Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer - E-Book

Sex & Gott & Rock'n'Roll E-Book

Tilmann Haberer

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Beschreibung

Deutsche Provinz, Anfang der 1970er-Jahre. Jeannie liebt Johnny und Johnny liebt Jeannie. Soweit könnte alles gut sein, doch die beiden finden nicht zueinander. Denn mit 14 Jahren stürzt eine zutiefst verstörende Erfahrung Jeannie in ein lebenslanges Dilemma: Sie sehnt sich nach Liebe. Aber dafür einem Mann vertrauen – niemals! Ihre Suche nach Liebe, Sinn und Erfüllung führt sie bis nach Poona zu Bhagwan, dem so prominenten wie umstrittenen Guru. Doch Johnny kann sie nicht vergessen, so weit sie sich auch von ihm entfernt. Johnny träumt von einer E-Gitarre und hat nur Rock'n'Roll im Kopf, bis er Jeannie trifft. Die wird plötzlich viel wichtiger als seine Musik. Doch die Liebe zu Jeannie erfüllt sich nicht. Johnny schlägt den bürgerlichen Weg ein: Studium, Beruf, Ehe, Familie. Doch seine Jugendliebe kommt ihm dazwischen, immer wieder kreuzen sich ihre Wege. Sex & Gott & Rock'n'Roll ist mehr als ein Liebesroman. Es ist ein Roman über das Leben, über Liebe und Verlust, Scheitern und Neuanfang, über die Suche nach dem tieferen Sinn; auch Krankheit, Leiden und Tod werden nicht ausgespart. Und doch ist die Grundstimmung des Romans nicht düster oder pessimistisch. Es lohnt sich zu leben, auch wenn Träume zerbrechen und Lebensentwürfe scheitern. "Aufstehen, Krone richten, weitergehen." Und wer weiß, vielleicht gibt es dann ja sogar ein Happy End.

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Tilmann Haberer

Sex & Gott & Rock'n'Roll

Band 1: Day Tripper

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Impressum neobooks

Prolog

Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenschaut, kennt sie seit achtundfünfzig Jahren. Doch heute sieht Katharina es mit den Augen eines anderen. Wird er sie überhaupt erkennen, nach so langer Zeit? Damals hatte sie noch ihr langes, kastanienbraunes Haar, das erste Grau sorgsam weggetönt. Vergangenheit. Jetzt ist es zentimeterkurz, wie eine Haube schmiegt es sich an den Schädel, betont die Konturen. Und sie färbt es nicht mehr. Wozu auch? So kurz, wie es ist, macht sie das Grau nicht alt, eher wirkt es edel.

Sie trauert ihrer Mähne nicht nach, mit den kurzen Haaren gefällt sie sich viel besser. Das war die Überraschung, als die Chemo im Handumdrehen vernichtete, was bis dahin ihr Stolz war: Ihre Identität hängt nicht daran. Sie braucht die langen Haare nicht, um sie selbst zu sein. Fast ist sie dem Krebs dafür dankbar, dass er ihr diese Lektion verpasst hat. Dankbar? So weit kommt’s noch! „Du spinnst ganz schön, Sharani“, sagt sie zu ihrem Spiegelbild und greift zur Wimperntusche. Als ihr die Wimpern ausfielen, das war schlimm. Aber jetzt sind sie nachgewachsen, fast genauso lang und dicht wie vorher.

Sharani. Wie komme ich ausgerechnet jetzt auf meinen Sannyas-Namen? Sie schüttelt den Kopf. Schaut wieder in den Spiegel. Sharani, das war die lange Mähne, meist gebändigt mit dem Hippie-Stirnband, das war die glatte Stirn, die samtige, faltenlose Haut. Vergangenheit. Falten um die Augen, die feinen Linien zwischen Nase und Mundwinkeln noch nicht zu Gräben, aber zu Furchen vertieft, Fältchen um den ganzen Mund. Ehrlich erworbene Zeichen gelebten Lebens. Nie im Leben wird sie sich irgendetwas unterspritzen lassen, und mit Botox stilllegen erst recht nicht.

Wird er mich überhaupt erkennen? Sie weiß, diese Frage ist reine Koketterie. Natürlich wird er sie erkennen, und wenn sie einäugig und bucklig daherkäme. Er würde ihre Aura spüren, so wie sie seine Anwesenheit unter einer Million Menschen auf Anhieb wahrnähme. Auch nach zwanzig Jahren? Sicher. Auch nach zwanzig Jahren.

Sie erinnert sich an seinen Anruf, schockierend unverhofft, vor neun Tagen. Hier ist Johannes. Und nach einer Schrecksekunde, die sie brauchte, um zu glauben, dass es tatsächlich seine Stimme war, erklärte er, als ob es einer Erklärung bedürfte: Johnny. Dann: Stille. Eine Ewigkeit Stille.

„Johnny.“ Nur sie selbst hörte, wie ihre Stimme zitterte. Nein, auch er spürte es. Natürlich. „Johnny. Ich glaub’s nicht.“ Dann wieder: Stille.

„Geht’s gerade? Hast du eine Minute?“, fragte die Stimme im Hörer, die so vertraute, so lang vermisste Stimme.

„Natürlich!“

Natürlich hatte sie Zeit, alles hätte sie stehen und liegen lassen. „Johnny“, wiederholte sie. „Woher hast du meine Privatnummer?“ Der Anruf kam so unerwartet, dass ihr nichts Besseres einfiel. Sie hörte sein breites Grinsen durch den Hörer. Wie hatte sie es geliebt, dieses Lächeln, das aus seinen Augen strahlte. „Soziale Netzwerke.“

„Soziale Netzwerke? Ich bin weder bei Facebook noch bei Xing oder LinkedIn.“

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Ich meine das ganz altmodisch. Alte Kontakte. Recherche. War nicht einfach, zugegeben.“

Ihre Gedanken flogen. Was redest du für ein dummes Zeug. Johnny ruft an, Johnny! Sie atmete aus. Sie wusste doch, wie sie aus dem Gedankenkarussell aussteigen konnte. Spür in die Füße, nimm Kontakt zum Boden auf, zum Atem, sei in der Gegenwart! Allmählich kam sie zu sich.

„Mensch, Johnny! Wie lang ist das jetzt her… zwanzig Jahre?“

„Sogar ein bisschen mehr. Zwanzig Jahre und fünfeinhalb Monate, um genau zu sein.“

Das war er! Dieses Faible für Daten, alles konnte er sich merken. Natürlich wusste er genau, wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, Tag und Stunde.

Wieder entstand eine Pause. Sie hätte ihm so viel zu sagen, aber im Moment fiel ihr überhaupt nichts ein. Außer: „Und wieso rufst du jetzt an, nach mehr als zwanzig Jahren?“ Und schnell, damit keine Missverständnisse aufkamen, setze sie hinzu: „Ich freue mich riesig, das kannst du mir glauben, und ich bin total von den Socken. Aber wieso ausgerechnet jetzt?“

Johnny – Johannes – räusperte sich. „Also, ich werde ja demnächst sechzig, wie du vielleicht weißt.“ Sie wusste es, natürlich. Wie hätte sie seinen Geburtstag vergessen sollen. Auch wenn sie ihm die letzten zwanzig Jahre keine Karte geschrieben hatte, hatte sie jedes Jahr daran gedacht. Und nun war es tatsächlich der sechzigste. Sie wusste es, und trotzdem…

„Und da habe ich angefangen zu überlegen, was eigentlich bleibt. Was in meinem Leben eigentlich wirklich wichtig war.“ Kleine Pause. „Oder besser: wer.“

„Und da bin ich dir eingefallen? Welche Ehre!“ Sie wollte nicht sarkastisch sein. Aber immerhin, zwanzig Jahre hatte er für diese Erkenntnis gebraucht.

Sie hatte den Knopf gedrückt, wie so oft. „Hey, du hast den Kontakt abgebrochen damals.“

Kein Streit jetzt! Nicht in dieser Situation!

„Stimmt.“ Sie lenkte ein. Musste einlenken. Auf gar keinen Fall durfte sie dieses Gespräch in den Sand setzen. „Du hast Recht. Ich habe den Kontakt abgebrochen.“ Und du hast nichts getan, um ihn wieder neu zu knüpfen. Aber diesen Gedanken verbot sie sich. Außerdem hat er es versucht. Mehr als einmal.

Er griff den Faden wieder auf. „Ja, also, natürlich. Du bist mir nicht eingefallen. Es war überhaupt gar keine Frage. Sharani – oder wie soll ich sagen?“

„Ich heiße Katharina.“

Er kommentierte ihre Entscheidung nicht. „Also, Katharina, es war überhaupt keine Frage. Wenn es in meinem Leben einen bedeutsamen Menschen gibt, dann bist du das. Und ich glaube, das weißt du auch.“

Sie spürte, wie sie rot wurde bis unter die Haarwurzeln. Jetzt, nach zwanzig Jahren noch. „Ich habe es immer gehofft. Aber die letzten zwei Jahrzehnte hat es nicht danach ausgesehen. Zwei Jahrzehnte, Mann, zwei Jahrzehnte!“

„Ich möchte dich sehen. Jeannie, mehr als alles in der Welt möchte ich dich sehen.“

Jeannie. Jetzt musste sie sich wirklich setzen.

***

Zur selben Zeit, während Katharina sich fertig macht für diesen Tag, steigt Johannes Baumann die Treppen zu seiner Wohnung im dritten Stock hoch, einen schweren Stoffbeutel in der Hand. Noch schaffst du die Treppen mühelos. Aber wie lange noch? Natürlich, sechzig ist kein Alter. Trotzdem. In fünf Jahren die Rente. Ein neuer Lebensabschnitt. Der dritte Lebensabschnitt, welch blöder Euphemismus. Es ist der letzte.

Er setzt den Einkaufsbeutel vor der Tür ab, fingert den Schlüsselbund aus der Hosentasche. Trägt die Einkäufe in die Küche. Er hat Champagner besorgt. Und Orangensaft, Schafsjoghurt, gesalzene Butter, eine Mango, Flugware. Fürs Frühstück, falls sie bei ihm bleibt. Ziemlich bescheuert, das weiß er.

Heute Abend treffen sie sich zum Essen, bei seinem Lieblingsitaliener, den sie auch kennt. Dass wir uns da nie begegnet sind… Ohne eine Sekunde zu zögern hat sie zugesagt. Nur die Frage: „Und was ist mit deiner Margit?“ Sie konnte sein Schulterzucken durchs Telefon nicht sehen. Aber hören. „Wir sind seit Jahren getrennt. Hat irgendwie nicht lange gehalten.“ Keine Reaktion von ihrer Seite. Kein Wann hätte je eine Beziehung lange gehalten bei dir… Er hat nicht gesagt, dass es nach Margit noch zwei andere gab, sie kann es sich auch so denken. Auch wenn es nie mehr als sechs Jahre gehalten hat, nicht einmal seine Ehe – allein zu leben war nie seins.

Nur mit ihr, mit ihr hat er nie zusammengelebt.

Und obwohl sie der wichtigste Mensch in seinem Leben ist, hat er sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Stimmt nicht, gesehen hast du sie. Ja, zweimal. Einmal stand er an der Ampel, sah sie drüben die Straße überqueren, auf einem stabilen dunkelgrünen Hollandrad, allein. Er musste nicht zweimal hinsehen, um zu wissen: Sie ist es. Und nun? Rufen? Winken? Hinterherrennen? Haltet sie auf!

Nichts von alledem. Wie betäubt stand er da, unbeweglich. Als ob etwas in ihm sagte: Nein. Lass gut sein. Die Kiste ist vorbei, ein für alle Mal.

Das zweite Mal saß er in der Straßenbahn, sah sie draußen auf dem Gehsteig. Der Schock, sie zu sehen, ließ ihn kurz aufschrecken. Wenn ich ihr wie zufällig auf der Straße begegne… Aber wozu. Um sich wieder auf das alte Spiel einzulassen, auf eine weitere Runde? Um sich die nächsten Verletzungen abzuholen? Er ließ die Straßenbahn weiterfahren, stieg nicht aus, rannte nicht den Weg zurück. Konnte an diesem Tag nichts Vernünftiges mehr anfangen.

Natürlich hat er daran gedacht, sie einfach anzurufen. Immer wieder. Sie hatte ihre alte Telefonnummer zwar abgeschaltet, damals, aber natürlich hätte er seine Recherchen auch früher schon anstellen können. Er tat es nicht, zwanzig Jahre lang. Wollte sie aus seinen Gedanken verbannen, aus seinem Gefühl. Was natürlich nicht gelang. Natürlich? Natürlich.

1

Es gibt keine Zufälle, sagt man oft so leicht dahin. Aber was sollte das gewesen sein, als sie sich dieses eine Mal doch trafen, mitten in München, auf einem zugigen Bahnsteig? Sie hatten den Kontakt verloren, zum dritten, zum vierten Mal? Egal. Er hatte jedenfalls nicht im Traum damit gerechnet, ihr zu begegnen, wusste nicht einmal, dass sie in der Stadt war. Er wartete am Stachus auf seine S-Bahn, 1980 war es, Anfang Mai. Da sah er sie. Erkannte sie im ersten Moment nicht. Sah nur eine Frau in roten Klamotten. Ärmellose Weste aus weinrot gefärbtem Zottelfell, darunter ein orangerotes T-Shirt, farblich passender knöchellanger Rock. Selbst das Stirnband, das die taillenlangen Haare zurückhielt, war rot und orange gemustert. Dann darunter ihr Profil. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, oder auch zwei. Jeannie! Kann das sein? Zu Bhagwan ist sie jetzt gegangen? In diesem Moment drehte sie ihm das Gesicht zu, ihr Blick glitt achtlos über ihn hinweg, kehrte dann zu ihm zurück. Einen Moment lang Bestürzung, in ihrer, in seiner Miene. Er sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten, das Quietschen und Schleifen der einfahrenden S-Bahn verschluckte ihr fragendes „Johnny…?“

Er stürzte nicht auf sie zu. Auch sie stand wie angewurzelt da. „Jeannie...?“, murmelte er, und sie konnte ihn so wenig hören wie er sie, doch sie nickte. Drehte sich ihm zu. Streckte die Arme aus, als läge zwischen ihnen ein Abgrund. Dann löste sich der Bann, er konnte sich bewegen, ging zwei, drei, vier Schritte, stand einen Meter vor ihr. „Jeannie?“, fragte er wieder, und nun konnte sie ihn hören. Sie lächelte, die Arme noch nach ihm ausgetreckt. Schüttelte den Kopf. „Ich heiße Sharani.“ Vom Hals baumelte ihr die Perlenkette mit dem Bild des bärtigen Gurus.

Plötzlich musste er lachen. Absurd, so absurd das Ganze! Da stand er plötzlich Jeannie gegenüber. Als ob er sie erst gestern gesehen hätte, so vertraut war ihm ihr Anblick, ihr Lachen. Ein Teil in ihm war entzückt, ein anderer rief: Vorsicht!

Während er noch mit sich rang, ob er sie umarmen sollte, nahm sie ihm die Entscheidung ab. Sie überbrückte den letzten Meter mit ein, zwei Sätzen, sprang auf ihn zu, hängte sich an seinen Hals, ihr duftendes, weiches Haar an seiner Wange, ihr warmer, lebendiger Körper an seinen gepresst. „Jeannie“, wiederholte er, etwas anderes fiel ihm nicht ein. „Jeannie!“

Wie lange sie so da standen, weiß der Himmel. Doch irgendwann lockerte sie ihre Umarmung, fasste ihn an den Oberarmen, schob ihn ein Stück von sich weg, sah ihm in die Augen. „Johnny! Mensch! Das gibt’s nicht!“

„Ich heiße Hannes“, erwiderte er mit ironischem Lächeln. „Wenn du – wie war das? – Sharani bist, dann bin ich Hannes.“

„Nichts mehr mit Jeannie und Johnny?“

„Nichts mehr mit Jeannie und Johnny“, bekräftigte er. „Das ist vorbei.“

Sie nickte versonnen. Einen Augenblick lang wirkte sie abwesend, versunken in der Vergangenheit, doch dann gab sie sich einen Ruck. „Mensch, Joh… also, Hannes… o verflixt, ich glaube, daran kann ich mich nicht so schnell gewöhnen.“

„Meinst du, Sha… Shadingsda ist leichter?“

Sie lachte. „Ma Deva Sharani.“ Dann wurde sie ernst, schlagartig. „Johnny, Hannes, wie auch immer – irgendwie kann das eigentlich gar nicht sein, dass wir uns ausgerechnet heute hier treffen.“

„Wieso ausgerechnetheute?“

Sie hielt ihn noch immer an den Oberarmen fest. „Morgen fliege ich nach Poona und bleibe längere Zeit dort. Und ausgerechnet am Tag vorher treffe ich dich. Crazy.“

Morgen. Nach Poona. Für längere Zeit. Sie meinte es ernst.

„Und wie verbringst du den Abend vor der Abreise?“ Das hatte er nicht fragen wollen, es war ihm herausgefallen. Er würde sie sicher nicht abhalten können, in dieses Sektendorf zu fahren. Aber vielleicht konnte er ihr seine Bedenken deutlich machen.

Sie lächelte. Schon wieder. „Wie ich meinen Abend verbringe? Mit dir natürlich!“

„Ich weiß nicht… ich habe eigentlich… – ach scheiß drauf, ich blase alles ab. Ich rufe an und melde mich krank. Die können auch ohne mich tagen.“

Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Also, abgemacht? Ich wollte eigentlich in der Kommune sein, aber … also, dich hier zu treffen…“

Zuerst gingen sie einen Kaffee trinken. Dann essen, zum Griechen. Jeannie – Sharani – wollte unbedingt vegetarisch essen, das war so üblich in der Sekte. Und auf Käsespätzle, damals das einzige fleischlose Gericht auf Münchner Speisekarten, hatte sie keine Lust. „Also bleibt nur ein Grieche, da kann man wenigstens was einigermaßen Frisches kriegen.“ Während Hannes frittierte Calamari nahm, bestellte sie einen Bauernsalat, dazu zermanschte Auberginen, Kichererbsenmus und extra Tsatsiki. „Aber Wein trinkst du?“, fragte er. Er hatte ja keine Ahnung, welchen Vorschriften die Bhagwans zu folgen hatten. „Natürlich“, war ihre Antwort. „Bhagwan spricht immer von Sorbas, dem Buddha.“ Alexis Sorbas, der unbekümmerte Lebenskünstler, ein Erleuchteter? Dieser Bhagwan war auf jeden Fall für Überraschungen gut. Sie bestellten eine Flasche Demestica. Und als kurz darauf über die krächzenden Lautsprecher in dem Lokal der unwiderstehliche Sirtaki lief, die Titelmelodie von Alexis Sorbas, da stießen sie an. „Auf die alten Zeiten“, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. „Auf heute. Auf das Hier und Jetzt.“ Und da hatte sie, verflixt noch mal, eigentlich Recht.

Doch es fiel ihm nicht leicht. Er konnte sie kaum ansehen, ohne abzudriften in die Vergangenheit, all die wunderschönen, all die schrecklichen Erinnerungen. Immer wieder rief er sich zurück. In diesen Moment, in dem Jeannie gerade von Poona erzählte, von der Kommune, von Bhagwan und ihrer Liebe zu ihrem „Erleuchteten Meister“.

Hannes konnte sich ein paar bissige Kommentare nicht verkneifen. „Man hört ja, dass es in den sogenannten Therapiegruppen ziemlich rau zugehen soll. Pass auf deine Zähne auf, dass sie dir nicht ausgeschlagen werden.“

Sharani rollte die Augen. „Dieser Scheiß, den der Spiegel da zusammengeschrieben hat, weil diese blöde Eva Renzi im Encounter etwas abgekriegt und sich anschließend bei den Journalisten ausgeheult hat. Natürlich geht es in den Gruppen manchmal ordentlich zur Sache, aber das braucht’s eben, damit diese ganzen ansozialisierten Charakterpanzer aufbrechen und das wahre Ich zum Vorschein kommen kann.“

„Mann, du hast die Ausdrücke ja voll drauf. Bist auch ganz schön gehirngewaschen, oder?“

Sharani war auf einmal nicht mehr so gelassen. „Weißt du“, sagte sie in aggressivem Tonfall, „solche blöden Sprüche habe ich schon hundertfach gehört. Das brauche ich nicht, nicht heute Abend, Hannes, echt nicht. Reden wir über was anderes oder gehen wir nach Hause.“

Nach Hause gehen? Bitte nicht! Er sah ein, dass es keinen Zweck hatte, diese Diskussion auf diese Weise weiterzuführen, und wenn er ehrlich war, wollte er mit Jeannie auch gar nicht diskutieren. Also zuckte er mit den Schultern.

„Du bist alt genug, um zu wissen, was für dich gut ist.“

Jeannie wollte offenbar auch nicht nach Hause gehen. Stattdessen steuerte sie auf einen Themawechsel zu. „Jetzt erzähl doch mal was von dir. Ich weiß ja gar nichts mehr von dir, außer dass du Architektur studiert hast – und danach verliert sich deine Spur…“ Er wollte nicht mit ihr rechten, wer wessen Spur verloren hatte, es war ja völlig egal. Jetzt saßen sie hier beieinander, unverhofft, aber entzückt, beide. Entzückt – komisch, dass ihm dieses Wort in den Sinn kam. Normalerweise war es kein Teil seines aktiven Wortschatzes. Aber heute Abend schien nichts anderes zu passen. Er fühlte sich wie frisch verliebt und war es ja vielleicht auch, zum x-ten Mal frisch verliebt in Jeannie, und gleichzeitig fühlte er sich ungeheuer schuldig. Aber dann schüttelte er die Schuldgefühle ab und begann zu erzählen. Er erzählte vom Studium, von der Band, von dem Büro, in dem er seit einem Jahr mitarbeitete, nur von Gabi erzählte er nicht. Auch nicht, als Jeannie ihn halb scherzhaft, halb bang fragte: „Und du? Bist bestimmt verheiratet und hast drei süße kleine Kinderlein.“ Da schüttelte er nur den Kopf und sagte: „Nein. Ich bin tatsächlich immer noch nicht verheiratet“, was ja nicht direkt gelogen war. Sie fragte nicht weiter, und er sagte nichts weiter dazu.

Stattdessen fragte er: „Also, noch mal, du nennst dich jetzt – wie?“

„Sharani. Ma Deva Sharani.“

„Sharani“, wiederholte er. „Und hat das eine bestimmte Bedeutung?“

Sharani lächelte. „Ma heißen alle weiblichen Sannyasins, so wie alle männlichen Sannyasins mit erstem Namen Swami heißen. Deva bedeutet: göttlich. Denn Bhagwan sagt, dass alle Menschen göttlich sind, sie wissen es nur nicht. Und Sharani, das ist sozusagen mein Vorname. Bhagwan hat ihn mir gegeben, als ich Sannyas genommen habe – als ich Sannyasin geworden bin, sozusagen offiziell seine Schülerin“, fügte sie hinzu, als sie seinen verständnislosen Blick sah. „Ich habe seine Stimme noch im Ohr, als er mir sagte: Sharani, that means: surrender to existence.“ Dabei imitierte sie offenbar den indischen Akzent ihres Meisters, das Wort existence klang wie edschisdensss.

„Surrender – Unterwerfung“, übersetzte er für sich.

Sharani schüttelte den Kopf. „Nein, mit Unterwerfung hat das nichts zu tun. Es heißt Hingabe. Hingabe an die Existenz, an das Leben, an alles. An Gott, wenn du so willst.“

„Fragt sich bloß, an welchen Gott.“ Er konnte es nicht lassen.

Sharani lächelte nachsichtig, und sie sah mehr denn je wie Jeannie aus. „Für mich passt der Name vollkommen. Das ist für mich mit das Schönste und Wertvollste überhaupt, was ich in Poona gelernt habe: mich dem Leben hinzugeben.“ Sie zog die Nase kraus und sah ihn an mit diesem Blick. Diesem Blick, mit dem sie sein Herz eingefangen hatte wie mit einem Lasso. Damals, vor neun Jahren, als er fast siebzehn war und sie fünfzehneinhalb. Diesem Blick, der in weite Ferne zu gehen schien und doch ganz präsent war. Sie schien viel mehr zu sehen als er, das war schon immer so.

„Hier in Deutschland, was war denn mein Leben!“, fuhr Sharani fort. „Aufstehen, ins Krankenhaus, schuften, heimgehen, vor die Glotze, und am Wochenende, wenn ich nicht gerade Dienst hatte, in die Disko, mir die Kante geben oder einen Typen abschleppen, und am Montag das Ganze wieder von vorn. Nein, Johnny, Hannes, das kann’s doch nicht sein. Das habe ich die ganze Zeit gespürt. Und in Poona, bei Bhagwan, da habe ich ein ganz anderes Leben kennengelernt. Mich hingeben ans Leben, an den Augenblick, ans Hier und Jetzt. Nicht in die Lebensversicherung einzahlen, sondern das Leben jetzt genießen. Nicht auf die Rente warten, die in vierzig Jahren kommt, sondern jetzt leben, jetzt! Das Leben sorgt schon dafür, dass ich kriege, was ich brauche.“

Tausend Abers erhoben sich wie eine Armee. Doch er sagte nichts. Hannes wusste, sie hatte Recht, für sich hatte sie Recht. Er spürte eine vage Sehnsucht, es ihr gleichzutun, und wusste gleichzeitig, dass das nie geschehen würde. Sein Leben war vorgezeichnet, in festen Bahnen. Auf einmal kam er sich total spießig vor, mehr tot als lebendig.

Aber dann war die Flasche leer, der letzte Klecks Tsatsiki mit dem letzten Bröckchen Brot aufgewischt, und die Frage stellte sich, die schon seit einer Stunde im Hintergrund lauerte: „Und jetzt?“

Johannes jedenfalls hatte schon seit mindestens einer Stunde mit dieser Frage gerungen, hatte sie immer wieder in den Hintergrund gescheucht. Nun war es Sharani, nein: Jeannie, die sie stellte. „Und jetzt?“

Er traute seinen Ohren nicht, als er sich sagen hörte, einfach so: „Jetzt gehen wir zu mir.“

Jeannie legte den Kopf schief und schob die Hand über den Tisch. Er legte seine Hand auf ihre, und sie schloss ihre Finger um die seinen, legte ihre andere Hand darauf und sagte die berühmten zwei Worte: „Ach, Johnny!“

Und er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Ganz einfach so. Und sie küsste ihn wieder, und wieder, während ihre Hände, ineinander verschlungen, auf dem rohen Holztisch lagen. Alle Schuldgefühle, deren er fähig war – und das war eine beachtliche Menge –, fuhren ihm in die Knochen, aber er ignorierte sie. Eher steigerten sie noch sein Verlangen.

Jeannie zog die rechte Hand aus dem Fingerknäul auf dem Tisch, legte sie ihm auf die Wange und wiederholte: „Ach, Johnny!“ Und er legte seine Hand auf ihre Wange und erwiderte mit rauer Stimme: „Ach, Jeannie!“ Als ob sie diesen Dialog nicht schon hundertmal geführt hätten.

Dann rief er die Bedienung. Während Jeannie auf dem Klo verschwand, zahlte er, stand schon mal auf.

Dann sitzen sie in der Straßenbahn, nebeneinander auf den harten Holzsitzen. Sie hält seine Hand fest umklammert, als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Die acht Haltestellen bis zu seiner Wohnung sprechen sie kaum ein Wort. Es gäbe so viel zu reden, doch die Sätze löschen einander aus, bevor sie es auf seine Zunge schaffen, und der Kloß in seinem Hals tut ein Übriges. Stumm sitzen sie nebeneinander, sehen sich nicht an. Als wüssten sie nicht recht, wie es weitergehen soll. Dabei ist es ganz klar.

Kaum haben sie die Tür zu seiner Wohnung hinter sich geschlossen, fallen sie übereinander her. Jeannies Fellweste sinkt im Flur zu Boden, liegt da wie ein totes rotes Tier, seine Jeansjacke gesellt sich dazu. Wie ein einziges Wesen taumeln sie in sein Schlafzimmer, die siamesischen Zwillinge, finden sich unversehens auf dem Bett wieder. Küssen sich atemlos, halten sich fest, fest. Endlich ist es so, wie es immer sein sollte. Das Spiel, bitter ernst, das Begehren, der Kampf, das tödliche Duell. Er hält sie, sie windet sich, er öffnet sie, sie öffnet sich, schon fallen sie, halten sich immer noch, spüren Haut, spüren Haar, spüren Feuchte, ein Atem nur noch aus zwei Kehlen, ein Stoßen, ein Zucken, ein Keuchen, endlich, er ist nicht mehr er selbst, kein Raum, keine Zeit mehr, nur sie, sie und er, nichts mehr zwischen ihnen als ihre Haut, ein Schluchzen, ein Schrei, ein Fließen, ein Strömen, ein Fallen, Fallen, Fallen.

Ein Ankommen.

Sie liegen, ihre Körper ineinander verschränkt, die Herzen im rasenden Gleichklang, der Atem kehrt zurück, allmählich, das Zimmer erscheint wieder, taucht auf aus dem All.

„Jeannie“, flüstert er, als er wieder Luft bekommt. „Ach, Jeannie!“

Sie schüttelt den Kopf, zieht ihn eng, noch enger an sich. Macht „Schschsch!“

Diese Nähe. Dieses Einssein, in dem jetzt ganz schemenhaft wieder zwei Individuen Gestalt annehmen, allmählich, Halligen, die auftauchen aus dem brodelnden, tosenden Meer, wenn die Sturmflut sich zurückzieht.

Sie, er, immer noch ineinander, beieinander.

„Jeannie“, wiederholt er. „Ach, Jeannie.“

Da rückt sie ein bisschen von ihm ab. Sucht seinen Blick, jetzt wieder klar, nicht mehr gebrochen das Auge.

Sie tippt ihm mit dem Finger auf die Nasenspitze und antwortet, ebenfalls flüsternd: „Sag nicht immer Jeannie zu mir… Hannes. Ich heiße Sharani, ich meine, in echt. Sharani. Jeannie gibt’s nicht mehr.“

Jeannie gibt’s nicht mehr! So ein Quatsch. Hier liegt sie, bei ihm, in seinen Armen, warm und lebendig. Aber wenn sie darauf besteht… „Okay“, seufzt er, „Sharani.“ Sie nickt, zeichnet mit dem Finger seine Augenbrauen nach. „Hannes“, murmelt sie dabei. „Ja, du bist nicht mehr Johnny. Das hier ist etwas Neues.“

Aber er will nicht reden. Nicht mit Worten. Er will nur spüren, nur sein mit ihr, noch sind sie nicht gesättigt, noch lange, lange nicht. Ihre Augen, wie sie sich wieder schließen, die Lippen, die den nächsten Seufzer durchlassen, ihre Bewegungen, auf ihn zu, wieder der Tanz. Ihre Haut, die wieder anfängt zu glühen, ihr Schoß, der schon wieder bereit ist, immer noch, und wieder kommt sie ihm entgegen, öffnet sich ihm, saugt ihn auf, es gibt kein Halten. Aus aufgerissenen Augen sieht sie ihm ins Gesicht, wimmert wie ein Kind. Hält seinen Blick fest, bis alles explodiert. Kometen schießen durchs All, Protuberanzen. Er bricht über ihr zusammen, hört sich selbst genauso wimmern wie sie zuvor, ja.

***

Sie ist nicht seine erste Frau, und es ist nicht das erste Mal, dass sie miteinander schlafen. Aber es ist, als habe er noch nie eine solche gewaltige, schmerzhafte Lust empfunden, alle seine Sicherungen sind durchgebrannt.

***

„Mann, bist du schwer“, sagt sie schließlich. Sie spricht in normaler Lautstärke. Jetzt erst wird ihm bewusst, dass er mit seinem ganzen Gewicht auf ihr liegt. Er rollt sich zur Seite, hält sie immer noch umfangen, rutscht aus ihr heraus. Fährt ihr mit der Hand durch das lange, verwuschelte Haar. Sie stemmt sich auf die Ellenbogen, sieht ihn an. Legt ihre Hand auf seine Wange, küsst seine Augen. „Hannes“, sagt sie dann und schüttelt den Kopf, als könne sie nicht glauben, was da gerade mit ihnen geschieht. Dann lässt sie sich wieder an seine Seite gleiten, und sie halten einander fest, wortlos, eine Ewigkeit. Dann kommen die Gedanken wieder, doch er versucht sie zu verscheuchen. Egal, alles egal. Was zählt, ist allein das, was sie im Moment miteinander erleben. Surrender to existence. Hingabe an das, was ist. Sharani.

***

„Kannst du mir mal ein Glas Wasser holen?“, fragte sie schließlich. Er hätte noch Jahrhunderte einfach neben ihr liegen können, einfach bei ihr, endlich. Doch er stand auf, tapste in die Küche, nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kasten in der Kammer, goss ein Glas ein, kam zurück ins Zimmer. Sharani hatte sich auf den Bettrand gesetzt. Sie sah ihm nicht entgegen, ihr Blick war auf das Foto in ihrer Hand gerichtet, ein Foto in einem etwas kitschigen silbernen Rahmen, das sie aus dem Regal genommen hatte. Er setzte sich neben sie aufs Bett, das Glas in der Hand. „Und wer ist das?“, fragte sie mit einer Stimme, die er nicht einordnen konnte.

Er musste sich räuspern. Wie in einem schlechten Film. „Das ist Gabi.“

Endlich wandte sie sich ihm zu. „Die, mit der du immer noch nicht verheiratet bist?“

Stumm nickte er. Er konnte das Bild nicht anschauen.

„Und wann ist es so weit?“ Er konnte Sharanis Stimme immer noch nicht einordnen.

„Am einundzwanzigsten Juni.“ Er flüsterte wieder. Diesmal eindeutig deshalb, weil seine Stimmbänder streikten. „In sechs Wochen.“ Er konnte es selbst kaum glauben, was da aus seinem Mund kam.

„Und wieso ist sie nicht hier, deine… Verlobte? Wohnt ihr nicht zusammen?“

Er schüttelte den Kopf. Wollte am liebsten weglaufen. Was tat er da! Schlief sechs Wochen vor seiner Hochzeit mit einer anderen, als ob gar nichts dabei wäre. Auch wenn es seine große, wahre und einzige Jugendliebe war.

„Gabi ist da eher konservativ. Sie wohnt noch bei ihren Eltern. Wir ziehen zusammen, wenn wir verhei…“ Jetzt stellten die Stimmbänder tatsächlich ihren Betrieb ein.

Von Sharani an seiner Seite kam ein Geräusch, das er anfangs nicht deuten konnte. Ein Prusten, dann ein Glucksen. Sie lachte. Tatsächlich, Sharani lachte. Sie lachte lauthals, ungehemmt, ließ sich rücklings aufs Bett fallen, den Silberrahmen immer noch in der Hand, lachte wie ein Kind, verschluckte sich beinahe.

„Der Johnny“, japste sie. Und als sie wieder Luft bekam, wiederholte sie: „Der Johnny. Betrügt seine Alte ein paar Wochen vor der Hochzeit und bumst eine dahergelaufene Sannyasin.“

Er wusste nicht, wie er ihren Heiterkeitsausbruch deuten sollte. Ihm jedenfalls war nicht zum Lachen zumute. „Du bist keine dahergelaufene Sannyasin.“ Sieh da, die Stimmbänder taten es wieder. „Du bist Jeannie, meine erste große Liebe, und das weißt du auch.“

Schlagartig war sie ernst. „Nein. Ich bin nicht Jeannie. Schlag dir das endlich aus dem Kopf. Ich bin nicht das Gespenst aus der Vergangenheit. Ich bin Sharani. Ich bin eine, die im Hier und Jetzt lebt. Eine, die das tut, wonach ihr gerade ist. Ich bin eine Jüngerin des verrückten Sex-Gurus aus Indien, und ich werde dich heute Nacht noch um den Verstand bumsen. Gabi hin, Gabi her.“ Dann packte sie ihn am Ellbogen, zog ihn zu sich. Auf einmal veränderte sich ihre Stimme. „Lose your mind and come to your senses!“, wisperte sie. Griff nach seiner Hand und führte sie zu ihrer Scham. Und obwohl er noch eine Sekunde vorher vor schlechtem Gewissen kaum mehr atmen konnte, ließ er sich fallen. Gab sich hin an die Existenz, an das Hier und Jetzt. So gut es eben ging. Sharani.

Er hatte keine Ahnung gehabt, wie viel sexuelle Energie in ihm steckte. Oder war er nur so ausgehungert? Sharani holte alles aus ihm heraus, sie wollte ihn anscheinend wirklich um den Verstand bringen. Und doch, sie bumsten nicht einfach. Sie liebten sich wild und voller Verzweiflung. Irgendwann, der Wecker zeigte auf Viertel nach vier, hatte sie anscheinend doch genug. Sie küsste ihn noch einmal, rollte sich zur Seite. Sekunden später zuckte sie einmal heftig, dann entspannte sie sich, ihr Atem ging regelmäßig.

Für ihn war an Schlafen nicht zu denken. Alle siebentausend Höllenhunde fielen über ihn her. Wie sollte er Gabi jemals wieder unter die Augen treten! Wie hatte er überhaupt auf die Idee kommen können, er sei über Jeannie hinweg! Wie hatte er sich einbilden können, Gabi zu lieben! Bei der Vorstellung, sie in wenigen Wochen zu heiraten, wurde ihm ganz übel. Aber die Vorstellung, Gabi in die Wüste zu schicken und die Hochzeit einfach abzublasen, erschien ihm kein bisschen attraktiver. Am einfachsten wäre es, wenn Gabi gegen einen Baum fährt. Er erschrak. Bin ich jetzt schon so weit, dass ich meiner Verlobten den Tod wünsche? Er wälzte sich auf die andere Seite, lauschte auf die leisen, gleichmäßigen Atemzüge der Frau neben ihm. Der Frau, die gerade dabei war, alles durcheinanderzuschmeißen, was er sich aufgebaut hatte. Jeannie. Für ihn blieb sie Jeannie, da konnte sie sich auf den Kopf stellen. Er verfluchte den Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen, sich stante pede in sie verliebt hatte. Wie kam er dazu, Gabi zu betrügen – Gabi, von er geglaubt hatte, dass er sie liebte, bis heute Nachmittag, zwanzig vor fünf, als er Jeannie-Sharani erblickt hatte. Bis vor zwölf Stunden. Nun stimmte nichts mehr. Nun wusste er, dass nicht Gabi die Frau für ihn war, sondern Jeannie. Oder Sharani, gleichviel. Aber sie ist bei Bhagwan. Morgen fährt sie nach Poona, um dort zu bleiben. Na und? Dann fuhr er eben auch nach Poona, zog sich rote Klamotten an und hängte sich die komische Kette mit dem Bild des Bärtigen um den Hals. Wenn er dann mit Jeannie zusammen sein konnte… Dann sprangen ihn wieder die Höllenhunde an. Ein Versprechen muss man halten, noch dazu, wenn es so weitreichend ist. Du kannst Gabi nicht einfach sitzen lassen. Oder? Klar war gar nichts mehr. War sein Leben nicht unerträglich spießig geworden? War er nicht überhaupt unerträglich spießig?

Die Frau neben ihm, sie war die Liebe seines Lebens. Und musste er nicht dem Schicksal dankbar sein, dass es sie ihm in letzter Sekunde über den Weg geschickt hatte?

Im Zwielicht des anbrechenden Morgens musterte er Jeannies Gesicht. Es war ihm vertraut wie sein eigenes und gleichzeitig unendlich fremd. Ja, das ist meine Frau. Ein völlig unpassendes Glücksgefühl überschwemmte ihn bei diesem Gedanken. Das ist die Frau, die mir bestimmt ist. Und er fasste einen jener nächtlichen Entschlüsse, die so oft am Morgen wieder verflogen sind wie ein Frühnebel, aber in dieser frühen Morgenstunde fühlte er sich ganz stimmig und richtig an. Sobald sie aufwachte, würde er Jeannie überreden, ihr Ticket zu verbrennen und bei ihm zu bleiben. Und wenn sie sich nicht abhalten ließ, würde er mit Gabi Schluss machen – das würde er sowieso tun, auf jeden Fall –, er würde seine Stelle kündigen, ein Ticket nach Indien kaufen und Jeannie folgen. Und er würde Swami Happy Deppi. Wenn das sein Weg war, war es sein Weg. Mit dieser ruhigen Gewissheit ergab er sich schließlich doch dem Schlaf.

Als er aufwachte, war das Bett neben ihm leer. Er tastete nach der Kuhle, die Jeannies Körper hinterlassen hatte. Keine Spur von Schlafwärme. Er fuhr hoch. „Jeannie?“ Kein Geräusch außer den Autos, die draußen unter seinem Fenster vorbeirauschten. „Sharani?“ Sein Blick fiel auf den Boden vor dem Bett, wo sie gestern achtlos ihre roten Klamotten hatte fallen lassen. Nichts. Nicht ein einziger roter Fussel. Er fuhr hoch. Noch einmal rief er ihren Namen, den alten und den neuen, und wusste doch, dass es sinnlos war. Wahrscheinlich war sie schon in Riem am Flughafen.

Im Flur keine Spur. Insgeheim hatte er gehofft, ihre Tasche da liegen zu sehen, ihre Fellweste. Vielleicht war sie ja nur Semmeln holen gegangen. Aber nichts. Es war, als hätte Jeannie-Sharani nie einen Fuß über seine Schwelle gesetzt, und für einen Moment glaubte er tatsächlich, er hätte das Ganze geträumt. Aber dann sah er das Blatt Papier auf dem Küchentisch liegen.

Hannes, es hat keinen Sinn. Ich muss meinen Weg gehen und du deinen. Love and Peace, Sharani.

Sie war tatsächlich weg. Und er heiratete sechs Wochen später Gabi, was erwartungsgemäß in ein Fiasko mündete, wenn auch ganz anders, als er es gedacht hätte.

2

Sharani fröstelte in der klaren, kalten Morgenluft. Du spinnst, Mädel, sagte es in ihrem Kopf immer wieder. Rennst mal wieder vor deinem Glück davon. Und dann die andere Stimme, die sie daran erinnerte, dass ihr Glück ganz woanders lag. Nicht in einem bürgerlichen, monotonen Alltag, vielleicht gar noch in einer Ehe, nein! Nicht mal mit Johnny, nicht mal mit ihm. Außerdem wollte sie dem jungen Glück mit dieser Gabi nicht im Wege stehen, fügte sie trotzig hinzu. Wie er dagelegen hatte, mit offenem Mund, ganz entspannt, so verletzlich. Sie wusste, dass sie ihm den Dolch in die Brust gestoßen hatte. Sie konnte sich genau ausrechnen, was in der schlaflosen Stunde in ihm vorgegangen war, sie kannte ihn so gut.

Aber sie hatte keine Wahl. Ihr Weg war nicht sein Weg. Sie musste nach Poona, sie musste zu Bhagwan, musste die Freiheit wählen, das Leben im Hier und Jetzt, die Spontaneität, die Hingabe ans Leben – Sharani, Surrender to existence. Sie konnte sich keinen Klotz ans Bein binden, selbst wenn der Klotz Johnny hieß. Johnny, ja. Hannes ging ihr nicht in den Kopf, geschweige denn ins Herz.

Sie hatte es nicht eilig. Kurz nach zehn fuhr der Zug nach Frankfurt, von wo aus sie den Flieger nach Bombay nehmen wollte. Vorher musste sie noch in der Kommune vorbei und ihren Rucksack holen, sich verabschieden von Harito und Nalini, Briefe für alle möglichen Sannyasins mitnehmen.

Immer noch sah sie Johnny vor dem inneren Auge, wie er da lag, halb auf der Seite, tief schlafend. Er schlief ja nicht nur in dieser Stunde. Er verschlief sein ganzes Leben, schlief den Schlaf der Unbewusstheit, aus dem sie erwacht war durch die Begegnung mit Ihrem Meister, mit Bhagwan. Hätte ich ihn ein bisschen bearbeiten sollen – ihm klar machen, dass er mit offenen Augen schlafwandelnd durchs Leben geht? Hätte ich ihn locken sollen, mitzugehen nach Poona? Sie schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken zu verscheuchen. Er wäre garantiert nicht mitgegangen. Er hatte sich in seinem spießigen Leben eingerichtet. Hatte einen Job, eine Wohnung, eine Verlobte, die er in sechs Wochen heiraten würde. Und er hatte nicht ihre Abenteuerlust, ihre Sehnsucht nach mehr, nach der Tiefe, nach dem Ganzen. Er war zufrieden mit der Aussicht, die nächsten vierzig Jahre jeden Morgen in sein Büro zu gehen, zwei oder drei Kinder großzuziehen, in den Ferien mit dem Wohnwagen nach Jugoslawien zu fahren und ab und zu seinen Stammtisch zu besuchen. Besuchen, das war der richtige Ausdruck. Er war überhaupt nur auf Besuch in diesem Leben, wie alle anderen auch.

Nein. Sie wollte sich nicht fesseln lassen von einer Liebe, die sich als Illusion herausstellen würde, die auf Sand gebaut war, auf der Unbewusstheit. Sie war erwacht, wollte immer wacher werden, musste ihren Weg gehen.

Die Straßenbahn kam, sie stieg ein.

Wenige Stunden später saß sie im Intercity nach Frankfurt, in einem Abteil mit einem Paar um die fünfzig. Während die Frau sich sichtlich Mühe gab, sie zu ignorieren, starrte der Mann sie eine Zeit lang verstohlen, aber ungehemmt neugierig und eindeutig lüstern an, bevor er sich zuerst seiner Zeitung und später dem Leberwurstbrot zuwandte, das ihm die treusorgende Gattin reichte.

Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie. Sie hatte nicht mehr als anderthalb Stunden geschlafen. Kurz nach Nürnberg schlief sie ein. Träumte bunt und wild, sie schwimmt in einem See mit unendlich klarem Wasser, Johnny steht am Ufer und streckt sehnsüchtig die Hand nach ihr aus, ruft etwas, doch kein Laut ist zu hören. Sie taucht unter, in eine Welt voller seltsamer Wesen, findet sich plötzlich in hohen Straßenschluchten wieder, Manhattan oder Shanghai, aber alles menschenleer, der Wind weht ihr leere Plastiktüten um die Füße.

Kurz vor Würzburg wachte sie wieder auf, als das ältere Paar geräuschvoll seine Sachen packte. Der Mann hob einen riesigen Koffer aus dem Gepäcknetz und stellte ihn auf den Boden, setzte sich dann noch einmal und starrte sie an, während seine Frau Taschenspiegel und Lippenstift herauszog. Sharani hatte das Gefühl, der Mann ziehe sie mit den Augen vollständig aus. Wahrscheinlich hatte er etwas über die freie Liebe in Poona gelesen und darüber, dass die hübschen jungen Bhagwan-Jüngerinnen ohne viel Federlesens mit jedem Mann ins Bett gingen. Einen Moment dachte sie daran, ihn zu provozieren, und seine Alte dazu. Aber dann fragte sie sich, wozu. Die waren für ihr trostloses Leben selbst verantwortlich. Sie wandte sich zum Fenster und sah hinaus, auf die unterfränkischen Hügel, die Weinberge, den Main, die Schnellstraße. Sie drehte sich den beiden nicht mehr zu, bis sie – grußlos – das Abteil verlassen hatten. Als sie draußen waren, fühlte Sharani sich gleichzeitig erleichtert und verlassen. Die beiden hatten ungefähr das Alter ihrer Eltern, die irgendwo da draußen ihr Kleinstadtleben lebten, keine fünfzig Kilometer entfernt. Nein, sie hatte die Eltern nicht besucht vor ihrer Abreise. Die verstanden ja gar nichts.

In Würzburg stiegen jede Menge Leute in den Zug, die meisten schauten kurz in ihr Abteil und gingen dann weiter. Mit ihren roten Klamotten schien sie wohl gefährlich zu sein. Oder aussätzig? Jedenfalls so anders, dass niemand ihre Nähe suchte. Bis dann schließlich doch die Tür aufging. Sharani sah erst auf, als sich ein oranges Hosenbein in ihr Blickfeld schob, orange Socken in roten Wildlederschuhen… „Namaste, Ma“, sagte eine tiefe Stimme, dann ließ der Neuankömmling sich auf den Sitz ihr gegenüber plumpsen. „Auch unterwegs nach Hause?“

Der Swami hatte einen riesigen Rucksack dabei. Die zerzausten Haare reichten ihm auf die Brust, das Gesicht verschwand fast vollständig hinter einem dichten Vollbart. „Nach Hause? Nee, ich bin unterwegs nach Poona“, antwortete sie. „Meine ich doch“, lachte der Vollbart. Sie erwiderte das Lachen nicht. Der Blick, mit dem er sie ansah, unterschied sich nicht viel von dem des Alten, der gerade ausgestiegen war. Ein Fickswami. So nannte sie für sich die Männer, bei denen die spirituelle Suche eindeutig der freien Liebe untergeordnet schien.

„Also, ich bin der Sajeev.“

Interessiert mich nicht die Bohne, wer du bist, solange du mich so angaffst, dachte Sharani und lehnte sich wieder zurück. „Du, sorry“, sagte sie, „ich bin wahnsinnig müde.“

„Hey, relax doch mal“, sagte der Vollbart namens Sajeev. „Du bist ja total verspannt.“

„Am besten kann ich relaxen, wenn du mich bis Frankfurt schlafen lässt“, murmelte Sharani. „Aber weck mich dann, wenn wir da sind, okay?“

Sajeev zog beleidigt die Nase hoch, aber er ließ sie in Ruhe. Aus seinem Mammutrucksack zog er ein Büchlein von Bhagwan. Na immerhin, er interessiert sich anscheinend doch auch für das, was Bhagwan zu sagen hat, dachte Sharani noch, dann schloss sie die Augen. In zwei Tagen würde sie wieder in Poona sein. Und ja, der Vollbart hatte Recht, es war ihr Zuhause. Der Ashram in Poona war mehr ihr Zuhause als irgendein anderer Ort auf Erden.