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Manche Menschen erholen sich scheinbar mühelos von Rückschlägen, andere zerbrechen daran. Wir denken oft, dass diese Reaktionen unvermeidlich sind, aber das ist zum Glück nicht der Fall. Der Stoizismus, eine der erfolgreichsten Denkschulen aus dem alten Rom, bietet einen alternativen Ansatz: Er lehrt uns, jede Herausforderung als Charaktertest zu betrachten und unsere emotionale Reaktion darauf bewusst zu steuern. Der renommierte Philosoph William B. Irvine kombiniert auf einzigartige Weise antike stoische Erkenntnisse zur Verbesserung der Lebensqualität mit Techniken, die von der zeitgenössischen psychologischen Forschung entdeckt wurden, wie z. B. Ankern und Framing. Das Ergebnis ist eine überraschend einfache Strategie für den Umgang mit unangenehmen und unerwarteten Herausforderungen im Leben – von kleinen Ärgernissen wie einem Stau auf der Autobahn bis hin zu großen Rückschlägen wie denen des Physikers Stephen Hawking, der langsam seine Bewegungsfähigkeit verlor, und des Schriftstellers Jean-Dominique Bauby, der unter dem Locked-in-Syndrom litt. Irvine zeigt, wie wir die Stolpersteine des Lebens in Gelegenheiten verwandeln können, um ruhiger, zäher und widerstandsfähiger zu werden. Wir können nicht nur alltägliche Hindernisse überwinden, wir können sogar von ihnen profitieren.
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Seitenzahl: 187
WILLIAM B. IRVINE
EIN PHILOSOPHISCHES HANDBUCH FÜR MEHR STÄRKE, SEELENRUHE UND RESILIENZ
EIN PHILOSOPHISCHES HANDBUCH FÜR MEHR STÄRKE, SEELENRUHE UND RESILIENZ
VOM AUTOR DES BESTSELLERS EINE ANLEITUNG ZUM GUTEN LEBEN
WILLIAM B. IRVINE
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
2. Auflage 2025
© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Copyright der Originalausgabe © 2019 by William B. Irvine. All Rights Reserved. Die englische Originalausgabe erschien 2020 und 2021 unter dem Titel The Stoic Challenge. A Philosopher’s Guide to Becoming Tougher, Calmer, and More Resilient bei W. W. Norton & Company, Inc., 500 Fifth Avenue, New York, NY 10110, www.wwnorton.com.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Ursula Held und Karin Schuler
Redaktion: Dr. Manuela Kahle
Korrektorat: Anke Schenker
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer in Anlehnung an das Cover der Originalausgabe
Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-558-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-062-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-063-0
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Einleitung Ein Tag am Flughafen
Teil IDer Umgang mit den Herausforderungen des Lebens
Kapitel 1 Rückschläge Wenn sich die Dinge zum Schlechteren wenden
Kapitel 2 Das Wutproblem
Kapitel 3 Resilienz
Kapitel 4 Können wir resilienter werden?
Teil IIDie Psychologie von Rückschlägen
Kapitel 5 Sie sind ein geteiltes Wesen
Kapitel 6 Anker setzen
Kapitel 7 Den Dingen einen Rahmen geben
Teil IIIStoische Prüfungen bestehen
Kapitel 8 Die zweite Herausforderung bei Rückschlägen
Kapitel 9 Die Anwendung der stoischen Teststrategie
Kapitel 10 Die Fünf-Sekunden-Regel
Teil IVDie stoische Lebensführung
Kapitel 11 Vorbereitung auf stoische Tests
Kapitel 12 »Scheitern« gutheißen
Kapitel 13 Abhärtungstraining Die Erweiterung der Komfortzone
Kapitel 14 Glücksfallen Wenn die Dinge sich unerwartet zum Besseren wenden
Kapitel 15 Der Tod Unsere Abschlussprüfung
Zum Schluss Noch ein Tag am Flughafen
Danksagung
Leseempfehlungen
Anmerkungen
Für Loretta Loeb, die mich so viel über Mut und Freundlichkeit gelehrt hat
Ich flog an diesem Tag quer über die Vereinigten Staaten und brauchte in Chicago einen Anschluss. Die Ankunft des Fluges, der mich nach Hause bringen sollte, wurde wegen schlechten Wetters verschoben. Als die Maschine schließlich doch landete, wurden wir Passagiere auch gleich an Bord gebeten, aber kaum dass wir saßen, mussten wir das Flugzeug wieder verlassen. Die Tür zum Laderaum, hieß es, schließe nicht richtig. Nachdem wir eine Viertelstunde im Terminal gewartet hatten, kam der Aufruf zum erneuten Boarding, dem wir erleichtert folgten.
Zehn Minuten später gab es eine weitere Ansage der Flugbegleiter. Das Bodenteam habe die Tür zum Laderaum zwar ordnungsgemäß zubekommen, dann aber festgestellt, dass noch ein Koffer eingeladen werden musste. Als man die Tür deswegen noch einmal öffnete, ließ sie sich danach wieder nicht schließen. So war ein kleines Problem zu einem großen angewachsen. Man bat uns erneut, das Flugzeug zu verlassen.
Am Flugsteig versicherte man uns, es werde eine andere Maschine eingesetzt, kurz darauf hieß es aber, es sei schon zu spät und man könne erst am nächsten Morgen ein Flugzeug bereitstellen. Aus der Passagiermenge stieg ein Seufzen auf. Man versprach, die Fluggesellschaft würde uns kostenlos in einem nahe gelegenen Hotel unterbringen. Die Reaktion war erneutes Seufzen. Ich war, so muss ich an dieser Stelle zugeben, unter den Seufzenden – bis mir klar wurde, was hier geschah: Die stoischen Götter hatten diesen Zwischenfall für mich ersonnen, sie wollten mich prüfen. »Die Wette gilt!«, willigte ich ein.
Denn die Erfahrung lehrte mich eins: Wenn ich Hindernisse als Herausforderung begriff – oder noch genauer: Wenn ich annahm, dass sich die stoischen Götter diese als Prüfung meiner Resilienz und meines Einfallsreichtums ausgedacht hatten –, drückten mich diese Rückschläge emotional weniger nieder und ich konnte meine Chancen erhöhen, einen guten Umgang mit dem Problem zu finden. An diesem Punkt ist jedoch eine Erklärung angebracht.
Zuerst einmal sei gesagt, dass ich keiner abstrusen Sekte angehöre. Ich bin vielmehr ein moderner Anhänger einer antiken Philosophie. Genauer gesagt bin ich praktizierender Stoiker – was bedeutet, dass ich mich entschieden habe, mein im 21. Jahrhundert verortetes Dasein nach Lebensstrategien auszurichten, die stoische Philosophen wie Mark Aurel, Seneca, Epiktet und andere vor zweitausend Jahren aufgestellt haben.
Mit diesem Entschluss stehe ich nicht allein da. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass ihnen etwas fehlt, was die antiken Philosophen eine Lebensphilosophie genannt hätten. Eine solche Philosophie sagt uns, was wir im Leben wirklich benötigen, und liefert gleichzeitig eine Strategie, wie wir es auch bekommen. Wer versucht, sich ohne Lebensphilosophie durchs Dasein zu schlängeln, der muss von Tag zu Tag neu improvisieren. Unsere Handlungsweise ist dann oft planlos, wie zufällig, und wir laufen Gefahr, unser Leben zu vergeuden. Was doch eine Schande wäre.
Wichtig: Der Stoizismus ist keine Religion. Die Stoa, die Schule beziehungsweise Lehre der stoischen Philosophie, legt ihre Aufmerksamkeit auf unsere Zeit auf der Erde, nicht auf das Leben nach dem Tod. Dabei ist sie mit vielen Religionen wie dem Christentum und dem Islam vereinbar. Wobei es hier einer weiteren Klärung bedarf: Oben habe ich von den »stoischen Göttern« gesprochen – ich glaube jedoch nicht, dass es diese als physische oder auch »geistige« Wesen gibt. Sie sind für mich rein fiktiv. Indem ich mich auf sie berufe, kann ich das, was viele Menschen als unglücklichen Zwischenfall betrachten, in eine Art Gedankenspiel verwandeln. Das ermöglicht mir, ohne Wut oder Frustration auf Rückschläge zu reagieren.
Wer sich als Teil einer psychologischen Strategie nicht gerne an imaginäre Götter wenden mag, der kann auch an einen Trainer oder Lehrer denken, ohne dass dies der psychologischen Wirkung abträglich wäre. Und wer gläubig ist, kann den Rückschlag als Gottes oder Allahs Vorsehung deuten, so wie es viele Christen und Muslime bereits tun. Im Folgenden möchte ich das Gedankenspiel der stoischen »Challenge« und die zugrunde liegende Forschung weiter erläutern und Tipps geben, wie sich das Spiel am besten spielen lässt. Zunächst aber zurück zu meiner Flughafengeschichte.
Man gab uns also Hotelgutscheine und sagte, wir sollten auf einen Shuttlebus warten. Der kam dann auch, wir stiegen ein und erreichten schnell unser Ziel. Nachdem ich einige Zeit vor der Rezeption in der Schlange gestanden hatte, bekam ich einen Schlüssel überreicht und wollte mich rasch zu meinem Zimmer aufmachen, um wenigstens noch vier Stunden Schlaf zu bekommen. Ich fuhr ziemlich lange mit dem Aufzug, lief über lange Flure, bis ich das Zimmer erreichte. Als ich schließlich die Tür öffnete, fand ich es unaufgeräumt vor.
Als Nicht-Stoiker wäre ich an diesem Punkt in Rage geraten: Unverschämt! Was denken die sich eigentlich! Da ich das Ganze aber als Teil einer Herausforderung betrachtete, vor die mich die stoischen Götter stellten, dachte ich vielmehr: Netter Versuch! Habe ich gar nicht mit gerechnet. Nicht schlecht, ihr stoischen Götter! Ich stiefelte zurück zum Empfang und erklärte die Situation.
Wäre ich vor dem Hotelmitarbeiter ausgerastet, so hätte das jeder, auch er selbst, verständlich gefunden. Aber wäre das die Sache wert gewesen? Natürlich nicht, falls mir an meinem Gleichmut etwas lag. Dass ich in dem Angestellten keinesfalls einen boshaften Menschen, sondern ganz einfach einen Komparsen der stoischen Challenge sah, half mir, die Ruhe zu bewahren.
Er gab mir darauf den Schlüssel zu einem Zimmer, das »sauber sein sollte«, wie er versicherte. Das traf auch zu. Ich bekam noch ein wenig Schlaf und trat frühmorgens wieder vor das Hotel, wo uns ein Shuttle erwartete und zum Flughafen fuhr. In dem Bus saßen fast nur Passagiere des abgesagten Flugs, die sich die gesamte Fahrt über in ihren Beschwerden über die Fluggesellschaft, den Flughafen und das Hotel zu übertreffen versuchten. Ich hörte mit halbem Ohr zu und freute mich, dass ich mich aus dieser allgemeinen Verärgerung heraushalten konnte.
Mir kam in den Sinn, was für unheimlich verwöhnte Blagen wir Menschen des 21. Jahrhunderts doch sind. Sitzen da in einem klimatisierten Bus, auf dem Weg zu einem klimatisierten Flughafen, von dem wir in einer klimatisierten Maschine zu einem Flug über die Staaten starten. Falls wir auf dieser Reise Durst verspürten, würde uns jemand ein Getränk unserer Wahl bringen. War der Flug lang genug, würde uns etwas zu essen angeboten. Müssten wir uns erleichtern, so wartete am Ende des Gangs eine Spültoilette auf uns. Und noch dazu würde diese Toilette sehr wahrscheinlich über Klopapier verfügen.
Was, fragte ich mich, würden die amerikanischen Pioniere wohl von uns halten, die doch ebenfalls das Land durchquert hatten, wobei bei ihnen Planwagen, wochenlange Strapazen und die Gefahr feindseliger Begegnungen mit den Native Americans im Spiel waren? Ihre Kutschbänke mögen breiter gewesen sein als moderne Flugzeugsitze, doch sind die meisten Siedler wohl gelaufen, damit die Wagen nicht noch mehr überladen wurden – oder auch, um beim Poltern über unbefestigte Wege nicht pausenlos durchgerüttelt zu werden. Nicht zuletzt gab es auf diesen langen Reisen natürlich weder Toiletten noch Toilettenpapier. Was wir modernen Flugpassagiere hier taten, wäre diesen Menschen (selbst angesichts der Pannen) wie ein Wunder erschienen. Wir aber saßen da und jammerten, wie schlimm wir es doch hatten und wie unfair das Leben war.
Der Ersatzflug startete und landete ohne weitere Zwischenfälle. Am Heimatflughafen stand mein Auto immer noch da, wo ich es stehen gelassen hatte (Puh!), und ich fuhr nach Hause, ohne auf weitere direkte oder indirekte Hindernisse zu treffen. Zu Hause angekommen, beschloss ich, dass die Prüfung damit beendet war, und setzte zu einer Bewertung an: Ich hatte mich ganz gut geschlagen, fand ich, und war trotz der verschiedenen negativen Reize ruhig und gelassen geblieben. Ich fühlte mich beschwingt wie ein Sieger: »Der Punkt geht an mich«, beschloss ich. Ich nahm an, dass meine Mitpassagiere mit weniger guten Gefühlen aus dieser unglücklichen Episode gingen. Ich habe diese Strategie im Umgang mit Rückschlägen inzwischen zu vielen Gelegenheiten, mit jeweils ähnlichen Ergebnissen angewendet.
Frustriert oder verärgert zu sein, wenn man nicht bekommt, was man will, erscheint vielen von uns als natürliche Reaktion. Gegen seine Wut kann man nicht an, heißt es. Zum Glück gibt es aber eine alternative Vorgehensweise, die leicht anwendbar und erstaunlich effektiv ist. Ich nenne sie die stoische Teststrategie: Rückschläge, denen wir begegnen, werden hier als eine von imaginären stoischen Göttern ersonnene Herausforderung an unsere Resilienz und unseren Einfallsreichtum betrachtet. Durch diese Prüfung wollen die Götter unser Leben nicht etwa schwieriger, sondern besser machen. Das klingt erst einmal widersprüchlich, auf den folgenden Seiten aber werde ich erklären, warum wir dankbar sein sollten, auf diese Weise auf die Probe gestellt zu werden.
Die Art der stoischen Herausforderung oder Prüfung, der sich dieses Buch widmet, wurde also von den Stoikern des Altertums ersonnen. Die Stoiker waren zwar Philosophen, in der Antike aber gingen Philosophen vielen Dingen nach. Neben dem, was wir heute als Philosophie bezeichnen würden, beschäftigten sie sich auch mit Physik, Biologie, Mathematik, Logik und Psychologie. Ihre Beiträge zu diesen Wissensgebieten waren beträchtlich, die Stoiker aber prägten insbesondere die Psychologie. Die stoische Teststrategie basiert auf einem Phänomen, das von der modernen Psychologie aufgegriffen und fortan Framing genannt wurde: Welchen Bedeutungsrahmen wir einem Ereignis geben, hat starken Einfluss auf unsere emotionale Bewertung der Situation.
Die Stoiker erkannten, dass wir beim Framing der von uns erlebten Situationen enorme Flexibilität zeigen können. Sie entdeckten, dass wir unsere emotionale Reaktion auf Rückschläge dramatisch verändern können, wenn wir sie als Charaktertest begreifen. Wir können die Fähigkeit trainieren, selbst angesichts schwerer Rückschläge Ruhe zu bewahren, und damit unsere Lebensqualität entscheidend verbessern.
Dabei sei angemerkt, dass viele Menschen eine falsche Vorstellung von den Stoikern haben. Sie denken an emotionslose Wesen, deren vornehmliches Ziel ist, unbeeindruckt hinzunehmen, was das Leben auch mit ihnen vorhaben mag. Das ist jedoch nicht der Fall. Ziel der Stoiker war sicher nicht, Gefühle auszuschließen, sondern die Zahl negativer Gefühle – Frustration, Wut, Kummer und Neid – zu minimieren. Gegen das Auskosten positiver Gefühle wie Glück und Freude hatten sie bestimmt nichts einzuwenden.
Wir sollten in den Stoikern daher keine verbissenen Duldenden sehen, sondern stete Optimisten, welche die Gabe hatten, den Ereignissen des Lebens einen positiven Dreh zu geben. Statt sich von unglücklichen Zwischenfällen niederdrücken zu lassen oder wegen Ärgernissen in Wut zu geraten, zogen sie ein hohes Maß an Zufriedenheit daraus, mit diesen Situationen gut fertigzuwerden.
Man ist versucht, Stoiker als geduldig zu beschreiben, und das waren sie sicher auch, dennoch ist ein Wort der Vorsicht angebracht. Ein geduldiger Mensch ist ja auch jemand, der einen Rückschlag klaglos hinnimmt. Das aber war nicht Ziel der Stoiker. Ihnen lag nicht daran, ruhig zu bleiben, während sie einen Rückschlag erlitten, sondern vielmehr einen Rückschlag so zu nehmen, dass sie dabei nicht litten. Das ist ein bedeutender Unterschied.
Dieses Buch ist eine Übung in einer Art »Stoizismus des 21. Jahrhunderts«. Es verbindet die Ratschläge der Philosophen des 1. Jahrhunderts mit den Forschungen von Psychologen des späten 20. Jahrhunderts. Sicher wird nicht der gesamten akademischen Welt gefallen, wie ich den klassischen Stoizismus aktualisiere. Für viele ist die Stoa ein kostbares antikes Relikt, das in einer sicheren Vitrine aufbewahrt und angeschaut, aber nicht berührt werden sollte. Ich aber behandle die stoische Lehre wie ein aus alter Zeit überliefertes Werkzeug, das zwar geschärft werden muss, dabei aber immer noch nützlich ist und eine durchweg positive Wirkung auf das moderne Leben hat.
Die antiken Stoiker, so nehme ich an, würden mir mein »Update« ihrer Regeln nicht verübeln. Besonders Seneca hätte es wohl gefallen. Schließlich war er es, der erklärte: »[...] so binde ich mich damit nicht an irgendeinen Meister der Stoa; auch ich habe das Recht der eigenen Meinung«1. Ich gebe nicht vor, die tiefen stoischen Einsichten Senecas zu besitzen, doch steht mir etwas zur Verfügung, das er nicht hatte: Das sind vor allem Einsichten in die Arbeitsweise des menschlichen Verstands, welche unter anderen Amos Tversky und Daniel Kahneman entwickelt haben. Ich lasse diese Einsichten einfließen, wenn ich im Folgenden die stoische Teststrategie zum Umgang mit Rückschlägen untersuche und erkläre.
Zu Beginn beschreibe ich verschiedene Rückschläge und Widrigkeiten, denen wir ausgesetzt sein können, sowie die verschiedenen Verhaltensmuster, mit denen wir typischerweise auf sie reagieren. Viele Menschen empfinden Frustration, Wut, Angst oder auch Mutlosigkeit, während andere sich überhaupt nicht aus der Bahn werfen lassen. Wie gelingt ihnen das, und können wir es ihnen gleichtun?
Anschließend analysiere ich die Psychologie von Rückschlägen: Warum greifen sie uns emotional derart an? Ich möchte an dieser Stelle zeigen, wie man Rückschläge nicht als unglückliche Erfahrung auffasst, sondern ihnen einen anderen Rahmen geben und sie als Prüfung unserer Resilienz und unseres Einfallsreichtums betrachten kann. Diese Strategie hat bedeutenden Einfluss auf unseren Umgang mit Problemen. Wir könnten überrascht feststellen: Statt mit einer Mischung aus Wut und Angst lässt sich auf eine durch unglückliche Umstände gegebene Herausforderung auch mit Enthusiasmus antworten.
Zum Abschluss zeige ich, wie die Anwendung der stoischen Teststrategie nicht nur unseren Alltag erleichtert und uns ein gutes Leben ermöglicht, sondern uns – wenn es Zeit ist, die Welt zu verlassen – auch dabei hilft, gut zu sterben.
Manchmal läuft unser Leben glatt – vielleicht sogar hervorragend –, und dann taucht aus dem Nichts plötzlich ein Hindernis auf. Das kann bei der Arbeit passieren, in der Freizeit, zu Hause oder, wie bei meiner Nacht im Flughafenhotel, auf Reisen. Der Plan, den wir gemacht haben, geht nicht mehr auf, also brauchen wir einen neuen.
An einem ganz normalen Tag erleben Sie wahrscheinlich alle möglichen »Rückschläge«. Sie stoßen sich den Zeh an oder Ihr Frühstückstoast verbrennt. Womöglich geraten Sie ohne Schirm in einen Regenschauer oder stehen im Stau und kommen deshalb zu spät zur Arbeit. Doch all dies sind nur kleine Ärgernisse, winzige Stolpersteine in Ihrer Alltagsroutine. Problematischer ist da schon, wenn Sie sich erkälten und das auch noch Ihre Pläne für die nächsten Tage durchkreuzt. Unerwartet den Job zu verlieren zählt fast sicher als schweres Missgeschick, das Sie zwingt, viele Ihrer Pläne für die kommenden Monate oder sogar Jahre zu ändern. All diese Rückschläge aber werden leicht in den Schatten gestellt durch den Tod eines Ehepartners, die Diagnose einer tödlichen Krankheit oder eine Verhaftung für ein Verbrechen, das Sie nicht begangen haben – geschweige denn für eines, das Sie begangen haben.
Ihr Tod ist in Ihren Augen vielleicht ein gewaltiger Rückschlag, doch eigentlich hängt die Bewertung dieses Ereignisses von dem ab, was danach passiert. Angenommen, es gibt kein Leben nach dem Tod. Dann ist Ihr Tod vielleicht ein Problem für die Ihnen Nahestehenden, aber nicht für Sie. In Ermangelung eines Jenseits erfordert Ihr Sterben schließlich keine Planänderung Ihrerseits; vielmehr bedeutet es das Ende allen Planens, Punkt.
Wenn es ein Leben im Jenseits gibt, könnte der Tod als Rückschlag zählen. Im Falle einer Reinkarnation kämen Sie womöglich als Mensch zurück, was ein weiteres Leben im Kampf gegen Schicksalsschläge bedeuten würde – mancher Auffassung nach wohl ein echter Rückschritt. Und wenn Sie nicht als Mensch, sondern als, sagen wir, Moskito zurückkämen, wären Sie mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert – wobei Sie allerdings wahrscheinlich nicht intelligent genug wären, sie als Rückschläge zu begreifen.
Nehmen wir an, dass das Leben nach dem Tod keine Reinkarnation bedeutet, sondern eine fortgesetzte Existenz als Sie selbst. Wenn Sie in der Hölle landen, wäre Ihr Tod der größte vorstellbare Rückschlag überhaupt. Wenn Sie in den Himmel kommen, wäre Ihr Ableben kein Rückschlag, sondern eine gewaltige Verbesserung – der Übergang in eine unendlich bessere Existenz.
Allerdings ist nicht ganz klar, ob Sie im Himmel wirklich auf ewig glücklich wären. Das Problem ist, dass Sie Ihre Persönlichkeit wohl dorthin mitnehmen – darunter höchstwahrscheinlich auch die Neigung, alles, was Sie haben, irgendwann für selbstverständlich zu halten. Nach kurzer Zeit werden Sie die Vollkommenheit des Himmels als Selbstverständlichkeit betrachten und sich deshalb nicht mehr daran erfreuen. Vielleicht wird Gott in seiner unendlichen Weisheit dafür sorgen, dass Sie auch im Himmel kleinere Rückschläge erleben, nur damit Sie nicht zu »verzogen« werden.
Ebenso merkt wahrscheinlich auch Satan – wenn es ihn gibt –, dass eine Hölle, in der Rückschläge möglich sind, höllischer ist als eine ohne. Deshalb wird er dafür sorgen, dass die Verdammten nicht etwa glauben, ihre Situation sei hoffnungslos. Er könnte ihnen etwa hin und wieder einen Hoffnungsstrahl zukommen lassen, den er dann umso grausamer wieder auslöscht.
Manchmal ist es die Natur, die einen zurückwirft. Vielleicht läuft Ihnen ein Reh vors Auto, es kommt zum Totalschaden. Oder Sie haben wegen Sturmschäden längere Zeit keinen Strom. In dieser Zeit werden Sie merken, wie selbstverständlich Elektrizität für Sie ist, und wenn der Strom wieder da ist, werden Sie, wenn Sie darauf achten, auch feststellen, wie schnell er wieder ganz zu Ihrem Alltag gehört.
In den meisten Fällen ist es aber nicht die Natur, die Ihrem Fortkommen im Wege steht – es sind die anderen Menschen. Oft wollen sie Ihnen überhaupt nicht schaden. Ein unfähiger Kellner etwa bringt Ihre Bestellung durcheinander. Oder ein Fahrer weicht einem Reh aus, vermeidet dadurch einen eigenen Schaden, zwingt aber auch Sie dazu, auszuweichen und Ihr Auto zu Schrott zu fahren, was Sie in eine finanzielle und womöglich auch medizinische Notlage bringt.
In anderen Fällen macht Ihnen jemand absichtlich das Leben schwer. Um seine Teenager-Tochter für schlechte Noten zu bestrafen, entzieht ihr Vater ihr vielleicht für einen Monat die Erlaubnis, mit seinem Auto zu fahren. Für sie ist das womöglich der schlimmste Rückschlag, den sie sich vorstellen kann. Oder jemand wirft Sie zurück, indem er Ihnen die Brieftasche klaut. Vielleicht hat er das getan, weil sein Geld bei einem Drogendeal gestohlen wurde – dann ist das, was für Sie ein Rückschlag ist, für ihn die Notlösung zur Umgehung eines Rückschlags. Fälle wie dieser zeigen übrigens, dass Rückschläge ebenso ansteckend sein können wie manche Krankheiten. Und schließlich kann schierer böser Wille im Spiel sein: Vielleicht haben Sie als Kind auch einmal einem Geschwister ein Lieblingsspielzeug weggenommen, nur weil es Ihnen Spaß gemacht hat, wenn es losheulte?
Wenn Sie sich aufregen, weil jemand Sie irgendwie aufgehalten, übervorteilt oder zurückgeworfen hat, hilft es vielleicht, daran zu denken, dass andere zwar für viele von Ihnen erlebte Rückschläge verantwortlich sind, Sie selbst aber auch eine Menge Rückschläge bei anderen verantworten. Ja, Sie finden andere nervig, doch vielleicht, wirklich nur vielleicht, finden die anderen Sie auch nervig. Vor allem nervt es vielleicht, wie leicht Sie genervt sind. Man vergisst das schnell, zumal man stärker auf die Probleme achtet, die man durch andere hat, als auf die, die man anderen macht. Ein Zeichen der Reife ist es zu erkennen, wie sehr Sie absichtlich oder unabsichtlich den Menschen um sich herum das Leben schwer machen. Und deshalb sollten Sie an die Worte Senecas denken: »Wir leben als Böse unter Bösen. Ich wüsste nichts, was uns zur Ruhe bringen könnte, als eine Übereinkunft über gegenseitige Nachsicht.«1
Noch etwas sollten Sie bedenken, wenn es um die Rückschläge geht, die Sie erleben: Wenn Sie eine Liste der Menschen erstellen, die Ihnen Probleme bereitet haben, müssen Sie auch sich selbst auf diese Liste setzen, wahrscheinlich sogar an die erste Stelle. Viele Rückschläge sind die Folge Ihrer schlechten Planung. Sie sind unterwegs liegen geblieben, weil Sie nicht auf die Tankanzeige geachtet haben. Sie haben am letzten Urlaubstag verschlafen und den Flieger verpasst, weil Sie vergessen haben, den Wecker zu stellen. In anderen Fällen haben Sie vielleicht die falschen Entscheidungen getroffen. Sie könnten zum Beispiel eine Gürtelrose bekommen, weil Sie sich nicht impfen lassen wollten.
Rückschläge und Wünsche sind eng miteinander verbunden: Ob man etwas als Rückschlag wahrnimmt, hängt von dem ab, was man sich wünscht, und wie groß der Rückschlag ist, hängt davon ab, wie sehr man es sich wünscht. Für viele Menschen ist eine Erkältung einfach nur ärgerlich, doch für einen Marathonläufer, der jahrelang trainiert hat, um bei den Olympischen Spielen anzutreten, ist eine Erkältung ein paar Tage vor dem Rennen ein gewaltiges Problem. Wenn Sie mit sechs Jahren Ihre beiden Frontzähne verlieren, ist das kein Rückschlag, sondern eher eine Art Übergangsritus und eine Gelegenheit, eine Belohnung von der Zahnfee zu bekommen. Wenn Sie sie am Morgen Ihrer Hochzeit verlieren, ist das so gut wie sicher eine Katastrophe.