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Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule bildet eine entscheidende Gelenkstelle für Bildungskarrieren. Die soziale Selektion an diesem Übergang spielt nach wie vor eine große Rolle. Wie lässt sich das erklären? Wie kann in diesem Rahmen ein gewinnbringender Übergang für die 10-12-Jährigen stärkenorientiert unterstützt werden? Zu diesen Fragen werden grundlegende wissenschaftliche Positionen eingebracht, beispielhaft Übergangsbedingungen im Kontext von Inklusion untersucht und Sichtweisen von SchülerInnen vorgestellt. Diskutiert wird, wie künftig mehr Bildungsgerechtigkeit am Übergang nach der Grundschule erreicht werden kann.
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Seitenzahl: 278
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KinderStärken
Hrsg. von Petra Büker
Die Autorinnen
Ursula Carle ist Professorin für Grundschulpädagogik (i.R.) an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Schul- und Unterrichtsentwicklung im Kontext jahrgangsübergreifenden Lernens, Übergänge und Inklusion.
Jana Herding ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn im Arbeitsbereich Grundschulpädagogik und Frühe Bildung. Ihre Forschungsschwerpunkte bilden die Übergänge in der Grundschule, insbesondere zur weiterführenden Schule aus der Sicht von Kindern.
Autorin der nicht anders gekennzeichneten Teile der Kapitel 1-4 ist Ursula Carle. Die Beiträge von Jana Herding sind entsprechend gekennzeichnet. Alle weiteren Texte wurden gemeinsam verfasst.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-038468-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-038469-9
epub: ISBN 978-3-17-038470-5
Vorwort der Herausgeberin
Problemaufriss und Einführung in den Band
Übergänge in gestuften und gegliederten Schulsystemen
Zur Argumentationslogik des Bandes
1 Übergang in die Reformbaustelle Sekundarstufe I
1.1 Kampf um Bildungsgerechtigkeit – Kristallisationspunkt Übergang
1.2 Theoretische Einordnung der institutionellen Wirkmechanismen am Übergang in die Sekundarstufe
1.3 Die Sicht der Kinder auf das Schulsystem (Jana Herding)
1.4 Zusammenfassung Kapitel 1
2 Übergänge mitten in einer virulenten Entwicklungsphase der Kinder
2.1 Die 10- bis 12-Jährigen auf dem Weg ins Erwachsenwerden
2.2 (Retro-)Perspektive Erwartungen und Bewältigungsstrategien von Viert- und Fünftklässler*innen (Jana Herding)
2.3 Zusammenfassung Kapitel 2
3 Inklusion am Übergang in die Sekundarstufe I
3.1 Inklusion – der Heterogenität der Kinder gerecht werden
3.2 Übergänge in die Sekundarstufe in Baden-Württemberg unter dem Fokus Inklusion
3.3 Übergänge in die Sekundarstufe in Bremen unter dem Fokus Inklusion
3.4 Übergänge in die Sekundarstufe in Brandenburg unter dem Fokus Inklusion
3.5 Übergänge in die Sekundarstufe in Nordrhein-Westfalen unter dem Fokus Inklusion (Jana Herding)
3.6 Übergangsprozess zweier Mädchen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Bereich Lernen – ein Fallvergleich (Jana Herding)
3.7 Zusammenfassung Kapitel 3
4 Die Zukunftsaufgabe: Die Ressourcen der Kinder und Eltern stärken
4.1 Die Rechte des Kindes im Schulsystem stärken
4.2 Wirkungen institutioneller Bedingungen auf übergangsrelevante personale Ressourcen und Fördermöglichkeiten
4.3 Phasen des Übergangs aus der Retrospektive der Kinder (Jana Herding)
4.4 Eltern am Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule unterstützen
4.5 Curriculare und pädagogische Anschlussfähigkeit vertikal und horizontal
4.6 Zusammenfassung Kapitel 4
5 Den Übergang in die Sekundarstufe ressourcenorientiert gestalten: Fazit
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Das Kind als Gestalter und als kompetenter Akteur seiner Lebens- und Bildungsbiografie: Diese im Sozial-Konstruktivismus verankerte Sicht auf das Kind steht aktuell im Fokus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Diskurse sowie in Bildungsplänen für Kinder im Elementar- und Grundschulbereich. Kinder verfügen für die Gestaltung ihrer pluralen, komplexen Lebenswelten über enorme Stärken, die es durch Familie, Peers sowie pädagogische Fach- und Lehrkräfte als kompetente Mit-Akteure zu erkennen und zu stärken gilt: Diese Grundidee wird in der Fachbuch-Reihe KinderStärken aufgegriffen und entlang der Lebensspanne von der Geburt bis zum Übergang in die weiterführende Schule in zehn Bänden kritisch und differenziert beleuchtet. Ein interdisziplinäres Autorenteam, bestehend aus Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Früh-, Elementar- und Grundschulpädagogik sowie der Entwicklungspsychologie, widmet sich in jeweils einem Band ausführlich einer spezifischen Lebensspanne, wissenschaftlich fundiert und nah an der pädagogischen Praxis. Der vorliegende Band 10 der Reihe thematisiert den Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule im selektiven deutschen Bildungssystem, welches als solches Kinder, Eltern und Lehrkräfte vor besondere Herausforderungen stellt.
Seit mehr als 100 Jahren existieren Bestrebungen, den institutionellen Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe sozial gerechter zu gestalten. Doch bis heute gibt es noch keine Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit für jedes Kind. Wie lässt sich dies erklären? Der Band liefert mit Hilfe einer politiktheoretischen institutionenhistorischen Analyse ein äußerst vielschichtiges und zugleich genaues Bild über die wirkmächtigen Ursachen des Selektionsproblems, identifiziert aber auch Bedingungsfaktoren für erreichte Fortschritte. Diese greifen die Autorinnen auf und erarbeiten auf sehr systematische Weise Anregungen und Ansatzpunkte für eine an den Bedürfnissen, Kompetenzen und Interessen der Kinder orientierten, Ressourcen nutzenden Gestaltung des Übergangs. Dabei werden aktuelle entwicklungs- und sozialisationstheoretische Perspektiven ebenso einbezogen wie Fragen der Inklusion und der Kooperation mit Eltern. Eine weitere Besonderheit des Bandes ist der konsequente Einbezug der Sichtweisen von Viert- und Fünftklässler*innen, die sie kurz vor bzw. nach ihrem erlebten Übergang im Rahmen einer qualitativen Kinderstudie geäußert haben. Dabei vermögen die Kinder selbst wertvolle Vorschläge für den Umgang mit übergangsbedingten Herausforderungen zu geben. Ursula Carle als ausgewiesene Expertin für Grundschulpädagogik und Übergangsfragen und Jana Herding als junge, auf das Forschen mit Kindern spezialisierte Wissenschaftlerin gelingt auf diese Weise eine einzigartige Kombination aus interdisziplinärer theoretischer Fundierung und empiriegestützten Akteursperspektiven, die dem Facettenreichtum des Grundschulübergangs auf ganz besondere Weise gerecht wird. Sowohl für wissenschaftlich Interessierte, für Studierende und für Lehrkräfte der Primar- und Sekundarstufe eröffnet der Band aktuelles Fachwissen, spannende Diskussionsimpulse und neuartige Ansatzpunkte für eine verbesserte Übergangsgestaltung, die auch eine institutionenkritische Reflexion mit Kindern einschließt.
Petra Büker
Paderborn, im Sommer 2022
Was verstehen wir unter einer ressourcenorientierten Gestaltung des institutionalisierten Übergangs von der Grundschule in die Sekundarstufe? Die Überschrift des Bandes kann durchaus missverstanden werden, wenn die pädagogische Intention und das systemische Verständnis ungeklärt bleiben. In diesem Buch untersuchen wir, wie die Stärken aller Grundschulkinder als kompetente Gestalter*innen ihrer Lebens- und Bildungsbiografie am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe zur Geltung kommen können. Denn Kinder besitzen unterschiedliche und vielfältige personale und soziale Ressourcen, die sie gerade in hoch emotional aufgeladenen Lebensphasen wie den Übergängen nutzen und dadurch weiterentwickeln. Ob, wie und inwieweit Kinder ihre Ressourcen einsetzen, ist zwar geprägt durch ihre Erfahrungen, aber keine rein individuelle Angelegenheit, sondern hängt stark davon ab, welche Bedingungen ihnen ihr soziales Umfeld und das Schulsystem zur Verfügung stellen.
Anders als beim Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung (als nicht verpflichtend zu besuchende Bildungsinstitution) gibt für den Übergang in Schulen das Schulsystem an erster Stelle den Rahmen vor. Schulsysteme sind entweder gestuft oder gegliedert aufgebaut. Zum Beispiel hat Italien ein gestuftes Schulsystem1. Hier besuchen alle Schüler*innen nach der fünfjährigen Primarschule ohne jede Auslese eine dreijährige Mittelschule, die mit einer Abschlussprüfung abschließt. Für die Einschreibung in eine Schule der Oberstufe hat der Abschluss der Mittelschule keine ausschließende Bedeutung. Alle Schüler*innen wählen nach ihren Interessen und multiplen Begabungen aus dem Bildungsangebot der Oberstufe. Alle Schulen der Oberstufe ermöglichen einen Abschluss mit Hochschulreife, einige zudem einen Berufsabschluss. Die personalen Ressourcen der Kinder sind in allen Schulstufen Ausgangspunkt für die individuelle Förderung, auf die jedes Kind einen Anspruch hat. Es ist Aufgabe der Schule, sich auf die heterogenen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen einzulassen und den Unterricht adaptiv zu gestalten. Die Kinder und Jugendlichen bekommen viel Zeit und Unterstützung, um ihre individuellen Fähigkeiten in der Schulzeit zu entwickeln, Begabungen und Interessen zu erkennen und auszubauen. Sonderschulen und Sonderklassen an Regelschulen wurden 1977 gesetzlich abgeschafft.
Schulsysteme in Skandinavien bestehen aus einer gemeinsamen Grundschule, die 9–10 Jahre dauert. Eine Vorschulklasse kann vorgeschaltet sein. Danach wählen die Schüler*innen nach Schulleistung und Neigung eine weiterführende Oberstufe mit der Möglichkeit, einen Abschluss zu erwerben, der zu einem Studium führt oder alternativ auf eine Berufsausbildung vorbereitet. Die Gliederung des Schulwesens beginnt also erst nach der 10. Klasse. Mit dem Abschlusszeugnis der zehnjährigen Grundschule wird die Zugangsvoraussetzung für die berufliche oder die studienvorbereitende weiterführende Schule erworben (vgl. Eacea & Euridice 2021). Nur in Norwegen wurden 1992 bereits die Sonderschulen aufgelöst. Heute werden hier fast alle Kinder gemeinsam unterrichtet, nur wenige zeitweise in separierten Gruppen. In Schweden gibt es spezialisierte Sonderschulklassen, die an die Grundschulen angegliedert sind (vgl. Schumann 2010).
Im gegliederten Schulwesen in Deutschland teilen sich die Wege der Schüler*innen bereits nach der vier- oder sechsjährigen Grundschule, der Schulform, die alle Kinder besuchen müssen, in verschiedene Schularten. Hauptschulen, aber auch Gemeinschaftsschulen, Gesamtschulen oder Oberschulen, soweit regional vorhanden, können von jedem Kind angewählt werden. Für die Realschule und das Gymnasium sind bestimmte Voraussetzungen wie eine Grundschulempfehlung oder ein bestimmter Notendurchschnitt in den sog. Hauptfächern der Grundschule erforderlich. Trotz einer gewissen Durchlässigkeit und diversen Möglichkeiten, nach einem Hauptschulabschluss weitere Bildungsgänge anzuschließen, ist die Festlegung nach der Grundschule für den weiteren Bildungsweg prägend. Die Idee hinter dem gegliederten Schulwesen ist in Deutschland die frühe Einteilung der Kinder in möglichst schulleistungshomogene Gruppen, um den Kindern effektiver gerecht zu werden. Es zeigt sich aber, dass Kinder aus bildungsferneren und sozial unterprivilegierten Schichten dabei systematische Benachteiligungen erfahren. Der Anteil der Kinder, die Sonderschulen besuchen, nimmt bei steigender Akzeptanz von Inklusion unter den herrschenden schulstrukturellen Bedingungen kaum ab (vgl. Hollenbach-Biele & Klemm 2020).
Ein Forschungsdesiderat bleibt die systematisch vergleichende Erfassung des Übergangs im gegliederten Schulsystem von der Grundschule in die Sekundarstufe I aus Sicht aller an diesem beteiligten relevanten Akteure. Dies ist jedoch für eine Optimierung der Übergangsgestaltung und der darin eingelagerten Prozesse der ko-konstruktivistischen Begleitung wie auch der institutionenübergreifenden Kooperation von hoher Bedeutung (vgl. Seifert & Wiedenhorn 2018). Insbesondere qualitative Studien, die den selektiven Übergangsprozess von der Grundschule in die Sekundarstufe im Längsschnitt sowie vor allem reflektiert aus Sicht der Kinder selbst rekonstruieren, bilden weithin ein Forschungsdesiderat im Kontext der Übergangsforschung (vgl. Büchler 2018; Seifert & Wiederhorn 2018), auch wenn in diesen Band bereits erste Stellungnahmen von Kindern aus einer laufenden umfangreichen Untersuchung eingehen.
In der perspektiven- und methodentriangulierten Übergangsstudie SUrPriSe, angesiedelt im Arbeitsbereichs Grundschulpädagogik und Frühe Bildung der Universität Paderborn mit Prof. Dr. Petra Büker als Projektleitung und Jana Herding als Projektkoordination, werden die Sichtweisen von Kindern, Eltern, Grund- und Sekundarstufenlehrkräften sowie Schulleitungen in Teilstudien und im Rahmen quantitativer und qualitativer Erhebungen erfasst und verglichen. Das Akronym SUrPriSe steht daher für: Sichtweisen auf den Übergang reflektieren: von der Primarstufe zur Sekundarstufe. Langfristiges Ziel der Übergangsstudie ist zum einen die Erkenntnisgewinnung im Sinne von Grundlagenforschung mit Blick auf verschiedene übergangsbeteiligte Akteure, zum anderen wird auch im Sinne von Handlungsforschung ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung des Übergangs auf weiterführende Schulen angestrebt.
Daher liegt der Fokus der in diesen Band in kleinen Ausschnitten einfließenden Aspekte aus der Teilstudie KINDER auf der Perspektive der Kinder selbst und auf ihrem individuellen Erleben des Übergangsprozesses in die weiterführende Schule.
Es drängt sich die Frage auf, warum sich in Deutschland die Idee des gegliederten Schulwesens durchgesetzt hat, das dem Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe bis heute eine exkludierende Funktion zuweist und damit Kinder in der selbstbestimmten Entwicklung ihrer Ressourcen einschränkt. Zum Verständnis der Beständigkeit dieser Funktion des Schulsystems über mehr als 100 Jahre lohnt es sich, den historischen Pfad genauer anzuschauen und Einblick in die Wirkweisen des Systems zu nehmen, welches die Sekundarstufe zur Dauerbaustelle gemacht hat (Kap. 1). Wie Kinder, überwiegend aus einer gymnasialen Bildungsperspektive, sich heute mit strukturellen Fragen am Übergang in die Sekundarstufe auseinandersetzen, zeigt beispielhaft ein Ausschnitt aus der KINDER-Studie von Jana Herding und rundet das Kapitel 1 ab.
Trotz des engen Rahmens, der durch die rechtlichen Regelungen am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe vorgegeben ist, aktiviert und motiviert der bevorstehende Übertritt in eine neue Schule die Kinder schon lange vorher. Woran liegt das? Was treibt sie an? Unter sozialisationstheoretischer Perspektive (Kap. 2) zeigt sich, welche Anforderungen der Übergang gerade in dieser Phase ihres Lebenslaufs an die immer noch stark in ihre Familie eingebundenen Kinder selbst stellt und wie sie diese bewältigen. Durch Ausschnitte aus der längsschnittlichen Untersuchung von Jana Herding kommen auch hierzu Kinder selbst zu Wort, und zwar sowohl vor als auch nach dem erlebten Übergang.
Kapitel 3 (Kap. 3) stellt die Frage nach Einflussmöglichkeiten von Eltern am Übergang unter den heute gegebenen Bedingungen. Dabei wird präzisiert, was bereits im historischen Überblick zur Entwicklung der heutigen Übergangsbedingungen angeklungen ist: Obwohl alle Bundesländer am gegliederten Schulsystem festhalten, gibt es gravierende Unterschiede, die sich auch deutlich auf die Inklusionskapazität der Sekundarstufe I auswirken. Mit welchen Regelungen sind Eltern und Kinder konkret konfrontiert? Und wie stellt sich das Übergangsverfahren dar, wenn Kinder Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung haben? Vier sehr unterschiedliche Länderregelungen, die zumindest grob das im Jahr 2020 vorhandene Spektrum repräsentieren, werden kurz vorgestellt. Deutlich wird vor allem, mit was Eltern jeweils konfrontiert sind, wenn sie sich am Übergang in die Sekundarstufe I für ihr Kind engagieren. Hierzu bringen Beispiele aus der Untersuchung von Jana Herding die Sicht von zwei Mädchen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich Lernen ein.
Kapitel 4 (Kap. 4) fügt die beteiligten Systemebenen zusammen und stellt die Frage nach den Zukunftsaufgaben und den Einflussmöglichkeiten unter den heute gegebenen Bedingungen. Dabei werden auch die personalen Ressourcen der Kinder nochmal – jetzt aus der Perspektive der pädagogischen Psychologie – in den Blick genommen und der Frage nachgegangen, wie diese mit den institutionellen Bedingungen interagieren. Fünftklässler*innen – aus der Untersuchung von Jana Herding – reflektieren hilfreiche Faktoren in ihrem eigenen Übergangsprozess und geben damit Empfehlungen für eine gute Übergangspraxis.
Eltern kommen in ihrer Rolle als Anwalt ihres Kindes am Übergang immer wieder in Dilemma-Situationen. Ansprechpartner*innen für sie sind in erster Linie die Grundschule und die weiterführenden Schulen. Es werden Ideen entwickelt, wie Eltern unterstützt werden können.
Schließlich spielt der Kernprozess von Schule, der Unterricht, für gelingende Übergänge eine wichtige Rolle, wie bereits die Ausschnitte aus den Kinderinterviews zeigen. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie der Übergang durch die Gestaltung von Lernprozessen unterstützt werden kann.
Im Abschlusskapitel (Kap. 5) kommen die Verantwortlichkeiten der Kultusministerien ins Spiel, wenn Empfehlungen für eine Beschleunigung des Schulsystemwandels mit Blick auf die Stärkung der Ressourcen der Kinder herausgearbeitet werden.
1 Da in Italien das Schulsystem durch den italienischen Staat einheitlich geregelt ist, kann die deutschsprachige Seite der Landesverwaltung Südtirol einen Einblick geben: https://www.provinz.bz.it/bildung-sprache/deutschsprachige-schule/schueler-eltern/mittelschule.asp. Schulsysteme in Europa siehe: European Commission/EACEA/Eurydice (2018), Grafik S.12 Online verfügbar unter: https://eacea.ec.europa.eu/national-policies/eurydice/sites/eurydice/files/the_structure_of_the_european_education_systems_201819_schematic_diagrams_-_final_report.pdf. Zugriff am 10.01.2022
Während die Primarstufe als erste Stufe des Schulwesens in Deutschland seit der Weimarer Republik von relativ hoher struktureller Kontinuität geprägt ist, stellt die Sekundarstufe mit ihrer Gliederung in verschiedene Schularten eine permanente Reformbaustelle dar. Mit der Vielgliedrigkeit ist die frühe Zuweisung von Bildungswegen und damit auch von Bildungschancen verbunden. Der Übergang von der Grundschule in eine der weiterführenden Schulen stellt also für die Kinder wichtige Weichen für ihre weitere Bildungslaufbahn. Problematisch ist daran vor allem die statistisch bis heute nachweisbare Kopplung von sozialer Herkunft und Zuweisung zu einer bestimmten Schulart, der entgegenzuwirken versucht wird. Zeigt doch die Institutionenhistorie, dass die Kernprobleme dieses institutionellen Übergangs sich seit über 100 Jahren hartnäckig halten, auch wenn durch die meisten Reformen punktuelle Verbesserungen erfolgt sind. Die damit zusammenhängenden historisch gewachsenen schulstrukturellen Fragen werden in diesem Kapitel aufgefächert. Aber warum erfolgt der Wandel so langsam? Welche gesellschaftlichen Konflikte verhindern eine Weiterentwicklung? Welche Vorstellungen haben die Eltern und Kinder in Bezug auf ihre Position im Schulsystem? Auch diese Fragen werden in diesem Kapitel bearbeitet. Was das für Kinder und Eltern heute konkret bedeutet, wird in späteren Kapiteln aufgegriffen.
Am Übergang in die Sekundarstufe wird für die Kinder eine zentrale Entscheidung für ihren künftigen Bildungsweg getroffen. Das ist nicht in allen Bildungssystemen der Fall, sondern nur, wenn es sich um ein gegliedertes Schulwesen handelt. In Deutschland sind die Kinder mit dieser weitreichenden Entscheidung besonders früh konfrontiert, wenn sie bereits nach der vierten Klasse von der Grundschule in eine der weiterführenden Schularten wechseln. Besonders problematisch wirken die Übergangsentscheidungen vor dem Hintergrund eines ethischen Verständnisses von Bildungsgerechtigkeit, weil sie im statistischen Ergebnis eine deutliche Kopplung von sozialem Status und zugewiesener Schulart spiegeln. Dieses Problem existiert seit es institutionalisierte Bildung für Kinder gibt. Im Folgenden wird die historische Entwicklung des deutschen Schulsystems dargestellt. Es werden Phasen identifiziert, die sich jeweils durch ein bestimmtes Merkmal auszeichnen. Dabei liegt der Fokus auf der historischen Entwicklung der Übergänge in die weiterführenden Schulen und somit auf der Frage, wie sich im gegliederten Schulsystem die Bildungsgerechtigkeit entwickelt hat.
Primar- und Sekundarstufe des deutschen Bildungswesens heutiger Prägung sind ein Resultat des Bildungskompromisses zu Beginn der Weimarer Republik. Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert war im Kaiserreich die Alphabetisierung der Bevölkerung und die Umsetzung der Schulpflicht zwar weitgehend gelungen, jedoch blieben die strukturell verankerten ungleichen Chancen bestehen, da sich die Struktur des Bildungswesens nur langsam weiterentwickelte und diese Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde.
Durch das rasante Anwachsen der Zahl schulpflichtiger Kinder herrschte um 1900 in den öffentlichen Schulen Platzmangel und Lehrermangel. Die Lehrerausbildung wuchs in der Folge rapide. In den Städten und insbesondere an ihren Rändern in entstehenden neuen Wohngebieten wurden unter Einbezug von Pädagogen und Medizinern2 große Schulgebäude errichtet (bis zu 2000 Schüler*innen), die mit Gaslicht und später mit elektrischem Licht und mit Dampfheizung, fließendem Wasser und Telefon ausgestattet waren. Sie konnten Spezialräume für Fachunterricht, Vorbereitung und Lagerung von Lehr-, Anschauungs- und Verbrauchsmaterial, eine Turnhalle, Duschen, eine Aula und teils einen Schulgarten, einen Spielplatz sowie in der Regel eine Schuldienerwohnung vorweisen. Schulhygiene erhielt eine hohe Aufmerksamkeit, da man in den großen Einrichtungen eine höhere Infektionsgefahr erwartete. Nach Geißler (2013, S. 229) unterstützten Baden, Bayern, Hessen, Sachsen und Württemberg die Gemeinden beim Schulbau besonders wirksam. Die Ausstattungsqualität der Schulen und die Schüler*innenzahl pro Klasse (zwischen 39 und 67 Kinder, vgl. ebd. 231f.) variierten zwischen den Städten erheblich. Es gab dennoch auch weiterhin Schulen in Behelfsbauten oder in angemieteten Räumen. Auch in den neuen Volksschulen waren Jungen- und Mädchenklassen baulich (einschließlich Schulhof) getrennt. Während in den Städten Volksschulen Klasse 1 bis 8 umfassten, gab es auf dem Land nach wie vor auch 6- bis 7-jährige Volksschulen.
Auch der Übergang der Kinder unterschied sich um 1900 abhängig vom soziokulturellen Einzugsgebiet deutlich. In wohlsituierten Gebieten mit hohem Beamtenanteil wechselten in der Regel nach dem vierten Volksschuljahr deutlich mehr als ein Drittel der Kinder in die schulgeldpflichtigen und nicht abiturberechtigten mittleren und die ebenfalls schulgeldpflichtigen höheren Lehranstalten (vgl. Geißler 2013, S. 231). Das Problem der sozioökonomischen Selektion am Übergang wurde zunehmend Gegenstand öffentlicher Kritik. In Preußen wurde ab 1910 die schulgeldfreie voll ausgebaute Mittelschule mit Klasse 1–9 die Regel. In einigen Städten entstanden um 1910 Sammelschulhäuser, in denen Volksschule, Mittelschule und Hilfsschule nebeneinander untergebracht waren. 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, brachen der Ausbau der Schulen und die Reformen im Bildungswesen ab.
Nach dem ersten Weltkrieg und der Gründung der Weimarer Republik am 9. November 1918 wurden die Leitungen der meisten Unterrichtsministerien der Länder und alle Verwaltungsebenen der Schulaufsicht erstmals überwiegend mit Lehrern besetzt. Im Deutschen Lehrerverein waren etwa 75 % aller Volksschullehrer organisiert und fordern die »Einheitsschule vom Kindergarten bis zur Hochschule und in ihr das unbeschränkte Recht jedes Kindes auf Bildung und Erziehung nach Maßgabe seiner Fähigkeiten und seines Bildungswillens, ohne Rücksicht auf Vermögen, Stand und Glauben« (Schulforderungen des Deutschen Lehrervereins nach Geißler 2013, S. 384). Darüber hinaus sei eine oberste Reichsschulbehörde zu schaffen. Man wollte also eine reichsweite Angleichung der bisher landesspezifischen Schulsysteme. Im Weimarer Schulkompromiss wurde schließlich die nur vierjährige Grundschule für alle Kinder festgelegt und 1920 durch das Reichsgrundschulgesetz auf Reichsebene für alle Länder besiegelt. Alle weiteren Regelungen variieren weiterhin bis heute zwischen den Ländern. Das Schaubild (Abb. 1) zeigt die zentralen Änderungen im Aufbau des Schulwesens ohne Berücksichtigung der Variationen.
Abb. 1: Vereinfachte Darstellung der Schulstruktur vor 1919 und nach 1919 (eigene Darstellung U. Carle)
Waren die Schullaufbahnen vor der Weimarer Republik im Deutschen Kaiserreich noch weitgehend durch die Herkunft des Kindes festgelegt und wurden die Schulkarrieren für die meisten Kinder am Schulanfang bereits entschieden, so verlagerte sich die Schullaufbahnentscheidung nun formal in die vierte Klasse der Grundschule. Trotz des Reichsgrundschulgesetzes, welches die Vierjährigkeit der Grundschule festschrieb, setzte sich die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer (AsL) weiterhin für eine achtjährige Grundschule ein, an die eine vierjährige Pflichtoberschule anschließen sollte (vgl. Hackl 1990, S. 94ff.).
Fast überall blieb die vierjährige Grundschule jedoch eine Art Unterstufe der Volksschule, im gleichen Gebäude und ohne eigene Schulleitung. Auch die Abschaffung der bestehenden dreijährigen Vorschulen bzw. Vorklassen, insbesondere an Gymnasien3, traf auf Widerstand und dauerte mehr als 10 Jahre (vgl. Carle 2000, S. 200f.). Speziell ausgebildete Grundschullehrkräfte gab es noch nicht.
Die Höheren Schulen waren je nach Standort unterteilt in neunjährige Gymnasien, die zur Hochschulreife führten, und in sechsjährige Schulen, die zur Mittleren Reife führten. Bei den Mittelschulen gab es nach wie vor auch nach 1919 Rektoratsschulen, die einen Wechsel ins Gymnasium ermöglichten, Bürgerschulen, die auf einen kaufmännischen Beruf vorbereiteten, sowie spezielle Mädchenschulen. Darüber hinaus entwickelten sich Aufbauschulen, die zu einem mittleren Abschluss und zur Hochschulreife führten, wodurch die Chancengerechtigkeit gefördert werden sollte.
Wenn auch die äußere Schulreform mit Gründung der Grundschule den Einheitsschulgedanken bedingt durch gravierenden konservativen Widerstand nur bruchstückhaft und lediglich für die ersten vier Schuljahre umsetzen konnte, so gewann doch – gestützt durch die schulorientiert besetzten Stellen in der Schulaufsicht – das reformpädagogische Denken allmählich Einfluss auf Teile aller Schularten. Es veränderte sich der Unterrichtsstil weg vom Dozieren hin zum gemeinsamen Arbeiten, auch in den Höheren Schulen. Fragen der Leistungsbeurteilung wurden pädagogisch diskutiert, Prüfungs- und Versetzungsbestimmungen geändert. In Preußen wurde die Erteilung des Reifezeugnisses seit 1926 an die Gesamtreife der Schüler*innenpersönlichkeit gekoppelt (vgl. Geißler 2013, S. 484).
Der soziokulturellen Durchlässigkeit4 standen aber weiterhin die mangelnde Lehrmittelfreiheit und die Schulgeldpflicht an den Höheren Schulen entgegen, die jedoch durch unterschiedliche Regelungen auf Landesebene oder kommunal sozial ein wenig abgefedert wurden. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 fielen diese Regelungen teilweise dem öffentlichen Sparzwang zum Opfer. Die Zulassungsbedingungen für die höheren Schulen wurden, außer zunächst in Preußen, durch das Aufnahmeverfahren und die Erhöhung des Schulgeldes verschärft. Geißler (2013, S. 529) berichtet, dass in Baden 1931 und in Sachsen 1932 sogar Aufnahmesperren für die höhere Schule angeordnet wurden, weil ca. 15% eines Altersjahrgangs in die überfüllte höhere Schule wechselten. Im Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen wurde demgegenüber zur gleichen Zeit darauf hingewiesen, dass besonders befähigte Schüler*innen im Rahmen der verschärften Begabtenauslese nicht aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft benachteiligt werden sollen. Die Entscheidung traf ein Ausschuss, der die Leistungen der Grundschulzeit berücksichtigte. Es wurde verdeutlicht, dass die Kooperation zwischen Grundschule und weiterführender Schule die Basis für einen gelingenden Übergang sei (vgl. Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung 1931, S. 67f.). Durch verschärfte Versetzungsbestimmungen in den höheren Schulen und ein Zeugnis der Mittleren Reife für alle, die nach der 10. Klasse eine Schule abgeschlossen hatten, versuchte man die höhere Schule unattraktiver zu machen. Neben den oben genannten führten nun auch die zehnklassige gehobene Volksschule sowie die zwei- bis dreijährigen Fachschulen zur Mittleren Reife.
Die Koppelung von sozialer Herkunft und Schulkarriere stellte sich dennoch am Ende der Weimarer Republik derart dar: Wohlhabende Eltern ermöglichten Jungen und Mädchen den Abschluss der höheren Schule, gegebenenfalls mit privater Lernhilfe. Das Abitur gehörte in diesen Kreisen weiterhin zur schichtspezifischen Lebensausstattung. Bereits für mittelständische Familien verursachte die Finanzierung des Besuchs der höheren Schule für ein Kind deutliche Einschränkungen im Familienhaushalt, war aber, sofern noch Freiplätze oder Zuschüsse beantragt werden konnten, zumindest möglich. In Arbeiterhaushalten, die von Arbeitslosigkeit bedroht waren, bestand kaum eine Chance, dass die Familie einem Kind den Besuch der höheren Schule finanzieren konnte. Eine wesentliche Errungenschaft der Weimarer Republik war es jedoch, dass die Zuteilung im gegliederten Schulsystem nicht mehr am Schulanfang stattfand, sondern erst nach der vierjährigen Grundschule.
Die Weimarer Republik knüpft an die Errungenschaften des Bildungswesens vor dem ersten Weltkrieg an und treibt etwa zehn Jahre lang die Reformvorhaben weiter voran, deren Ziel vor allem die bessere schulische Bildung breiter Bevölkerungsschichten war. Diesem Ziel ist das Bildungswesen in der Weimarer Republik deutlich nähergekommen, auch wenn die Einheitsschule – etwa in Form der achtjährigen Grundschule – nicht mehrheitsfähig war. Es entstand dennoch mit dem Weimarer Schulkompromiss ein in seiner Zeit pädagogisch und schulstrukturell fortschrittliches Reformwerk, dessen Entwicklungen und Kompromisse bis in die heutige Zeit hineinwirken. Wir wissen heute, dass zehn Entwicklungsjahre nicht ausreichen, um ein Schulsystem durch eine äußere und eine innere Schulreform derart umzustrukturieren, dass es auch massive Krisen überstehen kann. Das trifft umso mehr zu, wenn mit der Umstrukturierung auch althergebrachte Privilegien auf Chancenzuweisung gekippt werden sollen – existieren doch neben den progressiven auch die konservativen Kräfte gesellschaftlich weiter. Mit der gravierenden allgemeinen Verunsicherung der Bevölkerung durch die Weltwirtschaftskrise 1929 gewannen konservative Kräfte an Einfluss und versuchten das Rad rückwärts zu drehen, indem sie den Zugang zu höheren Schulen nach der Grundschule drastisch zu reduzieren versuchten (vgl. Verband Deutscher Hochschulen/Deutscher Philologenverband 1931). Die Problematik, dass wirtschaftliche und/oder politische Krisen zu Rückschritten führen, zieht sich bis heute durch die Entwicklung des deutschen Schulsystems und kristallisiert sich noch immer am Übergang zwischen Primar- und Sekundarbereich heraus. Gleichwohl hat die grundlegende Veränderung der Schulstruktur in der Weimarer Republik zu einer neuen Stabilität geführt, die auch die Zeit des Nationalsozialismus überstanden hat, wie das folgende Kapitel zeigt.
Mit der Machtübernahme der NSDAP wurden in kürzester Zeit die Lehrerorganisationen aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. Sozialdemokratisch orientierte Schulaufsichtsbeamt*innen wurden in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Reformpädagogisch orientierte Schulleiter*innen sowie Lehrer*innen, die ihre pädagogische Position verteidigten oder die sich gegen die NSDAP exponiert hatten, wurden entlassen. So wechselte das NS-Regime beispielsweise in Preußen bis 1934 bereits 16 % der Direktorenstellen im höheren Schulwesen aus, in Thüringen wurde etwa 10 % der Volksschullehrerschaft entlassen oder versetzt. Betroffen sind auch die Leitung und Lehrende der Lehrerbildungseinrichtungen. Alle Lehrer*innen, die im Schuldienst verblieben, mussten sich mit einer Verpflichtungserklärung zum NS-Staat bekennen (vgl. Geißler 2013, S. 548ff.). Die Pädagogik vom Kinde aus wurde verworfen, aber dennoch methodisch daran angeknüpft, um die Kinder und Jugendlichen zu gewinnen. Lehrmittel, auch Fibeln, überarbeitete man im Sinne der nationalsozialistischen Erziehung. Die Lernschule sollte durch eine Charakterschule abgelöst werden. Sie wurde auch inhaltlich zunehmend völkisch und militaristisch ausgerichtet. So lehrte man etwa im Naturkundeunterricht, dass auch der Mensch dem Gesetz der Auslese unterläge.
Zwar wurde vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1935 auch eine »endgültige Schulreform« angekündigt, die das Schulsystem vereinfachen sollte, dann aber nicht umgesetzt. Vorgeschlagen hatten einzelne Landesschulbehörden und der nationalsozialistische Lehrerverband aus Hamburg eine Verlängerung der Grundschuldauer auf sieben Jahre mit anschließender dreijähriger Mittelschule und darauf aufbauender höherer Schule. Die Ministerien aus Bayern und Württemberg hingegen forderten eine Verkürzung der Grundschuldauer auf drei Jahre (vgl. Geißler 2013, S. 589). Es blieb bei der vierjährigen Grundschule und dem weit verzweigten Angebot verschiedener Schularten, um zur Mittleren Reife oder zum Abitur zu gelangen. Die akademisch gebildeten Eliten erhielten die Zusicherung, dass körperlich und geistig gut entwickelte Kinder bereits nach drei Grundschuljahren in eine grundständige Höhere Schule wechseln könnten. 1938 wurde im Reichs-Schulpflichtgesetz die Dauer des Volksschulbesuchs auf acht Jahre festgesetzt. 1941 kam nach dem Anschluss Österreichs nach österreichischem Vorbild eine weitere Schulart für begabtere Volksschüler*innen hinzu, die als Hauptschule bezeichnet wurde. Ab dem 5. Schuljahr verfolgte sie anspruchsvollere Lernziele als die Volksschuloberstufe. An den höheren Schulen wurde schließlich die Schulzeit auf 12 Jahre verkürzt. Die regelhaft höhere Schule wurde die Oberschule (Abb. 2). Nur wenige Gymnasien blieben als Geste gegenüber der konservativen Tradition erhalten.
Die Oberschulaufnahme nach der Grundschule erfolgte auf der Basis eines Gutachtens der Grundschule und einer schriftlichen, mündlichen sowie körperlichen Eignungsprüfung. War das Ergebnis nicht gänzlich ungenügend, konnten sich die Schüler*innen im kommenden Jahr nochmals bewerben. Es gab aber nach wie vor auf Antrag Freiplätze, Geschwister- und sonstige Ermäßigungen.
Abb. 2: Deutsches Schulwesen im Nationalsozialismus (Quelle: Geißler 2013, S. 557; Original: Hehlmann 1941, S. 67)
Durch dieses Verfahren wurde die soziale Auslese jedoch nicht überwunden, da die Schulgeldpflicht für die höhere Schule erhalten blieb. Im Krieg verschärfte sich die Situation durch Mangel an Räumen, Personal, Heizmitteln und Lehr- und Lernmitteln drastisch. Der Unterricht kam stellenweise ganz zum Erliegen.
Im NS-Staat veränderte sich das Schulsystem in seinem Aufbau abgesehen von einer geringfügigen weiteren Ausdifferenzierung kaum. Es kamen die Hauptschule und spezifisch parteipolitisch ausgerichtete Schulen hinzu. Am Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe blieben die Probleme der (sozialen) Auslese weiter bestehen. Durch die Siegermächte wurde gerade diese Auslesefunktion des gegliederten Schulsystems in den verschiedenen Besatzungszonen auch mit demokratischen Perspektiven konfrontiert, wodurch sich zunächst Möglichkeiten für Reformen ergaben, wie das folgende Kapitel erläutert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands nahmen die Siegermächte auch Einfluss auf die Struktur des Schulsystems und die institutionell verankerten Übergänge. Am stärksten ist der Einfluss durch die USA und die Sowjetunion.
Bereits im Frühsommer 1946 wurde im Verwaltungsgebiet der sowjetischen Besatzungsmacht das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule erlassen. Es sah einen radikalen Umbau des Schulsystems vor, insbesondere sollte die Zuweisung in verschiedene Schulen nach der Grundschulzeit entfallen. An die Stelle des auslesenden dreigliedrigen Schulsystems sollte eine in aufbauenden Stufen organisierte Einheitsschule entstehen: auf die achtjährige Primarstufe sollte für alle Kinder die weiterführende Schule folgen. Dieses System wurde auch in der 1949 gegründeten DDR mit der zunächst achtjährigen polytechnischen Oberschule aufrechterhalten.
Die USA zogen nach, indem Präsident Harry S. Truman unter Vorsitz des Bildungsexperten George F. Zook eine Expertenkommission einsetzte, die dem Alliierten Kontrollrat als oberste Besatzungsbehörde Vorschläge für die Demokratisierung des deutschen Schulwesens unterbreiten sollte. In der »Kontrollratsdirektive Nr. 54: Grundprinzipien für die Demokratisierung des Bildungswesens in Deutschland (1947)« wurde u. a. als Richtlinie für alle Besatzungszonen festgelegt, dass für die Pflichtschulzeit alle Schulen ein zusammenhängendes Bildungssystem darstellen sollten und zwar ohne unterschiedliche Wege und Abschlüsse (Michael & Schepp 1993, 233f.). Der Kommission ging es vor allem um Chancengleichheit im Bildungswesen als Basis für Demokratisierung. So heißt es zum dreigliedrigen Bildungssystem mit der frühen Zuweisung von Bildungschancen: »Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh« (Zook-Report 1946, S. 19; Übersetzung: Lange-Quassowski)5. Die Umsetzung der Direktive sollte durch die Bundesländer, die bereits eingerichtet worden waren, erfolgen. Dann würden alle Kinder bis zum Ende der Pflichtschulzeit (damals war das das 8. Schuljahr) eine gemeinsame Schule besuchen. Damit gäbe es keinen institutionellen Übergang mehr innerhalb der Pflichtschulzeit, der Lebenschancen vorbestimmt.
Doch zuerst in den südlichen Bundesländern, bis 1949 auch im Norden, wurden Bildungspolitiker*innen mit sozialistischen Positionen, wie die Befürwortung einer Einheitspflichtschule, im Rahmen von Koalitionsregierungen durch konservative Bildungspolitiker*innen ersetzt. Diese vertraten die biologistische Position, dass das deutsche Schulsystem aus begabungstheoretischer Sicht einer Einheitsschule überlegen sei.
»Nicht in Zweifel steht so, dass eine in der jeweils nachwachsenden Generation gesamtgesellschaftlich angenommene, statische, naturgegebene Verteilung von weitgehend ›umweltstabilen‹ Begabungen Schulformen erforderlich mache, die dieser Verteilung qualitativ im Bildungskonzept und quantitativ in der Bildungsbeteiligung entsprechen. Um die jeweilige Begabung zur Entfaltung zu bringen, sei die Entscheidung über den Verbleib in der Volksschule oder den Wechsel auf die höhere Schule ›rechtzeitig‹, möglichst früh zu treffen« (Geißler 2013, S. 716).
Dieser Position der Befürwortung einer frühen Chancenzuweisung für die Kinder, der linke Politiker*innen auch damals vehement widersprachen, kann heute evidenzbasiert mit internationalen Vergleichsstudien widersprochen werden.
»Alle Schülerinnen und Schüler – ganz gleich, ob mit oder ohne Migrationshintergrund oder aus günstigen oder ungünstigen sozioökonomischen Verhältnissen – würden zudem davon profitieren, wenn weniger stark von Praktiken Gebrauch gemacht würde, die dazu führen, dass Schüler auf verschiedene Bildungsgänge oder Schultypen verteilt werden, vor allem wenn dies schon in den ersten Jahren des Sekundarbereichs geschieht. Diese Praktiken führen häufig zu Unterschieden in Bezug auf Umfang und Niveau des Naturwissenschaftsunterrichts, den Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem Hintergrund erhalten« (OECD 2016, S. 8).
Bereits 2003 wiesen Baumert und Artelt darauf hin, dass das Zeitfenster für schulische Interventionen zum Ausgleich herkunftsbedingter Leistungsunterschiede umso kürzer werde, je früher Schüler*innen auf unterschiedliche Bildungsgänge verteilt würden. Sie stellten weiter fest, dass eine solche frühe Zuweisung dazu führe, dass die sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung zunehmen (vgl. Baumert & Artelt 2003, S. 190). Dennoch argumentiert demgegenüber Lehmann (2011) in einem Gutachten für die Konrad-Adenauer-Stiftung, dass mit Blick auf die Daten innerdeutscher Schulleistungsvergleiche kein Zusammenhang zwischen längerer Grundschulzeit und geringeren sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung bestehe.