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Zugegeben: wie bei vielen Pilgerschwestern und -brüdern fing die Inspiration auch bei mir mit Hape Kerkeling an. Sein Buch kam zum richtigen Zeitpunkt. Als ich es verschlungen hatte, wurde mir klar, dass auch ich bald mal weg auf dem Camino sein würde. Schon seit Monaten suchte ich beharrlich nach einem Weg aus der Krise. Der Jakobsweg hat mir die Augen für einiges Unverstandene geöffnet. Er hat mir vieles abverlangt, mich immer wieder herausgefordert, sowohl mental, wie auch physisch, sodass ich mich manches Mal gefragt habe: Warum tue ich mir das an? Wenn ich es mir dann angetan habe, hat der Camino mich zuversichtlich gemacht. Mehr noch: Er hat mir neuen Mut verliehen. Ohne diesen wäre mein weiterer Lebensweg nicht so entstanden. Jeder, der ihn gepilgert ist, weiß, dass neben der Meditation die Begegnungen mit anderen Menschen in den Herbergen oder unterwegs einen erheblichen Teil der Faszination Jakobsweg ausmachen. Wunderschöne, abwechslungsreiche, zuweilen aber auch sehr einsame, öde Landstriche durfte ich durch die Jakobswege kennenlernen. Ich bin eingetaucht in die Geschichte Spaniens und Portugals, die mir aus Schulzeiten nur rudimentär bekannt war und habe in den Dörfern das andere Spanien jenseits von Mallorca und Barcelona erfahren. Gerade das Ankommen und Leben in den kleinen Ortschaften Spaniens und Portugals mit ihren archaischen Strukturen war sehr prägend und hat zur Ruhe und Gelassenheit beigetragen, die mir (zumindest vorübergehend) zu Teil wurde.
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Seitenzahl: 42
Für Stefan
Prolog
Kapitel 1 Frankfurt Hahn – Santiago
Kapitel 2 Santiago – A Coruña – Ferrol – Xubia de Neda
Kapitel 3 Xubia de Neda – Pontedeume
Kapitel 4 Pontedeume – Betanzos
Kapitel 5 Betanzos – Hospital de Bruma
Kapitel 6 Hospital de Bruma - Sigüeiro
Kapitel 7 Sigüeiro – Santiago
Kapitel 8 Santiago
Stefan's Sicht
Jetzt auch noch Stefan. Nachdem ich Luca, Lara und Carlo bereits vom Camino überzeugt hatte, wurde auch mein „kleiner Bruder“ Stefan neugierig. Ich war etwas überrascht, zugleich aber auch sehr erfreut, als er mich vor einem halben Jahr fragte, ob ich ihn mitnehmen würde auf meinem nächsten Jakobsweg. Insgeheim war es das erhoffte und erlösende Signal für mich. Endlich gab es ein passendes Argument, auch dieses Jahr für einen neuen Camino zu nutzen. Nun hatte ich einen Auftrag, konnte ich Stefan doch nicht einfach in der Luft hängen lassen. Einen triftigen, persönlichen Grund würde er schon haben, diesen Weg laufen zu wollen. Das war es, was meinem guten Gewissen noch fehlte. Kerstin und ich hatten uns nämlich eigentlich darauf geeinigt, dass ich in diesem Jahr nach unserem Costa Rica – Trip eine Caminopause einlegen würde.
Welcher Weg sollte es dieses Mal sein? Eine Woche oder ein bisschen mehr konnte ich frei schaufeln. Drei Optionen schwebten mir vor: Der erste Abschnitt des Küstenweges von Irun nach Bilbao, der zweite Abschnitt des Mozarabischen Weges von Cordoba nach Mérida – quasi auf den Spuren meines letztjährigen australischen Begleiters John, der den ganzen Weg von Grenada nach Mérida im Mai diesen Jahres gelaufen ist - oder der Englische Weg vom Atlantik nach Santiago de Compostela.
Folgende Gründe sprachen schließlich für den Camino Inglés:
Erstens scheint er sich hinsichtlich der Kennzeichnung und Infrastruktur so entwickelt zu haben, dass man sich auf ihm gut orientieren kann und auch einige Herbergen zu finden sein sollten. Zweitens dürfte er noch ziemlich ruhig und nicht überlaufen sein. Und drittens würden wir am Ende eines kompletten Weges in Santiago ankommen, eine Erfahrung, die ich Stefan nicht vorenthalten möchte.
Die therapeutische Dimension des Jakobsweges oder einer Wanderung ganz allgemein wurde mir noch einmal in unserem Urlaub in Costa Rica vor einigen Wochen bewusst. Ich las dort die 2015 erschienene Biographie Alexander Humboldts („Alexander Humboldt oder die Erfindung der Natur“). Andrea Wulf beschreibt in ihrem Meisterwerk die Begegnung Humboldts 1805 in Rom mit Simon Bolivar, dem venezolanischen Revolutionär und späteren Befreier Lateinamerikas von den spanischen Eroberern: „Im Winter, als die Tage kalt waren und ein grauer Himmel über Paris alles Licht dämpfte, war Bolivar in düstere Stimmung versunken. Simon Rodriguez, sein alter Lehrer aus Caracas, der sich ebenfalls in Paris befand, hatte deshalb eine Wanderung vorgeschlagen. Im April waren sie mit der Postkutsche nach Lyon gefahren und hatten dort ihre Wanderung begonnen. Sie gingen über Felder, durchquerten Wälder und genossen die ländliche Umgebung. Allmählich erholte sich Bolivar von den Ausschweifungen der letzten Monate. Er hatte das Leben im Freien schon immer geliebt und jetzt spürte er, wie ihm die körperliche Betätigung, frische Luft und Natur neue Kräfte verliehen…. Er dachte viel über sein Land nach, überquerte die Alpen und legte den ganzen Weg bis Rom zu Fuß zurück.“
Der Englische Weg besteht aus zwei Varianten. Man kann ihn entweder von A Coruña oder von Ferrol nach Santiago pilgern. Da die Strecke von A Coruña nach Santiago nur gut 73 km misst, erhält der Pilger am Ende seiner Wanderung keine Compostela, also keine offizielle Urkunde in Santiago. Diese gibt es erst ab einer durchgehenden Wanderung von mindestens 100 km. Wir entscheiden uns für den 118 km langen Weg von Ferrol. Die Bezeichnung Englischer Weg bezieht ihren Ursprung aus der Tatsache, dass die meisten englischen Pilger im fortgeschrittenen Mittelalter mit ihren Schiffen am Hafen von Ferrol ankamen, um von hieraus nach Santiago zu gelangen. Die zerklüftete Küste erinnert beim Blick auf die Karte an die Fjordlandschaft in Norwegen. Die Ria de Ferrol ist eine von vielen Rias, wie die Fjorde hier genannt werden. Meinem Reiseführer von Raimund Joos entnehme ich, dass im Gegensatz zu den Fjorden, die Rias nicht durch Gletscher entstanden, sondern durch die Überflutung von Tälern mit Meereswasser im Zuge der Gezeiten.
Als ich mich gestern von Mama verabschiedete, gab sie mir noch eine etwas außergewöhnliche Geschichte mit auf den Weg. In dem Haus, in dem sie wohnt, erzählte sie einer Mitbewohnerin von unserer geplanten Pilgerreise nach Santiago. Sie antwortete ihr mit einer netten Anekdote. Ein Bekannter von ihr sei den Jakobsweg gegangen. Dort habe man ihn bestohlen und alles sei weg gewesen, Geld, Ausweise und Klamotten. Eine Frau habe ihm geholfen, Identitätsnachweis und so viel Geld zu bekommen, dass er zurück nach Deutschland konnte. Daraufhin habe er sie geheiratet. Ratzfatz.
Donnerwetter, das ist mal eine kreative und zugleich originelle Art, sich für eine Gefälligkeit zu bedanken!