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Vom Pagen im HOTEL ADLON bis zum Mauerfall. Ein Weg in die Gastronomie mit Hindernissen. Ein interessantes Zeitzeugen-Dokument.
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Seitenzahl: 327
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Vorwort
HOTEL ADLON
Dramatische Kindheitserinnerungen
HOTEL ADLON
„Meine“ erste Gaststätte: die „Elbterrasse“ in Wehlen
Gaststätte „Bärenquell“ in Königs Wusterhausen bei Berlin
„Casino“ in Berlin-Treptow
Haus „Zenner“ in Berlin-Treptow
Restaurant „Berlin“ in Sofia
„Ratskeller“ im Roten Rathaus
„Saalbau Friedrichshain“
Kalender der Ehrentage in der DDR
„Haus des Lehrers & Kongresshalle“ Berlin
Großgaststätte „Alextreff“ Berlin
„Café Freizeit“ in der Leninallee in Berlin
Restaurant „Feldmarkschenke“
Nachwort
Zwei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde ich geboren. Meine Erinnerungen reichen bis in das Jahr 1942 zurück. Die schwere Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit habe ich bewusst erlebt.
Mit Gründung der Deutschen Demokratischen Republik ging es uns im Osten von Deutschland zunächst besser als in den ersten schweren Jahren der Nachkriegszeit. Viele Menschen glaubten an eine gerechtere Welt ohne soziale Unterschiede, an Gleichberechtigung.
Es zeigte sich aber bald, dass die „Diktatur des Proletariats“ auch nicht das war, was sich die Mehrheit der Menschen im Osten erhoffte. Millionen Bürger kehrten der DDR den Rücken und suchten ihre Zukunft im Westen des Landes. Aufmerksam habe ich als Ostberliner seit 1953 die Entwicklung verfolgt.
Meinen beruflichen Weg habe ich wie meine Eltern in der Gastronomie gesucht.
Erst nach der politischen Wende 1989 konnte ich wie viele andere den Kontakt mit den ehemaligen Kollegen in Westberlin wieder aufnehmen. Wir konnten uns durch den Mauerbau 28 Jahre lang nicht sehen.
Am 1. Juni 1990, einen Monat vor der Währungsunion, eröffnete ich mein erstes eigenes Restaurant. Nach über 30 Jahren Wartezeit.
In der Gastronomie erlebte ich in den vielen Jahren unglaubliche Geschichten. Der Weg zum Ziel erfolgte über nicht geahnte politische Hürden, die mit dem System verwurzelt waren und nicht nur der Gastronomie im Wege standen.
Es gab nicht nur Schwierigkeiten und Probleme in der DDR, sondern auch schöne Zeiten und wertvolle Begegnungen mit den unterschiedlichsten Zeitzeugen, die unvergessen bleiben. Das Leben kann man nicht festhalten, aber die Erinnerungen.
Die DDR von Anfang an erlebt, begann ich 1953 als Page im übrig gebliebenen
„Mach so schnell du kannst, hier wegzukommen.
Du hast hier im Osten keine Zukunft!“
Das sagte ein Stammgast des Hotel Adlon im Jahre 1955 zu
mir als Kellnerlehrling.
Die Mauer stand noch nicht, ich bin trotzdem
geblieben.
Zunächst habe ich als Kellner und später als Leiter in den
unterschiedlichsten gastronomischen Betrieben meine
Erfahrungen gesammelt.
Viele Köche und Kellner in der DDR waren gut ausgebildet.
Es gab hübsche kleine Bars und große, gut eingerichtete
Hotels und Restaurants.
Was ich durch den Mauerbau hinter den Kulissen der
Restaurants erlebt habe, beschreibe ich aus
meinen Erinnerungen und Aufzeichnungen.
_______________________
Alle Schilderungen entsprechen der Wahrheit.
Keine Orte, keine Personen oder Handlungen sind erfunden.
Die DDR beschreibe ich so, wie ich sie erlebt habe.
Die Eltern waren ehrbare Leute und der Sohn wurde Kellner. Dieser Sohn bin ich, an einem sonnigen Sonntag im Oktober des Jahres 1937 in Berlin im Bezirk Prenzlauer Berg geboren. Tatsächlich hatte mein Vater auch den Beruf eines Kellners erlernt. Er wurde 1887 geboren und war bei meiner Geburt bereits 50 Jahre alt. Nach seiner dreijährigen Ausbildungszeit im Hotel Kaiserhof zu Berlin arbeitete er in führenden Hotel- Restaurants in Österreich und in der Schweiz. Ab 1927 als Oberkellner (Chef de Rang) bei Lutter & Wegner in der Charlottenstraße 49 in Berlin, bis zur Zerstörung des Hauses durch den Krieg im Frühjahr 1944.
Meine Mutter arbeitete ebenfalls bei Lutter & Wegner und hatte eine leitende Stellung in der Verwaltung.
Lutter & Wegner bestand aus dem legendären Weinkeller und den im Hochparterre gelegenen Weinstuben.
In die Weinstuben gelangte man von der Straße in das Hochparterre. Rechts und links daneben ging es durch kleine Türen ziemlich steil die Treppen hinab in urige Weinkeller. Dieses Haus wurde durch viele Prominente berühmt.
Es verkehrten dort bekannte Schauspieler, Komponisten und Dirigenten. Nach den abendlichen Konzerten kamen viele Besucher aus den in der Nähe liegenden Konzert- und Opernhäusern. Es waren auch Studenten und einige, die berühmt werden wollten oder es auch wurden. Es war die Stammkneipe von E.T.A. Hoffmann. Hier dichtete, schrieb und zechte er reichlich. Nach seinem Tode wurde ein Kellerraum „Hoffmanns-Keller“ getauft.
Führende Hotels und renommierte Restaurationsbetriebe wie zum Beispiel L. & W. wurden beauftragt, Premierenfeiern in den Theatern oder auch Opernbälle in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin zu arrangieren. Catering-Firmen waren noch unbekannt. Lutter & Wegner bekam den Auftrag mitzuhelfen, im Hotel Kaiserhof am 10. April 1935 die Hochzeit von General Hermann Göring auszurichten.
Göring war Ministerpräsident und Reichsminister der Luftfahrt, Stellvertreter von Hitler. Niemand ahnte zu der Zeit von einem Weltkrieg mit einem solchen katastrophalen Ausmaß.
Mein Vater arbeitete als Kellner auf dieser Hochzeit und hatte die Menükarte aufgehoben.
Diese Speisenfolge soll Hermann Göring angeblich als Gourmet selbst befohlen haben. Seiner Figur nach war er aber wohl eher ein Gourmand als ein Gourmet.
Nach dem Krieg wurde er zum Tode verurteilt. Er entzog sich feige der Hinrichtung durch die Einnahme von Gift.
Belegschaft von Lutter & Wegner beim Kameradschaftsabend am 12.02.1936, meine Eltern vorne rechts 2. und 3. Person
Das Jahr 1936 war für alle Gastronomen in Berlin ein großes Erfolgsjahr.
Jeder Kellner oder auch Koch, der in einer
„Ordentlichen Stellung“ war, hat durch viel Arbeit und viele zusätzliche Stunden auch beträchtliches Geld verdient. Es war das Jahr der großen Olympiade. Mein Vater kaufte noch im gleichen Jahr von seinem verdienten Geld von Späth (bekannt durch Späths Baumschulen) in Späthsfelde nahe Baumschulenweg in Berlin ein Grundstück.
1942 war ich 5 Jahre alt und bin immer gern mitgegangen, wenn es hieß, Papa von der Arbeit abzuholen. Das ging natürlich nur, wenn er Frühdienst an einem Sonntag hatte und meine Mutter nicht arbeiten musste.
Von da an habe ich auch meine Erinnerungen.
Einmal stand er schon vor einer Eingangstür des Weinkellers und erwartete uns. Er klapperte mit seinem Wechselgeld in der Hosentasche. Als ich ihn fragte, warum er das macht, antwortete er:
„Du hast doch eben die Pferdekutsche mit den zwei Schimmeln vorbeifahren gesehen. Wenn man dann mit dem Geld in der Tasche klappert, vermehrt es sich schneller. Weiße Pferdchen bringen Glück.“ Das wunderte mich. War es tatsächlich so? Er glaubte wohl selbst nicht daran.
Die Kollegen meines Vaters rissen sich geradezu darum, mir alles zu erklären. Ich war der kleine, gern gesehene Liebling von allen. Alles durfte ich mir im Office ansehen. Mich beeindruckte besonders der Speisenpaternoster. Das schmutzige Geschirr wurde in eine große Kiste hineingestellt und verschwand nach oben durch die Kellerdecke wie von Geisterhand gezogen. Daneben kam eine große Holzkiste mit dampfenden, wohlriechenden Speisen herunter.
Die Küche befand sich im Hochparterre. Es roch immer angenehm nach Mittagessen und der Duft breitete sich in allen Räumen aus.
Es war das dritte Kriegsjahr des Zweiten Weltkrieges, die Lebensmittel waren rationiert.
Man konnte bei L. & W. preiswert speisen, vorausgesetzt man hatte an der mitgebrachten Lebensmittelkarte noch entsprechende Abschnitte für Fleisch und Fett. Auf der Speisekarte war nicht nur der Preis des Gerichtes, sondern auch die Grammzahl von Fleisch und Fett angegeben. Diese kleinen, einen Zentimeter großen Marken musste der Kellner von der Karte abschneiden. Später kamen noch gesonderte Kartoffelkarten hinzu. Deshalb gehörte zu den Utensilien eines Kellners eine kleine Schere, die mein Vater an einem kurzen Silberkettchen in der Westentasche trug. Nach Feierabend musste er die Marken sortieren und auf einen Erfassungsbogen kleben. Ich schaute meinem Vater dabei über die Schultern und interessierte mich für alles, was er tat.
Mich wunderte, wie das alles funktionierte und das jeder genau wusste, was er zu machen hatte. Manchmal saßen die Kellner einfach herum, hatten viel Zeit und spielten mit mir. Ein anderes Mal liefen sie wie aufgescheucht hin und her. Mein Papa musste mir alles erklären, und mitunter hatte ich den Eindruck, er tat das ungern. Während er mir in Ruhe etwas begreiflich machen wollte, unterbrach er einfach hektisch und war nicht mehr zu sehen. Er konnte neue Gäste begrüßen.
Dass mein Vater an seinem Beruf hing, der ihm alles bedeutete, sollte mir erst später grausam bewusst werden.
Er erzählte zu Hause meiner Mutter von den Restauranterlebnissen. Manchmal durfte ich als kleiner Bengel zu Hause auch zuhören, obwohl es nicht üblich war, dass Kinder bei Gesprächen von Erwachsenen lauschten, denn sie hatten sich im Kinderzimmer aufzuhalten. Er berichtete meiner Mutter:
„Es gab gestern Abend wieder einen kolossalen Theaterstoß. Das Publikum, die Gäste sind sonnabends nicht so attraktiv wie an den anderen Tagen. Sonnabends gehen wohl die Gäste aus, die es sich in der Woche nicht mehr leisten können.
Zum Wochenende kommen immer weniger gut Bemittelte. Stell dir vor, heute wurde ein Kellner auf der Stelle entlassen“, erzählte er. „Dieser Kellner wollte einem Liebespaar einen einfachen billigen Wein zu einem höheren Preis verkaufen. Was der Kellner nicht ahnte, dass dieser unbekannte Gast ein guter Weinkenner war und der Schwindel sofort aufflog. Die Zunge des Gastes ließ sich nicht betrügen. Der Kellner hatte das Flaschenetikett von einer leeren verkauften teuren Weinflasche abgelöst und heimlich auf eine billigere geklebt.“
Was ich damals als kleiner Junge nicht verstand, erzählte mir meine Mutter in späteren Jahren. Viele Zusammenhänge, die die Gastronomie betrafen, konnte ich von meiner Mutter erlernen.
Mein Vater vertrat den Standpunkt, dass man zum Kellner geboren sein muss. Er dient dem Wohle des Gastes, hat dessen Vertrauen niemals zu missbrauchen und eine Berufsehre zu vertreten. Er ist der unmittelbare Vertreter des Gastgebers. Nicht nur durch die Qualität der Speisen, sondern auch mit gut ausgebildeten, höflichen Kellnern steigen die Umsätze und damit das Ansehen eines Hauses.
Die Kellner erhielten ein Fixum als monatliches Entgelt, und die Trinkgelder mussten versteuert werden. Hierbei wurde wohl schon immer ein bisschen nach unten gemogelt. Niemand konnte ja genau feststellen, wie viele Trinkgelder wirklich in die Taschen der Kellner geflossen sind. Der umsatzstärkste Kellner bekam monatlich zusätzlich noch eine „Siegprämie“ von Lutter & Wegner.
Jetzt schrieben wir das Jahr 1943.
Der Weltkrieg tobte bereits seit fast vier Jahren. Anfänglich blieb Berlin von Bombenangriffen verschont und der Krieg war weit weg, aber plötzlich wurden die Angriffe auf Berlin mit den schweren Bombardements immer heftiger.
Ich hatte noch drei Geschwister.
Mein älterer Bruder wurde nun mit 16 Jahren eingezogen. Er freute sich, in den Krieg zu ziehen und war davon überzeugt, für „Führer und Vaterland“ den Krieg zu gewinnen. Auch meine Schwester, die 18 Jahre alt war, hatte keine Zweifel: „Unser Führer wird es richten. Nur Deutschland kann den Krieg gewinnen.“ Sie war als Sekretärin bei der Reichsjugendführung beschäftigt und Adolf Hitler war ihr heiß und innig geliebter „Führer“. Über ihrem Bett hing ein Bild von ihm.
Mein Vater und meine Mutter wollten von der Überzeugung ihrer großen Kinder nichts hören. Es gab ständig heftige politische Diskussionen zu Hause, die ich aber als kleiner Junge nicht verstand.
Mein kleinerer Bruder Winfried war gerade ein Jahr alt.
Im Krieg, 1944, wurde ich eingeschult. Schon in der ersten Klasse wurden wir bei Bombenalarm nach Hause geschickt.
Wir mussten uns sputen, damit wir in unseren Luftschutzkeller kamen. Einmal brachten sie uns Schulkinder bei einem überraschenden Tagesangriff, schnell in den Keller eines nahegelegenen Kinderhorts. Als am späten Abend der Angriff vorbei war, durften wir nach Hause gehen. Mutterseelenallein als 6-jähriger kleiner Junge lief ich durch die brennende Knibrodestraße nach Hause. Alle Häuser links und rechts der Straße brannten lichterloh. Es war so heiß, dass man nicht auf dem Bürgersteig laufen konnte. Ich bin mitten auf der Straße schnell entlang gerannt. Keine Feuerwehren waren mehr einsatzfähig, aber sie hätten die verheerenden Brände ohnehin niemals mehr löschen können. Auf dem Gehsteig habe ich zwei tote Frauen mit einem kleinen verbrannten Kind liegen gesehen. Ich war erschrocken und traurig, als ich kurz in die offenen Augen des entstellten Mädchens sah. Niemand hat sich um die Toten gekümmert. Unterwegs hoffte ich, dass nicht auch unser Haus in der Immanuelkirchstraße brannte und dass meine Mutter noch lebte. Wir hatten wieder einmal großes Glück. Doch der Schulbetrieb wurde eingestellt.
Nun ertönten immer öfter in der Nacht die heulenden Sirenen. Dann mussten schnell alle Wohnungsfenster mit Rollos und Decken verdunkelt werden, damit kein Licht nach draußen schien und die Flugzeuge nicht aufmerksam wurden. Es war kurz nach Mitternacht nach einer lauten Sirenenwarnung.
Wir wollten gerade die Wohnung verlassen, da hörten wir in der Küche mehrmals laute Schreie bis in unseren vierten Stock vom Hinterhof: „Bei Hoebels sofort das Licht ausmachen und die Wohnung verlassen. Kommen Sie sofort aus der Wohnung heraus!“ Ich zitterte vor Angst.
Jede Familie suchte mit der Taschenlampe den zugewiesenen Luftschutzkeller unter dem Mietshaus auf. Keine Straßenlaternen oder Lampen auf dem Hof waren erleuchtet, die Treppenhausbeleuchtung war außer Betrieb gesetzt.
Die gesamte Stadt Berlin war vor jedem Bombenangriff in der Nacht stockfinster.
Auf dem dunklen Hof zum Kellereingang war es spukhaft, gespenstisch, man durfte nur flüstern, und die Nachbarn aus dem Haus konnte man schemenhaft erkennen.
Viele Kinder aus unserem Haus weinten, weil sie bei Fliegeralarm immer aus dem Schlaf gerissen wurden. Mein kleiner Bruder schlief im Kinderwagen, der vom vierten Stock herunter und nach der Sirenenentwarnung wieder hinaufgetragen wurde.
Im Keller roch es modrig auch nach Holz und Kohlen, und es war klamm, feucht und kalt. Zusammengekauert und mit Decken über den Schultern saßen wir stillschweigend beieinander. Es waren Stiefelgeräusche vom Hof zu hören, von den Luftschutzwarten, die Stahlhelme trugen und Gasmasken vor dem Gesicht hatten. Für mich sahen sie furchterregend und gruselig wie Gespenster aus. Weil ich sie immer mit Alarm, Bomben und Feuer in Verbindung brachte, durfte mich keiner von diesen Ungeheuern anfassen.
Jeder hoffte und bangte, dass unser Haus nicht zerstört würde. Einige Frauen hatten die Hände zum Gebet gefaltet.
Todesangst war Tag und Nacht unserer ständiger Begleiter. Bevor eine Bombe in der Nachbarschaft einschlug, ging dem immer ein lautes, grelles Pfeifen voraus. Meine Mutter ermahnte mich, den Mund aufzumachen, damit das Trommelfell nicht platzt. Das vierstöckige Mietshaus über uns vibrierte und es war als ob es bebte, wenn eine Bombe in der Nähe einschlug. Der Luftdruck und die Detonationen bei einem Bombenabwurf waren gewaltig. Dann rieselte von der Kellerdecke Putz von den Steinen zu uns hinunter. Einmal brachen ein paar kleine Steine aus der Kellerdecke heraus. Eine Frau hat laut geschrien, sie nahm an, dass unser Haus über uns zerstört wurde. Es war jedoch das große Eckhaus Greifswalder Straße/Heinrich-Roller-Straße neben unserer Schule.
Wenn die Sirenen wieder akustische Entwarnung gaben, kam ein Luftschutzwart und sagte, wir könnten wieder herauskommen. Dann krochen alle wieder gebückt aus den Kellern.
Mein Vater, der schon im Ersten Weltkrieg als Soldat gedient hatte, war so entkräftet und erschöpft, dass er in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Meine Mutter, eine couragierte Frau, beschloss mit meiner großen Schwester, dass die Familie auf dem Grundstück in Späthsfelde, etwa 15 Kilometer von Berlin entfernt, besser aufgehoben sein würde als in Berlin.
Auf dem gekauften Grundstück stand zu der Zeit nur eine kleine, spärlich eingerichtete Holzlaube mit einer winzigen Küche und zwei kleinen Wohnräumen.
Als mein Vater zeitweise das Krankenhaus verlassen durfte, baute er mit meiner Mutter und mit der Hilfe eines Nachbarn einen Splittergraben im Garten. Es war ein großes Loch in der Erde, etwa zwei Meter tief, nicht sehr breit aber circa drei bis vier Meter lang. Mit Bohlen und Brettern notdürftig abgestützt. Das Dach zu ebener Erde bestand aus dünnen Holzlatten, ein paar Balken und darauf Sand mit Grasbüscheln.
Wir konnten die Alarmsirenen von Berlin auf dem Grundstück nicht hören. Die Angriffswarnungen wurden von den Hausfrauen aus Baumschulenweg mit dem Schlagen von zwei großen Kochtopfdeckeln in Richtung Späthsfelde weitergegeben. So haben sich die Menschen untereinander geholfen.
Jeder wusste, dass er sich verkriechen musste, und wir waren sofort wieder in unserer Höhle im Erdloch.
Erst fand ich das als siebenjähriger Bengel spannend und aufregend. Später, als wir die ganze Nacht darin zubringen mussten, wurde es unheimlich. Der feine Sand rieselte ständig ein wenig durch die Behelfsdecke und ich konnte keine Nacht in dem dunklen Graben schlafen.
Von Weitem hörten wir schwere Detonationen. Wenn wir einmal die Köpfe aus der Erde steckten, sahen wir furchtbare, gewaltige rote Feuerballons und pechschwarze riesige Rauchwolken am Horizont im Himmel über Berlin.
Dazwischen waren Leuchtbomben zu sehen, die wie abgeworfene brennende Weihnachtsbäume aussahen.
Wir fühlten uns nicht sicher, aber zumindest etwas geschützt, als zwei Granaten nicht weit von unserem Loch im Grundstück einschlugen. Hätten sie unseren behelfsmäßigen Unterschlupf getroffen, wäre es unweigerlich unser Familiengrab geworden. Die Familie war mehr in der Nähe des Todes als am Leben. Meine Mutter war voller Sorgen und bangte um meine Schwester Gerda. Sie wollte unbedingt in Berlin bleiben und unsere Wohnung hüten, wie sie sagte. Es gab keinen Kontakt keine telefonische Verbindung.
Es war Anfang April 1945. Mein Vater wurde aus dem Krankenhaus ungeheilt entlassen. Bei uns in Späthsfelde sprach sich herum, dass bald die Russen kommen würden.
Immer wieder fragte ich meine Mutter:
„Mutti, wie sehen die Russen aus, sind sie so wie wir oder sind sie viel kleiner oder größer, sind sie schwarz oder weiß?“
Sie wusste es auch nicht.
Nur, dass die Iwans wie die Russen auch genannt wurden, von vielen Deutschen als ganz böse, primitive Menschen beschrieben wurden. „Mutti, sind es etwa Menschenfresser?“, fragte ich. Ich war gespannt und konnte es einfach nicht erwarten.
„Wann kommen denn nun endlich die Russen?“
Immer wieder dieselben Fragen und keineswegs befriedigende Antworten für mich.
Endlich war es soweit.
Eines Morgens gegen 9 Uhr. Die Russen kamen aus Richtung Baumschulenweg den Späthsfelder Weg entlang und bogen in die Johannisthaler Chaussee in Richtung Berlin ein.
Aufgeregt voller Spannung noch im Schlafanzug, stand ich auf Zehenspitzen in meinem Bett in der Laube und konnte sie durch das einzige obere Fenster nur von Weitem sehen.
Sie kamen langsam mit vielen Panzern, mit offenen und geschlossenen Lastkraftwagen. Dazwischen immer wieder etliche Pferdegespanne, die Geschütze zogen.
Viele Stunden lang. Das Gefolge nahm überhaupt kein Ende.
Meine Mutter seufzte tief und atmete auf. Sie sagte:
„Gott sei Dank, sie bleiben nicht hier, sie ziehen weiter in Richtung Berlin.“ Sie irrte. Es gab einen Stau. Nachmittags ging es schon nicht mehr weiter voran. Die Russen lagerten dort, wo sie gerade waren. Die gesamte Siedlung war mit Russen, deren Fahrzeugen und Panzern besetzt. Mit ihren Pferden und Wagen rissen sie die Zäune der Grundstücke ein und errichteten ihr Nachtlager. Sie besetzten nicht die kleinen Lauben, sondern die besseren Ein- und Zweifamilienhäuser im Ort, dadurch hatten wir Glück.
Am frühen Abend, es war noch nicht dunkel, kamen zwei Russen mit aufgepflanztem Bajonett im Anschlag auf unser Grundstück und inspizierten alles in der Laube.
Es waren mongolische Typen mit runden Gesichtern und asiatischen Augen. Sie sahen schmutzig aus und rochen unangenehm. Einer der Russen griff nach Vaters goldener Taschenuhr, die an der Wand hing, mit den Worten „Uhri, Uhri!“ und steckte sie ein.
Mein kranker Vater stand daneben, und zum ersten Male habe ich ihn weinen sehen und schluchzen gehört. Die goldene Uhr mit Doppelkapsel war ein sehr wertvolles Stück. Die Russen suchten weiter, verschwanden jedoch schließlich ohne weitere Beute. Als es dunkel war, spät am Abend, kamen wieder zwei Russen und wollten etwas von meiner Mutter. Im Lichtschein der Kerze sagten sie wiederholt: „Matka, Matka, Matka.“
Einer der Russen hielt ihr eine Pistole vor die Brust.
Meine Mutter sagte in meiner Gegenwart zu dem Russen:
„Schieß doch, schieß doch! Schieß doch endlich!“
„Nein, Mutti, nein, bitte, bitte nicht, warum sagst du das?“
Ich flehte sie an und zerrte dabei mit beiden Händen an ihrem Rock. Warum sagte sie so etwas? War sie so stark oder so verzweifelt? Er hat nicht geschossen.
Mein Vater stellte sich auch nicht dazwischen. Ohne dass er das zu der Zeit wissen konnte, war dies sehr klug. Ältere Männer, Väter von Töchtern, die sich vor die Frauen stellten, wurden auf der Stelle vor den Augen der Mädchen erschossen.
Ich habe als siebenjähriger Junge zugesehen, wie eine Frau in einem Zweifamilienhaus, wo ich mit einem anderen Jungen spielte, nachmittags von einem Russen vergewaltigt wurde.
Als Kind konnte ich überhaupt nicht verstehen, was der Russe mit der Frau machte. Er lag auf ihr und sie hat schrecklich laut geschrien und gewimmert.
An einem frühen Abend habe ich am Gartenzaun beobachtet, wie unser Nachbar, der geholfen hatte, unseren Luftschutzgraben zu bauen, erschossen wurde. Der ältere Mann hatte sich gewehrt, während seine Tochter von einem anderen Russenvergewaltigt wurde. Man hörte am Tage und auch abends öfter laute, verzweifelte Hilfeschreie von Frauen und kurz danach Schüsse in der gesamten Umgebung von Späthsfelde.
In den folgenden Tagen bekamen wir mehrfach unverhofften Besuch anderer Russen auf unserem Grundstück. Meiner Mutter erklärten sie: „Chleb, Margarin, Masslo.“ Das hieß wohl: Brot, Margarine und Butter. Das sollten Versprechungen von Lebensmitteln für ihre zügellosen Taten an Frauen sein.
Sie ging sofort heraus aus der Laube, blies stark in die bereitgehaltene Trillerpfeife und schrie laut im Garten: „Kommandantura! Kommandantura!“ Das half, die Russen verließen fluchtartig unser Grundstück. Sie hatten großen Respekt oder Angst vor ihren Vorgesetzten, vor ihren Kommandanten.
Meine Mutter erklärte mir: „Wenn die Soldaten nicht gehorchen, bekommen sie Prügel!“
Für uns begannen unerträgliche Wochen und Monate, weil wir nichts mehr zu essen hatten. Die Lebensmittelgeschäfte wurden erst von den Russen und dann die Reste von den Deutschen geplündert. Die Lebensmittelreserven, die meine Mutter eingeweckt und im Garten vergraben hatte, waren restlos aufgebraucht. Ich war noch zu klein, um zum Hamstern aufs Land zu fahren oder auf dem schwarzen Markt zu schachern, wie es damals viele taten. Mein Vater war zu krank und zu schwach. Meine Mutter musste sich um meinen kleinen Bruder Winfried kümmern. Der Hunger fing an wehzutun.
Es blieb uns nichts weiter übrig, als entweder betteln zu gehen oder zu verhungern. Mit einer großen Überwindung musste ich zu den Russen betteln gehen. Einen Kochtopf unter dem Arm zog ich zu den Russen, nicht weit von unserem Grundstück entfernt. Ich bekam gleich eine Kelle Gemüsesuppe aus der Gulaschkanone mit großen Fleischbrocken darin und einen Kanten dunkles Schwarzbrot. Überglücklich, voller Stolz und mit Freudentränen in den Augen schaute ich unterwegs ständig in meinen gefüllten Topf. Schnell lief ich nach Hause und passte dabei auf, dass ich nicht ein Gramm verschüttete. Zu Hause lobte mich meine Mutter in den höchsten Tönen: „Du bist mein Kronsohn!“ Aber anstatt jetzt zu essen, nahm sie den Topf vom Tisch und sagte: „Das wird eingeteilt!“
Mir kullerten gleich die Tränen, weil ich großen Hunger hatte und mir völlig klar war, das reicht trotz Einteilung nicht weit. Mein Vater verzichtete zugunsten von uns Kindern und meiner Mutter auf einen Happen. Zwei Tage später bin ich von allein ohne Aufforderung meiner Mutter betteln gegangen. Ich merkte, dass die Russen kinderlieb waren und mir nichts tun würden. Manchmal schäkerten sie auch mit mir. Fast immer brachte ich Mittagessen im Kochtopf und Schwarzbrot oder eine Büchse mit Wurst oder Fleisch nach Hause.
Es war jetzt Mai 1945 und es sprach sich schnell herum, dass der Krieg zu Ende war. Wir hatten keinen Strom, kein Telefon und konnten kein Radio hören. Mein Vater machte sich zu Fuß auf den Weg zur Wohnung in Berlin, etwa 13 Kilometer Fußmarsch. Es fuhr noch lange keine Straßenbahn oder S-Bahn, von Autos auf den Straßen keine Spur.
Er wollte wissen, ob unsere Wohnung in Berlin noch existiert und was meine Schwester Gerda macht. Als er nach drei Tagen wieder zum Garten zurückkam, brachte er die Nachricht mit, dass das Haus Gott sei Dank noch stand, aber äußerst stark beschädigt war.
Das Dach und alle Fenster vom Haus waren kaputt, die gesamte Wohnungseinrichtung pechschwarz dick mit Ruß belegt.
„Und was macht Gerda?“, fragte meine Mutter besorgt.
„Gerda ist tot“, antwortete er. Meine Mutter brach zusammen. Gerda ist am 5. Mai durch eine Granate ums Leben gekommen. Sie wurde gegenüber unserer Wohnung, hinter der Kirche, nur ein paar Zentimeter tief in der Erde verscharrt. Genau drei Tage vor dem Waffenstillstand, denn am 8. Mai war der Krieg zu Ende. Mein Vater zimmerte mit einem Nachbarn eine Kiste, buddelte mit einer kleinen Kohlenschippe meine Schwester wieder aus und fuhr sie auf einem Handwagen auf den Georgenfriedhof Greifswalder Straße. Es war für ihn das schmerzlichste Erlebnis des Zweiten Weltkrieges.
Er träumte von einem Neuanfang und erkundigte sich, was aus Lutter & Wegner geworden war. Die Weinstuben im Hochparterre waren völlig zerstört, der Weinkeller aber nur zum Teil eingestürzt. Es hieß von der Betriebsleitung, jeder ehemalige Kollege, der noch lebte und mithalf, Lutter & Wegner wieder aufzubauen, würde seinen alten Arbeitsplatz zurückbekommen. Mein Vater glaubte daran, dieses Restaurant von den Trümmern befreien zu können und dass es wieder geöffnet würde.
Seine Hoffnung erfüllte sich für ihn leider nicht. Mit bloßen Händen half er, die Trümmer zu entfernen.
Doch der fortschreitende gesundheitliche Ruin kannte keine Gnade.
Immer zu Fuß die vielen Kilometer von Späthsfelde bis in die Charlottenstraße zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz und wieder zurück. Manchmal mit einer einzigen Scheibe trockenem Brot. Meine Mutter warnte meinen Vater vor weiteren gesundheitlichen Folgen, aber sie konnte ihn nicht zurückhalten. Sein fleißiges Aufbauwerk dauerte noch nicht einmal eine Woche. Ausgezehrt, total abgemagert und auch noch mit einer Ruhr verstarb er vor meinen Augen am 12. Juli 1945 mittags auf seinem Feldbett in der Gartenlaube. Er kam in eine mannsgroße braune Papiertüte, die wir vom Bestattungsinstitut bekamen. Sie wurde oben zugebunden, und so wurde er dann begraben. Am Beerdigungstag war es schwül und warm und die Tüte war wohl nicht dicht genug. Hunderte Fliegen kreisten hastig und wie verrückt um die Papiertüte herum und begleiteten uns mit dem klapprigen hölzernen Handwagen auf dem langen schweren Weg durch den Ort, bis an das Grab in Baumschulenweg. Den ganzen Weg lang habe ich nur um meinen lieben Papa geweint.
Der Tod meines Vaters war für meine Mutter eine große Herausforderung. Mit zwei Kindern, ohne den Vater, den sie liebte, völlig mittellos, ohne Essen. Das Obst im Garten war noch nicht reif, vor Hunger habe ich die Äpfel trotzdem gegessen und ständig Durchfall gehabt. Im Garten und auf den Wiesen habe ich das wertvolle Unkraut Melde und Brennnesseln gepflückt. Es wurde wie Spinat zubereitet, ohne ein Gramm Fett. Von einer Nachbarin bekamen wir einmal Kartoffelschalen. Meine Mutter hat die Schalen gewaschen, durch den Fleischwolf gedreht mit Mehl gebunden und wollte davon Kartoffelpuffer braten. Weil kein Fett zum braten vorhanden war, versuchte sie es mit farbloser Schuhcreme, weil sie wusste, dass Schuhcreme Talg enthielt. Als sie die Schuhcreme in der Pfanne erhitzte, hat das so bestialisch gestunken, dass sie es sofort wieder gelassen hat. Wir hielten uns nur notdürftig über Wasser. Wenn es etwas zu essen gab, war es immer zu wenig, aber dennoch zum Verhungern zu viel.
Jetzt zogen wir wieder in unsere Wohnung nach Berlin.
Wir Kinder spielten in den Ruinen der zerstörten Häuser und tauschten gegenseitig zwischen den Trümmern gefundene kleine Granatsplitter aus.
Es gab wieder Strom, aber ständig ohne Ankündigung zu allen Tag- und Nachtzeiten Stromsperren über längere Zeiträume. Wenn wir abends im Dunkeln saßen und der kalte Wind durch die notdürftig mit Brettern und Pappe abgedichteten Wohnungsfenster blies, setzte sich die Mutter an das Klavier oder holte ihre Gitarre hervor und spielte und übte mit uns viele Volkslieder.
Im Spätherbst des Jahres 1945 wurde ich das zweite Mal eingeschult. Gleich in die zweite Klasse. Der nette alte Klassenlehrer bat uns, ob wir für ihn noch etwas übrig hätten. Wir sollten zu Hause fragen, ob er vielleicht eine Hose oder eine Jacke von den Vätern, die im Krieg gefallen waren, bekommen könnte. Möglicherweise auch eine Decke. Er war ausgebombt und hatte nur das, was er am Körper trug. Die Mehrheit der schulpflichtigen Kinder wurde durch den Krieg zu Halbwaisen, da die meisten Väter ihr Leben im Krieg lassen mussten.
Im Winter gingen die meisten Kinder mit Stofflappen um die Füße gewickelt und mit Holzpantinen zur Schule. Es klebte immer der Schnee unter den Pantinen. Alle paar Meter musste ich am Bordstein den Schnee von den Holzklotzen abklopfen, sonst hätte ich nicht weiterlaufen können.
Es wurde das Schüleressen eingeführt. Oftmals eine dünne Suppe mit Kohlrübenstückchen darin, aber wir hatten immer etwas Warmes im Magen. Manchmal zählten wir die wenigen Fettaugen auf der Brühe. Die Hungersnot ging weiter. Dazu erwartete uns noch der strenge, der entsetzliche Winter 1946/1947. Bittere Kälte mit Minustemperaturen um die 25 Grad überzog unser Land. Es gab keine Kohlen oder Holz, um die Öfen in den Wohnungen zu heizen. Tausende Menschen, die den Krieg glücklicherweise mit Ach und Krach überstanden hatten, sind erfroren. Es war wie ein Krieg ohne Bomben.
Einst zitterten wir vor Todesangst und nun vor Kälte. Dick eingemummelt und mit dem Wintermantel gingen wir ins Bett. In der Wohnung waren ständig weit unter null Grad. Die Wasserleitungen in Berlin waren alle eingefroren. Letzte Wassertropfen hingen wie kleine Eiszapfen am Metallwasserhahn in der Küche. Mir sind zwei Finger erfroren. Bei meinem kleinen Bruder Winfried waren es vier Finger und drei Zehen am Fuß. Die Haut der Glieder spannte sich, wurde rot, schwoll kräftig an und die Finger und die Zehen brachen dann bis zum Knochengewebe auf. Es eiterte fürchterlich aus den breit klaffenden Wunden, die erst mit Ichtholan-Salbe und Verbandsmaterial, aber später nur noch mit weißen Stoffresten notdürftig versorgt werden konnten.
Die Schulen konnten nicht geheizt werden und wurden wieder geschlossen. Nach 1948 ging es langsam bergauf. Wir hörten, dass es für jede Familie in Ostberlin von der amerikanischen Hilfsorganisation „C.A.R.E.“ ein Lebensmittelpaket in Westberlin gab. Zweimal holte ich ein solches schweres Paket aus dem Westsektor ab. Eine riesengroße Freude zu Hause. Im Paket befanden sich Mehl, Zucker, Milch- und Eipulver, Schokolade, Corned Beef, Kekse und anderes. Alles ohne einen Pfennig zu bezahlen. Meine Mutter hat das eingeteilt und in den Schränken wie Heiligtümer verschlossen. Zur Sicherheit hat sie die Schlüssel versteckt.
Alle Kinder aus den gesamten Kriegskinderklassen mussten aus Altersgründen nochmals eine Klasse überspringen.
1952 habe ich dann nach knapp sieben Schuljahren die erste Volksschule zu Berlin mit dem Abschluss der neunten Klasse verlassen. Meine Mutter redete auf mich ein, ich sollte unbedingt ein Maurer werden. „Du könntest im Garten später ein Haus bauen.“ Handwerk hatte immer einen goldenen Boden, meinte sie. Nun war ich von meiner Physiologie oder Erbanlage her alles andere als ein Maurer. „Niemals werde ich diesen Beruf erlernen“, versicherte ich meiner Mutter. „Sind das die Früchte meiner Erziehung?“, musste ich oft hören.
Sie hatte mit der Post ein Antwortschreiben von der Schauspielschule aus Leipzig abgefangen, das an mich adressiert war. Dort hatte ich mich heimlich beworben. Es gab viel Ärger. „Was soll bloß aus dir werden?“ Jeden Tag das gleiche Thema, ich konnte es nicht mehr hören. Sie machte sich große Sorgen um mich und lehnte Schauspielerei entschieden ab. „Das ist nichts weiter als brotlose Kunst, die wenigsten Schauspieler verdienen gutes Geld“, meinte sie. „Dann würde ich gern Einzelhandelskaufmann werden, oder ich gehe in die Gastronomie.“ Das habe ich immer wieder betont.
Der Bruder meiner Mutter, Onkel Erich, hatte in Westberlin im Jahre 1952 schon ein gut gehendes Lebensmittelgeschäft. Diesen Kaufmannsberuf hatte er vor dem Krieg von der Pike auf in einem guten Hause erlernt und konnte jede Hilfe gebrauchen. Im schneeweißen Kittel durfte ich im Geschäft helfen und auf den Lebensmittelmärkten in Tegel, Lübars und Tempelhof mit verkaufen. Ein Riesenspaß für mich.
Die Verkaufskultur mit der individuellen Bedienung hatte in Westberlin 1952 schon wieder einen hohen Stellenwert erreicht. Hier spürte ich zum ersten Mal die großen Unterschiede zwischen Westen und Osten. Man konnte über das vielseitige Warenangebot und über die Mengen nur staunen. Wir handelten in Westberlin 1952 bereits mit 50 Sorten Käse, 6 Sorten Butter, vielen Sorten Kaffee, Kaffeesahne in bunten hübschen Dosen, mehreren Sorten frische Eier, jeder Menge Backzutaten und vielem anderen. Die Schaufenster der Geschäfte in Westberlin waren sauber, voll und bunt, die im Osten blieben grau und leer. In manchen Lebensmittelgeschäften bei uns konnte man durch unsaubere Schaufensterscheiben lediglich ein Bild von Stalin und daneben eine verstaubte Grünpflanze betrachten, die meist auch noch dürstete. Sporadisch gab es eine Sorte Schnittkäse. Sofort bildeten sich lange Schlangen von Menschen vor dem Ost-Geschäft.
Lebensmittelkarten gab es im Westen bis 1950, im Osten bis 1958, Kartoffel- und Kohlenkarten bis in die 60er-Jahre.
Dabei kam mir als 15-jähriger Bengel in den Sinn, dass die Deutschen im Westen den Krieg doch genauso verloren hatten wie wir im Osten. Warum gab es solche krassen Unterschiede? Bei uns öffneten HO-Geschäfte, eine staatliche Handelsorganisation. Dort konnte man Lebensmittel ohne Marken kaufen, nur teurer. Wir glaubten, künftig würde die Versorgungslage besser, weil es jetzt die entsprechenden Waren bei der HO gab. Plötzlich immer unerwartet waren bestimmte Sortimente wieder über Wochen vergriffen. Man wartete ständig auf Nachschub. Es gab die Möglichkeit, als Ostberliner in Westberlin sämtliche Nahrungsmittel einzukaufen, für uns zu einem hohen Umrechnungskurs. Kaffee, Südfrüchte oder grüne Heringe waren für meine Mutter durch ihren geringen Verdienst kaum erreichbare Luxusartikel.
Die Geldwechselstuben schossen in Westberlin wie Pilze aus der Erde. Einige Westberliner kauften in Ostberlin ihre Lebensmittel, hauptsächlich Fleisch, aber auch Zucker und Mehl ein, weil sie ihr angesehenes Westgeld umtauschten und dafür mehr als das Vierfache an Ware im Osten erhielten.
Mein Onkel brachte mir im Lebensmittelgeschäft nicht nur das kaufmännische Einmaleins bei, sondern auch Verkaufsmethoden und die Präsentationen der verschiedensten Lebensmittel in vorbildlichster Schaufenstergestaltung.
Für meine von ihm ständig gelobte Tüchtigkeit und meinen Fleiß bekam ich jeden Sonnabend lediglich einen Lohn von 5 Westmark und eine 50-Gramm-Tüte Jacobs-Kaffeebohnen für meine Mutter. Er vertrat den Standpunkt, wenn ich mir die 5 Westmark in Ostmark umtauschen würde, hätte ich genauso viel wie ein Lehrling im Osten, 20 Ostmark die Woche.
Das war meiner Mutter zu viel. Von einem Lehrvertrag wollte er nichts wissen. Ich sollte weiter schwarzarbeiten, das wäre profitabler für ihn.
Meine Mutter bestand aber auf einem Lehrvertrag und einem ordentlichen Abschluss für mich.
Die Lösung kam vom Himmel gefallen.
Meine Mutter begegnete auf der Straße zufällig dem ehemaligen Butterlieferanten von Lutter & Wegner, Herrn Max Lehmann. Dieser hatte wieder eine kleine Lebensmittelfabrik in Ostberlin, es war mehr ein Auslieferungslager.
Es dauerte nicht lange, bis meine Mutter ihre Sorgen mit ihrem „Kronsohn Wolfgang“ zur Sprache brachte.
Lehmann belieferte ehemals namhafte Restaurants und Hotels, die wiedereröffnet worden waren. Dazu zählte auch das Hotel Adlon. Er kannte den Direktor und versprach ein Wort für mich einzulegen. Vierzehn Tage später hatte ich den Vorstellungstermin, nicht beim zuständigen Personalchef des Adlon, sondern gleich beim Direktor. Zu Hause gab es viele gute Anweisungen und Verhaltensregeln von meiner Mutter für meinen ersten Auftritt.
Sie machte sich große Sorgen, ob meine Vorstellung auch wirklich gelingen könnte. Höflichkeits- und Anstandsregeln wurden zu Hause, wie bei Theaterproben, immer wieder von Mutter abgefragt. Aufgeregt übertraf der Vorstellungstermin alle Vorstellungen, die ich im Kopf schon mehrmals durchgespielt hatte.
Unerwartet, entgegen allen Prüfungen zu Hause, lief das Einstellungsgespräch völlig anders ab.
Der Direktor Paul, wie er mit Zunamen hieß, war ein kleiner, leicht korpulenter Herr. Er betonte in dem Gespräch:
„Wir brauchen junge Menschen mit einer neuen Einstellung zur Gesellschaft. Nur in unserer neuen politischen Gesellschaftsordnung können sich junge Menschen entfalten und in Frieden leben. Der Staat tut alles, um gerade jungen Arbeitern und Bauern eine neue Zukunft zu bieten. Du musst wissen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands allen Menschen das gesamte Volkseigentum gehört.“
Statt eines Einstellungsgespräches sollte es wohl mehr ein politisches Aufklärungsgespräch sein. Er redete ohne Unterlass und pausenlos immer wieder auf mich ein:
„Der Klassenfeind sitzt im Westen, dort sind imperialistische, kriegerische Kräfte am Werk, die das friedliche Aufbauwerk unserer Arbeiter und Bauern in der DDR zerstören wollen“ usw. Das ging so etwa eine Stunde.
Nicht eine einzige Frage hatte ich zu beantworten, auf die ich alle von meiner Mutter gut vorbereitet worden war.
Er erklärte mir auch, er sei Tischler von Beruf und gehöre seit Jahren der Arbeiterbewegung an. Er war sicher ein überzeugter Kommunist und wurde vermutlich vom Staat für diese Funktion als Direktor eingesetzt.
Der Direktor eines Hotels war Tischler von Beruf, nicht Koch oder Kellner? Das konnte ich nicht begreifen. Vorsichtshalber, um keinen Fehler zu begehen, stellte ich keine Fragen und machte keine unnötigen Bemerkungen.
Von mir und meiner Vergangenheit wollte er überhaupt nichts wissen. Er wollte noch nicht einmal meine nicht gerade rosigen Schulzeugnisse sehen, die ich unter dem Tisch in einer alten, abgewetzten, ledernen Aktentasche deponiert hatte. Aufrecht im Stuhl sitzend, Brust raus, Bauch rein, wie Mutter gepredigt hatte, war ich nur ein guter, disziplinierter und aufmerksamer Zuhörer. Das war das Einstellungsgespräch für das Hotel Adlon. Kein Wort fiel zu meinen erwartungsvollen neuen großen Aufgaben. Sicher erschien ich dem Herrn Direktor sympathisch. Vermutlich hatte ich tatsächlich eine gute Figur in meinem neuen dunkelblauen Anzug mit weißem Oberhemd und dezenter Krawatte gemacht. Dafür hatte meine Mutter schon lange vorher gespart und ein paar silberne Suppenlöffel und Bestecke verkauft.
Zuletzt fragte mich der Direktor, ob ich bereit wäre, im Hotel- Adlon eine Jugendgruppe und später eine FDJ-Gruppe (Freie Deutsche Jugend) ins Leben zu rufen. Ich bejahte das, obwohl ich bis dahin nicht einmal FDJ-Mitglied war.
Zum Schluss des Gespräches fast nebenbei:
„Bevor du als Lehrling im Adlon beginnst, musst du dich ein Jahr als Page bewähren. Danach beginnst du eine dreijährige Kellnerlehre. Während deiner Lehrzeit arbeitest du auch für ein halbes Jahr in der Küche und ein halbes Jahr im Büro.“ Ich bekam dessen ungeachtet das Wichtigste für mich an dem Tag, den Termin für die Einstellung: Es war Donnerstag, der 12. März 1953. Sollte das ein Glückstag in meinem Leben werden? Auf jeden Fall wurden an diesem Tag meine beruflichen Weichen gestellt.
Das Hotel Adlon stand auf dem Boden der DDR auf der Ostseite des Brandenburger Tores und gehörte zu einer GmbH.
Diese GmbH hatte für meine Mutter einen grauenhaften Namen: B.B.B. (Berliner-Beherbergungs-Betriebe). Dazu gehörten das Hotel Adlon, das Hotel Coburger Hof gegenüber vom Bahnhof Friedrichstraße, das Hotel Albrechtshof in der Albrecht Straße und das Gesellschaftshaus in Berlin-Grünau. Vom Gebäude des ehemaligen Adlon stand nur noch ein Seitenteil, der Westflügel. Der Eingang befand sich in der Wilhelmstraße 70a. Das Adlon wurde im Krieg nur geringfügig zerstört und erst kurz vor Kriegsende durch ein Großfeuer vernichtet. Die Ursache soll Brandstiftung oder leichtsinniger Umgang mit Kerzen im Weinkeller gewesen sein.
Es gab im stehen gebliebenen Westgebäude immerhin noch 87 Zimmer, davon vier Luxus-Suiten (damals Luxus-Salons) mit jeweils zwei geräumigen Zimmern, ausgestattet zusätzlich mit Konzertflügel. Diese großen Salons hatten auch ein prachtvolles Badezimmer mit Badewanne, Toilette und Bidet. Die 45 Einzelzimmer und 42 Doppelzimmer waren fast alle in ihrem Ursprung mit der damaligen exzellenten Ausstattung, den Samtvorhängen, den dicken Teppichen, den Mahagonimöbeln und den pompösen, kaiserlichen hohen Betten erhalten geblieben. Nur die Außenfassade des stehen gebliebenen Adlons machte keinen einladenden Eindruck mehr. Zuviel Rauch und Schmutz durch das Feuer hatten die Fassade stark angegriffen.
Die nicht einladende Fassade des übrig gebliebenen Adlon
Ein Zimmer im dritten Stock kostete genau 8,05 Ostmark, eine Suite ganze 36,80 Ostmark. Das waren Preise, die in der DDR von der obersten staatlichen Preisbehörde festgelegt wurden und von keinem Hotel verändert werden durften. Die starre, vom Staat verordnete Preispolitik führte zwangsweise dazu, dass Investitionen unmöglich wurden.
Nur notdürftigste Reparaturen konnten ausgeführt werden. Die Fassade hätte durch das Hotel nie eine Verschönerung erfahren können. Es blieb ein trauriger, fast trostloser Anblick.
Die circa 70 Beschäftigten hinter der Fassade waren dagegen mit Ehrfurcht bemüht, dem schwerverletzten Adlon die Seele zu pflegen und es zu erhalten. Der Name HOTEL ADLON war noch auf der ganzen Welt bekannt. Das Herz des Hotels hatte noch nicht aufgehört zu schlagen.
Ein kleiner bescheidener Schimmer des Glanzes blieb erhalten. Dazu gehörte auch noch Fachpersonal, das sich im alten ehrwürdigen Adlon schon verdient gemacht hatte.