Von der Anmut der Welt - Tilmann Haberer - E-Book

Von der Anmut der Welt E-Book

Tilmann Haberer

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gott - neu gedacht

Das Reden von Gott ist problematisch geworden, alte Gottesbilder tragen nicht mehr und viele Menschen wenden sich vom Christentum ab. Dem setzt dieses Buch Neues entgegen. Auf der Grundlage der integralen Theorie Ken Wilbers u.a. und des Buches »Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird« beschreibt Tilmann Haberer die zentralen Inhalte und Begriffe der christlichen Theologie – Gott, Christus, Mensch, Sünde, Erlösung, Auferstehung usw. – so, dass sie auch den Menschen des 21. Jahrhunderts etwas zu sagen haben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 468

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Provokative Denkanstöße für eine Rede von Gott, die in das 21. Jahrhundert passt.

Das Reden von Gott ist problematisch geworden. Alte Gottesbilder tragen nicht mehr und viele Menschen wenden sich vom Christentum ab. Dem setzt dieses Buch Neues entgegen. Auf der Grundlage der integralen Theorie von Ken Wilber u. a. sowie des Buches »Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird« beschreibt Tilmann Haberer die zentralen Inhalte und Begriffe der christlichen Theologie wie Gott, Christus, Mensch, Sünde, Erlösung, Auferstehung so, dass sie auch den Menschen des 21. Jahrhunderts etwas zu sagen haben.

Tilmann Haberer, geboren1955, evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger und systemischer Berater. Nach langjähriger Tätigkeit als Gemeindepfarrer in einer Münchner Citykirche sieben Jahre lang freiberuflicher Seelsorger, Journalist, Übersetzer und Autor. Von 2006 bis 2021 evangelischer Leiter der ökumenischen Krisen- und Lebensberatungsstelle »Münchner Insel«.

Tilmann Haberer

VON DER

Anmut

DER WELT

Entwurf einer integralen Theologie

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.

Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Francesco83 – shutterstock.com

ISBN 978-3-641-27337-8V001

www.gtvh.de

Manchmal ist mir,

also hörte ich Gott leise und vergnügt lachen

angesichts meiner tapsigen Versuche,

Gott zu beschreiben.

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Warum und für wen ich dieses Buch schreibe

Kapitel 1: Theologie, ein unmögliches Geschäft – wie können wir überhaupt von Gott reden?

Was ist Gott?

Entwickelt sich Gott? oder: Immer weitere Bewusstseinsräume

Gott 1.0 – BEIGE

Gott 2.0 – PURPUR

Gott 3.0 – ROT

Gott 4.0 – BLAU

Gott 5.0 – ORANGE

Gott 6.0 – GRÜN

Die zweite Etage

Gott 7.0 – GELB

Gott 8.0 – TÜRKIS

Gott 9.0 – KORALLE

Vier Perspektiven auf die Wirklichkeit

Woher wissen wir von Gott?

Das Konzert der Religionen

Kapitel 2: Von Gott und der Welt

Schöpfung 7.0 – die Evolution Gottes, Quantenmechanik und schwarze Löcher

Mehr als alles

Gott wird Fleisch

Alles ist (fast) nichts

Meine persönliche Schöpfungsgeschichte

Dreins – Gott als Schöpfer, Gott als Schöpfung, Gott als Kommunikation

Die ewige Wahrheit …

… ist konkret

Der Atem Gottes

Die Rede des toten Christus und die Mündigkeit der erwachsenen Kinder Gottes

Ist Gott gerecht?

Kapitel 3: Jesus Christus

Der Mann aus Nazareth

Der große Unbekannte

Noch einmal: Der Mann aus Nazareth

Die historische Frage

Christus, der Sohn Gottes

Mensch oder Gott?

Die Göttlichkeit des Menschen Jesus

Paulus, der Mystiker

Der leidende Gott

Kapitel 4: Sich selbst ein Rätsel – der Mensch

Das sprechende Säugetier

Gottes Ebenbild

Inkarnation – Gott wird Welt

Theosis – der Mensch wird Gott

Ich bin

Unbewusst bewusst

… und wenn ja, wie viele?

Bin ich wirklich?

Macht das Gehirn die Seele?

Wie es sich anfühlt

Oben links

Kein Ich, nirgends …

Panpsychismus

Kapitel 5: Sünde und Erlösung – ein kosmisches Drama in mehreren Akten

Betriebssystem und Arbeitsprogramme

1. Akt: Geschaffen als Gottes Ebenbild

2. Akt: Der »Sündenfall«

3. Akt: Die Erlösung

Das kosmische Drama reloaded: Sünde 7.0

Geboren in die Zweiheit

Liebe oder Angst

Ziel verfehlt

Erlösung – wovon eigentlich?

Schlafes Bruder

Die endlose Wiederkehr

Reinkarnation in der Bibel?

Auferstehung der Toten

Ein neues Bild: Rückkehr ins Große Ganze

Erlösung 7.0

Eine anmutige Freundin

Ochs und Esel

Die Liebe

Kapitel 6: Das Letzte und das Vorletzte

Noch einmal: die Liebe

Freiheit und Verantwortung

Den Glauben leben

Ehrenrettung der Translation

Gemeinsam statt einsam

»Schafft eine, zwei … viele Inseln!«

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort

Zugegeben: Es ist verwegen, von der Anmut der Welt zu sprechen, und das im Jahr zwei der Corona-Pandemie. Krankheit, Hunger, Krieg, Folter, Gewalt gegen Kinder, Frauen und Männer, dazu Hurricanes, Erdbeben, Vulkanausbrüche, das Fressen-und-gefressen-Werden in der Natur und so vieles mehr scheint eine krass andere Sprache zu sprechen.

Und doch: Die Rede von der Anmut der Welt berührt eine Sehnsucht in uns, den Traum, dass es anders sein könnte. Diesen Traum, der Menschen immer wieder dazu beflügelt, hinauszuwachsen über sich selbst, über Angst, Gier und Selbstbespiegelung. Ach, könnte das wahr sein: eine Welt der Anmut, der Poesie und der Liebe!

Und das ist ja auch wahr. Es gibt nicht nur das Grauen, es gibt nicht nur Tod und Verderben. Und es kommt wesentlich auf unsere Perspektive an, was wir in der Welt sehen. Ob es uns gelingt, in all dem Schrecklichen das Herrliche zu sehen – oder zumindest zu erahnen. Es braucht den Blick der Liebe und das Vertrauen, dass das nicht alles ist, was wir mit unseren physischen Augen erblicken.

Dieses Buch ist eine Einladung, die Perspektive zu wechseln. Den anderen Blick einzuüben. Sich einzulassen auf die Tiefe des Seins, von dem die Religionen seit jeher erzählen und singen. Ohne die Augen zu verschließen vor dem, was schrecklich ist, lade ich Sie ein, anders auf Gott und die Welt zu schauen, und meine Hoffnung ist es, dass die Anmut der Welt immer wieder aufscheint. Bruchstückhaft, wie in einem dunklen Spiegel. Und doch wirklich. Mehr als wirklich.

München, im Advent 2020

Tilmann Haberer

Einleitung: Warum und für wen ich dieses Buch schreibe

Sie war Ende zwanzig, stammte aus einem evangelischen Pfarrhaus und hatte gerade ihre Promotion abgeschlossen. Nun saß sie mir gegenüber in der Krisenberatungsstelle und war den Tränen nahe. Ein naher Verwandter, kaum älter als sie selbst, war vor Kurzem an Krebs gestorben, und das war nicht der einzige tragische Todesfall in der Familie. »Und wo ist da Gott?«, fragte sie mich und sah mich mit hoffnungslosem Blick an. Im weiteren Gespräch wurde deutlich: Im Grunde hatte sie nie ihren Kinderglauben abgelegt – diesen Gauben an den »lieben Gott«, der im Himmel wohnt, auf seine Kinder aufpasst und sie vor Unheil bewahrt. Obwohl sie in ihrem geisteswissenschaftlichen Studium gelernt hatte, alles kritisch zu hinterfragen, hatte sie ihr Gottesbild nie einer Revision unterzogen. Gott, das war für sie der beschützende Vater, der auch schon mal ein Wunder tut, wenn ihn seine Kinder nur inbrünstig genug darum bitten.

Dieser Gott hatte, so schien es, versagt. Und so saß sie da, diese kluge junge Frau, und fragte: Hat es überhaupt Sinn zu leben, wenn unser Leben ständig so gefährdet ist, wenn sich Leid und Krankheit und Tod selbst in einer Familie, deren Mitglieder doch so intensiv an Gott glauben und so integer leben, so ballen? Ich konnte zunächst nichts anderes tun, als ihr einen Raum für ihre Trauer zu öffnen. Nach einiger Zeit begann ich dann vorsichtig, ihr Gottesbild zu hinterfragen. Konnte es nicht sein, dass Gott vielleicht anders sei, als wir das als Kinder gelernt hatten, und dass Gott dennoch nicht aufhört, Gott zu sein?

Was ich in der Begegnung mit dieser jungen Frau beobachtete, ist etwas sehr Typisches: Ich erlebe oft Menschen, die in existenziellen Krisen ihren Glauben grundsätzlich infrage stellen, weil die religiösen Vorstellungen, denen zu vertrauen sie gelernt haben, nicht mehr tragen. Sie würden gerne glauben, können es aber nicht mehr. Damit gesellen sie sich zu denen, die auch ohne existenzielle Not mit den hergebrachten religiösen Vorstellungen des Christentums nichts mehr anfangen können. Auch wenn sie sich nach einer erfüllenden religiösen Form sehnen, können sie mit den alten religiösen Bildern und Normen nichts mehr anfangen. Entstammen diese nicht allzu fernen Zeiten? Kann man heute noch glauben wie im Mittelalter und der Reformationszeit?

Für diese Menschen schreibe ich dieses Buch. Es plädiert für ein Christentum und ein christlich geprägtes Denken, das der geistigen Wirklichkeit der Gegenwart nicht mehr nur hinterherhinkt (oder sich ängstlich dagegen abschottet), sondern das Gespräch mit dieser Wirklichkeit aufnimmt und mehr noch: diese weiter- und vorwärtsdenkt. Wie wäre es, wenn Christen ihre alten, bewährten Inhalte in die neuen Kontexte stellten und sie so ganz überraschend und spannend neu sprechen ließen? Wenn die alten Inhalte anfingen, in neuem, unerhörtem Glanz zu strahlen, weil die Krusten des traditionell- mythischen Denkens abgeputzt wurden und ein integrales Denken in ihnen eine aufregende Bewegung entdeckt?

Dieses Buch unternimmt einen Versuch in diese Richtung und nimmt auf, was ich in dem Buch »Gott 9.0 – wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird« gemeinsam mit Marion und Tiki Küstenmacher begonnen habe.1 In Gott 9.0 geht es um die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und damit einhergehend um die Entwicklung der Bilder und Vorstellungen, die Menschen von Gott haben. Seit das Buch im Herbst 2010 erschienen ist, lässt mich die Idee nicht los, die zentralen Begriffe und Ideen der christlichen Lehre – Gott, Schöpfung, Jesus Christus, Erlösung, Auferstehung und so weiter – auf der Basis des post-postmodernen, integralen Bewusstseins, das wir im Kapitel 7 von Gott 9.0 skizziert haben, in der Perspektive unseres Ansatzes neu zu deuten. Ich versuche, den Kern der christlichen Botschaft so zu formulieren, dass ein Mensch von heute verstehen kann, worum es geht, ohne sich deswegen auf ein antiquiertes Weltbild einlassen zu müssen. Und ich bin der Überzeugung, dass wir bei diesem Versuch eine Menge aufregende Entdeckungen machen und spannende Einsichten gewinnen werden. Machen Sie sich mit mir auf den Weg!

Kapitel 1: Theologie, ein unmögliches Geschäft – wie können wir überhaupt von Gott reden?

»Einen Gott, den ›es gibt‹, gibt es nicht« – In diesem häufig zitierten und häufig missverstandenen Satz Dietrich Bonhoeffers sind die Anführungszeichen bei »es gibt« das Entscheidende. Einen Gott, den »es gibt«, gibt es nicht. Bonhoeffer schreibt diesen Satz nicht aus Unglauben, sondern aus einem tiefen Glauben daran, dass Gott unsere Begriffe von Existenz und Nicht-Existenz überschreitet. Gott gibt es, das will Bonhoeffer klar machen, nicht in der Weise, wie es eine Teekanne, ein Känguru oder das Universum gibt. Gott liegt jenseits unserer Begriffe von Existenz und Nicht-Existenz.

Aber was bedeutet das? Kann man, wenn Bonhoeffers Satz gilt, von Gott überhaupt reden? Ist Gott nicht ein unmöglicher Gegenstand, etwas, worüber man gar nicht objektiv sprechen kann? Ist also dann nicht die Theo-logie, das »Reden von Gott« oder die »Lehre von Gott« ein ganz und gar unmögliches Geschäft?

Ich denke, ganz so unmöglich ist es nicht, von Gott zu sprechen, auch wenn es ihn nicht »gibt«. Die Lösung ist ziemlich einfach. Natürlich können wir als endliche, begrenzte Wesen das Unendliche niemals mit unseren Worten angemessen oder gar erschöpfend beschreiben. Wir können aber – und das will ich hier versuchen – über die Bilder und Vorstellungen sprechen, die Menschen seit jeher mit dem Begriff »Gott« verbinden. Wir sprechen also nicht über »Gott an sich«, sondern über unsere Gottesbilder. Warum das so ist, werden wir im Verlauf dieses Kapitels genauer sehen.

Was also meinen wir, wenn wir das Wort »Gott« benutzen?

Was ist Gott?

Von dem amerikanischen Theologen Marcus J. Borg gibt es auf YouTube einen schönen kurzen Vortrag mit dem Titel »What is God?«1 Der Titel überrascht. Borg fragt nicht: »Wer ist Gott?«, sondern »Was ist Gott?« Und dann erzählt er, er habe in seiner Kindheit und Jugend unter dem Wort Gott ein Wesen verstanden. Ein höchstes Wesen, irgendwie vom Universum unterschieden und doch in gewisser Weise auf das Universum bezogen. Später, erzählt Borg, fing er an, Gott anders zu verstehen. »Sehr knapp ausgedrückt, begann ich, mir Gott vorzustellen als allumfassende Wirklichkeit oder, wenn man so will, als allumfassenden Geist. Wenn ich das Wort Geist verwende, meine ich damit allerdings nicht etwas von der Welt radikal Unterschiedenes, sondern eher etwas, das die Welt erfüllt und durchdringt.«

An dem, was Borg hier beschreibt, wird zweierlei deutlich. Zum einen: Wenn wir von Gott reden, reden wir von unseren Bildern, von den Vorstellungen, die wir von Gott haben. Diese Vorstellungen oder Gottesbilder können ganz verschieden sein. Wir können uns Gott vorstellen als höchstes Wesen, das »über« der Welt thront oder in einem »Jenseits« lebt und von dort aus permanent oder auch nur von Zeit zu Zeit in diese Welt eingreift. Dieses Gottesbild nennt man »theistisch«. Eine andere Möglichkeit ist, Gott als die tiefste Wirklichkeit, als »allumfassenden Geist«, der alles durchdringt und erfüllt, zu beschreiben. Eine Vorstellung, die man »panentheistisch« nennt. Das Zweite, das bei Borg sichtbar wird ist: Es gibt nicht nur verschiedene Gottesbilder, sondern diese verändern sich auch. Und dies nicht nur im Laufe eines Menschenlebens wie bei Marcus Borg, sondern auch im Laufe der Menschheitsgeschichte.

Wie sich die Vorstellungen von Gott im Lauf der religiösen Entwicklung der Menschheit verändert haben und wie sich diese Wandlungen in der Bewusstseinsentwicklung jedes Menschen heute noch wiederfinden lassen, das habe ich in unserem Buch »Gott 9.0« zusammen mit Marion und Tiki Küstenmacher beschrieben. Nach wie vor halte ich dieses Modell für ausgesprochen hilfreich, wenn wir danach fragen, wie wir von Gott reden können und was wir meinen, wenn wir von Gott reden. Darum will ich es im Folgenden kurz skizzieren, möchte zuvor aber auf die Grundideen eingehen, die dem Modell zugrunde liegen.

Entwickelt sich Gott? oder: Immer weitere Bewusstseinsräume

Diese Grundideen sind untrennbar verknüpft mit einem ungewöhnlichen Mann und seiner Arbeit: Ken Wilber. Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia bezeichnet ihn einfach als »Autor«. Sein Studium der Biochemie hat Ken Wilber kurz vor dem Examen abgebrochen, 24-jährig veröffentlichte er sein erstes Buch unter dem Titel »Das Spektrum des Bewusstseins«. Seitdem beschäftigt er sich ausschließlich mit der Frage, wie sich menschliches Bewusstsein entwickelt, und manche nennen ihn heute den »Einstein der Bewusstseinsforschung«. Ken Wilber lebt eher zurückgezogen in seinem Haus in Boulder/Colorado. Er tritt kaum öffentlich auf, doch hat er zahlreiche Vorträge und Gespräche auf YouTube veröffentlicht.

Einen guten Einstieg in sein Denken bietet sein Buch »Mut und Gnade«. Es ist Wilbers persönlichstes Werk. Es dreht sich um zwei Themen: zum einen um die Krebserkrankung seiner Frau Treya, deren Tagebuchaufzeichnungen einen großen Teil des Buchs ausmachen. Sie sind ein bewegendes Zeugnis vom vergeblichen Kampf gegen die Krankheit. Am Ende steht der Bericht über Treyas Tod. Eingeflochten in dieses Thema stellt Wilber seine Beobachtungen und Reflexionen über die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vor und darin zeigt sich für mich sein ganzes Genie.

Wilber geht nämlich ganz ungewöhnlich vor. Im akademischen Bereich kommt es normalerweise darauf an, eine eigene These zu finden und zu untermauern, um etwas zu sagen, das noch nie jemand so gesagt hat. Forschenden geht es in der Regel um die Konkurrenz der Gedanken und Ideen.

Anders bei Ken Wilber: Er denkt integrierend. Er sucht in den verschiedenen Denkrichtungen und -schulen nach Gemeinsamkeiten, nicht nach dem, worin sie sich unterscheiden. Bekannt ist sein Satz: »Niemand ist schlau genug, sich ständig zu irren (nobody is smart enough to be wrong all the time).« Das heißt: In (fast) jeder Meinung steckt ein Teil Wahrheit. Wenn zwei oder mehrere Autoren, Denker oder Diskutanten in einigen Punkten übereinstimmen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass in dieser Übereinstimmung eine Wahrheit liegt, als die Vermutung, dass eine einzelne, abweichende Meinung die ganze Wahrheit enthalten könnte. Diese Suche nach der gemeinsamen, zugrunde liegenden Wahrheit im Bereich von Religion und Spiritualität macht Ken Wilbers Werk so besonders.

Denn nicht nur im akademischen Bereich steht die Konkurrenz der Ideen im Vordergrund. Auch spirituelle Systeme konkurrieren. Jede Religion, jede Konfession, jede einzelne Strömung und Unterströmung hält ihren eigenen Ansatz für allein wahr. Kann es aber tatsächlich sein, dass nur eine Religion, nur eine Konfession oder spirituelle Schule Recht hat – und alle anderen irren? Das wollte schon der junge Ken Wilber nicht glauben. Seit seinem ersten Buch »Das Spektrum des Bewusstseins« verfolgt er deshalb den Ansatz, die verschiedenen geistigen und spirituellen Schulen und Bewegungen in ein Spektrum zusammenzuführen – eben zu integrieren. Jede von ihnen hat Anteil an der Wahrheit. Jede ist »true, but partial«, wahr, aber unvollständig. Das heißt, jede Lehre enthält einen Teil (der) Wahrheit, aber die ganze Wahrheit ist immer viel größer.

So können nach Wilber verschiedene religiöse Lehren nebeneinander bestehen, die jede für sich (teilweise) wahr sind. Keine Religion kann die volle, umfassende Wahrheit für sich beanspruchen. Denn Religionen sind menschliche Versuche, Gott zu begreifen. Unvollkommene Versuche, denn ein Gott, der von Menschen begriffen werden könnte, wäre kein Gott.

Wilber betont aber noch zwei weitere Sachverhalte.

Zum einen hält er fest, dass Religionen und spirituelle Systeme einer fortschreitenden Entwicklung unterliegen: Es gibt archaische Religionen, in denen Blutopfer dargebracht und Regenzauber durchgeführt werden, und es gibt Religionen mit ausgefeilten wissenschaftlich-theologischen Systemen, Zeremonien und spirituellen Praktiken wie im Buddhismus oder im Christentum. Man kann die unterschiedlichen Stufen dieser Entwicklung auf einem Zeitstrahl anordnen. Die älteren Religionen sind dann die weniger komplexen, die rituell und in ihrem Weltbild differenzierteren Religionen die, die menschheitsgeschichtlich später auftreten. Die unterschiedlichen Ansätze kommen also in gewisser Weise nacheinander. Das ist allerdings ein modellhaftes Denken. Tatsächlich existieren unterschiedlich komplexe religiöse und spirituelle Lehren und Gemeinschaften gleichzeitig, also nebeneinander, und das nicht nur in verschiedenen Gegenden der Welt, sondern auch mitten unter uns.

Was für Religionen gilt, gilt ähnlich auch für die, die sie ausüben. Auch das menschliche Bewusstsein kennt aufeinanderfolgende Stufen der Entwicklung. Das ist ein weiterer Punkt, den Wilber hervorhebt. Die Ansätze von Jean Piaget oder Erik H. Erikson, von Lawrence Kohlberg oder James Fowler, von Sri Aurobindo oder Jean Gebser beschreiben diese Bewusstseinsentwicklung. Wilber befragt diese Theorien in der Perspektive seines integrierenden Ansatzes und versucht, die gemeinsamen Wahrheiten in diesen verschiedenen Ansätzen zu beschreiben.

Die verschiedenen Stufen der Bewusstseinsentwicklung sowohl in der Geschichte der Menschheit wie auch in der Lebensgeschichte jedes Menschen sind in einem System, das sich »Spiral Dynamics« nennt, erhellend abgebildet. Es wurde von Don Beck und Christopher Cowan auf der Basis der Forschungsarbeit ihres Lehrers, des amerikanischen Sozialpsychologen Clare Graves (1914–1986) entwickelt, und Ken Wilber favorisierte es lange Zeit als das am besten geeignete unter den konkurrierenden Systemen.2

Seit etwa 2005 begann ich, mich in das Werk Ken Wilbers einzulesen, und war fasziniert. Ich traf hier auf ein Denken, von dem ich intuitiv wusste, dass es auch der christlichen Spiritualität neue Impulse geben könne. Wie könnte man diese Spur aufnehmen und diese Ideen im christlichen Umfeld fruchtbar machen?

In einem Gespräch mit meiner ehemaligen Studienkollegin Marion Küstenmacher stellte sich heraus, dass sie an denselben Fragen herumkaute, dieselben Bücher gelesen hatte und ebenfalls auf der Suche war nach jemanden, mit dem sie sich darüber austauschen konnte. Sie erzählte, dass sie mit ihrem Mann Tiki schon daran gedacht habe, ein Buch zu schreiben, in dem sie die Theorie von Ken Wilber und besonders das Modell »Spiral Dynamics« auf die christliche Theologie und Spiritualität, auf Kirchen- und Theologiegeschichte anwenden wollten. Am Ende dieses Gesprächs war der Plan geboren, dieses Buch zu dritt anzugehen, und zwei Jahre später erschien »Gott 9.0 – wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird«. Nach mittlerweile neun Auflagen darf man wohl zu Recht behaupten, dass es ein Standardwerk geworden ist. Wie wir dort die Schritte der spirituellen Entwicklung des Menschen darstellen, das will ich nun – wie angekündigt – zusammenfassend darstellen.

Zuvor aber noch eine letzte Vorbemerkung: Leserinnen und Leser von Gott 9.0 haben sich manchmal an dem Begriff »Stufen« gestoßen. Ich kann das verstehen. Denn dieser Begriff ruft unweigerlich die Assoziation einer Rangordnung hervor: Wer höhersteht, ist irgendwie »besser«. Aber darum geht es nicht. Es gibt kein »höher, weiter, besser« in der spirituellen Entwicklung. Deswegen spreche ich statt von »Stufen« mittlerweile lieber von »Bewusstseinsräumen«. Räume liegen nebeneinander, sie können weiter oder enger sein, die weiteren können die engeren umschließen, und man kann sich von einem Raum in einen anderen begeben.

In Vorträgen gebrauche ich auch gern das Bild der Baumscheibe, auf der die Jahresringe zu erkennen sind. Die ältesten Erfahrungen des Baums sind im Kern, in den innersten Ringen aufbewahrt, im Lauf seiner Entwicklung legen sich weitere Ringe um den Kern. »Weiter« ist hier durchaus im wörtlichen Sinn zu verstehen: Sie sind umfassender, haben einen größeren Umfang, enthalten mehr Material. Aber alle Schichten sind für den Baum lebensnotwendig. Wenn der Kern wegfaulen würde, wäre der Baum krank und würde absterben. So wie der Baum seine früheren Erfahrungen und »Schichten« in sich aufbewahrt, so tragen auch wir Menschen die früheren Erfahrungen und Bewusstseinsschichten in uns. Und manchmal greifen wir auf sie zurück oder fallen in sie zurück. Es ist also beileibe nicht so, dass wir, wenn wir einmal eine Bewusstseinsstufe erklommen haben, dann »dort oben« sind und alles andere hinter uns gelassen haben.

Die Bewusstseinsräume kennzeichnen wir – neben den »Versionsnummern« 1.0 bis 9.0 – mit einem Farbsystem, das wir ebenfalls von Don Beck und Christopher Cowan übernommen haben. Diese haben die Farben rein intuitiv gewählt, ohne sich an einem bestimmten System zu orientieren, etwa am Regenbogen oder an einer farbpsychologischen Skala. Ich werde bei den einzelnen Farben jeweils die Erklärung von Beck/Cowan wiedergeben, weshalb sie sich für diese jeweilige Farbe entschieden haben.

Und nun geht’s los!

Gott 1.0 – BEIGE

Vor Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Hominiden, die Menschenartigen, aus denen im weiteren Verlauf der Evolutionsgeschichte der Homo sapiens hervorging. Menschen unterschieden sich von den Tieren durch den Gebrauch von Werkzeugen und von Feuer und vermutlich auch dadurch, dass sie in komplexeren Sprachen miteinander kommunizierten.

Die ersten Menschen leben im Raum BEIGE (die Farbe nimmt Bezug auf die Savanne, durch die die Urhorde streift). In diesem ersten Raum geht es nur ums Überleben und die Lebenshaltung ist ähnlich der eines Neugeborenen. Es geht in erster Linie um die Befriedigung der Grundbedürfnisse Nahrung, Schlaf, Wärme, Sauberkeit und Geborgenheit. Für einen Säugling sichern die Eltern die Befriedigung dieser Bedürfnisse, für die Menschen der Urhorde tut dies die sie umgebende Natur, mit der sie ein Gefühl der All-Verbundenheit verbindet.

Dieses Gefühl – und das unterscheidet die ersten Hominiden fundamental von den Tieren – weist auch über den Tod hinaus. Zwar trauern auch Elefanten und Wale um ihre toten Verwandten, aber anders als diese hat der Mensch schon früh eine Vorstellung vom Tod und von einem Danach. Er weiß nicht nur, dass er sterben wird, er kann auch darüber nachdenken, dass er weiß, dass er sterben wird.3 Diese Reflexion über den Tod, die Ausdruck findet in Bestattungsriten, die schon bei ganz frühen Hominiden nachgewiesen werden können, das ist etwas schlechterdings Neues, bisher nie Dagewesenes.

Gott 2.0 – PURPUR

Aus der Urhorde entstehen Clans oder Stämme, ein paar Dutzend Menschen, alle untereinander verwandt. Die Verbindung zur Natur ist eng. Die Menschen glauben, durch ihr Verhalten Naturphänomene beeinflussen zu können. Durch magische Beschwörungen, Rituale, Tänze rufen sie Regen herbei und versuchen, Unheil abzuwenden. Manche Menschen haben ein Totemtier, in das sie sich nachts verwandeln können. Die Toten sind nicht im Himmel oder in der Hölle, sondern führen im angrenzenden Wald oder in der Wüste jenseits des Flusses eine Schattenexistenz. Von dort aus können sie segensreich oder schädlich in das Leben der Lebenden eingreifen. Der Clan muss ihnen opfern, um sie gnädig zu stimmen. Es gibt Tabus – bestimmte Dinge, die man nicht tun, und Orte, die man nicht betreten darf. Und nicht nur die Toten leben »nebenan«, die ganze Welt ist voll von Geistern – guten und bösen.4 Sie alle müssen mit Opfern und Ritualen bei Laune gehalten werden. In diesem Bewusstseinsraum gibt es noch keinen »Gott« in unserem Sinn, es gibt kein »höchstes Wesen«.

Auf der Ebene des Individuums bildet PURPUR5 die Kleinkind-Phase der menschlichen Entwicklung ab. Kleine Kinder glauben an den Osterhasen und ans Christkind6, manche haben einen unsichtbaren Freund, den nur sie selbst sehen. Die Puppen und der Teddybär sind lebendig, und wenn man eine »Donnerblume« abbricht, donnert es.

Menschen im PURPURNEN Raum sind ganz und gar angewiesen auf die Gemeinschaft; ohne die Gruppe können sie nicht überleben. Bei einem Kleinkind ist das unmittelbar einsichtig, aber auch Angehörige von Stammeskulturen, die von ihrem Stamm getrennt werden, können kaum überleben.7 In dieser Phase wurzeln unsere stärksten Bindungen. Weil die ältesten Beziehungen die tiefsten Spuren eingraben, sind familiäre Bindungen selbst in unserer Zeit oft die intensivsten – in Liebe und Hingabe ebenso wie in Abgrenzung bis hin zum Hass.

In PURPUR haben die Menschen also noch kein stark entwickeltes Ich-Bewusstsein. Sie verstehen sich als »Tochter bzw. Sohn von XY«8, ihre Individualität tritt hinter die Gruppenzugehörigkeit zurück. In ihrem sozialen Bewusstsein sind sie eins mit dem Clan, in ihrer magischen Welt eins mit der Natur.

Gott 3.0 – ROT

Dann aber erwacht das Ich. Im Alter zwischen zwei und drei Jahren beginnt ein Kind plötzlich, »ich« zu sagen. Es beginnt, sich als eigenständiges Individuum zu begreifen, und entdeckt seine Innenwelt – zuallererst seinen Willen. Genervte Erwachsene sprechen dann von der »Trotzphase«, doch diese Zeit ist ganz wesentlich und unverzichtbar für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit. Nicht nur, dass das Kind seine eigenen Fähigkeiten kennenlernt (»selber machen!«), es lernt auch, sich gegenüber der Umwelt zu behaupten (»Ich will aber!«).

Menschheitsgeschichtlich ist ROT die Epoche, in der aus dem engen Zusammenhalt im Clan zunächst Einzelne aufbrechen, um zu erkunden, was jenseits der Grenzen des Bekannten liegt. Sie suchen neue Jagd- oder Weidegründe. Wenn sie auf andere Stämme stoßen, kann das zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Es beginnt eine sehr kriegerische Zeit. Das Ich muss sich mit Macht konsolidieren, oft eben auch mit Gewalt. Es ist die Zeit der Helden – charismatischer Einzelgestalten wie Achill, Siegfried, Gideon oder Saul, wie David oder Samson. Teile der Hebräischen Bibel spiegeln dieses Welt- und Menschenverständnis wider, und Christen, die eher die Bergpredigt mit dem Gebot der Feindesliebe als Grundlage ihres Glaubens betrachten, tun gut daran, sich zu vergegenwärtigen, dass die biblischen Bücher Josua, Richter und die Samuel- Bücher in einer Zeit entstanden sind, in der Krieg, Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren.9

In diese Welt zeichnen die Menschen ihre Erfahrungen mit Gott ein – ihrem Gott, der sie befreit und für sie sorgt. Dass dabei andere Menschen oder Völker dran glauben müssen, stört ein ROTES Bewusstsein nicht.

Der biblische Gott ist in der ROTEN Epoche noch ein Gott neben anderen. Die anderen Völker haben andere Götter, und das ist normal und in Ordnung so. Israel aber darf nur diesen einen Gott anbeten und nur ihm dienen – ansonsten drohen drakonische Strafen. Der Gott Israels, wie er in den Schichten der Hebräischen Bibel, die aus dieser Phase stammen, dargestellt wird, unterscheidet sich nicht viel von den olympischen Raubeinen der homerischen Epen.

Bezogen auf die Bewusstseinsentwicklung, ist die ROTE Phase unverzichtbar – und nicht nur in der Entwicklung eines Kindes. Jede Gesellschaft braucht Menschen mit einem guten Anteil an gesundem ROT: Sie sind die wagemutigen Entdecker und die Forscher, die nicht vor Selbstversuchen zurückschrecken; sie sind die Zeugen für das, was sie als wahr erkannt haben (Luther: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!«), und Märtyrer der guten Sache (wie Dietrich Bonhoeffer, der sich im Widerstand gegen Hitler engagierte und dafür den eigenen Tod bewusst in Kauf nahm). ROT steht für Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Ichbezogenheit, aber eben auch für Leidenschaft, Expansionsdrang, Ichstärke, Unbeugsamkeit, Lust und Opferbereitschaft. Weshalb Beck und Cowan dafür die Farbe ROT gewählt haben, versteht sich, wie ich meine, von selbst.

Gott 4.0 – BLAU

Irgendwann kommt der kleine Mensch in die Schule. Und spätestens hier ist eine Fähigkeit gefragt, die ihm in der ROTEN Phase noch abgeht: Die kleine Emma-Sophie und der kleine Paul-Luis müssen sich in eine Gruppe einordnen können, sie müssen sich an Regeln halten und können nicht mehr spontan ihren Impulsen nachgeben. Gut, wenn sie das schon zu Hause oder in der Kita gelernt haben. Denn nun werden aus den kleinen individualistischen Trotzköpfen Mitglieder eines Klassenverbands. Sie müssen Regeln beachten, die sie nicht selbst aufgestellt haben, müssen sich Anordnungen fügen und Aufgaben bewältigen, die nicht immer nur vergnüglich sind. Kurz: Sie sind aus der ROTEN Welt in die BLAUE gewechselt. Das Ich, das sich in der ROTEN Phase herausgebildet hat, wird beim Übergang nach BLAU nicht ausgelöscht, aber es wird in einen größeren Zusammenhang hineingestellt. Es schult Fähigkeiten wie Triebverzicht und Impulskontrolle – soziale Eigenschaften, die das Ich nicht einschränken, sondern differenzieren und erweitern.

Menschheitsgeschichtlich beginnt in BLAU die Zeit der großen Königreiche: Babylon, Ägypten, die chinesischen Kaiserdynastien. Für die nächsten viertausend Jahre in der Menschheitsgeschichte stellt das BLAUE Bewusstsein den weitesten, umfassendsten Bewusstseinsraum dar. Ein ROTER Häuptling oder Stadtkönig kannte noch all seine Untertanen persönlich, er saß selbst »im Tor« und entschied Rechtsstreitigkeiten unter seinen Untertanen nach seinem Gutdünken, denn schriftlich fixierte Gesetze gab es noch nicht. Doch das ägyptische oder das chinesische Reich sind so groß, dass der Pharao oder der Kaiser es unmöglich durch seine physische Anwesenheit regieren kann. Ein solches Reich braucht eine Verwaltung, eine Hierarchie, Beamte und Priester. Es braucht neue Kulturtechniken: ohne Schrift und ohne Mathematik kein Staat.

Und nicht nur das staatliche Leben wird geordnet durch Gesetze und Hierarchien. Auch auf dem Gebiet der Religion kehrt Ordnung ein. Aus dem bunten, manchmal chaotischen Haufen von Göttern mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und teilweise sehr menschlichen Eigenschaften wird nun ein streng gegliedertes, hierarchisches System von Göttern, Engeln und Dämonen, das sich in der irdischen Hierarchie von Priesterkasten und Tempeldienern widerspiegelt.

Doch dann geschieht etwas völlig Neues. In Israel, genauer: Als sich die israelitische Priesterelite im babylonischen Exil befindet, entsteht ein geradezu verwegener Gedanke. Ein Theologe oder eine theologische Schule, deren Texte sich im Buch Jesaja in den Kapiteln 40 bis 59 finden und die deswegen als Deuterojesaja (der »zweite Jesaja«) bezeichnet wird, spricht zum ersten Mal den Gedanken aus, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Eine revolutionäre Idee wird geboren – der Monotheismus: nicht nur, dass Israel nur diesen einen Gott anbeten und keinem anderen als ihm dienen darf. Nein, es gibt nur diesen einen Gott. Alle anderen Götter sind bloße Einbildung, Schimären, Nichtse.

Dieser eine Gott hat die Welt geschaffen und mit ihr die Menschen, die Menschen sind zu Gehorsam verpflichtet, der aus Liebe entspringt – natürlich ein sehr patriarchales Bild, das in einer patriarchalen Gesellschaft entstanden ist. Gott hat Gesetze erlassen und die Priester oder die Schriftkundigen legen dazu die Ausführungsbestimmungen fest. Das war so in Israel und ist im Grunde in vielen Kirchen bis heute so. Gott wohnt im Himmel (daher die Farbe BLAU), sieht und hört von dort alles, was die Menschen tun, sagen und denken, auch wenn es kein Mensch sonst mitbekommt. Dieser BLAUE Gott 4.0 ist es, der auch heute den meisten Menschen einfällt, wenn sie das Wort Gott hören: ein männlicher, strenger, gerechter, fordernder Gott, allmächtig, allwissend, unbestechlich. Am Ende der Zeit wird er Gericht halten und die Sünder von den Frommen scheiden. Im BLAUEN Bewusstseinsraum spielen Gegensätze eine große Rolle: Sünder versus Gerechte, drinnen versus draußen, wir versus die anderen.

Diesen Gott hatte die Studentin verloren, von der ich in der Einleitung erzählt habe. Diesen Gott bekämpfen die Atheisten. Dieser Gott wird in vielen Texten der kirchlichen Liturgie angesprochen. Aber, und das ist entscheidend wichtig, dieses Bild von Gott ist nicht das einzige und nicht das letzte, das wir in der Entwicklung des Bewusstseins kennenlernen.

Gott 5.0 – ORANGE

Das große Weltgericht, das endgültige Urteil über ewiges Leben oder ewige Verdammnis, das ist eine Schattenseite von BLAU. Über jedem Kirchenportal konnte man das Weltgericht sehen und sich ordentlich fürchten. Diese Furcht trieb Anfang des 16. Jahrhunderts einen jungen Augustinermönch fast in den Wahnsinn – bis er eine Entdeckung machte: Gott verurteilt nicht, sondern schenkt seine Liebe, umsonst und ohne dass wir sie uns verdienen müssen. Der Name des Mönchs: Martin Luther. Seine Entdeckung fasste er in 95 Thesen, die er der Legende nach an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte. Die BLAUE Kirche erkannte darin Aufruhr und Ketzerei, Luther wurde vorgeladen, um sich zu verteidigen. Auf dem Reichstag in Worms 1521 erschien er vor dem Kaiser und den versammelten Kurfürsten, dem päpstlichen Nuntius sowie etlichen Bischöfen und sagte mit ROTER Entschlossenheit: »Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, … kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.«

Hier haben wir etwas Neues. Zwar passt die Berufung auf die Heilige Schrift noch durchaus ins BLAUE Weltbild, aber dann beruft sich Martin Luther auf die Vernunft. Gegen die versammelte staatliche und kirchliche Autorität stellt sich dieser einzelne Mann und beruft sich auf seine Vernunft und sein Gewissen. Darin zeigt sich der nächste, weitere Bewusstseinsraum, ORANGE.

Luthers Auftritt in Worms ist nicht denkbar ohne Renaissance und Humanismus. Nach Jahrhunderten einer festgefügten BLAUEN Weltordnung wurde im 15. Jahrhundert die antike Philosophie wiederentdeckt. Die Araber hatten sie vor den Wirren der Völkerwanderung bewahrt und tradiert. Ohne die islamischen Gelehrten hätten wir heute keine Kenntnis von Sokrates, Platon und Aristoteles. Es gäbe möglicherweise gar keine Moderne – so viel am Rande zur Frage, ob der Islam zu Europa gehört. Europäische Philosophen feiern die »Wiedergeburt« (Renaissance) der Antike.

Auch in der bildenden Kunst tut sich Bemerkenswertes: Waren bis dato auf Altarbildern und Kirchendecken fast ausschließlich Heilige vor goldenem oder blauem Hintergrund zu sehen, so werden nun biblische Szenen in eine aufwändig und kunstfertig perspektivisch gemalte Landschaft platziert. Ja, Renaissancemaler wie etwa Albrecht Dürer schaffen Bilder, die gar keinen religiösen Inhalt haben: ein Rasenstück, den berühmten Hasen. Nicht mehr fromme Kontemplation, sondern genaue Beobachtung der Natur steht hinter den Bildern. Und nicht mehr Gott, sondern der Mensch ist das Maß aller Dinge. Dieser Satz, der ursprünglich auf den griechischen Philosophen Protagoras zurückgeht, wird zum Leitspruch der Renaissance und begründet eine ganz neue Denkrichtung: den Humanismus.

Das autonome Ich emanzipiert sich zunehmend von Autoritäten. Die Naturwissenschaft sagt sich los von der kirchlichen Bevormundung, blüht auf und beginnt, die Welt zu entzaubern. In ihrer Folge geht die Technik daran, die Welt umzugestalten. Mit der Erfindung der Dampfmaschine beginnt die Industrialisierung.10 Elektrizität, Verbrennungsmotor, Rundfunk und Telefon, schließlich Atomkraft, Fernsehen und – als vorläufiger Höhepunkt – das Internet und die Digitalisierung fast aller Lebensbereiche verändern die Welt in einer Weise, die sich die Humanisten in der Renaissance nicht ansatzweise hätten vorstellen können.

Das neue Denken hat auch Auswirkungen auf den Glauben. Religiöse Aussagen werden hinterfragt und kritisiert, die Bibel wird als ein Stück Literatur in historischer Perspektive betrachtet. Die Widersprüche, die sich in ihr finden, werden nicht mehr fromm wegerklärt, sondern bieten Anlass zur historisch-kritischen Forschung. 400 Jahre nach Luther findet diese ihren Höhepunkt im Konzept der Entmythologisierung: 1941 schreibt der Marburger Theologieprofessor Rudolf Bultmann die Worte: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.« Den Gott im Jenseits, der von außen eingreift, gibt es nicht mehr. Schon 60 Jahre vorher hatte Friedrich Nietzsche den Schlachtruf »Gott ist tot!« in die Welt posaunt. In der Tat ist das der extreme Ausdruck ORANGER Religionskritik, und er bestimmt heute einen guten Teil des öffentlichen Bewusstseins: Laut einer jüngeren Umfrage11 glauben 38 Prozent der Deutschen nicht an Gott, in Ostdeutschland sind es sogar 73 Prozent.

An einen theistischen Gott zu glauben ist in ORANGE wirklich schwer – wenn auch nicht ganz unmöglich. Hamlets Satz »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt« kann als Ausdruck eines ORANGEN Bewusstseins verstanden werden, das bei aller Aufgeklärtheit auch die Grenzen der eigenen Erkenntnis in den Blick nimmt. Auch der berühmte Ausdruck »jenes höhere Wesen, das wir verehren« aus Heinrich Bölls Satire »Dr. Murkes gesammeltes Schweigen« zeugt von einer solchen Skepsis gegenüber der eigenen Skepsis und eröffnet die Möglichkeit, »irgendwie« einen Gott 5.0 für möglich zu halten. »Irgendein höheres Wesen muss es doch geben!«

Eine andere Möglichkeit, auch in ORANGE an einem religiösen Glauben festzuhalten, ist die persönliche Beziehung zu Jesus, dem strahlenden Sieger über Unheil und Tod. Das autonome, ORANGE Ich ist sehr an Erfolg und Leistung orientiert, und der Auferstandene ist in gewisser Hinsicht der ultimativ erfolgreiche Leistungsträger. Charakteristisch für viele charismatische und neuevangelikale Gemeinden ist die Betonung der Herrlichkeit und Macht Jesu, während sein Tod am Kreuz kaum in den Blick kommt.

Im individuellen Leben zeigt sich ORANGE meist in der Pubertät, wenn sich das heranwachsende Ich gegen vermeintliche oder tatsächliche Bevormundung auflehnt, seine Selbstständigkeit betont und seine neu gewonnenen intellektuellen Fähigkeiten durch manchmal ätzende Kritik an Eltern und anderen Autoritätspersonen oder Institutionen ins Spiel bringt.

ORANGE wirft allerdings auch einen dunklen Schatten, der uns heute immer mehr ins Bewusstsein dringt. Das Streben nach Erfolg und Profit führt zur rücksichtslosen Ausbeutung der Natur – Umweltkatastrophen, Erderwärmung, Plastikteppiche in den Ozeanen sind ein beredter Ausdruck ORANGER Blindheit gegenüber den negativen Folgen der eigenen gnadenlosen Profitgier.

Gott 6.0 – GRÜN

Als Gegenbewegung zu ORANGE, das als kalt, rational, technokratisch, unmenschlich empfunden wird, bildet sich ein neues Bewusstsein heraus, das auf ökologische Zusammenhänge Wert legt – die Farbe GRÜN ist nicht zufällig gewählt – und menschliche Wärme an die Stelle von kühler Rationalität setzt. Es wendet sich gegen das einseitige Leistungsdenken und legt Wert darauf, dass alle mitkommen – auch diejenigen, die irgendwie gehandicapt sind. Harmonie, Ganzheitlichkeit, Kreativität werden zu entscheidenden Werten. Die Psychologie tritt das Erbe der Physik als Leitwissenschaft an. Die Innerlichkeit wird wieder neu entdeckt und mit ihr auch die Spiritualität – ein mittlerweile inflationär gebrauchter Begriff, oft in Abgrenzung zu »Religion« eingesetzt. Religion wird dann verstanden als verknöcherte, dogmatisch erstarrte Institution, Spiritualität dagegen als lebendige Erfahrung.

Erfahrung, das ist die neue Währung. In den 1960-ern machten sich die Beatles nach Rishikesh auf, um bei Maharishi Mahesh Yogi das Meditieren zu lernen, in Esalen und an anderen Orten der amerikanischen Westküste wurden Yoga, Zen und Vipassana entdeckt. Das Musical »Hair« feiert nicht nur die Bewusstseinserweiterung durch Drogen, sondern auch durch Meditation – Hare Krishna, Hare Rama, Krishna Krishna, Hare Hare. Katholische Ordensleute wie Hugo Makibi Enomiya Lasalle, Bede Griffiths oder Willigis Jäger gehen nach Japan oder Indien und lernen dort Zen oder Advaita Yoga. Und sie erkennen, dass die eigene christliche Tradition durchaus Ähnliches bereithält. Die Mystik wird wiederentdeckt.

Das ist nicht nur eine katholische Angelegenheit. Ich kann mich noch erinnern, wie ich eines Tages im Jahr 1975 mit offenem Mund vor dem Schaufenster einer theologischen Buchhandlung stand und das neue Buch von Dorothee Sölle da liegen sah. Dorothee Sölle war die Begründerin des Politischen Nachtgebets in Köln, Autorin des Buches »Atheistisch an Gott glauben« (1968) und eine der profiliertesten Vertreterinnen der »Gott-ist-tot-Theologie«. ORANGE durch und durch. Und nun sah ich da in der Auslage ihr neues Buch mit dem Titel »Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung«12. Die Sölle – und religiöse Erfahrung? Ich kaufte das Buch sofort und fand neben einer anrührenden Auslegung der Geschichte von Elia am Horeb (wo ihm Gott begegnet als die »Stimme eines verschwebenden Schweigens«) und einer Untersuchung über die deutsche Mystik auch eine Anleitung zur Meditation – meines Wissens eine der ersten im protestantischen Raum. Ja, wenn wir Gott nicht mehr als »guten Vater überm Sternenzelt« sehen können, wenn er nicht mehr im Jenseits wohnt, vielleicht finden wir ihn dann in unserem Inneren, im tiefsten Grund unserer Seele. Das ist die Bewegung, die vom ORANGEN Atheismus zur GRÜNEN Mystik führt, oder zumindest führen kann. Zwangsläufig ist hier nichts, es gibt auch GRÜNEN Atheismus.

Denn GRÜN ist nicht nur sensibel und harmoniebedürftig. Das postmoderne GRÜN erkennt auch, dass jede Aussage ihren Sinn erst von dem Kontext erhält, in dem sie steht, und auch von dem Kontext der Person, die sie hört oder liest. Es gibt keine absoluten Wahrheiten mehr, Sinn wird nicht mehr vorgefunden, sondern konstruiert. Ja, sogar die Realität hat keine absolute Bedeutung mehr in sich, vielmehr ist auch die Realität abhängig von dem Kontext dessen, der sie erlebt. Konsequenterweise wird nun auch die Theologie »kontextualisiert«, es gibt feministische, schwarze, koreanische oder afrikanische Theologie, Theologie der Befreiung, Theologie als Interaktion. Nichts ist mehr selbstverständlich »einfach so« gegeben. Alles wird relativiert, alles wird pluralistisch.

Statt von Gott spricht man in GRÜN gerne von »dem Göttlichen«, man betet nicht mehr »Vater unser«, sondern »Gott, unsere Mutter und unser Vater«. Ökumene wird in GRÜN erst richtig möglich, wobei die Ökumene der christlichen Konfessionen nur eine Vorstufe der interreligiösen Begegnung und Zusammenarbeit ist. Unter dem Motto »Wir glauben doch alle an denselben Gott« werden Unterschiede gerne auch mal nivelliert.

Während in ORANGE das autonome Ich triumphiert, geht es in GRÜN eher darum, das Ich oder besser das »Ego« zu überwinden. Es wächst die Erkenntnis, dass das Ich für sich allein gar nichts ist. Es ist immer eingebettet in unterschiedlichste Zusammenhänge, und überhaupt ist es nur deshalb so geworden, wie es ist, weil es diesen und jenen Einflüssen ausgesetzt ist. Das stolze Empfinden der Autonomie, das das ORANGE Ich erfüllt, weicht der eher demütigen Erkenntnis: Aus mir selbst bin ich nichts, vielmehr bin ich durch die Umstände, durch meine Erziehung, durch Glück oder Pech so geworden, wie ich bin. Der Unterschied zu BLAU liegt darin, dass sich die Person, das Individuum in ORANGE voll herausgebildet hat, und das geht in den weiteren Räumen nicht verloren. Das an der Gemeinschaft orientierte und weitgehend von ihr abhängige Individuum in BLAU ist also eher prä-personal, GRÜN dagegen transzendiert die individuelle Person erstmalig, es empfindet trans-personal. Das Ich löst sich nicht auf in der Gemeinschaft, sondern es versteht sich als Bezugspunkt vielfältiger Einflüsse und Beziehungen.

Die zweite Etage

Mit der nächsten Stufe, GELB, betreten wir den sogenannten zweiten Rang oder die zweite Etage, häufig mit dem englischen Ausdruck Second Tier (engl.: zweite Schicht) bezeichnet. Hier gibt es eine Neuerung, die GELB und die weiteren Räume grundlegend von denen des ersten Rangs (First Tier) unterscheidet. Denn die Räume des ersten Rangs beanspruchen für sich oft Ausschließlichkeit, halten jeweils sich selbst für das »einzig Wahre«. Darum werden vor allem die benachbarten Räume oft heftig kritisiert. BLAU setzt sich nach »unten« von dem rohen, ungehobelten ROT ab und nach »oben« von dem »kalten«, rationalistischen ORANGE. ORANGE hingegen kritisiert das »dogmatische« BLAU ebenso wie das »gefühlsduselige« GRÜN, und so weiter. Die Räume des Second Tier können dagegen erstmals die Wichtigkeit, ja Unentbehrlichkeit jedes einzelnen Raums an seinem Ort erkennen und seinen Wert für das Ganze, also für die gesamte Entwicklung schätzen. Sie müssen ursprünglichere Räume nicht mehr bekämpfen oder entwerten, sondern können sie in ihrem relativen Wert achten. Das Unterfangen, das wir hier in diesem Buch oder bei der Beschäftigung mit Gott 9.0 betreiben, ist erst möglich, wenn sich GELB zumindest kognitiv bis zu einem gewissen Maß herausgebildet hat.

Allerdings ist das mit Unsicherheiten verbunden, denn bis GRÜN können die Räume relativ klar beschrieben werden. GRÜN gibt es in ersten Ansätzen ja schon seit der Romantik, also etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts, und als voll ausgeformten, »bewohnbaren« Bewusstseinsraum etwa seit den 1960ern, also seit gut 50 Jahren. GRÜN ist gesellschaftlich und politisch wirksam, man kann es im täglichen Leben studieren, begreifen und beschreiben. Für die früheren Räume gilt das natürlich in noch weit größerem Ausmaß: ORANGE hat gut 500 Jahre auf dem Buckel, BLAU gar ein paar Jahrtausende – von den noch ursprünglicheren Räumen ganz zu schweigen.

Im Gegensatz dazu sind die Räume des Second Tier teilweise noch kaum entwickelt. Der Bewusstseinsraum 7.0, GELB, der etwa seit der Jahrtausendwende erkennbar wird, zeichnet sich schon relativ deutlich ab. Doch über TÜRKIS (8.0) oder gar KORALLE (9.0) lässt sich seriös noch nicht viel sagen. Vieles muss hier spekulativ bleiben, unscharf und vorläufig, und nach meiner Überzeugung ist viel weniger GELB und TÜRKIS in der Welt unterwegs, als manche das gerne hätten.13

Gott 7.0 – GELB

Um ein Buch wie dieses zu schreiben, um es zu lesen und zu verstehen, brauchen wir ein gewisses Maß an Second-Tier-Denken, sprich: Wir müssen zumindest im kognitiven Bereich schon etwas im GELBEN Bewusstseinsraum zu Hause sein. GRÜN kann, bei aller Liebe und Toleranz, sehr unbarmherzig urteilen über die, die seine Werte nicht teilen. Und das gilt für alle davorliegenden Räume in gleicher Weise. Ihnen allen fehlt die Möglichkeit, sich von sich selbst zu distanzieren und einen wertschätzenden Blick auf die gesamte Entwicklungsgeschichte zu werfen. GELB kann demgegenüber differenzieren, etwa zwischen den segensreichen Wirkungen einer BLAUEN Straßenverkehrsordnung und dem rigiden Autoritätsgebaren von ungesundem BLAU. GELB kann unterscheiden zwischen der Ich-Stärke, dem großen Geschenk des ROTEN Bewusstseinsraums, und der zerstörerischen Aggressivität, die seine Schattenseite darstellt. GELB erkennt, dass man mit GRÜNEM Team-Play keinen Feuerwehreinsatz organisieren kann, sehr wohl aber einen runden Tisch zur einvernehmlichen Lösung großer Probleme, oder dass man mit BLAUEM Eifer zwar einen Gesetzeskodex aufstellen, aber keine Friedensgespräche führen kann, die auf eine Win-win-Situation hinauslaufen, bei der alle zu ihrem Recht kommen sollen.

Das ist möglich, weil das GELBE Bewusstsein es nicht nur aushält, wenn Widersprüche unaufgelöst nebeneinander stehen bleiben, sondern solche Situationen geradezu liebt. Es hat erkannt, dass sich die Wirklichkeit in vielen Bereichen nur paradox beschreiben lässt. GELB kann erkennen und zugeben, dass meistens alle Recht haben – allerdings jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen können. Hier kommt Ken Wilbers Ansatz true, but partial zur vollen Geltung.

Gestützt wird diese Haltung durch die moderne Physik. Ausgerechnet die »ORANGESTE« aller Wissenschaften weiß schon seit hundert Jahren, dass sich die Wirklichkeit nur paradox beschreiben lässt. Das lässt sich am Licht leicht zeigen. Was ist das Licht? Ein Strom von kleinsten Teilchen, die wie Materiekügelchen agieren, also fest und begrenzt sind? Oder eine immaterielle Welle im Raum, die sich gleichmäßig nach allen Seiten ausbreitet, sich brechen und mit anderen Wellen interferieren kann? Die Antwort lautet: Ja.

Licht ist ein Strom von Teilchen, und Licht ist eine Welle, je nachdem, wie wir es beobachten, unter welcher Fragestellung wir es untersuchen. Auf der subatomaren Ebene wird das Entweder-oder unseres logischen Verstandes in vielen Fällen ersetzt durch ein Sowohl-als-auch oder ein Je-nachdem. Es entsteht ein paradoxes Verständnis, das Widersprüche unaufgelöst nebeneinander existieren lässt, oder besser: sie in einer umfassenderen Einheit aufhebt.

GELB hat also den Blick auf die gesamte Entwicklung des Bewusstseins und kann alle Stadien dieser Entwicklung wertschätzen. Das heißt nicht, dass es keine Unterschiede macht. Ganz im Gegenteil. Weil das Bewusstsein im zweiten Rang nun diesen großen Überblick gewonnen hat, kann es auch wieder Werturteile fällen, die in GRÜN verpönt waren.14 Es kann in Hierarchien denken, allerdings nicht in solchen, die Herrschaft und Überlegenheit begründen, sondern in solchen, die Wachstum beschreiben. Was das bedeutet, soll ein Beispiel zeigen: Ein Abiturient kann viel mehr als ein Abc-Schütze. Er weiß mehr, beherrscht Fremdsprachen und Mathematik, verfügt (hoffentlich) über ein differenzierteres moralisches und ästhetisches Urteilsvermögen und so fort. Aber deswegen ist er doch nicht besser oder gar mehr wert als ein Erstklässler. Wir messen als Gesellschaft dem Lernen und der Entwicklung einen sehr hohen Wert bei. Wir schicken unsere Kinder in die Schule, damit sie etwas lernen. Nicht, weil sie danach bessere, wertvollere Menschen wären, sondern weil sie dann beispielsweise im Leben besser zurechtkommen. Und vor allem: weil sie dadurch ihr innewohnendes Potenzial verwirklichen können. Der GRÜNE Bewusstseinsraum etwa ist, in dieser Perspektive betrachtet, einfach weiter, umfassender, komplexer und differenzierter als der ROTE. Das muss die Wertschätzung für gesundes ROT nicht im Geringsten mindern. Vielmehr kann gesundes ROT viel angenehmer und sozial kompetenter sein als ungesundes GRÜN – und für alle anderen Stufen oder Räume gilt das Gleiche.

GELB kann also die unterschiedlichen Räume im Blick haben, hält Gegensätze aus und versucht, sie in ein System zu integrieren. Deshalb wird das GELBE Bewusstsein oft als das systemische oder das integrale Bewusstsein bezeichnet. Ein System besteht aus verschiedenen einzelnen Elementen, die miteinander in wechselseitiger Beziehung stehen, sich gegenseitig ständig beeinflussen und einander ausbalancieren. Viele unterschiedliche Einzelne bilden gemeinsam ein größeres Ganzes.

Das individuelle Bewusstsein, in ORANGE stolz in voller Blüte stehend, kontextualisierte sich selbst in GRÜN, wodurch es sich gleichzeitig erweiterte und relativierte. Nun, in GELB, hat es immer noch alle Kontexte im Blick, kann sich aber wieder mehr als beobachtendes, urteilendes und handelndes Ich verstehen. Es kann ebenso gut in der Masse schwimmen, wie es sich selbst als klaren Referenzpunkt der unterschiedlichsten Systeme begreift.

Natürlich ist auch die Vorstellung von Gott im GELBEN Bewusstseinsraum von der Fähigkeit zum systemischen, paradoxen Wahrnehmen, Denken und Fühlen geprägt. Wie sich das im Einzelnen darstellt, ist das Thema dieses Buches und wird in den folgenden Kapiteln ausführlich verhandelt.

Gott 8.0 – TÜRKIS

Auf GELB folgt TÜRKIS, eine Anspielung auf »die Farbe der Ozeane und der Erde, wenn man sie vom Weltraum aus sieht«. Der Blick weitet sich und umfasst den ganzen Globus. Ich verzichte in diesem Buch auf eine genauere Darstellung dieses Raums. Zum einen bin ich, wie schon angedeutet, der Meinung, dass exakte Aussagen über TÜRKIS zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwierig sind, weil sich TÜRKIS erst da richtig entfalten kann, wo GELB umfassend ausgeformt ist und dann auch an seine Grenzen stößt – wo also die Lösungen, die GELB bietet, selbst wieder zum Problem werden.

Zum anderen möchte ich mich in diesem Buch auf den GELBEN Bewusstseinsraum konzentrieren. Dazu ist es wichtig, die Bewusstseinsräume zu kennen, die durchschritten sein müssen, bis GELB erreicht ist, die nachfolgenden sind für diesen Zweck weniger relevant. Trotzdem möchte ich der Vollständigkeit halber wenigstens einen kurzen Blick auf TÜRKIS werfen. Wer mehr darüber wissen möchte, findet in den entsprechenden Kapiteln in »Spiral Dynamics«, »Gott 9.0« oder »Integrales Christentum« ausführlichere Darstellungen.

Aus der Dynamik der Entwicklung ergibt sich die Prognose, dass TÜRKIS die Welt wohl noch ganzheitlicher und umfassender wahrnehmen wird als GRÜN, noch differenzierter sein und noch mehr Paradoxien und Widersprüchlichkeiten integrieren kann als GELB.

In gewisser Weiseähnelt TÜRKIS dem viel früheren Bewusstseinsraum PURPUR. In PURPUR gibt es, wie in TÜRKIS, ein intuitives Wissen um die großen Zusammenhänge und um die Einheit, die allem zugrunde liegt. Manche vermuten, dass in TÜRKIS mediale und parapsychische Fähigkeiten erwachen wie Telepathie oder Präkognition, was auch im PURPURNEN Raum vorkommt. Der große Unterschied ist der, dass ein Mensch in PURPUR das rationale Denken noch nicht kennt, also prärational ist. TÜRKIS dagegen schließt das rationale Denken ein und geht gleichzeitig darüber hinaus. Wer im TÜRKISEN Bewusstseinsraum angekommen ist, ist durch ORANGE gegangen, kennt und schätzt dessen Gabe der klaren Unterscheidung und der logischen Analyse. Er oder sie hat aber auch die Grenzen von ORANGE erkannt und weiß, dass man mit linearer Logik und analytischem Denken nicht allen Bereichen der Wirklichkeit gerecht wird. TÜRKIS ist also transrational.

TÜRKIS ist, wenn die Theorie zutrifft, so etwas wie PURPUR auf einer höheren Oktave.15 Wo PURPUR von Ängsten geplagt ist, weil es Zusammenhänge prärational erahnt und sich unbekannten, numinosen Mächten ausgeliefert sieht, ist TÜRKIS weitestgehend frei von Angst. Wer sich in TÜRKIS bewegt, hat keine Angst, beispielsweise vor Dämonen, und weiß, dass Blitz und Donner nicht vom Zorn eines mächtigen Geistes bewirkt werden, sondern von atmosphärischen Phänomenen. PURPUR denkt und empfindet magisch, es versteht die Zusammenhänge zwischen allen Dingen und allen Ebenen des Seins (etwa Menschen, Dämonen oder Geister und Naturereignisse) als einfache, gestufte Hierarchien. TÜRKIS dagegenweiß um vielfach geschachtelte, ineinander übergehende, wechselseitige Zusammenhänge zwischen höheren und niedrigeren Ebenen, weiteren und begrenzteren Räumen. Somit denkt und empfindet TÜRKISholografisch und fraktal – zwei Ausdrücke, die im Zusammenhang mit dem Second Tier häufiger begegnen.

Ein Fraktal ist ein geometrisches Gebilde, das aus sich immer wiederholenden, selbstähnlichen Formen besteht. Ein Beispiel aus der Natur wäre ein Romanesco: eine grüne, spitzkegelige Art Blumenkohl. Der große grüne Kegel besteht aus kleineren Kegeln, die wiederum aus noch kleineren Kegeln zusammengesetzt sind. Die Formen wiederholen sich also, je näher man hinschaut, in immer kleineren Dimensionen.16 Alles ist allem ähnlich, die Kosmologie mit ihren schwarzen Löchern, dunkler Materie und seltsam anmutenden Naturgesetzen etwa ähnelt auf oft verblüffende Weise der kleinsten, subatomaren Welt mit ihren Quanten, Quarks und ebenfalls sehr seltsam anmutenden Naturgesetzen. Es ist nur eine Frage der Größenordnung. Dies kann ein Beispiel sein, wie die Wirklichkeit im TÜRKISEN Raum empfunden wird.

Ein Hologramm wiederum ist ein dreidimensionales Bild, das mithilfe von polarisiertem Licht erzeugt wird. Das Bild scheint vor der Fläche zu schweben, auf der es aufgezeichnet ist, und kann von verschiedenen Seiten her betrachtet werden wie ein plastischer Gegenstand. Es ist aber nicht nur dreidimensional, ein Hologramm hat auch noch eine weitere, faszinierende Eigenschaft. Wenn wir beispielsweise eine Postkarte, auf der ein Baum abgebildet ist, in der Mitte durchschneiden, erhalten wir zwei halbe Postkarten: Auf der einen ist der Stamm des Baums zu sehen, auf der anderen die Krone. Zerschneiden wir dagegen das Hologramm eines Baumes, erhalten wir zwei kleinere Hologramme – und auf beiden ist jeweils der ganze Baum zu sehen, nur kleiner und mit weniger Details. Und wenn wir ein Hologramm in tausend kleine Stückchen zerschneiden, erhalten wir tausend kleine Hologramme – jeweils den ganzen Baum, nur immer kleiner und mit weniger Details. Dieses Phänomen scheint mir ein stimmiges Bild dafür zu sein, wie TÜRKIS die Wirklichkeit erlebt: Alles hängt mit allem zusammen, weil sich in allem im Grunde dieselbe eine Wirklichkeit holografisch abbildet.

Am Ende könnte sich gar das Verhältnis von Gott und Mensch auf diese Weise beschreiben lassen. Dann wäre der Mensch seinem tiefsten, innersten Wesen nach gewissermaßen ein holografisches Fraktal Gottes,17 »nur viel, viel kleiner und mit weniger Details«. Und alles, was ist, ist aufgehoben in dem kosmischen Christus, der vor Anbeginn der Schöpfung war und der alles, was ist, durchdringt und belebt: »Du in mir, ich in dir.«18

Gott 9.0 – KORALLE

Immerhin, eine Farbe ist schon reserviert für den nächsten Raum: KORALLE.19 Inhaltliche Aussagen zu diesem Raum zu wagen halte ich nachgerade für vermessen. Es mag Einzelne geben, die in ihrer individuellen Entwicklung über TÜRKIS hinausgegangen sind, ich für mein Teil halte es lieber mit Don Beck und Christopher Cowan, die im Grundlagenwerk »Spiral Dynamics« zu KORALLE einen einzigen Satz schreiben: »KORALLE ist diesen beiden Autoren immer noch unklar.«20 Praktisch allen Menschen, die heute leben, dürfte es schlicht unmöglich sein, sich in KORALLE einzudenken und einzufühlen. Wenn man davon ausgeht, dass in den westlichen Gesellschaften gerade GELB am Entstehen ist – das heißt, dass der typische »fortschrittliche« Mensch schwerpunktmäßig in GRÜN schwingt und gerade dabei ist, sich nach GELB hin auszustrecken –, dann wäre KORALLE drei Stufen über dem Schwerpunkt. Sich vom GRÜNEN Bewusstseinsraum aus KORALLE vorzustellen ist also so, wie wenn sich jemand von ROT aus in GRÜN hineindenken und -fühlen sollte: Der homerische Held oder der Nibelungenkrieger sollte die Gedanken- und Gefühlswelt eines postmodernen, pazifistisch gesinnten Ökofeministen erfassen können. Das ist schlicht unmöglich. In der PowerPoint-Präsentation, die das Autorenteam von »Gott 9.0« bei Vorträgen und Seminaren benutzt, gibt es denn auch für KORALLE nur eine einzige Folie: ein korallen-farbenes Fragezeichen. Dabei wird es wohl noch einige Zeit bleiben.

Vier Perspektiven auf die Wirklichkeit

Wir erleben die Welt auf je unsere Weise. Niemand kann in den Kopf eines anderen hineinschauen. Niemand kann genau wissen, wie sich für eine andere Person Schmerz anfühlt oder Freude. Zwar können wir aus unserer eigenen Erfahrung Schlüsse ziehen und uns »einfühlen«. Aber wir können den Schmerz, die Freude des anderen Menschen nicht spüren. Zu dieser Perspektive der ersten Person gehören die Erfahrungen von Hunger, Geschmack und Klang, in ihr aufgehoben sind alle Gefühle und alle Erfahrungen – auch die religiösen, alle Werte und subjektiven Empfindungen.

Andererseits gibt es objektive Tatsachen, die jederzeit kontrollierbar sind, Messdaten, nachprüfbare Ereignisse. Ohne objektive Fakten gäbe es keine Naturwissenschaft, ohne nachprüfbare Berichte gäbe es keine gemeinsame Weltsicht. Während die subjektive Empfindung gewissermaßen die Innenperspektive darstellt, blickt die objektive Betrachtung oder Untersuchung von außen auf ihr Objekt. Im ORANGEN Bewusstseinsraum wird diese objektive Perspektive hoch geschätzt, manchmal gar verabsolutiert, während GRÜN der subjektiven, innerlichen Betrachtungsweise wieder mehr Bedeutung beimisst, bis zu der Einstellung, dass es gar keine objektiven, zu verallgemeinernden Tatsachen gibt. Alles sei nur eine Sache der Wahrnehmung. »Ich mache mein Ding und du machst dein Ding … Wenn wir uns dabei zufällig treffen, soll es mir recht sein. Wenn nicht, kann man nichts machen!«21 Ich halte es für eine sehr gefährliche Entwicklung, dass in Zeiten von »Fake News« jegliche Objektivität abhanden zu kommen droht und Fakten sich in bloße Meinungen auflösen. Beide Perspektiven, innen und außen, sind notwendig.

Daneben kann jedes Ding und jedes Ereignis unter einer individuellen und einer kollektiven Perspektive betrachtet werden. Nicht nur der Klimawandel oder – wie die Welt in den Tagen, in denen dieses Buch entsteht, gerade erfährt – Pandemien betreffen die Gesellschaft, ja die Menschheit als Ganze ebenso wie jede und jeden Einzelnen von uns. Auch meine scheinbar höchst individuellen Kopfschmerzen haben eine kollektive Seite: Indem ich unleidlich bin, ist meine Familie mitbetroffen, vielleicht leidet meine Arbeitsleistung an diesem Tag, und das Medikament, das ich schließlich nehme, wird mir von der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt.

Ken Wilber nimmt nun individuelle und kollektive, innere und äußere Perspektive zusammen, so dass sich vier Blickwinkel ergeben, ein Schema von vier Quadranten: Nach links setzt er die innere, nach rechts die äußere Seite, oben die individuelle und unten die kollektive Betrachtungsweise. Im ersten Quadranten, oben links (OL), finden sich also die individuell-inneren Phänomene, mein Schmerz, meine Empfindung, mein Gefühl für mich selbst. Oben rechts (OR) ist der objektive, wissenschaftliche Blick von außen auf das Individuum eingeordnet, etwa die Messung meines Pulsschlags durch den Arzt. Unten links (UL) sind die kollektiv-inneren Ereignisse und Haltungen, etwa Gruppenüberzeugungen oder geteilte Werte, und unten rechts (UR) sind kollektive äußere Fakten, wie geschichtliche Ereignisse, Konzerte, Schulstunden usw.