanken, für das Kind zu sorgen. Es fühlte sich an, als sei diese Idee Teil von etwas Großem, von etwas, das sie nicht begreifen konnte und das, wie sie zu erahnen glaubte, der Welt etwas Magisches schenken würde.
Babys hatte sie Tausende gesehen. Aber es gab kaum eines, von dem eine solch seltsame, helle Atmosphäre ausging wie vom kleinen Aviv. Und sie wusste: Er war eines dieser Kinder, die eine ganz besondere Gabe in die Welt brachten.
Eine warme Strömung des Entzückens floss durch ihren Körper. »Das Lebensglück kommt manchmal spät, unerwartet und von ganz anderer Stelle, als man sich je hätte vorstellen können«, sagte sie zu sich, und die liebevolle, geistreiche Frau von kleiner, weicher Statur weinte.
So wie im Frühling nur wenige Tage ausreichen, um die Welt mit Blüten zu bedecken, bedarf es im Leben manchmal nur weniger Augenblicke, um den Menschen in Glück zu hüllen. Selmas Frühling war gekommen.
Staunend betrachtete sie das unermessliche Licht, das plötzlich in ihrem Leben aufgegangen war. »Das Glück küsst jeden, wenn die richtige Zeit dafür gekommen ist«, sagte sie zum kleinen Aviv und streichelte ihn mit einem Lächeln.
Es war dieser Moment, der aus Selma eine andere machte, und es war jener Augenblick, der alles verändern sollte. Für Selma, Aviv, das Städtchen, ja, für die ganze Welt.
Von diesem Wintertag an blühte Helenes Garten von Jahr zu Jahr über die Jahreszeiten hinweg in den prächtigsten Farben. Der Apfelbaum brachte im Frühling eine solche Fülle an Blüten hervor, dass es überall herrlich duftete, und trug im Herbst bis in jeden Zweig hinein Früchte. Als sei ein Teil von Helenes Lebenssäften in die Natur übergegangen. Ihr Duft hing selbst nach Jahren noch immer in der Luft.
Helenes Haus lag hinter einem Hügel etwas abseits der Stadt. Dort zog Selma den kleinen Jungen auf. Der Pfad, der hinunterführte, war schmal, ausgetreten und von Kastanien gesäumt, die ihre Äste über den Weg spannten. Wenn der Wind in der Morgensonne an den Blättern schaukelte, rauschte es sachte, und es tanzten viele kleine Lichter auf der Erde. So glich der Ort, an dem Aviv aufwuchs, einem Ort des leisen Erwachens.
Aviv war das letzte Neugeborene, dem Selma ins Leben verhalf. Trotz des Glücks, das sie mit dem kleinen Jungen empfand, konnte sie nicht ertragen, für den Schmerz über Helenes Tod, der sich seit jener schrecklichen Nacht in ihr Innerstes eingegraben hatte, niemand anderem die Schuld geben zu können als sich selbst. Frauen sterben bisweilen unter der Geburt. Schuld daran trägt keiner. Doch nun war das, wovon sie glaubte, dass es nur anderen geschehen könne, ihr selbst passiert. Und was, wenn es doch ihr Fehler gewesen war? Sie würde es nie erfahren. In jedem Fall war es ein seltenes Ereignis, das, da es unter ihrer Obhut eingetreten war, ein Loch in den Boden unter ihren Füßen gerissen hatte. Und wenn sie nicht behutsam ging, würde sie hineinfallen, da war sie sich sicher.
Wenn die Schwermut in ihr aufstieg, dass dieser kleine Kerl nie seine leibliche Mutter sehen würde, sah sie Aviv an. Dann versuchte sie den Schmerz hinunterzuschlucken, wieder ganz tief unten einzusperren und dem Leben mit seinen oft unverständlichen Wegen zu vertrauen.
Der Dezember ging zu Ende, und das vergehende Jahr hauchte seine letzten Atemzüge in einen Himmel, in dem die Luft hing wie flüssiges Blei. Es erweckte den Eindruck, dass es sich jeden Moment über die Zeit ergießen würde.
Selma hoffte, dass die kommenden Jahre die Hände des kleinen Jungen mit Sternen füllen würden. Sie wollte alles dafür tun, um sein Leben, das eine so schmerzhafte Ankunft in der Welt hatte, zu einem guten zu machen.
Die ersten Monate nach den Geschehnissen jener Nacht erinnerte Selma als eine brachliegende Zeit, in der sie sich oft mutterseelenallein fühlte und aus der erst dann zaghaft wieder Leben spross, als der kleine Aviv heranwuchs und mit seinem sprühenden Wesen auch Selmas Blütezeit brachte.
Was es bedeutet, Mutter zu sein, ein Kind auf seinem Weg ins Leben zu begleiten, hatte sie sich nie so schwierig vorgestellt. Zweifel, alles richtig zu machen, durchfraßen ihre Gedanken zeitweilig wie ein Wurm einen Apfel. Und oft genug fühlte sie sich wie eine wurmstichige Frucht, ausgehöhlt, leer, morsch. Und es gab niemanden, dem sie sich hätte mitteilen können, niemand, der ihr sagte, was gut oder schlecht sei, richtig oder falsch. Alle Antworten musste sie in sich selbst finden. Doch die Liebe zu diesem Kind nährte sie und gab ihr mehr Kraft zurück, als sie aufrieb.
Aviv war ein Junge, der mit dem ersten Aufschlagen der Lider einen so wachsamen Blick in die Welt warf, sich so erstaunt umsah, als frage er sich, in welchem Leben er wohl gelandet sei. Er drehte sein Köpfchen achtsam, verschlang die neue Welt mit seinen großen Augen, die ihm vor lauter Neugierde nahezu aus dem kleinen Kopf zu purzeln schienen. Und oft genug schien es Selma, als sei der Kleine nicht von hier, als sei er aus dem Nirgends gekommen, mit einer besonderen Bestimmung, die sich ihn ausgesucht hatte, damit er sie erfüllte. Mit diesem Auftrag schien er nun Fähigkeiten in die Welt zu bringen, die mit dem Irdischen, das sie bisher kannte, nichts zu tun hatten.
Die Jahre rieselten dahin. Selma und Aviv teilten viele Momente eines besonderen, gehüteten, unantastbaren Glücks. Selma war wie eine Glasglocke, die sich über den Knaben stülpte und alles Unheil von ihm fernzuhalten versuchte. Ihre Wärme glühte in jeder Ecke des Hauses und ließ Aviv im Mantel ihrer Liebe leicht und unbeschwert heranwachsen.
Als er groß genug und zu einem aufmerksamen, wachen Kerlchen gereift war, erzählte Selma ihm, was in jener Nacht geschehen war. Vielleicht hoffte sie auf Vergebung, darauf, dass ihr jemand die Schwere ihrer Schuldgefühle nahm. Doch für den Jungen waren die Dinge so, wie sie waren: keine Vergebung wo keine Schuld.
Das Gefühl des Versagens blieb. Ihre einzige Möglichkeit wiedergutzumachen, was sie nicht hatte verhindern können, war, weiterhin alles dafür zu tun, um Avivs Augen lächeln zu sehen und seinen Blick für das Wesentliche zu schärfen. Und das gelang ihr.
Sie lehrte ihn die Magie der Stille, den Zauber der Natur und die Beobachtung der Welt. Oft saßen sie gemeinsam im Gras und lauschten dem Tanz der Blätter im Wind. Oder sie bewunderten die Himmelszeichen der Glühwürmchen, wenn sie in den warmen Nächten aus den Zweigen sprangen.
»Es geht darum, herauszufinden, wer man ist und was man in diesem einen Leben sein will«, sagte Selma dann, »und es geht darum, wie man über sich, andere und die Welt denkt. Dein Körper ist wie eine Pflanze, deine Gedanken sind wie Blütenknospen. Sind sie frisch, gesund, hell und heilsam, tragen sie zu deinem und dem Wohlergehen anderer bei. Sind sie hingegen welk, krank, dunkel und giftig, verderben sie dich selbst und springen wie eine Seuche auf andere Menschen über. Das führt zum Sterben der Knospen und schließlich der menschlichen Natur.« – »Bewahre dir deinen Geist als kristallklaren Spiegel, der, wenn du ihm Aufmerksamkeit schenkst, die Wirklichkeit reflektiert, so wie sie ist. Strebe immer danach, ihn zu säubern und zu polieren, damit der Schmutz der schlechten Gedanken niemals an ihm haften bleibt.«
Und als Selma ihm an einem solchen Tag den gefalteten Brief seiner leiblichen Mutter überreichte, sagte Aviv: »Nicht jetzt, Mama. Wenn ich diesen Brief jetzt lese, raube ich uns unsere gemeinsame Gegenwart. Ich würde über das nachdenken, was war, und darüber, was hätte sein können. Nie möchte ich die Zeit, die du mir geschenkt hast, und das Schöne, das uns verbindet, infrage stellen. Ich möchte keiner Vergangenheit nachtrauern, die ich nie hatte, und auch keiner Zukunft hinterherjagen, die es unmöglich macht, den Augenblick zu bewahren. Jetzt ist unsere Zeit. Bewahre den Brief für mich auf, bis seine Zeit gekommen ist.«
Selma schloss die Augen. Ihre Lider sanken so tief ein, als seien keine Augäpfel mehr darunter. Wie alt sie geworden war. Glitzernde Tropfen rannen ihr über die Wangen, dann vergrub sie den Brief wieder in ihrer Schürzentasche. Wie sehr sie diesen Jungen liebte! Nie hätte sie geglaubt, dass die Liebe zu einem Kind, auch wenn es nicht das eigene Fleisch und Blut war, so erfüllend sein konnte. Wenn sie Aviv ansah, war ihr, als ob ihr Atem bis in jede Faser ihres Körpers dringen würde und ihn bis in den kleinsten Winkel mit Dankbarkeit füllte. Mit Aviv fühlte sie sich vollständig.
»Ich liebe dich und bin dankbar für dieses Glück. Du bist ein großartiger Junge, Aviv«, sagte sie.
»Lange nicht so großartig, wie du es verdienst, Mama«, sagte Aviv und nahm sie in den Arm. Dabei fiel sein schwarzes, volles Haar über seine Ohrmuscheln. Die beiden hielten sich eine Weile, und jeder wusste auf seine Art: Es war gut.
Selma war die Güte in Person. Niemals urteilte sie voreilig über Menschen und Gegebenheiten, ohne die Umstände zu prüfen.
»Sieh dir zuerst genau an, welchen Weg Fehler, Missetaten und Unrecht anderer Leute genommen haben, bevor du sie verurteilst«, pflegte sie zu sagen. »Oft nimmt das Übel an ganz anderer Stelle seinen Ausgang.«
Sie hielt auch nicht viel von Geschichten über andere Leute. Ihr wurde allgemein zu viel gesprochen und zu wenig gedacht. Dinge, die nur auf vage Vermutungen gestützt waren, wollte sie nicht hören. »Überlege dir gut, was du über jemanden sagst, Aviv«, hatte sie ihm eingeprägt. »In dieser Welt bedeutet und überlebt das, was über Leute gesagt wird, leider genauso wie ihre wirklichen Handlungen. Ganz egal, ob das Gesagte stimmt oder nicht. Schnell hat man jemandem ein Mal in die Stirn gebrannt.« Sie rieb sich die Schläfe. »Für andere ist man ohnehin der, für den sie einen halten. Daran kann man nichts ändern. Dann sollte man wenigstens beeinflussen, was sich beeinflussen lässt, nämlich was man selbst denkt, sagt oder tut.«
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