Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen - Gunter Gebauer - E-Book

Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen E-Book

Gunter Gebauer

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Beschreibung

Wie funktioniert eine Masse?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema der Politik und Gesellschaft Europas. Im Zeitalter des Individualismus scheinen sie ihre Anziehungskraft und Gefährlichkeit verloren zu haben. Ein Irrtum. Von neuem bewegen Massen große Teile der Gesellschaft. Sie entstehen mit Hilfe moderner Medien in der Popkultur, in Sport und Konsum, in Protestbewegungen und Revolten, in neuen politischen Formationen und in Flüchtlingsströmen. Im Unterschied zu den Massen der Vergangenheit bieten sie den Individuen die Möglichkeit, sich eine imaginäre Größe, ihren Äußerungen und Schicksalen eine Öffentlichkeit zu geben.

Gunter Gebauer und Sven Rücker entwerfen eine neue Theorie der Massen, indem sie Romane und Erzählungen, Filme und Musik auswerten.

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Seitenzahl: 474

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Über das Buch:

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema der Politik und Gesellschaft Europas. Im Zeitalter des Individualismus scheinen sie ihre Anziehungskraft und Gefährlichkeit verloren zu haben. Ein Irrtum. Von Neuem bewegen Massen große Teile der Gesellschaft. Sie entstehen mithilfe moderner Medien in der Popkultur, in Sport und Konsum, in Protestbewegungen und Revolten, in neuen politischen Formationen und in Flüchtlingsströmen. Im Unterschied zu den Massen der Vergangenheit bieten sie den Individuen die Möglichkeit, sich eine imaginäre Größe, ihren Äußerungen und Schicksalen eine Öffentlichkeit zu geben.

Gunter Gebauer und Sven Rücker entwerfen eine neue Theorie der Massen, indem sie Romane und Erzählungen, Filme und Musik auswerten.

Über die Autoren:

Gunter Gebauer, 1944 in Timmendorfer Strand geboren, ist einer der profiliertesten Philosophen Deutschlands; im TV und in den Tageszeitungen wird er regelmäßig zu den wichtigen Themen befragt. Seit 1978 hat er den Lehrstuhl für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin inne, 1993 wurde er Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt bei Pantheon »Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs« (2016).

Sven Rücker, 1975 in Bad Segeberg geboren, lebt als Autor, Essayist und Dozent für Philosophie in Berlin. Nach einem Studium in Freiburg und an der Freien Universität Berlin promovierte er 2009 in Philosophie. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Ernst-Reuter-Preis für die beste Dissertation in den Geisteswissenschaften der FU ausgezeichnet. Seit 2010 lehrt er Philosophie an der FU. Zu seinen philosophischen Arbeiten zählt insbesondere »Das Gesetz der Überschreitung. Eine philosophische Geschichte der Grenzen« (2013).

GUNTER GEBAUER SVEN RÜCKER

Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: © Arthimedes/shutterstock

ISBN 978-3-641-21240-7 V002

www.dva.de

Inhalt

Einleitung

Historische Einteilung– Zum Konzept der Masse– Über die Anfänge des Massenbegriffs

I Wie entsteht eine Masse?

Der Angriff der Vogelmasse (Alfred Hitchcock)– In einer Station der Metro– Masse und Massenbewusstsein (Berlin 1966)– »Paris s’éveille«, Paris erwacht (Mai 1968)– Die Herausforderung des Staats durch das Volk (DDR 1989)– Die Individuen in der Masse

II Wie funktionieren Massen?

Le Bon und die Massen-Hypnose– Freuds Massen-Psychologie: Hypnose und Libido– Zu Freuds Konzept der Bindung der Masse an Autorität– Die »Masse in mir«. Massenerfahrungen am eigenen Leib– Das neue Wir der Massen– Fragen der Methode

III Doppel-Massen

Wir und Die. Stabilisierung durch Abgrenzung– Die oder Wir. Das Agonale und die mimetische Konkurrenz– Wer gehört zum Wir?– Ordnung gegen Chaos. Metropolis, M – Eine Stadt sucht einen Mörder– Chaos gegen Ordnung. Der Mythos »Schwarzer Block«– Die mimetische Struktur der Doppel-Masse

IV Populismus

Politik der Bilder, Rhetorik der Gefahr– Das »Wir« des Populismus und seine Gegner– Das »wahre Volk« und die Zerstörung der Repräsentation– Neue Mitte, neue Ränder und die harte Hand– Etablierte und Außenseiter– Die »liebenden Massen«

V Masse und Raum

Historische Raumkämpfe– Der Erscheinungsraum des Politischen– Heilige Räume und der Einbruch des Profanen– Das Recht auf Gewöhnlichkeit – Ortega y Gasset und der Massentourismus– Massenkatastrophen

VI Eros und Isolation. Beschreibungen der Masse in der Großstadt

Der Blick von oben: Des Vetters Eckfenster– Der Blick von der Seite: Der Mann der Menge– Friedrich Engels und die Abwesenheit des Eros– Der Blick aus der Mitte: Multitude – Solitude

VII Virtuelle Massen

Massenmedien I: Der Film– Massenmedien II: Das Internet– Die Öffentlichkeit im Plural– Social Media. Die Masse und das Publikum

VIII Kritik der Massenkultur

Individualismus als Massenphänomen– Das »Man«– Der »Arbeiter«– Hanns Eisler: Kunstlied vs. Kampflied– Variationen des Massebegriffs: Schwärme, Schäume, Multitude

IX Strukturen der Masse

Masse und Mob– Die Milieus der Massen in der Gegenwart– Emotionale Resonanz– Fanatische Massen I: Fußballfans und Ultras– Fanatische Massen II: Terror und Thanatopie– Kirchliche Massenevents: Ereignis und Struktur

Abschließende Überlegungen

Die Einzelnen in der Masse: das Gefühl von Sicherheit und Macht– Die direkte Beziehung zur Macht– Handlungssinn und Existenzgefühl– Homogenisierung und Pluralisierung

Literatur

Filmographie

Anmerkungen

Register

Einleitung

Wir leben in einer Gesellschaft der Individuen. Gegenüber den subjektiven Lebensentwürfen der Einzelnen erschien der Begriff der Masse lange Zeit wie ein Überrest aus der Vergangenheit. Die Zeiten, als Massen mobilisiert wurden, sich auf den Straßen versammelten und mit Macht historische Veränderungen herbeiführten, schienen endgültig vorbei zu sein. Das Zeitalter des Individualismus hatte begonnen. In den Sozialwissenschaften wandte man sich den Individuen in ihrer Einzigartigkeit zu. Mittlerweile wissen wir, wie voreilig diese Annahme war. Von den »Occupy«-Protesten über die Revolten des Arabischen Frühlings bis zu den Demonstrationen in Kiew, Istanbul, Seoul, in letzter Zeit London und Berlin war das letzte Jahrzehnt geprägt von vielfältigen Massenbewegungen. Tatsächlich sind die Massen, entgegen der gängigen Annahme eines neuen Zeitalters des Individualismus, nie verschwunden. Seit Langem sind jedoch neue Massen entstanden, die man nur nicht als Massen wahrgenommen hat – vermutlich weil sie so gar nicht dem Bild glichen, das die klassischen Theorien Gustave Le Bons und Gabriel de Tardes von der Masse gezeichnet haben. Die neuen Massen haben sich überall in der Kultur, in der Politik, in Pop und Sport, im Konsum verbreitet. Hier treten sie nicht als zerstörerische Masse und wütender Mob auf, sondern als protestierende, enthusiastische oder hedonistische Massen. Ihre Mitglieder nehmen sich als selbstbestimmte Individuen, wenn nicht sogar als »Singularitäten«[1] wahr.

Seit der »Flüchtlingskrise« 2015 sind die Menschen in den europäischen Staaten wieder mit Massen konfrontiert worden, die den alten Vorstellungen zu entsprechen scheinen. Im Angesicht der Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan und den Krisengebieten Afrikas sind die alten Ängste vor den Massen zurückgekehrt. Emotionale Abwehr gegen Massen haben schon die frühen Theoretiker dieses Phänomens zu Anfang des 20. Jahrhunderts angetrieben. Gustave Le Bon befürchtete in seiner 1895 erschienenen Psychologie der Massen, sie würden jede Form der Kultur und Zivilisation zerstören.[2] José Ortega y Gasset warnte 1929 vor einem »Aufstand der Massen«.[3] Die frühen Massenbeschreibungen setzten den Ton, der in der gegenwärtigen Wahrnehmung von Massen nachhallt. Gerade weil die Massen so lange aus dem theoretischen Blickfeld geraten waren, trifft die Wucht ihres Erscheinens die Gesellschaft und Politik unvorbereitet. Insbesondere in Ostdeutschland richten sich populistische Massen unterschiedslos gegen Massen, die von außen kommen, gegen Flüchtlinge, Ausländer, Muslime, Nicht-Deutsche. Jede Gelegenheit ist recht, um etliche Tausend Protestierer (aus Ost und West) auf die Straße zu treiben, die sich aggressiv gegen Überfremdung, Bevormundung, Islamisierung wenden. Als im letzten Sommer bei einem Stadtfest in Chemnitz ein Deutsch-Kubaner unter bisher nicht geklärten Umständen erstochen wurde, woraufhin zwei Flüchtlinge in Verdacht gerieten, rief noch »bevor es die erste offizielle Mitteilung« der Polizei gibt, (…) die Hooligan-Gruppe ›New Society 2004‹ auf Facebook zum Protest auf«. Der Slogan der sofort losmarschierenden Ansammlung von 800 Menschen lautet: »Lasst uns zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat!«[4] Am nächsten Abend mobilisiert das rechte Bündnis »Pro Chemnitz« 6000 Menschen. Neben den neuen Massen, die wir kaum als solche wahrnehmen, scheint es eine Rückentwicklung zu populistischen Massen zu geben, die sich von ihnen deutlich unterscheiden.

Bisher sind kaum neue sozialwissenschaftliche Theorien entwickelt worden, die diesen Wandel beschreiben. Wir stehen vor dem doppelten Problem, mit Massenereignissen konfrontiert zu sein und keine adäquate Theorie zu ihrer Beschreibung zu haben. Uns fehlt es an analytischen Instrumenten, um die gegenwärtigen Massenphänomene theoretisch zu erfassen. Die klassischen Massentheorien lassen sich nur begrenzt auf sie anwenden. »Die Mehrheit der Soziologen«, schreibt Peter Sloterdijk, lässt sich von den veränderten Erscheinungsformen der Masse »zu der Meinung verführen, dass das Zeitalter der Massen abgelaufen sei, in dem die Regie der Masse das Zentralproblem moderner Politik und Kultur darstellte. Nichts könnte falscher sein als diese Ansicht. Allerdings sind die Medienmassen unter dem Einfluss der Massenmedien zu bunten oder molekularen Massen geworden.«[5]

Unter der Bezeichnung »Massen« fassen wir die alten und die neuen Erscheinungen zusammen, unterscheiden aber zwischen neuen und populistischen Massen. Wir heben jedoch für beide hervor, dass sie sich auf besondere Aggregatzustände menschlicher Gemeinschaften beziehen. Sie entstehen dann, wenn viele Menschen an einem (wirklichen oder virtuellen) Ort zusammenkommen und ein gemeinsames Ziel ihres Handelns verfolgen, das sie hier und jetzt erreichen wollen. Aus dieser Situation des gerichteten Miteinanders entsteht eine Übereinstimmung von Aktion, Haltung, Stimmung und Spontaneität. Die neuen Massen unterscheiden sich von den populistischen durch die unterschiedliche Rolle der beteiligten Individuen: Diese lösen sich nicht, wie von den früheren Theorien behauptet, in einem Kollektivsubjekt Masse auf. Die Vorstellung einer bewusstlos agierenden Masse muss heute zurechtgerückt werden. Der Subjektbegriff hat sich zu einem Handelnden mit beschränkter Autonomie verändert, auf der anderen Seite lassen sich die neuen Massen nicht als epidemisches Geschehen zwischen Menschen ohne Bewusstsein auffassen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Massenphänomen diversifiziert. Zum einen ist es aus dem Bereich des Politischen in die meisten Felder der Lebensstile vorgedrungen. Nahezu überall, in Freizeit, in Mode, Kunst, hat sich eine »Massenkultur« entwickelt,[6] die mit Selbstbewusstsein jetzt jene Orte besetzt, die zuvor nur wenigen vorbehalten waren. Neue Massen entstehen zum anderen im Zusammenwirken von digitalen Medien und realer Aktion. Mithilfe der neuen Medien können Massen spontaner agieren, mobiler handeln, schneller wachsen als die klassischen Massen; sie können zeitgleich an verschiedenen Orten erscheinen. Manchmal blitzen sie nur flüchtig auf wie ein flashmob, manchmal nehmen sie mit Wucht die Straßen ein, wie bei politischen Demonstrationen von Radikalen.

Wie können die gesellschaftliche Rolle und politische Bedeutung dieser veränderten Massen beschrieben und beurteilt werden? Antworten auf diese Fragen können bei der Entstehung von Massen ansetzen. Dass die frühen Massentheorien bis heute nachwirken, liegt nicht zuletzt daran, dass Aufstände und Revolten in der Gegenwart nach ähnlichen Schemata zu verlaufen scheinen wie von Le Bon und Tarde angegeben. Diese Auffassung werden wir am Beispiel der Entstehung von realen Massen in unserer Zeit prüfen: Wie entstehen aus unscheinbaren Anfängen große Massenbewegungen, die historische Veränderungen herbeiführen? Die klassischen Theoretiker sind in dieser Frage unzuverlässig – sie projizieren ihre Vorurteile auf das Massengeschehen. Es stellt sich daher die Aufgabe, die Entstehung und das Funktionieren von Massen neu zu beschreiben, insbesondere unter dem Aspekt der veränderten Beziehung zwischen der Masse und den Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt.

Historische Einteilung

Zum Zweck unserer Darstellung unterscheiden wir drei Zeiträume, in denen sowohl die Massen als auch deren theoretische Konzeptionalisierung unterschiedlich ausgeprägt sind. Ausgangsereignis der Theorien der Masse ist die Französische Revolution, gefolgt von den späteren Revolutionen in Frankreich. Auf sie beziehen sich die frühen Theoretiker Gustave Le Bon und Gabriel Tarde. Ihre Überlegungen zielen auf ihre aktuelle Gegenwart um 1900 und die prognostizierte weitere Entwicklung. – Eine grundlegende Veränderung des Massenkonzepts tritt in den USA in den 1930/40er-Jahren ein, die sich im Europa der 1950er-Jahre unter den Bedingungen der Nachkriegszeit auf ähnliche Weise vollzieht. Massen werden nicht mehr als Kräfte von gewaltsamen Umstürzen, sondern als kulturelle Dominanz von Durchschnittsmenschen gesehen, die in friedlichen Verhältnissen eine konformistische Existenz führen. – Ab Mitte der 1960er-Jahre entstehen insbesondere in studentischen Milieus der USA und einer Reihe europäischer Länder neue Massenbewegungen. Sie richten sich gegen die vermeintlich konformistische Existenz der »Massengesellschaft« und organisieren sich als jugendlicher Protest gegen Politik, Konservatismus und Enge der gesellschaftlichen Spielräume. Es geht ihnen um die Suche nach neuen Lebensformen, die über eine längere Lebensspanne hinweg erhalten und weiterentwickelt werden können.

Die Aufeinanderfolge dieser Phasen ist nicht so zu verstehen, dass die eine die andere vollständig ersetzt. In den 50er-Jahren, inmitten der Massengesellschaft amerikanischer Prägung, gab es Jugendrevolten, deren ziellose destruktive Energie den umstürzlerischen Massen der ersten Phase ähnelten. Zur selben Zeit, als in den USA die moderne Konsummasse entstand, formierten sich in Europa die faschistischen Massen. Im Sinne einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) können frühere und spätere Phasen nebeneinander existieren. Im Folgenden werden die drei Phasen kurz gekennzeichnet.

Die erste Phase: Die große Zeit der klassischen Massen und ihrer Theoretisierung war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Masse Gegenstand der Theoriebildung wurde, beschleunigten und radikalisierten sich die technologischen Innovationen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Jede der neuen Entwicklungen hatte Auswirkungen auf die Entstehung großer Massen: die forcierte Produktion von Konsumgütern und Massenwaren; die städtebaulichen Erneuerungen der Kapitalen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die durch den Bau breiter Straßen und großer Plätze überhaupt Räume für die Bildung von Massen schufen; die sich herausbildende Populärkultur mit ihren neuen Medien wie der Photographie und dem Film; der moderne Massenkrieg, dessen Ende zum Zusammenbruch der Monarchien in Österreich-Ungarn, Russland und Deutschland sowie zur Entstehung von politischen Massenbewegungen und von Parteidiktaturen führte. Vieles davon war bereits am Horizont sichtbar, als Le Bon 1895 das »Zeitalter der Massen« ausrief.

Was macht die Masse so einzigartig, dass ihr Le Bon sogar die Prägung eines neuen Zeitalters zutraut? Mit dem Konzept der Masse macht er auf eine neue soziale Formation aufmerksam. Im Unterschied zu den etablierten Kollektivbegriffen, wie Stand, Klasse, Schicht, Gruppe, Gemeinschaft, Verein, Corps/Korporation, Gilde, Klan, Verwandtschaft, ist die Beteiligung an einer Masse frei von Voraussetzungen. An ihr kann sich grundsätzlich jeder beteiligen. Wenn die einzelnen Teilnehmer überhaupt an Regeln gebunden sind, haben diese eher rituellen Charakter (z. B. das Versammeln an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit). Die meisten Aktionen der Masse geschehen spontan und mit allgemeiner Übereinstimmung, die keine besonderen Akte erfordert. Für Tarde entstehen Massen aus einer Verstärkung jener Fähigkeiten, die den Menschen zu einem sozialen Wesen machen: aus der Nachahmung und der Kommunikation.[7] Die frühen Massentheorien berufen sich auf geschichtliche Erfahrungen insbesondere aus der Zeit der Französischen Revolution. Auf verlässliche Quellen stützen sie sich nicht, vielmehr auf Schilderungen mit klar erkennbarem ideologischen Charakter. Bei ihnen ist eine Unterscheidung zwischen wirklichem Geschehen und Erfindung nicht möglich. Daher ist es problematisch, diese Massentheorien nun ihrerseits als Quellen zu gebrauchen. Wenn die Theoretiker Massen als ein homogenes kollektives Phänomen deuten, heißt das nicht, dass Massen damals tatsächlich so funktionierten, sondern nur dass sie so wahrgenommen wurden. Aus heutiger Sicht ist nicht entscheidbar, ob der Blick der Theoretiker von außen so eingestellt war, dass er Individuen nicht erfassen konnte, oder ob das Massenhandeln alle Individualität vernichtete. Vieles spricht aber dafür, dass es sich zu großen Teilen um Projektionen handelt, die hauptsächlich von Emotionen, von einem Konglomerat aus Wünschen und Ängsten, angetrieben wurden. Wenn wir also von »alten oder traditionellen Massen« reden, tun wir dies mit Blick auf ihre Theoretisierung und nicht in Hinsicht auf ihre tatsächliche historische Erscheinungsform.

In den Massenereignissen sehen Le Bon und Tarde eine Dynamik der Gewalt, insbesondere ein Zerbrechen gesellschaftlicher Ordnung durch Aufstände. Dennoch spricht ihnen Tarde eine konstruktive Rolle zu; dies ist allerdings der am wenigsten bemerkte Aspekt seines Werks. Die meisten Auseinandersetzungen mit dem Massenphänomen orientieren sich an Le Bon. Die gewaltsamen Massenereignisse der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und in noch stärkerem Maße nach 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs festigen die Überzeugung der Öffentlichkeit, dass Massen eine durch und durch destruktive, ordnungsvernichtende Kraft sind. Ihr Zerstörungswerk richtet sich gegen alle Strukturierungen der Gesellschaft und deren symbolische Repräsentanzen: gegen die Hierarchie der Adelsgesellschaft, gegen die Religion mit ihren Würdenträgern, Zeremonien und Feiertagen, gegen die sozialen Institutionen des Rechts, des Besitzes, der Bildung. Auch die revolutionären Massen in späteren Zeiten greifen die »intermediären Strukturen« an, die zwischen ihnen und der höchsten Macht stehen.[8] So beginnt die französische Studentenbewegung im Mai 1968 mit der Forderung nach Abschaffung von Prüfungen und weitet sich zur Forderung nach Abschaffung des Kapitalismus in Frankreich aus. In den Sozialwissenschaften gibt es keinen anderen Begriff außer dem der »Masse«, der die handelnde Instanz von direktenkollektiven Aktionen bezeichnet. Mit Blick auf die historischen Beispiele sind die Machthaber in autoritären Staaten beunruhigt, wenn sich an einem symbolischen Ort ihres Herrschaftsbereichs eine Masse bildet, und sei es, um einen Park zu schützen oder einen zentralen Platz der Hauptstadt zu besetzen. In Istanbul, Kairo und Seoul zeigt sich, dass man eine Masse nicht dadurch beseitigt, dass man sie im polizeitechnischen Sinn auflöst. Massen wirken weiter, auch wenn der Ort ihrer Demonstration geräumt ist. Auf alle diese Erscheinungen – und erst recht auf die neueren populistischen Massen – lassen sich zumindest einige der Konzepte der klassischen Massentheorie übertragen. Wenn sie auch wenig entwickelt sind, machen sie doch auf die Dynamik und Emotionalität des Massengeschehens aufmerksam. Daher kann unsere Darstellung bei ihnen ansetzen, um eine angemessenere Beschreibungsform zu entwickeln.

Die zweite Phase: In der amerikanischen Massengesellschaft dreht sich das Leben der Mehrheit der Bürger um den Erwerb und Erhalt der Mittelklassestandards, die als Verwirklichung des American Dream gelten. Sie arbeiten daran, materiellen Wohlstand zu erreichen und diesen zu demonstrieren. Homogenität entsteht hier nicht – wie in der ersten Phase – als gewalttätige Zerstörung von Individualität, sondern als Summe des konformistischen Verhaltens. Frühe theoretische Antizipationen dieser Massengesellschaft sind Martin Heideggers »Man« und Ernst Jüngers »Arbeiter«; auf sie werden wir ausführlich zu sprechen kommen. Ein zentrales Merkmal dieser Massengesellschaft ist Serialität: Die meisten amerikanischen Kleinstädte – Main Street America –, die überall gleich aussehen, legen davon ebenso Zeugnis ab wie die maßgeblich in den USA entwickelte, serielle Pop-Art. Durch das serielle Prinzip ändern sich im Vergleich zur ersten Phase die Entstehungsweise und die Gestalt von Gleichheit. Die neuen Medien wie das Fernsehen machen es nicht mehr nötig, dass sich Menschen versammeln, um ihr Verhalten zu synchronisieren. Es reicht, wenn sie vor dem heimischen Bildschirm die gleichen Nachrichten, Fernsehshows und Werbespots sehen.

So entsteht ein neues Verhältnis von Masse und Einzelnen, dessen Hauptmerkmal aber weiterhin die Homogenität bleibt. In der Massengesellschaft verschmelzen die Individuen nicht miteinander; sie vereinzeln sich hinter den gleich aussehenden Hausfassaden. War das Massenereignis zuvor eine Wendung des Privaten ins Öffentliche, so wandert nun umgekehrt das Öffentliche ins Private. Das Massenhandeln wird verinnerlicht. Das Subjekt verliert sich nicht in der Masse, sondern handelt nach seinen Interessen an sozialem Aufstieg oder Statuserhalt, an persönlichem Glück und Konsum. Die Masse ist hier eine Organisationsform der alltäglichen Existenz. Insofern alle Mitglieder einer Massengesellschaft nach den gleichen Zielen streben, kommt es zu einer stillen, verbissenen Konkurrenz mit den Nachbarn. Die amerikanische Mittelschicht dieser Zeit ist eine um ihren sozialen Status kämpfende Masse von Individuen, die ihre Anstrengungen auf sich selbst richten: Was die eine Familie durch Askese und Arbeitseifer erreicht, wird durch die Anstrengungen der Nachbarn wieder relativiert. Zwar unterscheidet sich die Massengesellschaft fundamental von den klassischen Massen, ihre Mitglieder sind jedoch ebenfalls keine souveränen Subjekte. Während die klassische Masse ihre revoltierenden Aktivitäten zu einer gemeinsamen Stoßrichtung nach außen bündelt, führt das Streben nach individuellem Wohlstand nicht zu dem gewünschten Ziel, insofern alle Konkurrenten gleichartige Einsätze in das soziale Rennen werfen.

Der restaurative Charakter der Massengesellschaft spiegelt sich nicht nur in realistischen amerikanischen Romanen wider; er wird auch in unzähligen Filmen ins Bild gesetzt. Ein besonders böses Beispiel ist der Film Stepford Wives, wo die männlichen Einwohner einer amerikanischen Kleinstadt der 1950er-Jahre alle ihre Frauen durch Roboter ersetzen: Niemand bemerkt den Unterschied. Soziologisch wird er in David Riesmans Sozialstudie The Lonely Crowd analysiert, dessen Titel schon einen melancholischen Akzent setzt.[9] Die amerikanische Massengesellschaft der 50er-Jahre ist eine lonely crowd, eine einsame Masse: Sie besteht aus einer Vielzahl konformer Vereinzelter; sie besitzt kein Ziel und daher auch keinen energetischen Impuls mehr. Weder ist sie Trägerin von Versprechen oder Hoffnungen, noch trachtet sie danach, die bestehenden Verhältnisse zu verändern. Auf ähnlich melancholische Weise analysiert auch Günther Anders die »Antiquiertheit der Masse«[10] und sieht in dem »vereinzelten Masseneremiten« die moderne Existenz schlechthin.

In unserer Darstellung werden wir auf diese Zeit nur insofern eingehen, als sie Anlass gibt, das negative Urteil über die Massen zu verfestigen. Im Übrigen gilt für diese zweite Phase das Gleiche wie für die erste: Auch die – meistens kulturpessimistisch inspirierte – Kritik der Massengesellschaft wird von Projektionen und eigenen Interessen der Kritiker beeinflusst, sodass sich schwer entscheiden lässt, wo die faktische Beschreibung aufhört und die Wertung einsetzt. So konformistisch, wie sie im Rückblick gemacht wird, war diese Phase, jedenfalls in den 50er-Jahren, bei näherer Betrachtung nicht.

Dass sich die Gesellschaft in den 1950er/60er-Jahre zu verändern beginnt und sich in diesen Wandlungsprozessen Massen neuen Typs herausbilden, zeigt sich zuerst an Randphänomenen. So entstehen in den 50er-Jahren Vorläufer der späteren Jugendkulturen. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Verachtung der Massengesellschaft – eine Verachtung, die sich selber zu einer Massenbewegung ausweiten wird. In der Beat-Literatur und ihrer Glorifizierung der nicht konformistischen freien Existenz on the road (Jack Kerouac) gewinnt sie einen eigenen Ausdruck. Sie verschafft sich Luft durch revoltierende Ausbrüche bei Rock ’n’ Roll-Konzerten, nach denen gelegentlich das Mobiliar zerschlagen wird. Repräsentiert wird sie durch junge Filmhelden (James Dean, Marlon Brando); sie verkörpern einen neuen Massentypus des männlichen Jugendlichen, der in Deutschland das Etikett »Halbstarker« erhält und das bürgerliche Publikum tief verstört. Exemplarisch für diesen Typus steht der Titel des 1955 erschienenen James-Dean-Films: Rebel without a Cause (in der deutschen Fassung: Denn sie wissen nicht, was sie tun). Die grundlose Rebellion der Jugend setzt kein Ideal an die Stelle des alten. Sie verweigert soziale Anpassung, konformes Verhalten und idealisiert die Abweichung. Damit wird die zentrale Funktionsweise der Massengesellschaft angegriffen. In Rebel without a Cause wird dieses Problem am Bruch zwischen den Generationen dargestellt: Die väterliche Autorität ist hier gleichbedeutend mit dem Konformitätsdruck der Massengesellschaft; auf sie richtet sich alle Wut, von ihr geht auch alles Leiden aus.

In Deutschland beginnen Ende der 50er-Jahre die Demonstrationen gegen die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik, die »Ostermärsche«, aus deren Teilnehmern sich u. a. die Gründungsgeneration der späteren Partei der Grünen rekrutiert. Mit der Studentenbewegung, die von den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg vorbereitet werden, beginnt sich eine Abkehr von den traditionellen Lebensweisen abzuzeichnen. Der Wandel gegenüber ihren Vorläufern, den Jugendkulturen der 50er-Jahre, lässt sich daran ablesen, auf welche Weise deren Helden zitiert und zugleich variiert werden. In Anspielung auf den Rebel without a Cause James Dean druckt man in den 60er-Jahren Plakate mit dem Gesicht von Bob Dylan, einem der Wortführer der neuen politischen Massenbewegung der Jugend, und versieht sie mit dem Schriftzug: »Rebel with a Cause«. Genügte sich der Rebell »without a cause« in der Verkörperung nicht-konformen Verhaltens, suchen die neuen Rebellen »with a cause« nach neuen Normen, die die alten ersetzen sollen. Insofern sie nicht nur die massenhafte Auflehnung der Individuen gegen den Konformitätsdruck zeigen, sondern nach neuen kollektiven Ausdrucksformen suchen, verstehen sie sich selber als eine Avantgarde der Massen. Sie rebellieren im Namen aller und zugleich in ihrem eigenen Namen.

Die dritte Phase: Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf der Diversifizierung der Massen und auf dem neuartigen Verhältnis von Masse und Subjekt seit den 1960/70er-Jahren. In dieser Zeit hat sich in Deutschland und vergleichbaren Ländern eine Gesellschaft der Einzelnen oder »Singularitäten«, wie Pierre Rosanvallon (2011) schreibt,[11]und ihre Verbindung mit Massenphänomenen herausgebildet. Dass dieses Zusammengehen in den soziologischen Theorien so gut wie nicht auftaucht, zeigt, wie sehr diese auf die Kategorie des Individuums fixiert sind. Die Theoretiker erliegen einer bestimmten Illusion (illusio), die Pierre Bourdieu als scholastic fallacy, scholastischen Fehlschluss analysiert:[12] Sie halten die Situation der von ihnen beobachteten Personen für die gleiche wie ihre eigene individuelle Situation. Sie schließen unbewusst von sich (von ihrem Bewusstsein als Individuen) auf ihre Untersuchungspersonen. Ihnen entgeht dabei das Weiterwirken kollektiver Phänomene, die mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht einfach abgeschüttelt wurden. Die Wirkungen dieser »Ungleichzeitigkeit« werden in gesellschaftlichen Krisenmomenten sichtbar, in denen mit einem Mal eine massenhafte Panik oder eine Revolte eintritt. So geschah es während der Bankenkrise nach dem Zusammenbruch des Finanzmarktes, der Griechenlandkrise, die den Euro bedrohte, und der Krise der französischen Innenpolitik vor den Präsidentschaftswahlen 2017. Banker, Devisenhändler, Politiker und Bankkunden bildeten vorübergehend eine Panikmasse.

Auf die Massenphänomene der Gegenwart lassen sich die Beschreibungen der klassischen Massentheorie nur begrenzt und mit Vorsicht anwenden. Allerdings erleben wir heute einen hemmungslosen Gebrauch der alten Massenrhetorik durch Politiker, die im Namen des Volkes die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Kulturen verhindern wollen. Von Neuem scheinen bei vielen Wählern die Mechanismen vom Beginn des 20. Jahrhunderts zu wirken. Selbst wenn sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Massenphänomen verändert hat, gibt es auch heute noch Erscheinungen, die an frühere Zeiten erinnern: das gerichtete Miteinander vieler Menschen und deren Übereinstimmung von Aktion, Haltung und Stimmung. Diese »Intensitätsform des Sozialen«[13] ist das Merkmal, das die alten wie die neuen Massen kennzeichnet. Es gibt nicht viele andere Eigenschaften, die beide Massenerscheinungen gemeinsam haben; aber diese Erlebnisqualität ist im Vergleich zu anderen Alltagsphänomenen so eindrucksvoll, dass man bei aller Bemühung um Abgrenzung eine profunde Ähnlichkeit nicht leugnen kann.

Trotz dieser Ähnlichkeit sind die neuen Massen anders beschaffen als die früheren Formationen zu Zeiten Le Bons und Tardes. Dies gilt zumindest für jene Länder, in denen die Menschen mit Wahlrecht, mit einer freien Medienlandschaft, einer wachen Öffentlichkeit, mit Zugang zum Internet und zu sozialen Netzwerken ausgestattet sind – Länder also, in denen die Einzelnen eine Stimme und die Chance haben, gehört zu werden. Eine Masse von Individuen in der pluralistischen Gesellschaft, die über diese rechtlichen und informationellen Möglichkeiten sowie über Meinungs- und Versammlungsfreiheit verfügt, kann sich an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit mit körperlich-sinnlicher Präsenz zusammenfinden. Ihr Auftreten kann in Realzeit in alle Welt gemeldet, als Bild verschickt, mit Nachrichten und Forderungen versehen werden. Alle Empfänger dieser Botschaften sollen wissen: Hier, an diesem Ort, hat sich eine Masse gebildet; sie hat einen Anlass und ein bestimmtes Ziel. Die Existenz einer solchen Masse ist schon für sich genommen eine Nachricht von Gewicht.

In den neuen Massen der gewandelten Gesellschaft werden Einzelne sichtbar – Wortführer, Organisatoren, Antreiber, Originale, Komödianten, Kommunikationstalente. Aus dem Massengeschehen heraus artikulieren die Mitglieder ein Bewusstsein ihrer Beteiligung. Nicht zuletzt verändern auch die Beobachter ihren Blickpunkt: Schauten sie früher von außen auf die Massen, sind sie heute meistens teilnehmende Beobachter. Die neuen Medien, die es jedem Einzelnen erlauben, das Geschehen mit dem Handy zu filmen und das Gefilmte sogleich zu verschicken, ermöglichen Innensichten aus der Masse, von den Beteiligten selbst. Früher blickten die herausgehobenen Einzelnen von der Feldherrnperspektive, von oben, auf die Massen. Heute blickt man aus der Masse heraus, auch wenn man nur virtuell an ihr beteiligt ist. Es sind nun die Blicke Einzelner, die von allen geteilt werden können. Umgekehrt können sich die Einzelnen in der Masse ihrer Massenwirkung versichern, indem sie Nachrichten von außen erhalten. Oftmals lassen sich Beobachter und Akteure gar nicht mehr voneinander trennen. Beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 versuchte die Polizei permanent, diese Trennung herbeizuführen, indem sie mit Lautsprecherdurchsagen die Masse filmender Menschen aufforderte, sich »von den Gewalttätern räumlich zu distanzieren«. Diese Entmischung gelang nicht, was ein Grund dafür war, dass die Krawalle eine solche Intensität annehmen konnten. Die Beobachter wurden zu Akteuren; ebenso wie die Akteure zu Beobachtern wurden, indem sie ihre eigenen Aktionen filmten und ins Netz stellten.

Heute sind Massen nicht mehr, wie die Kulturkritik mit Blick auf die klassischen Massen behauptete, ein Unterschichtphänomen. Neue Massen rekrutieren sich zu großen Teilen aus den Mittelschichten. Dazu gehören als Erstes kulturelle Massen. Ihre Mitglieder sind weit davon entfernt, sich für Teile einer Masse zu halten – sie sind Einzelne, die massenhaft auftreten, bei Kulturereignissen mit Kultcharakter, Kunstevents, Konzertsensationen, in weltbekannten Museen und an hoch bewerteten Tourismuszielen. Sie alle streben nach kultureller Beteiligung, alle mit der gleichen Absicht, alle informiert durch dieselben Massenmedien. Sie haben ihre Wünsche weitgehend angeglichen; ihnen ist bewusst, dass sie dieselben Werte schätzen und das Event genießen – sie sind ein Fragment der Masse der Gleichen. Andere strömen von ihren Stars, Helden, Sportmannschaften, Kultdirigenten magisch angezogen zusammen und bilden Massen der Verehrung.

Seit den legendären Musikfestivals von Woodstock und Monterey haben sich die großen Massenevents vervielfältigt und diversifiziert in Rock, Jazz, Folk, Heavy Metal etc. Massen bilden sich hier aus individuell anreisenden Gruppen, Paaren, Einzelgängern, Motorrad- und Mitfahrgemeinschaften, untergebracht in Zelten, Gemeindezentren, bei privaten Gastgebern, unter freiem Himmel. Alle aber kommen dahin, wo auch die anderen sind, angetrieben und vereint durch den gleichen Musikgeschmack, die gleichen Rhythmen und Körperbewegungen. Zwischen den verschiedenen Massen gibt es Differenzen bis zur Unverträglichkeit. Die Teilnehmer des Folk-Roots-Festivals Rudolstadt würden niemals zu einer Love Parade gehen und umgekehrt; die Fans des Berliner Jazzfests meiden »Rock am Ring«. Ebenso verhält es sich mit den Massen, die ihre Verkleidungen vorführen und feiern: Die Fans des Cosplay mit ihren Verkleidungen als japanische Mangafiguren würden nicht auf einem alemannischen Fasnetsumzug auftreten.

Die Teilnehmer solcher Massen feiern gerade ihre Individualität und ihr Recht auf das Ausleben des eigenen Geschmacks. Sie machen sich selbst zu einem individuellen Spektakel, das zur Darbietung ihrer Masse insgesamt beiträgt: Die Einzelnen bilden als Fragmente die ganze Masse ab; diese nimmt den Charakter eines Individuums an. Aus der Vereinigung aller Beteiligten durch dieselben kulturellen Vorlieben, den gleichen sozialen Geschmack entsteht die Macht der Einzelnen und der neuen Massen. In der pluralisierten Gesellschaft bringen sie die Gemeinsamkeit, die sie (in ihren Augen) auszeichnet, nachhaltig zur Geltung. Die Masse der Gleichen verleiht ihrem Auftreten, ja ihrer Person Sicherheit. Sie lässt die Beteiligten auch noch die absurdesten Verkleidungen des Cosplay, das stundenlange Stampfen der Beats auf der Love Parade, die brutalen Sprüche der Ultras im Fußball, die bis zur Ohnmacht gehende Verzückung der Verehrerinnen von Justin Bieber für den selbstverständlichen Ausdruck eines mit anderen geteilten Geschmacks halten. Würden sie sich nicht von ihrer besonderen Masse umgeben, geschützt und geradezu angefeuert fühlen, wären sie einem permanenten Rechtfertigungsdruck gegenüber anderen Menschen für ihr absonderliches Verhalten ausgesetzt. So reicht der Hinweis auf die besondere Masse, der jemand angehört – ich bin Ultra, ich bin Justin-Bieber-Fan, wir fahren zu einem Manga-Festival etc. –, um gegenüber der Umwelt das eigene Verhalten verständlich zu machen. Es ist, als würde die Masse eine Lizenz für abweichendes Verhalten erteilen, anstatt einen Konformitätsdruck auf ihre Mitglieder auszuüben.

Tatsächlich aber ist nicht nur eine Konformitätserwartung vorhanden; die Diversifizierung der Massen fügt sogar noch den Entscheidungsdruck hinzu, zu welcher der vielen Massen man sich zugehörig fühlt. Die Existenz konkurrierender ähnlicher Massen zwingt die je eigene dazu, ihre Einzigartigkeit permanent auszustellen, und erhöht so die Verpflichtung ihrer Mitglieder, sich von der Umwelt abzugrenzen. Die Lizenz zur Abweichung wird nicht ohne Bedingungen vergeben. In der Zeichentrickserie South Park formulieren die nonkonformistischen Abweichler, wenn sie sich in ihrer Ecke des Pausenhofs versammeln, diese Bedingung so: »Wenn du Nonkonformist sein willst, dann musst du genauso aussehen und dieselbe Musik hören wie wir.« In dem Film Das Leben des Brian der Monty Python Gruppe appelliert Brian an seine »Jünger«, die er wieder loswerden will: »Ihr seid doch alle Individuen!« Worauf die Masse gleichzeitig roboterhaft antwortet: »Wir sind alle Individuen.« Der Einzige, der mit einem schüchternen »Ich nicht« aufmuckt, wird sofort zum Schweigen gebracht.

Die neuen Massenphänomene stellen keine Befreiung der Einzelnen aus kollektiven Zwängen dar. Eine solche Auffassung würde nur den Widerspruch zwischen Einzelnem und Masse unter neuen Vorzeichen fortschreiben. Die pluralistische Gesellschaft führt vielmehr zu einer Pluralisierung der Massen. Es gibt nicht mehr die »eine«, konformistische Masse, wie die Rede von der Massengesellschaft behauptet hat. Es gibt aber auch nicht nur solitäre Einzelne. Stattdessen haben wir es mit einer Vielzahl einzelner Massen zu tun, die sich zum einen von anderen Massen abgrenzen, zum anderen Strategien entwickeln müssen, die interne Homogenität herstellen – Strategien, die den Einzelnen nicht auslöschen, sondern ihm die Möglichkeit geben, sich so zu zeigen, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte.

Was für die neuen kulturellen Massen gilt, findet man ebenso in politischen Massen. Auch sie konkurrieren mit anderen Massen um Aufmerksamkeit, auch sie sind von der Pluralisierung und Diversifizierung der Massen betroffen. Heute ist keine größere politische Demonstration mehr denkbar, die sich nicht selber wieder in unterschiedliche »Blöcke« aufteilt: in den »internationalistischen Block«, den »antifaschistischen Block«, den »queer-feministischen Block« und so weiter und so fort. Erst recht kann sich keine größere politische Masse bilden, ohne zugleich die Bildung einer anderen zu provozieren. Den Befürwortern der katalanischen Unabhängigkeit folgen, wenn sie sich auf den Straßen versammelt haben, deren Gegner. Der Ankündigung von populistischen Versammlungen folgt sofort der Aufruf zu Gegenprotesten. Die Teilmassen des politischen Feldes befinden sich in einem Verhältnis permanenter Interaktion, Konfrontation und Konkurrenz.

Trotz ihrer Diversifizierung erregen politische Massen bei Vertretern des Establishments den Verdacht eines destruktiven Potenzials. Nach demokratischem Verständnis wird politische Willensbildung, Kritik und Widerstand von politischen Institutionen organisiert und artikuliert, von Parteien, Gewerkschaften, Medien, Parlamenten, Bürgerversammlungen etc. Sie sind ausdrücklich keine Massen. Daneben haben sich seit den 1960er-Jahren neue Formen direkter Beteiligung an Politik entwickelt, wie Bürgerinitiativen, Stadtteil-Foren und Aktivitäten für einen Volksentscheid. Eine Masse bildet sich von dem Moment an, in dem die Initiatoren zu einer Demonstration, Kundgebung, einem Protestmarsch oder anderen Formen öffentlichen Widerstands (zu einer Blockade, einem Studentenstreik) aufrufen. Die Initiative kann im Internet vorbereitet werden – der entscheidende Moment ist jedoch das gemeinsame Erscheinen der Beteiligten auf den Straßen und Plätzen. Entscheidend ist er, weil die politische Masse auf Polizeikräfte stößt, die den Ausbruch von Gewalt verhindern sollen. Es ist eine viel diskutierte Frage, wie sich die Polizei taktisch am besten verhalten sollte. Wird sie die Demonstranten in der Perspektive der klassischen Massentheorien als potenziell gewaltbereit einschätzen? In diesem Fall stellt sie sich den Protestierern als eine zweite Masse gegenüber, um so den möglichen Ausbruch von Gewalt zu verhindern. Auf diese Weise bildet sich eine Doppel-Masse: Die Polizei verfolgt eine Strategie der Einschüchterung, die Demonstranten fühlen sich provoziert. Beide Seiten reagieren auf die Handlungen der jeweils anderen Seite, wodurch jene Gewalt entsteht, die eigentlich verhindert werden soll. Neuere Polizeitaktiken wenden erfolgreich Konzepte der Deeskalation an, die allerdings von den Boulevardmedien (die insbesondere mit Gewaltdarstellungen Auflage machen) heftig kritisiert werden. Mit dem Konzept der Doppel-Masse lässt sich die Entstehung von symmetrischer Gewalt aufklären; wir diskutieren dies am Beispiel der Ereignisse anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg 2017.

Zum Konzept der Masse

Auf der Baustelle der Massentheorie hat es seit Elias Canettis Studie Masse und Macht von 1960, deren Ursprünge in den 20er- und 30er-Jahren lagen, keine wesentlichen neuen Beiträge gegeben. Was nach den klassischen Massentheorien von Le Bon, Tarde, Freud und Ortega erschien, reproduzierte deren Theoreme und passte sie höchstens den neuen historischen Bedingungen an. Ein typisches Beispiel ist die 1952 erschienene Deutsche Geschichte im Zeitalter der Massen von Carl Misch: Das Zeitalter der Massen wird vom Kollektivismus der Sowjetunion fortgeführt. Alles Negative, das die traditionellen Theorien den Massen zuschrieben, wird nun auf den »Osten« projiziert: Der »Westen« wendet sich, von der Geschichte belehrt, hin zu individueller »Freiheit« und einem »rationalen« Politikstil. Drüben, auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs«. Die Differenz von Individuum und Masse wird geopolitisch verstanden und zum Kampf zweier Ideologien umgeformt.

Es liegt auf der Hand, dass so kein unbefangener Blick auf die Massen zu gewinnen ist. Schon die klassischen Theorien fassen den Ausdruck »Masse« durchweg normativ auf und scheren sich wenig um begriffliche Präzision. Die begriffliche Unklarheit liegt zum Teil allerdings auch in der Sache selbst. Auch in rein beschreibender Verwendung lässt sich keine klare Grenze zwischen Masse und anderen Kollektivbegriffen, wie Menge, Haufen, Vielheit, Gemeinschaft, Gruppe, multitudo, ziehen. Es gibt eine Reihe von Fällen, in denen diese Bezeichnungen austauschbar sind (so werden wir an manchen Stellen dieses Buches »Menge« anstelle von »Masse« verwenden). Im Bereich qualitativer Bestimmungen gehört die Unschärfe von Begriffen zum normalen Sprachgebrauch, wie Ludwig Wittgenstein zeigt. Ob wir eine Ansammlung von Menschen als Masse bezeichnen, hängt davon ab, wie wir die Situation wahrnehmen und bewerten. Diese Einschätzung ist zwar subjektiv, aber keineswegs willkürlich, sondern kann sich auf bestimmte Merkmale stützen. Wenn es sich um Sonntagsspaziergänger handelt, die über den Platz promenieren, sich auf Bänken niedersetzen, in den Cafés verweilen, würde wir diese Ansammlung von Menschen wohl nicht als »Masse« bezeichnen. Anders ist es, wenn wir sehen, wie große Menschenmengen mit Rollkoffern den Platz überqueren, andere die Stühle des Cafés im Sturm besetzen und wieder andere sich am Eingang einer Kirche zusammendrängen. Anhand bestimmter Merkmale kann man Massen von gewöhnlichen Ansammlungen von Menschen unterscheiden. In diesem Fall ist es eine Mobilisierung vieler Menschen und eine Gemeinsamkeit der Intentionalität ihrer Handlungen,[14] das heißt eine gemeinsame Gerichtetheit ihrer Bewegungen und Absicht ihres Handelns. Im folgenden werden einige wichtige Kriterien angegeben, mit deren Hilfe wir Massen von gewöhnlichen Menschenhaufen unterscheiden; sie treffen sowohl auf die alten als auch auf die neuen Massen zu.

Mobilisierung: Typisch für den Zustand in der Masse ist eine Erregung, eine innere Unruhe oder Spannung der Beteiligten, die sich auch an ihrem äußeren Verhalten zeigt. Diesen ungewöhnlichen Zustand können sie auf bestimmte Gründe zurückführen. Einmal in Bewegung generiert die Masse mehr Bewegung. Sie mobilisiert auch ihre Gegner. Die Mobilisierung umfasst nur eine bestimmte Zeitdauer. Spätestens wenn die Gründe ihrer Mobilisierung weggefallen sind, endet das Massengeschehen.

Intentionalität: Die Handlungen der Massenmitglieder sind auf ein gemeinsames Ziel gerichtet. Das unterscheidet sie von einer Ansammlung von Wartenden und jeder anderen zufällig sich ergebenden Ko-Präsenz vieler Menschen an demselben Ort. Die Ziele können räumlicher Art sein (z. B. der Justizpalast), bestimmte Personen (z. B. ein unwillkommener Staatsgast) oder eine feindliche Masse (Polizei vs. Schwarzer Block). Die Zielrichtung kann sich in gemeinsamer Vorwärtsbewegung (z. B. von Touristen), in öffentlich vorgebrachten Forderungen, in Slogans, Gesängen (bei politischem Protest), in gemeinsamer Suche nach Vergnügen, Musik- und Tanzgenuss, Erotik, Körpernähe, Verkleidung (Karneval, Love Parade, Musikfestivals), im Miterleben eines sportlichen Kampfes äußern.

Verwandlung: Im Zustand der Masse befinden sich die Beteiligten in einer anderen Stimmung und emotionalen Verfassung als in ihrem Alltagsleben. Diese kann aggressiv, gereizt, festlich ausgelassen, oder auch zeremoniell, voll ritueller Strenge sein. Ihr ungewöhnlicher Zustand wird von den Beteiligten als eine Verwandlung erfahren, und wie Verwandelte erscheinen sie auch den Beobachtern. Diese Veränderung bleibt jedoch temporär. Zudem erfasst sie nicht die gesamte Persönlichkeit.

Spontaneität: Eine Masse bildet sich meistens spontan. Darin unterscheidet sie sich von einer Gruppe oder Gemeinschaft, deren Entstehung bestimmte Vorläufer hat wie Vertrautheit, Nähe, Zusammenleben, Gemeinsamkeiten. Anders als diese stiftet eine Masse auch nur selten dauerhafte Beziehungen der Mitglieder untereinander. Eine Masse reagiert sehr sensibel auf ihre Umgebung. Kleinste Ereignisse, wenn Polizisten ihre Helme aufsetzen, wenn jemand eine Fahne schwenkt, können zu heftigen spontanen (wenngleich nicht regellosen) Reaktionen führen. Dem spontanen Agieren von Massen geht meist ein langer Gärungsprozess im jeweils individuellen Leben voraus. Er zeichnet sich durch eine Mobilisierung und Emotionalisierung Einzelner aus, die erst im Privaten stattfindet, dann vielleicht im näheren sozialen Umfeld auf vergleichbare Prozesse stößt und schließlich zu einer öffentlichen, kollektiven Aktion führt. Außer diesem Gärungsprozess, den jeder von ihnen auch allein durchlaufen kann, müssen die Teilnehmer einer Masse nichts gemeinsam haben.

Körperlichkeit: Beteiligung an einem Massengeschehen besteht in körperlichem Handeln. Reflektieren, Schreiben, Kommunizieren mögen wichtige Tätigkeiten für die Vorbereitung einer Masse sein. Im Massengeschehen kommt es auf heftige gemeinsame Bewegungen, wirkungsvolle Sprechchöre, kraftvolles Auftreten an. Eine Masse will gehört oder sogar gefürchtet werden.

Soziale Mischung: Im Massenhandeln spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse eine viel geringere Rolle als bei anderen Zusammenschlüssen. In der Masse mischen sich die sozialen Schichten. Insofern sie die Grenzen zwischen diesen vorübergehend aufhebt, herrscht in ihr relative Gleichheit. Die Unterschiede, die Menschen in ihrem Alltagsleben trennen, haben keine große Bedeutung mehr, verschwinden aber auch nicht vollständig.

Emotionalität: Die spontane Mobilisierung einer Masse geschieht zum einen aus Anlässen, die die Mitglieder bewegen. Zum anderen löst das Massengeschehen selbst intensive Gefühle aus. Eine Masse lässt niemanden »kalt« – sie erzwingt durch ihre bloße Existenz emotionale Reaktionen, ob diese nun in Solidaritätsbekundungen oder in Abwehrreaktionen bestehen.

Abgrenzung und relative Offenheit: Im Vergleich mit anderen Kollektiven ist der Zugang zu Massen weniger reglementiert. Eine Masse kennt keine formellen Prüfungen und Wartezeiten. Die Offenheit begünstigt ihr schnelles Wachstum und zeigt sich auch an der geringen Bedeutung sozialer Distinktionsmechanismen. Aber selbst wenn eine Masse offen für neue Beteiligte ist, richtet sie sich auf ein Ziel und stößt dadurch alle jene ab, die dieses verteidigen wollen. Die Grenzziehung ist im Fall von Doppel-Massen offensichtlich, in anderen Fällen weniger evident, aber immer richtet sich eine Masse zumindest indirekt gegen Personengruppen, die anders sind als sie selbst.

Gewalt: In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Erscheinen von Massen mit Gewalt verknüpft. Es gibt genügend historische Beispiele, die dies bestätigen. Nicht jede Masse ist gewaltbereit. Dennoch wird eine mobilisierte Masse von außenstehenden oft als Bedrohung erlebt. Dieser Eindruck entsteht aufgrund ihrer körperlichen Präsenz, der großen Zahl der Beteiligten und ihrer Zielgerichtetheit. Auch die Mitglieder selbst empfinden diese Wirkung auf andere als ein Gefühl der Macht. Dies gilt auch für harmlose Massen von Bewunderern und Fans im Fußball und in der Popkultur. Anders als zum Beispiel im Falle von Wahlen übertragen die Mitglieder ihre Macht nicht auf andere, sondern bleiben in das Geschehen involviert. Sie erfahren die Wirkung ihrer – durch die anderen Teilnehmer verstärkten und vervielfachten – Macht direkt.

Ambivalenz: Das Schwanken zwischen Extremen ist charakteristisch für die Wahrnehmung und Erfahrung von Massen. Eine Masse kann zum einen als marodierende Aufständische, zum anderen als Befreiungsbewegung, einmal als Zerstörerin von Individualität, dann wieder als politisches Subjekt wahrgenommen werden. Das kann an unterschiedlichen Deutungen liegen, aber auch an ihrem wechselhaften Verhalten. Massen haben ein Doppelgesicht, eine helle und eine dunkle Seite.

Mit dieser Angabe von Merkmalen haben wir das Massenkonzept in Umrissen gekennzeichnet, sodass wir unsere Arbeit auf die Beschreibungen und Analyse von Massen konzentrieren können. Wir werden dabei Beispiele unterschiedlicher Herkunft betrachten, die einerseits Differenzen zwischen Massen, aber auch Übereinstimmungen sichtbar machen. Als Erstes werden wir die Entstehung verschiedener Massen detailliert darstellen und uns dann der kritischen Betrachtung der klassischen Theorien zuwenden. Wir werden ihr Ungenügen feststellen, das insbesondere darin begründet ist, dass ihnen eine soziologische und sozialphilosophische Betrachtungsweise fehlt. Dies betrifft nicht nur die älteren Klassiker, sondern auch Elias Canetti, der eine überzeitliche fundamental-anthropologische Sichtweise entwickelt. Von modernen soziologischen Konzeptionen lässt sich die Rolle der Individuen in der Masse anders bestimmen als von den klassischen Theorien. Ein ausgeformtes soziales Subjekt, also ein Mensch im Erwachsenenalter wird in der Masse nicht zu einem gänzlich anderen Subjekt. Auf der Grundlage von Pierre Bourdieus Habituskonzept werden wir zeigen, was sich an Menschen in der Masse verändern kann und welche Persistenz ihr Habitus hat. Unterstützung erfahren wir dabei von literarischen und filmischen Darstellungen der Masse, die sich stark vom theoretischen Zugriff unterscheiden. Die ästhetischen Sichtweisen auf Massen zeigen unter anderem auch lustvolle Aspekte der Massenbildung, die ansonsten gegenüber Gewalt-, Zerstörungs- und Autoritätsphantasien in den Hintergrund gerückt werden.

Es wäre jedoch zu einfach, die klassischen Theorien mit überlegener Geste beiseitezulegen. Sie vermitteln uns noch heute einige Einsichten, die wir herausarbeiten und weiterentwickeln wollen. Elias Canettis Konzept der Doppel-Massen machen wir zum Ausgangspunkt eigener Reflexionen. Von Gabriel Tarde übernehmen wir die Vorstellung der Festmasse, die »in sich selbst verliebt« ist und sich »um ihrer selbst willen versammelt«, von Sigmund Freud den libidinösen Aspekt der Beziehung zum Führer und von Gustave Le Bon den Gedanken der Emergenz: dass die Masse mehr ist als die Summe ihrer Teile. Es geht uns jedoch nicht darum, zu klären, was Massen »denken« oder »wollen«. Der größte Fehler, den man in diesem Zusammenhang machen kann, besteht darin, im Namen der Massen zu sprechen. Was wir über Massen sagen, geht hingegen in vielen Fälle auf individuelle Erfahrungen mit Massen zurück. Genau dies unterscheidet die neuen von den alten Massen.

Über die Anfänge des Massenbegriffs

Der Begriff der Masse hat eine Entstehungsgeschichte, die weit hinter das Erscheinen moderner sozialer Massen zurückreicht. Die begriffliche Arbeit mit dem Massenkonzept verlangt auch eine Antwort darauf, wie das Konzept der Masse entstanden ist. Historisch stammt der Ausdruck aus einem spezifischen Kontext, der auf den ersten Blick nichts mit Menschenansammlungen zu tun hat. Das altgriechische Wort »maza« bezeichnete einen gekneteten Teig aus Gerstenmehl, der zu einem Brot verbacken wurde. Von dieser ursprünglichen Bedeutung scheint kein Weg zu den modernen sozialen Massen zu führen. Dennoch ist es kein Zufall, dass die Bedeutungsgeschichte des Wortes »Masse« von hier ihren Ausgang nimmt.

Folgt man der ursprünglichen Bedeutung von Masse als Teig, dann kann ein Blick in Kochbücher hilfreich sein, um zu erfahren, wie man sich gewöhnlich die Entstehung einer Masse vorstellt. Wir lesen dort als Standardformel: »… bis alles zu einer konsistenten Masse verrührt ist«. Von Masse wird hier gesprochen, wenn die einzelnen Zutaten nicht mehr unterscheidbar sind, wenn sie eine einheitliche Teigmenge bilden, in der sie sich untrennbar vermischt haben. Es ist diese innere Gleichartigkeit, die eine Masse ausmacht. Als ein Zusammengerührt-Werden im Teig bezeichnet auch Elias Canetti die Massenerfahrung: »Ich habe die Masse erlebt«, schreibt er in seiner Autobiographie, »ich war selbst wie Teig.«[15] Der Einzelne erfährt sich in der Masse als formbar, geknetet und gepresst von anonymen Kräften und als vermengt und verklebt mit anderen Körpern. Allerdings sprechen wir nicht bei jeder beliebigen Menschenansammlung von einer Masse, wenn sie nicht das nötige Maß an innerer Gleichförmigkeit besitzen. So ist das Publikum zu individuell und heterogen, um als Masse bezeichnet zu werden.

Auch der aus dem griechischen Wort gebildete lateinische Ausdruck »massa«, von dem sich der moderne Begriff »Masse« ableitet, benennt noch einen zusammengekneteten Klumpen oder »Teig«; er wächst aber zugleich über seine spezifische Bedeutung hinaus und wird zu einer allgemeinen Metapher. In der römischen Dichtung wird »massa« bereits im übertragenen Sinne als Synonym für »Chaos« gebraucht. Ein chaotischer Zustand wird als ein Massenzustand, als Vermengung vorgestellt. Wie die (Teig-)Masse ist das Chaos durch innere Gleichförmigkeit charakterisiert. Ein besonders markantes Beispiel für die Verknüpfung von Masse, Chaos und Vermengung sind Ovids Metamorphosen. Ovid beschreibt dort die Entstehung der Welt als den Übergang vom Chaos, einer gestaltlosen Masse, zur Ordnung: »Die gesamte Welt zeigte ein einziges Antlitz. Chaos wurde es genannt: eine rohe gestaltlose Masse, nichts als träges Gewicht und (…) Keime der Dinge, zusammengehäuft in wirrem Gemenge. (…) Seine Form blieb keinem erhalten: Eines stand dem Anderen im Weg.«[16] Die Existenz der Welt beginnt in dem Augenblick, in dem sie aufhört, eine bloße Masse zu sein. Der Eingriff der göttlichen Ordnungsmacht erzeugt, ähnlich wie in der biblischen Genesis, Unterscheidungen und damit Identitäten. Kosmische Ordnung ist an Erkennbarkeit geknüpft; diese wiederum erfordert Differenz. Die Römer kannten eine eigene Gottheit der Grenze, terminus, zu der sie beteten, während die chaotische Masse umgekehrt durch die Abwesenheit der göttlichen Grenzziehungen charakterisiert ist. »Vom Chaos zum Kosmos« heißt so viel wie: von der Masse zur Person. Durch die Verknüpfung von Chaos und Masse im Zeichen der Vermengung war der Ton gesetzt, der die Wahrnehmung von Massen fortan bestimmen sollte.

Schon diese angedeutete Wortgeschichte macht deutlich, dass eine Masse nicht ein beliebiges Konglomerat von Körpern ist, sondern kollektive Zustände der Vermischung und Vermengung bezeichnet. Was bei Ovid der Ausgangspunkt der Genese der Welt war, wird hier auf die Entstehung sozialer Massen übertragen. Diese wesentlichen Eigenschaften der Masse lassen sich auch positiv formulieren: Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit als Folge eines Auflösens von sozialen Distanzen. So konnte die Masse historisch (zum ersten Mal verwirklicht in der levée en masse, der Erhebung der Massen während der Französischen Revolution) zur Trägerin eines Gleichheitsversprechens werden: der fraternité. »Alle Menschen werden Brüder« – dieser ideale Anspruch schien sich am besten in der Homogenität der revolutionären Massen zu verkörpern.

So macht sich die Ambivalenz der Wahrnehmung und Erfahrung von Massen, die für ihre Begriffsgeschichte charakteristisch ist, bereits bei ihrer Entstehung bemerkbar. Dass eine Masse als Zerstörerin von Individualität und dann wieder als politisches Subjekt wahrgenommen werden kann, geht auf die unterschiedliche Auslegung der Homogenität zurück. Die Differenz der Interpretationen drückt sich in der Differenz der Wahrnehmung von Massen aus. Die Masse und ihre Tendenz zur »Gleichheit« werden einmal als marodierender Mob und dann wieder als Befreiungsbewegung wahrgenommen. Oft zeigt sich ihr Doppelgesicht sogar in ein- und derselben Interpretation: Wer die Masse diffamiert, tut dies meist, indem er zugleich eine andere, eine »gute« Masse entwirft. So veröffentlicht Alfred Hugenberg, als Pressetycoon und Vorsitzender der Deutschnationalen Partei, im Bündnis mit Hitler einer der Totengräber der Weimarer Republik, 1928 im Berliner Lokalanzeiger einen Text mit dem programmatischen Titel: »Brei oder Block?« Hugenberg votiert für den nationalen Block: Er wolle »lieber einen kleineren Block als einen größeren Brei« befehligen. Die Ablehnung der Masse als Einheitsbrei korrespondiert mit der Bejahung der Masse als hartem Block. Der Block ist ein zu hart gewordener, der Brei ein zu weich gebliebener Teig. In beiden extremen Varianten der Masse spielt der Einzelne keine Rolle. Sowohl die Gleichschaltung per Befehlskette als auch das Zusammenrühren zu einem Brei hebt die Differenzen zwischen den Beteiligten auf und zerstört ihre Individualität. Dazu aber reicht die Vermischung allein nicht aus. Ein zweites Merkmal muss hinzukommen, damit die »Auflösung aller Distanzen«[17] stattfinden kann: eine Verdichtung, ein Zusammendrücken der Körper.

Auch dieses zweite Merkmal der Masse hat sich in ihre Wortgeschichte eingeprägt. Die englische »crowd« ist mit dem mittelhochdeutschen »kroten« verwandt, was »pressen« bedeutet. Der französische Ausdruck für Masse, »foules«, leitet sich vom lateinischen »fullo« her, das den Walker bezeichnet. Die sprachgeschichtliche Verwandtschaft von Masse und Walken deutet auf den gewaltsamen Aspekt der Massenbildung hin: Walken stellt eine Verformung von Werkstoffen dar. Bei der Lederverarbeitung wird die nasse Haut dabei extrem gespannt, damit sie ihre Form bekommt; beim mittelalterlichen Tuchwalken wird unter fließendem Wasser mit Hämmern auf den Stoff eingeschlagen oder mit Füßen auf ihm herumgetrampelt. Ziel dieser Gewalt ist stets eine Komprimierung des Stoffs: Pressen bei der »crowd«, Kneten bei den »foules«. Das althochdeutsche »walchan« bedeutet genau dies, »Kneten« – ebenso wie die Sprachwurzel von »Masse«, das altgriechische Verb »massein«: (den Teig) »kneten«. Noch heute klingt dieses im Wort »massieren« nach.

Die traditionellen Massentheorien Le Bons und Tardes nehmen diese alten Vorstellungen auf und radikalisieren sie zu einer Art sozialen Physik: Der Masse wird eine Verdichtung zugeschrieben, die sich bis zur »Verschmelzung« steigert. Beide Theoretiker übersehen, dass jede Massenbildung eine Entstehungsgeschichte hat; ihre soziale Physik vermag die historische Genese einer Masse nicht zu erfassen.

Historisch entstanden menschliche Massen zuerst in großen Wanderungsbewegungen, wie der Auszug des Volks Israel aus Ägypten, in Eroberungszügen, in der Bildung von Heeren, in Aufständen, Hungerrevolten, im Widerstand gegen Unterdrückung. Ihre Vorbilder mögen nicht-menschliche Massen gewesen sein. Noch bevor Menschen an einem Ort zahlreich genug waren, um sich zu großen Einheiten zusammenzuschließen, konnten sie die Entstehung von Massen bei Tieren beobachten: Wildrudel, Fisch- und Vogelschwärme, Herdenzüge großer Tiere, Invasionen von Heuschrecken. Von solchen Erscheinungen geht unweigerlich eine Faszination aus – aufgrund der riesigen Menge nicht-menschlicher Lebewesen und ihrer unbegreiflichen Organisation, ihrer Aggression gegen menschliche Kulturen (wie von Heuschrecken) und der Unerkennbarkeit ihrer Absichten. Einzelne Tiere aus diesen Massen kann man einfangen, aber aus dem isolierten Teil einer riesigen Masse gewinnt man kein Verständnis für das Ganze. Erscheinungen von Massen in der Natur lösen durch ihre für Menschen unbegreifliche Gewalt Ängste aus. Das gilt nicht nur für Tiere, sondern auch für andere Naturereignisse, die als Massensymbole angesehen werden – Feuer, Erdbeben, Lawinen, Fluten. In mythischen Erzählungen stehen sie als Zeichen für Katastrophen und verdeutlichen zugleich die menschliche Fragilität.

Exemplarisch schildert die biblische Erzählung vom Auszug des Volks Israel aus Ägypten, eine der ersten Geschichten menschlicher Wanderungsbewegungen überhaupt, eine Konstellation von menschlicher und natürlicher Masse im Zeichen der Katastrophe. Weil der Pharao den Auszug der Israeliten aus Ägypten verweigert, schickt Gott seinem Land alle nur denkbaren schrecklichen Massen: Fünf der zehn Plagen – die Frösche, die Stechmücken, die Stechfliegen, der Hagel, die Heuschrecken – sind natürliche, meist tierische Massen. Auch die anderen Plagen – die Viehpest, die Geschwüre, die Finsternis und der Tod aller Erstgeborenen – lassen sich in einem erweiterten Sinne als Massenphänomene deuten. Während das gottlose Ägypten von natürlichen Massen heimgesucht wird, triumphieren die Israeliten mit ihrem schließlich vollzogenen Massen-Exodus über sie. Moses erweist sich als Gebieter der natürlichen Massen: Er teilt die Wassermassen, sodass sein Volk das Meer durchqueren kann, während über die nachfolgenden Krieger des Pharaos die Fluten hereinbrechen. In vielen Horror- und Katastrophenfilmen werden noch heute, meist in Kombination miteinander, verschiedene natürliche Massen dargestellt, um apokalyptische Visionen der Menschheit ins Bild zu setzen.

Die große Flutwelle ist eines der eindrucksvollsten Beispiele einer von natürlichen Massen hervorgerufenen Katastrophe. Das Szenario der Entstehung menschlicher Massen ist jedoch ein anderes als bei einem Tsunami, der durch ein Seebeben ausgelöst wird. Bei der großen Welle kennen wir die Ereignisfolge nicht, die von tektonischen Verschiebungen der Erdplatten, von den unterirdischen Kräften und Druckwellen ausgelöst wird. Die Phänomenologie des Tsunami erfasst nur die Riesenwelle, die sich urplötzlich aus der Tiefe des Meeres emporwölbt. Sie lässt das Szenario gleichsam ohne Vorgeschichte beginnen. Insofern bietet sie ein unvollständiges Bild, das gern als Modell für die plötzliche Eruption einer revolutionären Massenbewegung verwendet wird. Die neueren Arbeiten anlässlich des hundertsten Jahrestages der Russischen Revolution(en) von 1917 haben gezeigt, dass das Bild, jedenfalls für dieses historische Ereignis, falsch ist. Die Entstehung der an den Ereignissen beteiligten revolutionären Massen folgt nicht dem Szenario einer Urkatastrophe. Sie ähnelt eher dem allmählichen Eindringen des Wassers, das Hans Magnus Enzensberger im Untergang der Titanic beschreibt:

»Es ist nicht wie ein Gemetzel, wie eine Bombe; … es ist nur so, dass es mehr und mehr wird, dass es überall hinwill, dass alles sich wellt; kleine Perlen bilden sich, Rinnsale; es ist so, dass es dir die Schuhsohlen netzt, dass es in die Manschetten sickert, dass dir der Kragen klamm wird im Nacken; es leckt an der Brille, in die Safes rieselt es, an den Stuckrosetten bilden sich dumpfe Flecken; es ist nämlich so, dass alles nach seinem Geruch, der geruchlos ist, riecht; dass es tropft, spritzt, strömt, sprudelt, nicht einfach eins nach dem anderen, sondern blindlings und durcheinander, dass es den Zwieback nässt, den Filzhut, die Unterhosen, dass es schweißig und seicht an die Räder des Rollstuhls rührt, dass es in den Pissoirs steht, brackig, und in den Bratröhren gluckst; dann wieder liegt es nur da, nass, dunkel, ruhig, unbewegt, und steigt einfach, langsam, langsam, hebt kleine Sachen auf, Spielsachen, Wertsachen, … schwemmt sie mit, achtlos, spült sie trudelnd fort, … so lang, bis du es selber fühlst, in deinem Brustkorb, wie es sich dringend, salzig, geduldig einmischt, wie es, kalt und gewaltlos, erst an die Kniekehlen, dann an die Hüften rührt, … bis es dir endlich am Hals steht, bis du es trinkst, bis du fühlst, … wie das Wasser gierig den Mund sucht; wie es alles ausfüllen, wie es verschluckt werden, und verschlucken will.«[18]

Die gerade nicht an einschlägige Hollywoodfilme angelehnte Dramaturgie Enzensbergers mit ihrem unspektakulären Ablauf beschreibt die Entstehung von Massen besser als die Katastrophenbilder: kein gewaltsamer Einbruch, stattdessen bescheidene Anfänge, ein diskretes Wachstum. Die Wassermassen kommen nicht als Sturzflut; sie sickern in einem langsamen Prozess ein. Wann die »kritische Masse« erreicht ist und das Wachstum eine reißende Flut hervorbringen wird, lässt sich nicht angeben. Zuerst langsam und geduldig, dann plötzlich und sprunghaft hat die Masse die Tendenz, größer zu werden. »Der Drang zu wachsen, ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse«[19], schreibt Elias Canetti in Masse und Macht. Das Wachstum der Masse erinnert an ihre erste Bedeutung als Teig. Wenn man der Teigmasse Hefe hinzufügt, gärt sie und beginnt im Backofen zu wachsen. Auch den Menschenmassen geht ein mehr oder weniger langer Gärungsprozess voraus.

Wenn die »fertige« Masse scheinbar plötzlich erscheint, bleibt sie in einem dauerhaften Prozess der Umformung. Wie die Tierherden, das hereinströmende Wasser und die Wolkenformationen ist die Masse immer in Bewegung. Entgegen eines verbreiteten Vorurteils ist sie nicht »träge«. Die Teilnehmer von Massenprotesten verstehen sich als Angehörige einer »Bewegung«. Canetti bezeichnet nicht zu Unrecht das Ziel, auf das das Wachstum der Masse zuläuft, als »Entladung«, ein Freiwerden von Energie. Sie treibt die Masse an, sie macht aus einem losen Haufen eine »Bewegung« – sie wächst und verdichtet sich zugleich. Eine Grenze ihres Wachstums kann nicht angegeben werden.

I Wie entsteht eine Masse?

Jeder weiß, was eine Masse ist. Es ist jedoch unmöglich, mit einer rein quantitativen Bestimmung die Besonderheiten von Massen anzugeben. Es müssen sich nicht einmal besonders viele Menschen versammeln, um eine Masse zu bilden. Selbst eine kleine Gruppe Fußballfans im Zug auf der Heimfahrt von einem Fußballspiel erscheint anderen Reisenden, die sich in ihrer Ruhe gestört fühlen, als Masse. Eine Masse entsteht aus einer Verknüpfung von materiellen Ereignissen, Absichten, Emotionen und Bewertungen. Das materielle Ereignis ist die Kopräsenz vieler Körper an demselben Ort. Teilnehmer wie Beobachter nehmen wahr, wie sie groß und immer größer wird. Dabei ist die Innensicht von der Außensicht zu unterscheiden. In der Wahrnehmung eines Individuums, das zur Masse gehört, nimmt mit dem Anwachsen der Masse das Gefühl der Macht zu. In der Sicht von außen provoziert die Bewegung des Anschwellens eher Gefühle der Beklemmung oder geradezu der Angst.

Diese drei Aspekte von Ereignis, Handlungsabsicht und Emotionen sowie die beiden Sichtweisen von innen und von außen sind immer in ihrer Verknüpfung miteinander zu betrachten. Das ist nicht in allen Fällen ohne Weiteres möglich, wenn beispielsweise Hinweise auf das emotionale Erleben oder auf die Innensicht von Mitgliedern einer Masse fehlen oder nicht entschlüsselt werden können. Eine Masse, deren Innensicht den Betrachtern unbekannt ist, weil diese die Sprache ihrer Mitglieder nicht verstehen, kann schnell feindlich wirken. Wenn die Masse über gar keine Sprache verfügt, wenn sie stumm ist und ihre Mitglieder nur Geräusche erzeugen, ist sie unheimlich. Eine solche Masse zeigt Hitchcock in seinem Meisterwerk Die Vögel