Vom weisen und gottgefälligen Leben, das ist: Von der Unterscheidung der wahrhaften und der falschen Tugend - Albertus Magnus - E-Book

Vom weisen und gottgefälligen Leben, das ist: Von der Unterscheidung der wahrhaften und der falschen Tugend E-Book

Albertus Magnus

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Beschreibung

"Es gibt gewisse Fehler, welche vielfältig die Gestalt der Tugenden annehmen, um, obgleich sie wahre Fehler sind, für Tugenden gehalten zu werden. So hält man die Strenge für Gerechtigkeit; die Bitterkeit des Gemüts für Ernsthaftigkeit; die Geschwätzigkeit für Beredsamkeit; die Ausgelassenheit wird oft für geistliche Gemütsfreude gehalten (...) Ein mutwilliger Ankläger oder Tadler will ein Eiferer für die Gerechtigkeit, ein anderer, der alles hingehen läßt, will geduldig, und wieder ein anderer, der nicht Mut genug zum Ahnden und Bestrafen hat, will sanftmütig, gütig, oder friedfertig sein, und so von ähnlichen Fällen. Gleichwie aber mit falschen Münzen kein Gut erkauft werden kann, ebensowenig kann man mit falschen Tugenden zum Besitz des Himmels gelangen." Albertus Magnus In diesem tiefgehenden Werk des bekannten weisen Bischofs Albertus von Regensburg, wird in ungemeiner Scharfsichtigkeit die wahrhafte von der heuchlerichen Tugend geschieden und gezeigt, wie der aufrichtig Suchende, ein Gott wohlgefälliges Leben führen kann - ein Meisterwerk der Charakterkunde.

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Lebensgeschichte des seligen Albertus Magnus, Bischof zu Regensburg, statt eines Vorwortes.

DER selige Albert wurde im Jahre 1193 zu Lauingen an der Donau aus dem edlen Geschlecht der Herren von Bollstädt geboren. In Ansehung seiner tiefen Einsichten, besonders in die Lehre des Heils und seiner Tugenden, erhielt er ungesucht den Ehrennamen des Großen. Seine erste Erziehung und die Anfangsgründe in der höheren Bildung empfing er in seinem Vaterland. Als er später auf der Hochschule zu Padua den höheren Wissenschaften oblag, führte ihn Gott in die Bekanntschaft des seligen Jordan, General des Predigerordens. Dieser ermahnte ihn und flößte ihm Vertrauen und Mut ein, alle irdischen Neigungen, worin sein bisheriger Aufseher ihn vielmehr bestärkt hatte, zu besiegen und sich ganz der Nachfolge Jesu zu widmen. Zur leichteren Ausführung dieses Entschlusses trat Albert im Jahre 1223 in den Predigerorden des heiligen Dominikus.

Bald nachher ward er in mehreren Klöstern seines Ordens Lehrer. Unter den ersten Schulen, die durch seine große Weisheit und Tugend berühmt wurden, waren in Deutschland die zu Hildesheim und Regensburg. Später lehrte er mit allgemeinem Beifall zu Paris, ward 1249 Rektor und Lehrer der Theologie zu Köln, und im Jahre 1254 in Worms zum allgemeinen Ordensvorsteher in Deutschland, erwählt. Er durchwanderte zu Fuß in evangelischer Demut ganz Deutschland und verbreitete in allen Häusern seines Ordens reichlichen Segen durch weise Anordnungen.

Um diese Zeit wurde er vom Papst nach Polen gesandt, um die grausame Gewohnheit krüppelhafte Kinder zu töten, abzuschaffen, was ihm auch unter Gottes Segen gelang.

Als er im Jahre 1259 endlich die gewünschte Entlassung von seinem Vorsteheramt erhielt, widmete er sich wieder zu Köln ungeteilt dem Unterricht der studierenden Jugend, wodurch er der Kirche sehr viele würdige Priester und Lehrer bildete. Zu den würdigsten seiner vielen Schüler gehört der heilige Thomas von Aquin.

Bei seinen vielseitigen Kenntnissen und dem allgemein verbreiteten Ruf seiner Tugenden, bewahrte der fromme Ordensmann unwandelbar die Demut und strebte unermüdet nach Veredlung des Herzens und einer stets höheren christlichen Vollkommenheit. Das Gebet war die Quelle seines Trostes und seines immerwährenden Zunehmens in seinen Tugenden, sowie in der Erkenntnis des Guten, wovon diese Unterweisung in den christlichen Tugenden ein sprechender Beweis, und in Hinsicht seiner geistvollen Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Tugend, ein wahrer Tugendspiegel ist.

Im Jahre 1260 mußte Albert, auf Befehl des Papstes Alexander IV. nach der Wahl des Domkapitels zu Regensburg daselbst die Oberhirtensorge übernehmen. Der demütige Ordensmann, der nichts mehr wünschte, als in stiller Abgeschiedenheit zu leben und ungestört als Lehrer der Jugend die Liebe Jesu, zu verbreiten, mußte nun seine stillen Klostermauern und seine geliebte Schule verlassen, um in einem zerstreuenden Wirkungskreis einem großen Bistum vorzustehen.

Unbeschreiblich groß war die Freude der Geistlichkeit und des Volkes in Regensburg, einen so frommen, erleuchteten und in den Wegen des Heils erfahrenen Lehrer als Bischof zu empfangen. Um aller veranstalteten Ehrenbezeugung in seiner Demut zu entgehen, ging Albert zur Abendzeit unerkannt nach Regensburg und wohnte die Nacht über in einem Kloster bei seinen Ordensbrüdern. Am Morgen begab er sich ebenso still und unerkannt in die Domkirche, um den unsichtbaren Oberhirten um Licht und Segen zu seinem Beruf als Bischof anzuflehen.

So wie er seine heilige Pflicht in ihrer ganzen Ausdehnung kannte, suchte er sie auch vollkommen zu erfüllen. Um nicht von zeitlichen Sorgen zerstreut zu werden, übertrug er die Verwaltung seiner Einkünfte einem geprüften Mann und lebte allein nur seinem hohen Beruf als Seelenhirte. Er bereiste sein ganzes Bistum zu Fuß, daher er von einigen der Bischof mit den Stiefeln genannt wurde, um die Bedürfnisse der Gemeinden und ihrer geistlichen Vorsteher kennenzulernen. Nebstdem spendete er auch, zur Befestigung im Glauben und in der Liebe Jesu überall das heilige Sakrament der Firmung aus. Es blühte unter seiner oberhirtlichen Sorgfalt Zucht, echt christlicher Sinn und wahre Sittlichkeit.

Bei seinem zarten Gewissen fürchtete der fromme Albert, bei der Verantwortlichkeit als Bischof für so viele, sein eigenes Seelenheil zu gefährden, und suchte daher, nach zwei Jahren, als Papst Urban den heiligen Stuhl bestiegen hatte, die Befreiung von der so schwer auf ihm lastenden Oberhirtenpflicht, die er denn auch erlangte. Lange nachher war aber, des vielen Guten wegen, das Bischof Albert in Regensburg begründet hatte, sein Name dort noch in gesegnetem Andenken.

Albert lag von nun an zu Köln, in einem Kloster seines Ordens, wieder dem Unterricht der von ihm, nach dem Beispiel Jesu, so sehr geliebten Jugend ob. Aber selbst Fürsten und Bischöfe suchten bei ihm Belehrung und Trost.

In seinem hohen Alter ging Albert täglich zu seiner künftigen Grabstätte, bis ihn der Herr am 15. November 1280, im 87ten Jahr seines Alters, zu sich nahm. Seine irdische Hülle wurde vor dem Hochaltare in der Dominikanerkirche zu Köln beigesetzt.

Eingang.

ES gibt gewisse Fehler, welche vielfältig die Gestalt der Tugenden annehmen, um, obgleich sie wahre Fehler sind, für Tugenden gehalten zu werden.

1.

So hält man die Strenge für Gerechtigkeit; die Bitterkeit des Gemüts für Ernsthaftigkeit; die Geschwätzigkeit für Beredsamkeit; die Ausgelassenheit wird oft für geistliche Gemütsfreude gehalten; die Faulheit oder unordentliche Traurigkeit für Ernst der Tugend; die Gefühllosigkeit nennt man Mäßigung; üppige Kleiderpracht Reinlichkeit; übermäßigen Aufwand auf Nahrung und Bedienung – Standesgebühr; die Verschwendung Freigebigkeit, und den Geiz kluge Vorsicht; die Eigensinnigkeit hält man für Standhaftigkeit; die Schlauheit für Klugheit, und die Gleißnerei für Heiligkeit; der Sorglose in seinen Geschäften glaubt gelassen; der Vorsichtige umsichtig; der Prahler ehrliebend zu sein. Die Vermessenheit soll oft für Vertrauen, und die fleischliche Liebe für christliche Liebe gelten. Ein mutwilliger Ankläger oder Tadler will ein Eiferer für die Gerechtigkeit, ein anderer, der alles hingehen läßt, will geduldig, und wieder ein anderer, der nicht Mut genug zum Ahnden und Bestrafen hat, will sanftmütig, gütig, oder friedfertig sein, und so von ähnlichen Fällen. Gleichwie aber mit falschen Münzen kein Gut erkauft werden kann, ebensowenig kann man mit falschen Tugenden zum Besitz des Himmels gelangen.

2.

Es gibt auch einige natürliche Tugenden, die den Menschen gleichsam angeboren sind; als z. B. eine natürliche Demut, Güte, Eingezogenheit, Freigebigkeit, Barmherzigkeit, Geduld. Durch diese und dergleichen andere Tugenden verdient niemand eine ewige Belohnung, oder das Himmelreich, sondern allein durch die freiwillig geübten Tugenden.

3.

Ferner gibt es einige wirkliche Tugenden, welche von törichten Menschen für Fehler gehalten werden. So halten diese die Gerechtigkeit für Grausamkeit; den Ernst der Tugend für feindseligen Stolz; die Vorsichtigkeit für Geiz; die Standhaftigkeit für Hartnäckigkeit; und so urteilen sie von allen obengenannten Tugenden. Was aus Demut geschieht, glauben sie, geschehe wegen einer eitlen Ehre. Was man aus heiliger Absicht tut, als habe man es zum Schein und aus Gleißnerei getan. Der wirkliche Eifer für die gerechte Sache muß bei ihnen Rachsucht, die wirkliche Liebe Feindseligkeit und Haß sein. Die geistliche Zuneigung wird für eine fleischliche Liebe gehalten, und Handlungen, aus reinster Meinung wird die Absicht zeitlicher Vorteile untergelegt.

Und so verfahren sie mit jeder Tugend. Da es nun nicht leicht ist, zwischen Schein und Tugend zu unterscheiden, und da es bei jeder Tugend Grade gibt, welche Anfangs aus bloßer Freigebigkeit Gottes der Seele eingegossen werden, die als eine freie Gabe angeeignet und in Wirksamkeit gesetzt, und als freitätige Tugend zur Vollkommenheit gebracht werden sollen: So haben wir vor allem unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, welche die wahren und vollkommenen Tugenden seien, die den Menschen allein vor Gott wohlgefällig machen, und zwar zuerst auf die Liebe, welche die Mutter und Zierde aller Tugenden ist.

Inhalt.

Von der Liebe zu Gott.

Von der Demut.

Von dem Gehorsam gegen Gott.

Von der Geduld.

Von der Armut.

Von der Keuschheit.

Von der Abtötung.

Von der Weisheit.

Von der Starkmütigkeit.

Von der Gerechtigkeit.

Von der Selbstbeherrschung.

Vom dem Mitleid.

Vom Frieden.

Von der Barmherzigkeit.

Von der Einigkeit.

Von der Standhaftigkeit.

Von der Freigebigkeit.

Von der Wahrhaftigkeit.

Von der Sanftmut.

Vom Glauben.

Von der Hoffnung.

Von der Furcht.

Von der Fröhlichkeit.

Von der Traurigkeit.

Von der Dankbarkeit.

Von dem Seeleneifer.

XXVII. Von der Freiheit.

Von der Religion.

Von der Ernsthaftigkeit.

Von der Einfalt.

Von der Verschwiegenheit.

Von der Einsamkeit.

Von der Betrachtung.

Von der Bescheidenheit.

Von der Teilnahme.

Vom Vertrauen.

Von der Verachtung der Welt.

Von der Abtötung.

Von der Reue.

Von der Beichte.

Von der Buße.

Von der Beharrlichkeit.

Schlußrede.

I. Kapitel.

Von der Liebe zu Gott.

1.

DIE Liebe zu Gott ist dann eine wahre und vollkommene Liebe, wenn die Seele nach allen ihren Kräften und mit ganzer Inbrunst sich in Gott ergießt, ohne dabei einen zeitlichen oder ewigen Vorteil zu suchen, sondern allein durch seine Güte, Heiligkeit, Vollkommenheit und in ihm wohnende Seligkeit zu Gott hingezogen wird. Eine zartfühlende Seele hält es gleichsam unter ihrer Würde, Gott nur wegen einem Vorteil, oder einer Belohnung zu lieben; so wie Gott sich mit seiner ganzen Kraft in die Seele des Menschen ergießt, ohne von ihr irgendeinen Vorteil zu erwarten, sondern ihr nur seine in sich begreifende Seligkeit mitteilen will. Wer aber Gott liebt, weil er gütig gegen ihn ist; und hauptsächlich bloß darum, damit er ihm seine Glückseligkeit mitteile, dessen Liebe ist offenbar nur eine natürliche und unvollkommene (eigennützige) Liebe.

2.

Zur wahren Liebe führt nur die wahre Erkenntnis Gottes. Denn in ihm ist alles liebenswürdig, nämlich: die Hoheit, Heiligkeit, Macht, Weisheit, Gütigkeit, Schönheit und Vorsichtigkeit, usw. Überdies ist die Liebe Gottes gegen uns ewig, unermeßlich, unveränderlich und getreu, und reizend zur wahren Liebe.

3.

Wie die wahre Liebe geübt werden soll, zeigt Christus bei Johannes1 mit diesen Worten an: Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist’s, der mich liebt. Der heilige Augustin bezeugt dies also: „So viel“, sagt er, „lieben wir Gott, als viel wir seine Gebote halten.“ Dies ist auch von den freiwilligen Gelübden zu verstehen, die auf gleiche Weise, wie die Gebote, verpflichten. Auf gleiche Weise redet auch der heilige Gregorius: „Schaut in euer Innerstes hinein, geliebteste Brüder, und forscht nach, ob ihr Gott wahrhaft liebt. Glaubt nicht, daß es so ist, sollte euch euer Innerstes was immer aufweisen, ohne Vorzeigung der Werke.“ Über die Liebe des Schöpfers muß die Zunge, das Gemüt und das Leben zur Rechenschaft gezogen werden. Die Liebe zu Gott ist niemals müßig. Denn sie wirkt Großes, wo sie ist; wo sie aber nicht wirkt, da ist sie nicht. Dieses tätige Wirken und diese Beobachtung der Gebote müssen aber die gehörige Richtung durch die Meinung erhalten, damit es weder aus Furcht der Strafe, noch der Belohnung wegen geschehe. So bezeugt der heilige Augustin: „Derjenige liebt Gott, der nicht darum seine Gebote hält, weil er durch die Schärfe der Strafe, oder durch den Reiz der Belohnung dazu angetrieben wird, sondern darum, weil das, was Gott befohlen hat, gut und löblich ist.“ Es gibt noch zwei andere Zeichen der wahren Liebe zu Gott: Nämlich, wenn der Mensch freudigen Anteil nimmt an allem, was Gott wohlgefällig ist, es mag dies von wem immer, was immer, oder wo immer geschehen. Denn die bloß natürliche Liebe verdient bei Gott kein Lob, weil sie immer nur sich selbst und den eigenen Nutzen im Auge hat; wohl aber die uneigennützige, welche den Vorteil eines anderen beabsichtigt. Das andere Zeichen ist es wenn der Mensch sich betrübt über alles, was Gott mißfällig ist, es mag dies wann, wo, wie oder von wem immer geschehen.

Von der Liebe des Nächsten.

1.

Die wahre Nächstenliebe verlangt, seinen Nebenmenschen zu lieben, wie sich selbst, sei er Freund oder Feind, wie auch der heilige Augustin sagt: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst, nämlich in Gott, um ihn zu Gott zu führen, und wegen Gott. Denn so soll jeder seinen Nächsten lieben, wie sich selbst Wie er sich das Gute wünscht, und das Übel sieht, so muß er auch für seinen Nächsten gesinnt sein.“ Oder mit anderen Worten: Wie jeder sein eigenes Gut an Leib und Seele, an Glück und Ehre liebt, und wie jeder in diesen vier Rücksichten allen eigenen Schaden und jedes Übel flieht, und verabscheut, ebenso muß jeder alle jene Güter seines Nächsten, er mag sein Freund oder Feind sein, lieben, und jeden Schaden desselben hassen, obgleich er dem Gebot gemäß nicht schuldig ist, eine so große und so starke Neigung zum Nebenmenschen zu haben, wie zu sich selbst.

Aus der Liebe zu einem Freund läßt sich die wahre Nächstenliebe nicht ermessen. Denn auch die Heiden lieben jene, von denen sie geliebt werden. Aber in der Liebe zum Feind zeigt sich die wahre Nächstenliebe. Einen Liebenden lieben, ist Sache der Natur, wobei man aber keinen Verdienst hat. Aber einen lieben, der nicht liebt, das tut nur die Gnade. Noch einleuchtender wird die Wahrheit der Nächstenliebe dargetan in der Erklärung über Matthäus, welche also heißt: Einen Liebenden lieben, ist die Eigenschaft der Natur; einen nicht Liebenden aber durch Wohltaten zur Liebe vermögen, das ist dem Vollkommenen eigen. Und wenn schon niemand, gemäß dem Gebot, verpflichtet ist, einen Feind so sehr und so innig zu lieben, wie einen Freund; – glückselig und höchstvollkommen jedoch wäre derjenige, der den Feind ebensosehr, ja noch mehr lieben, und ihm so viele Liebeswerke erweisen könnte, wie dem Freund; dem Bestrafenden und Ahndenden, wie dem Schmeichelnden; dem Tadelnden, wie dem Lobenden; weil, nach dem Zeugnis des heiligen Chrysostomus, die Menschen durch nichts Gott so ähnlich werden, als wenn sie gegen Boshafte und Beleidiger versöhnlich sind. Gewiß mehr Gnaden und eine größere Glorie erlangt man durch die Verfolgungen, als durch die Gunstbezeugungen der Welt. So haben die heiligen Märtyrer zu ihrer ewigen Glorie mehr Vorteil gezogen von ihren Feinden, als Freunden.

2.

Zur Liebe des Nächsten soll uns anleiten die Natur; denn jedes Tier liebt seinesgleichen, wie denn auch der Mensch den Nächsten liebt, sowohl weil er das Ebenbild Gottes an ihm findet, als auch, weil es die Heilige Schrift gebietet.

3.

Die Forderungen der wahren Nächstenliebe sind: Warmen Anteil nehmen an jedem widrigen Geschick des Feindes, wie des Freundes; und sich wahrhaft und herzlich freuen bei dem Wohlergehen des einen, wie des anderen. Dies sind aber in der Welt äußerst seltene Erscheinungen.

4.

Der wirkliche Haß gegen den Nebenmenschen gibt sich zu erkennen, wenn man, ohne Verdruß an seinen Nächsten nicht denken kann; wenn man vom Unwillen befallen wird, sobald man ihn sieht; wenn man mit Heftigkeit mit ihm, oder von ihm spricht, oder reden hört; wenn man sein Fortkommen und was ihm zum Vorteil wäre, verhindert, soviel man kann; wenn man seine guten Eigenschaften verkleinert und schlecht macht. Dies hat Christus, unser Herr, seinem Verräter Judas nicht getan, der ihn zurzeit, als die Verräterei schon verabredet war, nebst seinen anderen geliebten Aposteln, mit seinem Fleisch und Blut speiste, der ihm bei der wirklichen Verräterei den Kuß nicht versagte, und ihn sogar freundlichst grüßte, mehr trauernd über dessen Sünde, als über seine Gefangennehmung, wie der heilige Hieronymus sagt. Aber sonderbar ist es, daß sich mancher schmeichelt, er liebe seinen Nächsten, der doch diese Zeichen des Hasses in seinem Herzen umherträgt. Viele meinen, es sei schon genug, wenn sie ihrem Nebenmenschen das ewige Leben wünschen, das sie ihm weder geben, noch nehmen können, und das sie wohl auch den Juden und Heiden wünschen mögen: sie denken aber nicht daran, daß Christus sein Leben für seine Feinde hingegeben habe, und daß auch wir verpflichtet seien, nicht nur zu lieben, sondern im Notfall auch unser Gut und Leben für unsere christlichen Brüder zu opfern. Vorzüglich sind aber die Vorgesetzten dazu verpflichtet.

5.

Auf zweifache Weise wird die Liebe unterhalten: Und zwar die Liebe zu Gott: Durch die Beobachtung der Gebote, gemäß jenen Worten: Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben; so wie auch ich die Gebote meines Vaters beobachte und in seiner Liebe. bleibe.2 Die Liebe des Nächsten durch Teilnahme, gemäß jenem Spruch des Predigers: Unterlasse nicht die Weinenden zu trösten; und wandle mit den Trauernden. Es verdrieße dich nicht, den Kranken zu besuchen; denn dadurch wirst du in der Liebe gestärkt werden.3

1 Joh. 14, 21.

2 Joh. 15, 10.

3 Jes. Sir. 7, 38, 39.

II. Kapitel.

Von der Demut.

1.

DIE Demut ist dann wahrhaft und vollkommen, wenn die erwiesene Ehre verachtet, und ihre Erweisung auch nicht verlangt wird. Ein wahrhaft Demütiger fürchtet immer, es möchte ihm eine Ehre erwiesen werden; und wenn sie ihm erwiesen wird, erschrickt er darüber und wird innigst betrübt, weil er weiß, daß nur Gott allein Ehre und Ruhm gebühre. Ein wahrhaft Demütiger rühmt sich nicht weniger irgendeiner Ehre oder Gnade, außer er beabsichtigt hierbei, den Zuhörern ein Vertrauen auf Gott einzuflößen. Wird aber in seiner Gegenwart etwas Rühmliches von ihm, oder von einer Gnade, die er besitzt, erzählt, so wird sein Herz dabei verwundet, und er wird niedergeschlagen, weil er wohl weiß, daß dies Gott allein angehöre, was ihm zugeschrieben wird, Gott allein die Ehre gebühre. Ein wahrhaft Demütiger mißt sich mit niemand, weder mit einem größeren, noch mit einem minderen, noch mit seinesgleichen: vielmehr hält er niemand geringer als sich selbst; er verachtet niemand als nur sich selbst; und verlangt auch von allen verachtet zu werden; er hält es für seine größte Freude, wenn er verachtet wird. Ein solcher fürchtet keine Unbilde und geizt nach keiner Ehre. Mancher verdemütigt sich auf verstellte Weise und sein Innerstes ist voll von Schalkheit.4 Aber der wahre Demütige will nach dem Zeugnis des heiligen Bernhards für verächtlich gehalten und nicht demütig genannt werden. Der die Demut liebt muß die Wurzel der Demut in sein Herz pflanzen, nämlich er muß seine eigene Gebrechlichkeit erkennen, daß er einsehe, nicht nur, wie schwach er sei, sondern auch wie tief er fallen könnte; ja, wie tief er heute noch fallen würde, wenn ihn nicht Gott durch seinen mächtigen Beistand von der Sünde bewahrte, und ihm die Versuchungen und Gelegenheiten entzöge. Hier kann sich jeder erkennen und einsehen, daß er, gemäß seiner Gebrechlichkeit fähig sei, in den Abgrund jeder Sünde zu stürzen, wie der Prophet sagt: Deine Demütigung, hat in dir selbst ihren Grund.5

2.

Zur wahren Demut führt die öftere Ausübung verächtlicher Arbeiten; denn die Heilige Schrift sagt: Derjenige gelangt niemals zur Tugend der Demut, welcher die Werke der Demut scheut.

3.

Bei der wahren Demut erhält sich der Mensch durch die gründliche Erkenntnis, er könne weder eine fleischliche, noch geistliche Versuchung überwinden; noch weniger ein gutes und Gott wohlgefälliges Werk verrichten, ohne besondere Gnadenhilfe unseres Herrn Jesu Christi.

4.

Die wahre Demut erweist sich wenn der Mensch sich selbst so erniedrigt, daß er sich aller Gnaden unwürdig fühlt, und sich auch nicht einmal getraut, um eine Gnade zu bitten; wenn er eine, ihm von Gott, ohne sein Verlangen, zuteil gewordene Gnade, mit Furcht empfängt. Ja, es scheint ihm lobwürdiger zu sein, die Gnade Gottes nicht haben, als sie besitzen, der er sich so oft in mancher Hinsicht unwürdig gemacht, sie mißbraucht, und von der er niemals, nach der Anordnung Gottes, den rechten Gebrauch gemacht habe. Ferner ist es ein Beweis von wahrer Demut, wenn man allzeit den letzten Platz, die geringste Gesellschaft, das niedrigste Amt und die schlechteste Kleidung sucht.

5.

Der Hochmut kann auf eine doppelte Weise erkannt werden. Durch äußerliche Zeichen gemäß jenem Spruch: Der Anzug, das Lachen und der Gang verraten den Menschen.6 So sagt auch der heilige Augustin: „Ein guter oder böser Baum wird aus seiner guten oder bösen Frucht erkannt, weil alle Handlungen aus dem Herzen – aus der Gesinnung hervorgehen. Gleichwie ein guter oder übler Geruch aus dem unverdorbenen oder verdorbenen Magen aufsteigt, je nachdem gute oder schlechte Sachen in demselben liegen“; und gleichwie nach dem Zeugnis des heiligen Augustins, ein freches Auge ein unzüchtiges Herz verrät, so verraten die äußerlichen Zeichen die innerliche Gesinnung der Menschen. Die inneren Zeichen, durch welche sich die Hoffart erkennen läßt, sind: Wenn jemand im Herzen sich selbst gefällt, sich anderen vorzieht und ihnen vorgezogen zu werden verlangt, und wenn er durch seine Handlungen das Wohlgefallen der Menschen sucht und wünscht. Ein solcher stimmt mit dem demütigen Lehrmeister, Jesus Christus, nicht überein, der nicht das ihm Angenehme, sondern nach dem Zeugnis des Apostels Paulus, die Schmach vor Menschen, und Leiden im Auge hatte, der nicht gekommen ist, zu gebieten, sondern untertänig zu sein, wie er selbst sagt: Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen.7 Darum wird ein solcher Lehrer die Gebeine jener Schüler (nach dem Ausdruck des Psalmisten) welche nicht Gott, sondern den Menschen zu gefallen suchen, zerstreuen, und sie werden zuschanden werden, weil Gott sie verachtet hat.8

4 Jes. Sir. 19, 23.

5 Mich. 6, 14.

6 Jes. Sir. 19, 27.

7 Matth. 20, 28.

8 Ps. 52, 7.

III. Kapitel.

Von dem Gehorsam gegen Gott.

1.

DER wahre und vollkommene Gehorsam gegen Gott besteht darin, daß der Mensch ernstlich und oft bedenke, was am meisten, zu jeder Zeit und überall Gott gefalle, und wozu ihm Gottes weise Vorsehung bestimmt habe, und daß er nach allen Kräften sich bestrebe, seiner Bestimmung allzeit zu entsprechen.

Vom Gehorsam gegen die Vorgesetzten.

2.