Vom Wanderweg des Lebens - Ulrich Teschner - E-Book

Vom Wanderweg des Lebens E-Book

Ulrich Teschner

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Beschreibung

Manolo fährt über die Sommerferien in die Alpen. Und das, obwohl seine Freundin Sonia deshalb mit ihm Schluss macht. Als sie ihm wenig später reumütig mit ihrer Freundin Barbara nachreist, geraten sie hoch oben in den Bergen in ein heftiges Gewitter. In dieser extremen Lage lernen sie Manolos weisen Großvater und seine Philosophie der 'Mentalen Schilde' kennen, mit der er sich vor Leid schützt. Ein Roman und eine Anregung, den eigenen Lebensweg bewusster, intuitiver und begeisterter zu erwandern.

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Inhaltsverzeichnis

Buch I

Manolo

„Der Weg ist das Ziel“

Sonia

Barbara

Varianten des Leids

Toni

Schatten der Vergangenheit

Naturgewalt

Unverhoffte Hilfe

Schlechtes Gewissen

Intuition

Zerwürfnis

Mentale Schilde

Zerwürfnis II

Unverhoffte Hilfe II

Empathie

Liebe

Die Edelweißhütte

Buch II

Emilia

Kontaktaufnahme

Abschied

Der nächste Schritt

Rat

Barbara II

Intuition II

Neuschnee

Die Gitarre

Sturm

Besuch

Die drei Wege

Die Mittagsspitze

Resi

Der Traum

Vorbereitungen

Warten

Naturgewalt II

Die Edelweißhütte II

Tabelle der mentalen Schilde

Danksagung

Buchempfehlungen

Ulrich Teschner

Buch I

Manolo

Manolo schaute auf den vor ihm liegenden Weg und blieb unwillkürlich stehen. Im aufkommenden Nebel sah es so aus, als würde es dort vorne nicht weitergehen. Er schaute zurück, um zu sehen, ob er irgendeinen Abzweig verpasst hatte. Aber natürlich konnte er auch hinter sich im Nebel nicht viel erkennen und so versuchte er, die letzten Minuten im Geiste noch einmal durchzugehen. Dabei stellte er zu seinem Erschrecken fest, dass er offensichtlich nicht sehr aufmerksam gewesen war. Er konnte sich an nichts Konkretes erinnern. Das Letzte, was er bewusst wahrgenommen hatte, war die Schlange, die bei seinem Herannahen schleunigst in einem Felsspalt verschwunden war. Seine Angst bei dem Gedanken, sie könnte plötzlich wieder herausschnellen und ihn beißen, war ihm noch absolut gegenwärtig. Aber wie viel Zeit war seitdem vergangen? Er konnte es nur schätzen, denn er war seiner Furcht gefolgt, hatte sich ausgemalt, was auf diesem einsamen Weg im Gebirge alles passieren könnte, und hatte nicht mehr auf den Weg geachtet.

Vorsichtig und deutlich langsamer als zuvor ging er weiter. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, denn er erwartete irgendeine üble Überraschung. Kurz bevor der Weg zu enden schien, konnte er erkennen, dass es dort hinter dem Felsen zwar eine jähe Richtungsänderung gab, dass aber rechts der Weg weiterging. Er wurde schmaler und steiniger, führte aber – von hier aus gut sichtbar – leicht ansteigend an der Felswand entlang und ein paar Meter weiter war sogar endlich wieder eine rot-weiße Markierung. Das sehnlich vermisste Zeichen, dass er noch auf dem richtigen Weg war.

Vielleicht hätte er im letzten Dorf doch einen ortskundigen Führer anheuern sollen, dachte er bei sich. Aber der Großvater hatte ihm geschrieben, dass nur ein gewisser Toni in der Lage sei, ihn aufzuspüren, und der war nicht aufzufinden gewesen. Die anderen Gestalten, die im Wirtshaus herumgelungert und sich als Bergführer angedient hatten, sahen nicht so aus, dass Manolo sich ihnen gerne anvertraut hätte. Auch wenn es kein Geheimnis war, dass er seinen Großvater aufsuchen wollte, der trotz seines hohen Alters sommers noch immer Schafe und Ziegen im Gebirge hütete, wollte er diesen Gesellen einfach nichts von sich erzählen. Seine innere Stimme ließ es nicht zu und er hörte auf sie und machte sich allein auf den Weg. „Folge am Tag nach dem Vollmond der rot-weißen Markierung gen Süden“, hatte der Großvater geschrieben, „und du wirst mich finden.“

„Welch eine Wegbeschreibung!“, dachte Manolo und fluchte leise. Er war es gewohnt, genaue Zielangaben in sein Navigationsgerät einzugeben und einfach dessen Anweisungen zu folgen. Sollte er sich dabei verfahren, würde es das Navi in kürzester Zeit bemerken und seine Route anpassen. So war er bisher immer ans Ziel gekommen, nur einmal nicht, als er feststellen musste, dass ihn das Navi partout falsch herum durch eine neu eingerichtete Einbahnstraße führen wollte. Damals hatte er sich mühsam durchfragen müssen, da das Navi auf der falschen Route beharrte.

Aber das ging hier nicht. Erstens war keiner da, den er fragen konnte, und selbst wenn da jemand zum Fragen gewesen wäre: Sein Ziel bewegte sich. Der Großvater zog immer wieder auf eine andere Bergwiese und niemand wusste, wo er am nächsten Tag sein würde. Nicht einmal er selber. Vermutlich empfand es der Großvater schon als Einschränkung seiner Freiheit, dass er am Tag nach Vollmond irgendwo an diesem dämlichen rot-weißen Pfad zu sein versprochen hatte. Manolos Laune war im Sinkflug. Vielleicht sollte er doch noch einmal rasten und sich stärken. Wer weiß, wie lange er noch wandern musste, um den Großvater zu finden.

Er suchte sich einen halbwegs windgeschützten Stein direkt am Wegrand, auf dem er sitzen konnte, und prägte sich die Richtung ein, in die er weitergehen musste. Wie jemand bei diesem Nebel die Orientierung behalten konnte, war ihm schleierhaft. Er packte die Thermoskanne aus und goss sich einen Becher Tee ein. Das warme Getränk belebte ihn sofort. Die Zuversicht, dass er seinen Großvater finden würde beziehungsweise der ihn, kam spürbar zurück. Schließlich hatte er sich immer auf den Großvater verlassen können, warum also zweifelte er heute an ihm?

Plötzlich fing es an zu nieseln. „Auch das noch!“, dachte Manolo. Und dann fiel ihm der Spruch von Karl Valentin ein, der Lieblingsspruch seiner Mutter, und er musste unwillkürlich lächeln: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“ Als Kind hatte er diesen Spruch unsinnig gefunden, doch dann erlebte er ein ums andere Mal, wie sich die Laune der Mutter aufhellte, wenn sie diesen Satz zitiert hatte. Und heute hatte er nun das Gefühl, den Spruch zum ersten Mal richtig und vollständig zu verstehen. Hier und heute, an diesem ungemütlichen Platz im Gebirge. Alles war eine Sache der persönlichen Einstellung! „Mit der passenden Einstellung kann man auch dem Regen etwas abgewinnen“, dachte er. Wie es die Mutter so oft vorgelebt hatte. – Dankbar für diese schöne Erinnerung setzte er seinen Weg fort, der zusehends matschiger und damit rutschiger wurde. Jetzt war seine ganze Aufmerksamkeit gefordert.

Trotzdem dauerte es nicht lange, bis seine Gedanken wieder abschweiften. Ihm schwirrte so viel im Kopf herum: War es klug, die Semesterferien mit dem Alten so spartanisch in den Bergen zu verbringen, anstatt mit einem ordentlichen Ferienjob etwas Geld zu verdienen und sich davon eine gebrauchte Vespa zu kaufen? Hätte Sonia auch Schluss mit ihm gemacht, wenn er in der Stadt geblieben wäre? Bei dem Gedanken an Sonia begann er zu frieren. Sie hatte seinen Wunsch, den alten Großvater in den Bergen zu besuchen, nicht verstehen können, ihn schließlich sogar vor die Entscheidung gestellt – sie oder der Alte.

Aber sie kannte den Alten auch nicht. Seine Art zuzuhören, ohne zu urteilen, seine Weisheit, die Fähigkeit, seine Meinung zu sagen, ohne den anderen zu verletzen. Das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden, das sich bei ihm immer ganz schnell einstellte. Und schon schlich die Furcht wieder heran, die Sorge, den Großvater bei diesem lausigen Wetter nicht zu finden. Jetzt war der Nebel so dicht, dass er keine zehn Meter weit sehen konnte.

Da hörte er plötzlich ganz leise ein Glöckchen. War das der Leithammel von Großvaters Herde? Oder war es ein Hirngespinst? Er begann, schneller zu laufen. Dann blieb er stehen und horchte genauer hin. Wieder hörte er das Glöckchen, diesmal etwas deutlicher. Er eilte weiter, wäre um ein Haar ausgerutscht und hingefallen, doch dann sah er das Zeichen. Da hatte jemand aus Ästen einen Pfeil auf den Weg gelegt, einen Pfeil, wie ihn nur der Großvater legen würde, einen unübersehbaren Pfeil, über den man zumindest stolpern musste, wenn man ihn womöglich übersah. Es würde nicht leicht sein, bei diesem Nebel der Richtung des Pfeils zu folgen, aber Manolo war nicht dumm. Er kramte seinen Kompass hervor und folgte stur der angegebenen Richtung. Weit konnte es nicht sein. Und er spürte nun, welch eine gewaltige Kraft das zurückgekehrte Vertrauen in den Großvater freisetzte. Ihn störte nicht, dass seine Schuhe beim Durchqueren der Wiese völlig durchweicht wurden, auch, dass er sich einmal beinahe den Fuß vertrat, ignorierte er.

Nach fünf endlosen Minuten schälte sich der Umriss einer Blockhütte aus dem Nebel und kurz darauf lagen sich Großvater und Enkel in den Armen. „Schön, dass du da bist!“, sagte der Alte nur und bot Manolo einen Platz am bullernden Ofen an. „In ein paar Minuten ist der Milchreis fertig. Ich hoffe, du hast ordentlich Appetit mitgebracht.“ Manolo war erschöpft, aber glücklich. Wie konnte es nur sein, dass er sich in dieser kargen Umgebung so viel wohler fühlte als in der Stadt, wo es all die Annehmlichkeiten und Zerstreuungen gab? Hier gab es kein Kino, keine Party mit Freunden, kein Shopping-Center, nicht einmal Handyempfang, und doch hatte er das Gefühl, dem Leben, wie es eigentlich sein sollte, viel näher zu sein. Bei Gelegenheit musste er den Großvater fragen, ob er eine Erklärung für dieses Phänomen hatte. Aber jetzt freute er sich auf den Milchreis – einen Milchreis, den er in der Stadt nicht angerührt hätte. Denn der Alte verwendete Ziegenmilch und das schmeckte durchaus besonders – wenn man es positiv ausdrücken wollte.

„Ja, ich habe mächtig Kohldampf“, erwiderte Manolo. Der Großvater reichte ihm einen Teller, nahm sich selbst auch einen und sie begannen schweigend zu essen.

„Der Weg ist das Ziel“

Nachdem der Hunger gestillt war, setzten die beiden sich mit einem starken Kaffee an den Ofen. Erst dann begann Manolo, dessen Aufregung sich noch immer nicht ganz gelegt hatte, ein Gespräch: „Ich habe ganz schön Federn gelassen heute bei dem Dreckswetter.“ „Ja, im Gebirge muss man immer damit rechnen, dass einem das Wetter einen Streich spielt“, erwiderte der Großvater. „Das weiß ich ja. Aber es wäre einfacher für mich gewesen, wenn Du mir eine vernünftige Wegbeschreibung geschickt hättest. Ich hab‘ mir wirklich Sorgen gemacht, ob ich dich finde, und einige Male hatte ich richtiggehend Angst, dass ich mich verlaufen oder abstürzen könnte.“ Manolo schaute den Alten angriffslustig an. Eine lange Minute schwiegen beide. Dann sagte der Großvater: „Es tut mir leid, dass es dir mit meiner Beschreibung so schwer geworden ist. Wer konnte schon mit solch einem Nebel zu dieser Jahreszeit rechnen?“ Der Großvater wirkte ein wenig zerknirscht. „Umso mehr freue ich mich, dass du wohlbehalten angekommen bist!“ „Ich mich auch!“, murmelte Manolo brummig.

Wieder entstand eine Gesprächspause. Der Großvater schien jedoch noch etwas auf dem Herzen zu haben. „Na los, nun sag‘ es schon!“, brummte Manolo. – „Möchtest du wissen, was die Buddhisten sagen?“, fragte der Alte. – Manolo wunderte sich über die Frage, die scheinbar gar nicht in den Zusammenhang passte, aber seine Angriffslust wich einer Art Ungeduld. „Ich weiß nicht“, entgegnete Manolo ehrlich, aber unwirsch. Einen Moment später, nachdem ihm klar geworden war, dass er genau wegen dieser Denkanstöße des Großvaters hier heraufgekommen war, fügte er hinzu: „Wahrscheinlich schon.“ Ohne auf Manolos Stimmung weiter einzugehen, fuhr der Großvater fort: „Sie sagen, Schmerz ist im Leben unvermeidlich. Leid hingegen gehört zwar auch zum Leben, aber man kann sich davon befreien.“ „Wie soll das denn gehen?“, fragte Manolo skeptisch.

„Denk doch mal an ein kleines Kind. Es fällt hin, tut sich weh, fängt an zu weinen, läuft zur Mutter und dann geschieht das Wunder. Die Mutter nimmt es in den Arm, putzt ihm die Nase und pustet den Schmerz weg. Das Kind dreht sich um, läuft zu seinen Spielkameraden und spielt weiter. Es leidet nicht mehr. Und warum funktioniert das? Weil das Kind der Mutter dieses Wunder zutraut. Weil es weiß, dass es geliebt wird. Weil es nicht darüber nachdenkt, ob das überhaupt sein kann. Vielleicht auch, weil es bereits die Erfahrung gemacht hat, dass die Mutter den Schmerz wegpusten kann.“

„Und was hat das mit mir zu tun? Wer hätte denn heute meine Sorge und meine Angst wegpusten sollen? Es war ja keiner da!“, entgegnete Manolo unwillig. Er fand, dass der Alte jetzt doch sehr weit abgeschweift war. „Du selbst hättest das gekonnt, wenn du innegehalten hättest, um in dich hineinzuhorchen. Dann hättest du dir deine Angst bewusst machen können, um als Erwachsener darauf zu reagieren und den kleinen Manolo in dir zu trösten. Dann hättest du darauf vertrauen können, dass du irgendwie zu mir findest. Du hättest die widrigen Umstände wie Nebel und Regen, die du nicht ändern kannst, akzeptieren können. Du hättest besonders aufmerksam auf den Weg achten können, statt dir in deiner Furcht schlimme Dinge auszumalen. Du hättest dich auf unser Wiedersehen freuen und dir sogar selbst ein beruhigendes Liedchen pfeifen können. – Es gibt so viele Möglichkeiten, sich selbst an die Hand zu nehmen, wenn man bemerkt, dass das ängstliche Kind in einem die Oberhand gewinnt. Aber alle diese Möglichkeiten erfordern Bewusstheit. Man muss merken, was in einem vorgeht und wie es einem geht, um sich selbst helfen zu können.“

„Da hast du wahrscheinlich nicht ganz unrecht“, gestand Manolo. „Ich war mit meinen Gedanken nicht auf dem Weg, sondern ganz woanders.“ „Das geht vielen so. Nicht nur auf dem Wanderweg, sondern vor allem auf dem Lebensweg. Auch diesen sollte man bewusst gehen, um sich klar zu werden, ob es einem gut geht mit dem Leben, wie es gerade ist. – Fast alles, was du auf einem Wanderweg erleben kannst, kannst du im übertragenen Sinne auch auf dem Lebensweg vorfinden. Wenn du willst, kannst du Lehren für das Leben daraus ziehen, wie du mit demselben Problem beim Wandern umgehen würdest. Verstehst du, was ich meine?“

„Nein“, gestand Manolo. „Na ja, wenn du nicht bei der Sache bist und in Gedanken so vor dich hin wanderst beziehungsweise lebst, kann es schnell passieren, dass irgendetwas schiefläuft. Du könntest dich verlaufen, dir den Fuß verknacksen, dich an einem Ast stoßen oder im schlimmsten Falle gar abstürzen.“ Manolo lachte. „Na ja, abstürzen ist vielleicht etwas übertrieben. Solange der Weg vernünftig angelegt ist, wird das schon nicht passieren!“, warf er ein. „Stimmt, aber wer kann dir das garantieren? Ist es nicht eigentlich immer deine eigene Verantwortung, nicht zu stürzen?“, gab der Großvater zu bedenken. „Ja, sicher“, gab Manolo unwillig zu.

Jetzt war der Großvater in seinem Element: „Da hast du schon so eine schöne Parallele zwischen Wander- und Lebensweg. Wer würde – beim Wandern! – die Schuld für einen Sturz bei einem andern suchen?“ „Niemand, der halbwegs bei Verstand ist!“, war sich Manolo sicher.

„Aber im Leben tun das die Leute ganz oft. Sie achten nicht auf den Lebensweg, lassen sich ablenken oder verfallen in Routine und dann läuft etwas schief, sie stoßen sich an einem Ast, oder – auf das tägliche Leben bezogen – an einer Tatsache wie zum Beispiel einer Mahnung. Und weil es einfacher ist, die Schuld dafür woanders zu suchen, tun sie es auch. Sie übernehmen nicht selbst die Verantwortung für die Situation, in der sie sich befinden. Wahrscheinlich haben sie gar nicht gemerkt, dass sie nicht auf den Weg geachtet haben, und jetzt können sie sich selbst und vor allem den anderen gegenüber ihren Fehler nicht eingestehen. Würde ihnen bewusst werden, wie es zu der Situation gekommen ist, könnten sie darüber nachdenken, wie die gleiche Situation auf einem Wanderweg aussehen würde, und sie hätten es leichter. Denn dort hätten sie sich, anderen Gedanken nachhängend, vielleicht an einem Ast gestoßen. Dort wären sie nicht darauf gekommen, die Schuld beim Ast zu suchen oder beim Baum oder beim Wind. Dort hätten sie vielleicht geflucht, aber sie hätten den Ast sicherlich nicht verklagt.“

„Interessant! Gibt es noch mehr solche Parallelen zwischen Wanderweg und Lebensweg?“, fragte Manolo. „Jede Menge! Auch der Lebensweg kann steinig, schmal, schweißtreibend oder gar gefährlich sein. Auch der Lebensweg kann schwer zu finden sein, wenn es jede Menge Abzweigungen und keine Wegweiser gibt, oder er kann auch manchmal klar vor einem liegen. Auch der Lebensweg erfordert eine Rast, wenn man Durst oder Hunger hat. Auch der Lebensweg ist leichter zu meistern, wenn man Begleiter, womöglich sogar einen Ortskundigen, dabei hat. Auch der Lebensweg kann bergab oder bergauf führen. Auch im Leben kann immer etwas dazwischenkommen, sei es ein Wetterumschwung – im Leben würde man das wohl eher Stimmungsumschwung nennen – oder eine Katastrophe wie etwa ein Unfall.“

„Da muss ich mal in Ruhe drüber nachdenken“, sagte Manolo. Er versuchte sich zu erinnern, was er heute auf dem Weg zum Großvater alles erlebt hatte: Wie der Weg nicht weiterzugehen schien, wie er geradezu mechanisch und unaufmerksam gelaufen war, wie er sich ausgemalt hatte, was alles schieflaufen könnte, seine Unsicherheit, bis er endlich wieder eine Markierung gesehen hatte, aber auch seine Zuversicht und das große, geradezu blinde Vertrauen, als er das Zeichen des Großvaters gesehen hatte und ihn in der Nähe wusste. Er erinnerte sich auch an seinen Unwillen, als ihm klar wurde, dass sich sein Ziel (der Großvater) unvorhersehbar jeden Tag woandershin bewegte. Aber war es im Leben nicht immer so, dass sich das Ziel bewegte?

Ihm fiel ein weiterer Lieblingsspruch ein, diesmal der seines Vaters: „Der Weg ist das Ziel“ von Lao-Tse. Das beinhaltete wohl, dass es nach Erreichen eines Etappenziels immer wieder weiter ging, dass man nie ausgelernt hatte. Aber eben auch, dass man auf den Weg achten, ihn bewusst gehen sollte, weil er ja das Ziel darstellte, auch und gerade der Lebensweg. Obwohl er noch jung war mit seinen 24 Jahren und gerade erst im vierten Semester, war ihm schon klar, dass Routine eine harte Prüfung im Leben darstellte. Er hatte sich schon in der Schule, als ihn manchmal die tägliche öde Routine niederdrücken wollte, gegen die allgegenwärtigen Wiederholungen gewehrt, indem er sich vornahm, jeden Tag etwas Neues zu tun. Mal wählte er einen anderen Weg zur Bushaltestelle, den er noch nie gegangen war, mal las er im Bus ein neues Buch, mal lernte er die Quadratzahlen bis 400 auswendig. Es gab viele Möglichkeiten, sich der Routine zu entziehen, um dem Autopiloten des Lebens ein Schnippchen zu schlagen und mehr Lebendigkeit einzuladen.

Obwohl der Großvater normalerweise nichts doppelt sagte, hatte er mehrfach betont, dass man auf seinen Weg achten solle. Für einen schmalen Gebirgspfad fand Manolo dies unmittelbar einleuchtend. Aber wie sollte man das auf dem Lebensweg tun? Auch dazu hatte der Alte etwas gesagt: Bewusstheit war das Stichwort. Sich bewusst zu machen, was um einen herum und in einem vorging, besonders, ob es einem gut ging, war das Wesentliche. Jetzt fiel es Manolo wie Schuppen von den Augen: Nur wenn einem bewusst wurde, was um einen herum vorging, konnte man die Chancen des Lebens nutzen und den Gefahren angemessen begegnen. Und nur wenn einem bewusst wurde, ob es einem selbst gerade gut ging, konnte man sich selbst helfen, wenn man unter etwas litt – sei es Furcht, Sorge oder Enttäuschung.

Es war absolut keine Selbstverständlichkeit, das eigene Leid überhaupt bewusst zu bemerken.

Sonia

Sonia saß auf dem Balkon ihrer Studentenwohnung in der Nachmittagssonne. In der Hand hielt sie ein Buch, das sie vor zwei Stunden gekauft hatte, weil der Klappentext sie spontan angesprochen hatte. Noch auf dem Weg nach Hause hatte sie sich total darauf gefreut, dieses Buch in Ruhe auf dem Balkon zu lesen, und jetzt las sie den ersten Absatz gerade zum vierten Mal. Sie war traurig. Viel lieber als das Buch, hätte sie jetzt Manolo hier gehabt. Aber der hatte ihr ja seinen alten Großvater vorgezogen. Selbst die Drohung, Schluss zu machen, wenn er tatsächlich für sechs Wochen in die Berge verschwand, hatte ihn nicht zurückgehalten. Und so war sie eben konsequent gewesen und hatte Schluss gemacht.

Sie war immer konsequent! Wenn sie ein Ziel hatte, hatte sie es auch immer erreicht, und das – davon war sie überzeugt – verdankte sie ihrer Konsequenz. Als sie drei Jahre vor dem Abitur realisiert hatte, dass sie auf dem Weg zu ihrem Traumberuf Zahnärztin einen hervorragenden Numerus clausus benötigen würde, hatte das gewirkt wie eine Gehirnwäsche. Von Stund‘ an hatte sie gelernt wie eine Wilde, hatte Bücher gewälzt und ihre bis dahin gelebte Bequemlichkeit in Sachen Schule über Bord geworfen. Am Ende hatte sie das Abitur als Zweitbeste des Jahrgangs bestanden und auf Anhieb einen Studienplatz bekommen.

Auch das Stipendium, das ihr einen relativ sorglosen Lebenswandel ermöglichte, hatte sie ihrer Konsequenz zu verdanken. Denn die Stiftung, die sie seit dem zweiten Semester förderte, hatte zunächst ihre Bewerbung verschlampt, und nur durch ihre Hartnäckigkeit war es ihr gelungen, ihre Unterlagen noch einmal einreichen zu dürfen, obwohl die Bewerbungsfrist schon vorbei war.

Dass Manolo trotz ihrer Drohung zu seinem Großvater abgereist war, empfand sie als Niederlage. Denn sie liebte ihn und schon während des hitzigen Gesprächs, von dem ihre letzte Begegnung geprägt war, hatte sie das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Das Gefühl, dass der konsequente Weg in diesem Fall nicht der richtige Weg war. Natürlich hatte sie das im Moment der Auseinandersetzung nicht zugeben können. Sie hatte auch gehofft, dass Manolo doch noch einlenken würde, wenn er nur merkte, dass sie konsequent blieb, aber er tat es nicht. Und dann war es zu spät gewesen, denn als er kurz darauf wütend ihre Wohnung verließ, war sie zu stolz gewesen, ihn aufzuhalten.

Und jetzt saß sie auf dem Balkon, auf dem auch Manolo so gerne in der Abendsonne gesessen hatte, und vermisste ihn. Warum nur musste sie jetzt so sentimental sein? So kannte sie sich gar nicht.

Es klingelte. Barbara, ihre Nachbarin, stand mit einer Flasche Cidre vor der Tür und schaute sie fragend an. Sonia schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, zog Barbara auf den Balkon und sagte: „Du kommst wie gerufen. Ich hatte gerade so einen merkwürdigen Anflug von Sentimentalität.“ „Wegen Manolo?“, fragte Barbara ganz direkt. Die beiden Frauen kannten sich so gut, dass sie über alles miteinander reden konnten, obwohl Barbara fast vierzehn Jahre älter war. „Ja“, sagte Sonia, „ich fürchte, ich war da etwas zu konsequent.“ „Man könnte es auch egoistisch nennen“, meinte Barbara ehrlich. „Was ist denn so schlimm daran, dass er seinen Großvater besuchen will? So eine vorübergehende Trennung kann doch ganz belebend sein für eine Beziehung!“ „Ach, mir hat es einfach nicht gepasst. Ich hatte gedacht, ich könnte mit ihm zwei Wochen ans Meer fahren. Während des Semesters haben wir ja oft gar nicht viel Zeit füreinander. Du weißt schon, ich muss doch so viel büffeln“, erwiderte Sonia. „Hat er dir deswegen schon mal Vorwürfe gemacht?“, fragte Barbara, die beschlossen hatte, es Sonia beim Thema Manolo nicht zu leicht zu machen. Sie konnte Manolo sehr gut leiden und fand, dass er diese Behandlung nicht verdient hatte.

„Nein, jedenfalls nicht mit Worten“, antwortete Sonia, dachte kurz nach und verwarf dann den Gedanken, darüber mit Barbara einen Streit anzufangen. Stattdessen sagte sie: „Ich mach‘ uns schnell noch einen Salat. Mach’s dir schon mal gemütlich“, und verschwand in der Küche. Sie hatte keine Lust, sich von Barbara Vorwürfe machen zu lassen. Schließlich hatte sie ohnehin schon ein schlechtes Gewissen. Sie legte selbst sehr großen Wert auf ihre Freiheit, also hätte sie auch ihm seine Freiheit lassen müssen, das wusste sie.

Barbara warf einen Blick auf das Buch, das auf dem Tischchen lag, und beschloss, Sonia heute Abend nicht weiter zuzusetzen. Sie kannte es. Dem Autor war es gelungen, einen Beziehungsroman zu schreiben und dabei Erkenntnisse einfließen zu lassen, die Paaren in schwierigen Phasen durchaus weiterhelfen konnten. – Barbara schmunzelte. Sie war sich nun sicher, dass Sonia und Manolo noch nicht fertig waren miteinander.

_____________

Zwei Tage später passierte etwas, das Sonias Leben eine ganz andere Wendung geben sollte. Sie bekam eine Postkarte. Von Manolo. Nur zwei Sätze:

„Es war schön mit Dir. Danke für die gemeinsame Zeit!“

So sehr sie sich im ersten Moment gefreut hatte, so sehr war sie im zweiten Moment enttäuscht. Denn aus den Sätzen sprach kein Bedauern, kein „Es tut mir leid“, keine Liebesbezeugung, kein Überredungsversuch, es noch einmal versuchen zu wollen. Lediglich Dankbarkeit war da zu erkennen.

Über Dankbarkeit hatten sie oft gesprochen, Manolo und sie. Er meinte immer, es stünde so schlecht um die Welt, weil die Menschen nicht mehr dankbar seien. Denn nichts sei in Wirklichkeit selbstverständlich und man habe auch keinen Anspruch auf irgendetwas. Je mehr Geld ein Mensch habe, desto mehr glaube er oft, Anspruch auf etwas zu haben, sei es eine bestimmte Ware, ein besonderer Service oder einfach nur sein Recht, sich beliebig schlecht zu benehmen. Er habe es ja bezahlt oder werde es noch tun, deshalb dürfe er das.

Bei diesem Thema hatte sich Manolo regelmäßig in Rage geredet, denn sie hatte fleißig dagegengehalten. Wer es im Leben zu etwas gebracht hatte, so ihre Meinung, musste eben keinen Hunger leiden. Im Gegenteil – der konnte sich auch mal etwas wirklich Feines gönnen, wie zum Beispiel eine Flasche Champagner. Danken musste man da höchstens sich selbst, nämlich dafür, dass man es sich leisten konnte.

Meistens war er dann nach einiger Zeit sanfter geworden. Sein Credo zum Thema Dankbarkeit kannte sie, seit sie das erste Mal bei ihm übernachtet hatte, denn in seiner Studentenbude klebte ein Zettel am Badezimmerspiegel, auf dem stand: „Jemandem aufrichtig zu danken, ist eine kostenlose Methode, dem anderen ein erhebendes Gefühl zu geben. Und auch sich selbst!“

Ein erhebendes Gefühl hatte die Postkarte ganz und gar nicht ausgelöst. Sonia war sauer, dass Manolo nicht wenigstens den Versuch machte, sie zurückzuerobern! – Und doch machten die zwei Sätze etwas mit ihr. Denn offensichtlich dachte Manolo genauso an sie, wie sie an ihn. Wahrscheinlich fehlte sie ihm sogar genauso, wie er ihr.

Und so kam es, dass sie ein Weilchen danach, als ihre Enttäuschung verraucht war, zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Stolz hinunterschluckte und beschloss, Manolo nachzureisen. Zum einen wollte sie ihm einfach nahe sein, zum anderen war sie auch neugierig auf den alten Großvater. War er wirklich so weise und gütig, wie Manolo immer sagte? Bewertete er wirklich nicht, was sein Gegenüber sagte, sondern nahm es einfach so als gegeben hin? Legte er wirklich keinen Wert auf Besitz und ein angenehmes Leben? Es wäre bestimmt spannend, einen solchen Menschen einmal persönlich kennenzulernen, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, einem solchen Lebensstil nachzueifern, wie Manolo es manchmal tat, zum Beispiel mit seiner übertriebenen Dankbarkeit.

Aber wie sollte sie es anstellen, wie sollte sie die beiden finden? Das Einzige, was sie wusste, war der Name des Zielbahnhofs, bis zu dem Manolo eine Zugfahrkarte gelöst hatte. Sie hatte ihn zufällig gelesen, weil das Ticket an ihrem letzten gemeinsamen Abend kurz auf dem Küchentisch gelegen hatte.

Aber war er von dort aus noch mit dem Bus weitergefahren oder direkt in die Berge gestiegen? Hatte ihn der Großvater irgendwo abgeholt?

Wie sollte sie die beiden finden, die noch nicht einmal wussten, dass sie gesucht wurden? Würde sie überhaupt willkommen sein oder womöglich die Zweisamkeit von Enkel und Großvater empfindlich stören?

Sie wurde ganz mutlos und begann zu weinen. Schon wieder so ein Anflug von Sentimentalität, den sie nicht einzuordnen wusste.

Nach einiger Zeit rappelte sie sich auf und klingelte nebenan bei ihrer Freundin Barbara, um mit ihr darüber zu sprechen. Sie wollte wissen, ob diese es für total idiotisch hielte, dass sie nun Manolo nachreisen wollte, nachdem sie noch vor einer Woche mit ihm Schluss gemacht hatte. Zum andern wollte sie Barbara um Rat fragen, wie sie Manolo und seinen Großvater finden könne. Denn Barbara war intelligent und im ganzen Freundeskreis bekannt für ihre kreativen Ideen.

Erstaunlicherweise fand Barbara den Einfall, Manolo nachzureisen, überhaupt nicht idiotisch, sondern beglückwünschte Sonia sogar zu diesem Entschluss: „Ich weiß zwar nicht, wie du darauf gekommen bist“, sagte sie schmunzelnd, „aber ich finde es richtig gut, dass du ihm verziehen hast. – Weißt du, was? Am liebsten würde ich dich begleiten.“

„Oh ja, mach das doch! Wenn wir die beiden dann nicht finden oder nicht willkommen sein sollten, machen wir uns einfach zu zweit eine nette Woche in den Bergen.“

Sonia stutzte. Hatte sie Manolo wirklich verziehen, wie Barbara es glaubte? Sie war sich nicht so sicher, aber der Gedanke gefiel ihr und sie musste unwillkürlich lächeln.

Barbara

Barbara saß in der Badewanne und dachte nach. Sie hatte sich angewöhnt, dort über schwierige Fragestellungen nachzudenken, weil ihr im warmen Wasser – in der tiefen Entspannung – die besten Ideen zu kommen pflegten. Die Frage, wie sie Manolo finden sollten, war eine schwierige und schrie förmlich nach der Wanne.

Natürlich konnten sie überall herumfragen und hoffen, dass irgendjemand ihnen einen Hinweis geben würde, aber das war ihr eigentlich viel zu unsicher.

Natürlich konnte sie auf ihre Intuition vertrauen, die sie schon oft auf erstaunliche Weise zum Ziel geführt hatte, aber sie befürchtete, im entscheidenden Moment zu aufgeregt zu sein, und dann würde es nicht funktionieren.

Also dachte sie nach. Nach dem wenigen, was Sonia zu berichten wusste, hatte Manolos Großvater keinen festen Wohnsitz in den Bergen, sondern zog mit seinen Tieren herum. Also mussten sie einen Treffpunkt ausgemacht haben. Sie vermutete, dass dies nicht telefonisch geschehen war, denn irgendwie passte das nicht zu dem Bild des Alten, das sie vor ihrem geistigen Auge hatte. Vielleicht hatte es einen Brief oder eine Postkarte des Großvaters gegeben?

Barbara musste Sonia danach fragen.

Sie überlegte weiter: Sonia kannte den Zielbahnhof von Manolos Reise, das war wichtig. Aber war er von dort aus noch weitergereist, zum Beispiel mit einem Überlandbus, bevor er in die Berge hinaufgestiegen war?

Da hatte es eine Postkarte gegeben, wie Sonia erzählt hatte. Wo war sie abgestempelt worden?

Nun hatte sie es plötzlich sehr eilig. Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich notdürftig ab und warf einen Bademantel über. Dann eilte sie über den Flur und klingelte bei Sonia.

Es dauerte lange, bis diese öffnete, und sie sah sehr verschlafen aus. „Weißt du, wieviel Uhr es ist?“, murrte sie schlecht gelaunt.

„Ja, so ungefähr ein Uhr, aber es ist wichtig!“, entgegnete Barbara ungeduldig. „Hast du noch die Postkarte, die Manolo dir geschrieben hat? Über die du dich so geärgert hast?“, fragte Barbara. „Die habe ich ins Altpapier geworfen“, brummte Sonia. „Aber ich hab‘ es noch nicht nach unten in den Container gebracht, die Leerung ist ja erst übermorgen.“ „Lass uns die suchen, da stehen womöglich wertvolle Hinweise drauf“, raunte Barbara und drängelte sich an Sonia vorbei in die Wohnung. Sonia verstand und war sofort hellwach.

Eine Viertelstunde später hielt Sonia die zerknickte Postkarte in der Hand. Der Poststempel war beim besten Willen nicht zu erkennen. Traurig gab sie die Postkarte ihrer Freundin. Barbara drehte die Karte um, schaute sie sich genau an und grinste. Denn es war eine dieser Karten aus vielen Einzelbildern, die verschiedene Ansichten eines Dorfes zeigen. Auf einem der Bilder war bei genauem Hinsehen ein Ortsschild zu erkennen. „Meinst du, er hat die Karte dort gekauft, wo er gerade war, bevor er sich aus der Zivilisation verabschiedet hat?“, fragte Barbara. „Würde zu ihm passen“, erwiderte Sonia. Sie war schon auf dem Weg zu einem Straßenatlas, der aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag. „Dieses Dorf ist keine zehn Kilometer von seinem Zielbahnhof entfernt, am Ende eines Seitentals.“ Jetzt grinste auch sie.

„Lass uns so schnell wie möglich aufbrechen“, murmelte Barbara verschwörerisch. „Wir müssen nach ihm fragen, so lange die Spur frisch ist und die Leute sich noch an ihn erinnern können.“ Dann kam ihr die andere Idee aus der Badewanne wieder in den Sinn: „Hast du eine Ahnung, wie sie ihren Treffpunkt ausgemacht haben?“ Sonia schüttelte den Kopf. „Ich habe zwar noch einen Schlüssel zu Manolos Wohnung, aber die Sucherei dort können wir uns sparen. Wenn es dazu etwas Schriftliches geben sollte, hat Manolo es bestimmt mitgenommen.“

_____________

Am Mittag des übernächsten Tages stiegen Sonia und Barbara aus dem Überlandbus und blinzelten in die pralle Gebirgssonne. Es war nicht schwer gewesen, zügig aufzubrechen, denn eigentlich hatten sie schon alles beisammen gehabt, was man für eine Woche im Gebirge brauchte. Ihnen hatte nur noch der Zielort gefehlt.

„Am besten gehen wir mal ins Wirtshaus. Wenn ihn jemand gesehen hat, dann finden wir ihn dort.“ Barbara war noch immer bester Laune. Sie fühlte sich großartig und sah sich vor ihrem geistigen Auge als würdige Nachfolgerin so berühmter Detektive wie Hercule Poirot oder gar Sherlock Holmes. Was sollte sie jetzt noch aufhalten?

Im Wirtshaus saßen dieselben Gestalten wie vor ein paar Tagen, als Manolo hier gewesen war. Barbara setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf und erklärte: „Wir suchen unseren Freund Manolo. Er muss hier vor ein paar Tagen durchgereist sein, auf dem Weg zu seinem Großvater.“ – Keiner sagte etwas. „Kann einer von euch uns helfen, ihn zu finden?“ „Was kriege ich denn dafür?“, fragte ein junger stämmiger Kerl, anzüglich grinsend, den Blick bewundernd auf Barbaras Ausschnitt gerichtet. Der Rest der Gestalten lachte grölend.

Sofort war Barbara wieder Barbara. Ob wohl ihre berühmten Detektiv-Vorbilder auch mit solchen Widerlingen zu kämpfen gehabt hatten? Was hätten sie getan? Wortlos wandte sie sich um und verließ das Wirtshaus, Sonia im Schlepptau. Draußen entdeckten sie eine junge Frau beim Abwischen der Biergartentische, die offensichtlich angesichts des herrlichen Wetters im Begriff waren, nach langem Winterschlaf wieder in Betrieb genommen zu werden.

„Sind die Kerle da drinnen immer solche Kotzbrocken?“, fragte sie voller Mitgefühl. Der Gedanke, solche Typen bedienen zu müssen, war ihr mehr als zuwider. „Wenn man sie kennt, geht es“, erwiderte die Bedienung. „Dann trauen sie sich nicht, blöde Bemerkungen zu machen.“ Sie hielt kurz inne und ergänzte dann grinsend: „Schließlich kenne ich ihre Mütter!“ „Gibt es hier im Dorf einen guten Bergführer?“, fragte Barbara übergangslos. „Ja, den Toni“, antwortete die junge Frau. „Er wird aber erst heute Abend kurz vor Sonnenuntergang wieder zu Hause sein. Tagsüber ist er immer in den Bergen, entweder mit Touristen oder allein, obwohl er schon im Rentenalter ist. Hier im Dorf hält er es nicht aus, ist ihm zu laut und zu hektisch.“ „Danke für die Auskunft“, sagte Barbara artig. „Kann man hier im Wirtshaus auch übernachten?“ „Ja, schon.“, erwiderte die junge Frau. „Aber die Zimmer gibt es erst ab vier Uhr nachmittags. Wollt ihr etwas essen?“ Sonia nickte schweigend, aber unübersehbar. Barbara setzte sich wortlos an einen der frisch geputzten Tische und dankte im Stillen dafür, dass es in der Welt so etwas wie weibliche Solidarität gab.

Der restliche Nachmittag verlief ruhig. Scheinbar hatten die traurigen Gestalten im Gastraum eine Ansage von Resi, der jungen Bedienung, bekommen. Jedenfalls traute sich keiner mehr, an die Bemerkung des jungen Schnösels anzuknüpfen, als Barbara und Sonia kurz nach 16 Uhr hineingingen und nach einem Zimmer fragten. Dieses stellte sich sogar als relativ geräumig und gemütlich heraus und so verbrachten die beiden Freundinnen einen entspannten, andererseits aber doch auch erwartungsvollen Nachmittag. Alle ihre Hoffnungen ruhten nun auf Toni. Was war das wohl für ein Mensch?

Sicher war er nicht so ein primitiver Typ wie die Gesellen unten im Gastraum, aber würde er ihnen helfen?

Varianten des Leids

Manolo saß auf einem Stein hoch über der Lieblingsalm seines Großvaters, kaute auf einem Grashalm und dachte nach. Wenn es stimmte, was der Alte gesagt hatte, dass man nämlich Leid vermeiden oder zumindest sich selbst helfen konnte, wenn man sich bewusst machte, wie es in einem aussah, lohnte es sich wahrscheinlich, einmal darüber nachzudenken, in welchen Gewändern das Leid überhaupt daherkommen konnte.

Worunter litten die Menschen tagaus tagein? Manolo schloss die Augen und fing an, über die belastenden Momente seines eigenen Lebens nachzudenken:

Ihm kamen seine Schuldgefühle in den Sinn. Gerade vor ein paar Tagen hatte er wieder ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er so egoistisch gewesen war, den Besuch bei seinem Großvater durchzuziehen. Schließlich liebte er Sonia, er hätte also ihr zuliebe durchaus auf den Besuch verzichten können.

Dann dachte er an die Angst, die er beim Aufstieg gehabt hatte. Die reale Furcht vor der Schlange im Felsspalt, aber auch die Sorge, den Großvater womöglich nicht zu finden. Beides waren Erscheinungsformen von Leid. Konnte man diese mit der richtigen Einstellung wirklich vermeiden, wie es der Großvater angedeutet hatte?