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Er ist einer der großen Dichter des jüdischen Wilna, und seine Erzählungen bergen Romane: Mit Chaim Grade (1910–1982) erscheint in der Anderen Bibliothek erstmals einer der bedeutendsten jiddischen Dichter und Erzähler des 20. Jahrhunderts.
In Wilna, heute Vilnius, im leuchtenden »Jerusalem des Nordens«, wurde Chaim Grade geboren, und von dort und der Enge der jüdischen Dörfer, den Schtetlech zwischen den Weltkriegen, erzählt er – ohne alle sentimentale Verklärung. Seine sinnlich-atmosphärischen Darstellungen der untergegangenen jüdischen Welt entfalten große persönliche und politische Dramen.
Die kultivierte Perele, Tochter des gelehrten Rabbis von Staripol, ist eine der eindrucksvollsten der vielen Frauengestalten in Grades Erzählungen: eine raffinierte Xanthippe. Als Erbin rabbinischen Adels will sie ihren gutmütigen Mann, Uri-Zwi Königsberg, vom schlichten Prediger zum angesehenen Rabbi befördern – mit Intrige, mit kaltem Kalkül und stummer Unerbittlichkeit. Hinter ihrem Ehrgeiz verbirgt sich ein peinigendes Lebensgeheimnis.
Ob hier, in der Erzählung Die Rebbezin, oder in Lejbe-Lejsers Hof: Der in Synagogen, Wohnungen oder Geschäften erbittert ausgetragene Streit um die religiösen Gebote, der »Religionskrieg« zwischen Traditionalisten und Erneuerern, orthodoxen Eiferern und zionistischen Freidenkern bestimmt die Existenz aller und ist das große Thema von Chaim Grades Erzählkunst. Sein poetisches Gespür für die Träume und Sehnsüchte von Frauen in einer Welt voller Gebote und Verbote lassen ein lebendiges Bild des jüdischen Alltags entstehen.
Auf Lejbe-Lejsers Hof in Wilna sind sie alle vereint: Arbeiter und Handwerker, Fuhrleute, Metzger und Markthändler, Rabbiner und Asketen. Zu den Feiertagen wogt eine Menschenmenge in Festtagskleidung durch den Hof und im Bethaus treffen sich die ganz und die weniger Frommen. Gefangen in ihrer Welt der Vorschriften und Gesetze, an denen mitunter auch die eigenen Frauen irre werden, leben in Lejbe-Lejsers Hof der fanatisch gläubige Schlosser Hiskia mit seinen drei Töchtern, der Gärtner Schklar oder der Polsterer Moischele, dessen Frau Nechama den Scheidebrief nicht annehmen will. Familiendramen, Skandale, Schmerz und Scham – es braucht die Auslegung der Religionsgesetze. Es braucht den imposanten Rabbi Joel Weintraub und seine Frau, die Rebbezin Hindele. Sie werden gerufen, sich wieder einzumischen in die verworrene jüdische Welt.
Chaim Grade weiß viel: Zwischen »es ist verboten« und »es ist erlaubt« gibt es noch etwas anderes – schlichte Menschlichkeit. Von ihr erzählt er mit großer Einfühlung in seine Figuren.
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Seitenzahl: 647
Er ist einer der großen Dichter des jüdischen Wilna, und seine Erzählungen bergen Romane: Mit Chaim Grade (1910–1982) erscheint in der Anderen Bibliothek erstmals einer der bedeutendsten jiddischen Dichter und Erzähler des 20. Jahrhunderts.
In Wilna, heute Vilnius, im leuchtenden »Jerusalem des Nordens«, wurde Chaim Grade geboren, und von dort und der Enge der jüdischen Dörfer, den Schtetlech zwischen den Weltkriegen, erzählt er – ohne alle sentimentale Verklärung. Seine sinnlich-atmosphärischen Darstellungen der untergegangenen jüdischen Welt entfalten große persönliche und politische Dramen.
Die kultivierte Perele, Tochter des gelehrten Rabbis von Staripol, ist eine der eindrucksvollsten der vielen Frauengestalten in Grades Erzählungen: eine raffinierte Xanthippe. Als Erbin rabbinischen Adels will sie ihren gutmütigen Mann, Uri-Zwi Königsberg, vom schlichten Prediger zum angesehenen Rabbi befördern – mit Intrige, mit kaltem Kalkül und stummer Unerbittlichkeit. Hinter ihrem Ehrgeiz verbirgt sich ein peinigendes Lebensgeheimnis.
Ob hier, in der Erzählung Die Rebbezin, oder in Lejbe-Lejsers Hof: Der in Synagogen, Wohnungen oder Geschäften erbittert ausgetragene Streit um die religiösen Gebote, der »Religionskrieg« zwischen Traditionalisten und Erneuerern, orthodoxen Eiferern und zionistischen Freidenkern bestimmt die Existenz aller und ist das große Thema von Chaim Grades Erzählkunst. Sein poetisches Gespür für die Träume und Sehnsüchte von Frauen in einer Welt voller Gebote und Verbote lassen ein lebendiges Bild des jüdischen Alltags entstehen.
Auf Lejbe-Lejsers Hof in Wilna sind sie alle vereint: Arbeiter und Handwerker, Fuhrleute, Metzger und Markthändler, Rabbiner und Asketen. Zu den Feiertagen wogt eine Menschenmenge in Festtagskleidung durch den Hof und im Bethaus treffen sich die ganz und die weniger Frommen. Gefangen in ihrer Welt der Vorschriften und Gesetze, an denen mitunter auch die eigenen Frauen irre werden, leben in Lejbe-Lejsers Hof der fanatisch gläubige Schlosser Hiskia mit seinen drei Töchtern, der Gärtner Schklar oder der Polsterer Moischele, dessen Frau Nechama den Scheidebrief nicht annehmen will. Familiendramen, Skandale, Schmerz und Scham – es braucht die Auslegung der Religionsgesetze. Es braucht den imposanten Rabbi Joel Weintraub und seine Frau, die Rebbezin Hindele. Sie werden gerufen, sich wieder einzumischen in die verworrene jüdische Welt.
Chaim Grade weiß viel: Zwischen »es ist verboten« und »es ist erlaubt« gibt es noch etwas anderes – schlichte Menschlichkeit. Von ihr erzählt er mit großer Einfühlung in seine Figuren.
Über Chaim Grade
Chaim Grade wurde am 4. April 1910 in Wilna geboren und gehört als einer der wichtigsten Autoren der jiddischen Literatur zu jener Generation, die im Bewusstsein aufwuchs, dass es große Lyrik und europäische Romane in jiddischer Sprache geben könne. In großer Armut aufgewachsen, kam er mit dreizehn Jahren in litauische Lehrhäuser, erhielt eine orthodoxe jüdische Erziehung, las gleichwohl intensiv säkulare jiddische Literatur und veröffentlichte Lyrik und erzählende Epik. Im Juni 1941, mit der deutschen Besetzung von Wilna, floh er in die Sowjetunion, Grades junge Frau und seine Mutter wurden umgebracht. 1946 kam er nach Paris und veröffentlichte mehrere Gedichtbände in jiddischer Sprache. 1948 ging er in die USA und begann in New York Romane, Novellen und Erzählungen zu verfassen, die vielfach mit literarischen Auszeichnungen bedacht wurden und in denen er die traditionelle jüdische Welt Litauens verdichtet. Er starb 1982.
Von Frauen und Rabbinern
Chaim Grade
Zwei Erzählungen
Übertragen aus dem Jiddischen, mit Anmerkungen und einem biographischen Essay bereichert von Susanne Klingenstein
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Die Rebbezin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Anmerkungen zu ›Die Rebbezin‹
Lejbe-Lejsers Hof
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Anmerkungen zu ›Lejbe-Lejsers Hof‹
Chaim Grade Nachwort von Susanne Klingenstein
1910–1932 Wilna, Białystok, Wilna
1932–1939 Dichter in Wilna
1939–1945 Wilna, Stalinabad, Moskau, Wilna
Kapitel 1945–1948 Wilna, Łódź, Paris
1948–1982 New York
Anmerkungen
Die Andere Bibliothek
Impressum
Der Rabbiner von Graipewo und seine Frau waren in die Jahre gekommen. Ihre Kinder hatten sich gut verheiratet und wohnten in Horodno. R.Uri-Zwi Hakohen Königsberg war noch immer ein imposanter Mann, groß und breitschultrig, mit gekräuselten Schläfenlocken, die sich in seinen schneeigen Bart verirrten, und blauen naiven Augen. Obgleich er einen guten Ruf als Gelehrter und Prediger genoss, hatte er sich nie um ein bedeutenderes Rabbinat bemüht. Er verbrachte all seine Tage in Graipewo, haderte nicht mit der Gemeinde, herrschte über sie ohne Strenge, verzichtete darauf, den Mächtigen zu schmeicheln, und war stets bestrebt, Streit zu vermeiden. Wenn Kontrahenten zu ihm kamen, damit er Recht spräche, bestand er so lange darauf, dass sie die Sache unter sich abmachten, bis die Parteien sich einigten. Nur selten musste er ein Urteil fällen. Verlangten die Stadtväter von ihm, die Jugendlichen abzumahnen, die nicht mehr auf dem Pfad der Aufrechten wandelten, tadelte er die jungen Flegel nicht öffentlich in seinen Predigten vor der Gemeinde, sondern stieg vom Pult des Vorbeters herab und ging in ihre Ecke, um mit ihnen zu reden, oder er fand sie auf dem Marktplatz. An Beschwerden über die heutige Jugend fehlte es nicht: Sie entweihten den Schabbat, vergnügten sich am Flussufer mit den Mädchen und seien überhaupt ungezügelte Kerle. Der Rav sagte zu ihnen nur: »Wie lange ist man jung? Ihr werdet auch einmal älter und müsst euch dann das ganze Leben lang für diese Geschichten schämen. Was ihr treibt, passt nicht zu Kindern guter Eltern.« Er sprach so aufrichtig und mit so viel innerem Schmerz, dass sogar die Dreistesten es nicht über sich brachten, sich mit ihm anzulegen.
Sorgfältig sprach R.Uri-Zwi jedes Wort der Gebete, und Wort für Wort lehrte er nach dem Morgengebet die Mischna, so klar und gelassen, dass selbst ein Kind seinen Erklärungen hätte folgen können. In sich ruhend aß er, studierte, notierte seine neuen Einsichten in den Talmud und entwarf seine Predigten. Wenn er müde wurde, ging er auf dem Weg hinter dem Haus spazieren. Er legte die Hände auf den Rücken, pries halblaut den Schöpfer für den schönen Tag und ging in Gedanken vertieft seinen Weg. Kam ihm jemand entgegen, nickte er freundlich, ohne zu warten, dass der andere ihn zuerst grüßte, und spazierte summend und frohen Herzens weiter.
Kam jedoch sichtlich besorgt ein Familienvater auf ihn zu und rief: »Rabbi, ich brauche Euren Rat«, wurde auch R.Uri-Zwi sorgenvoll und hörte dem Mann auf der Stelle zu, mitten auf dem Weg hinter dem Städtchen. Er nahm den Geängstigten mit nach Hause, zog sich mit ihm in ein Zimmer zurück und hörte ihm zu, bis jener sein Herz ganz ausgeschüttet hatte und getröstet wegging. Sogar den Streithälsen im Städtchen nötigte es Achtung ab, dass der Rav nicht größerem Ruhm nachjagte. Der Gemeindevorsteher sprach ihn einmal direkt darauf an: »Der Rav, er soll leben, ist uns lieb und teuer. Graipewo will ihn auf keinen Fall verlieren. Aber wie kommt es, dass der Rav selbst sich nie um eine größere Gemeinde bemühte, wie andere Rabbiner es tun?«
»Ich habe nichts gegen Graipewo«, erwiderte der Rav. »Als unsere Kinder klein waren, machten wir uns Sorgen um ihre Ausbildung. Aber sie wurden mit Gottes Hilfe erwachsen und haben sich gut verheiratet. Jetzt sind wir nur noch zwei Leutchen, ich und meine Frau. Wozu brauchen wir da ein größeres Haus und eine Stadt mit einem halben Dutzend Synagogen? Kann man in mehr als einem Zimmer schlafen und in mehr als einer Synagoge beten?«
Diese Antwort machte den Rav im Städtchen noch beliebter. Denn in Graipewo wusste man, R.Uri-Zwi verschwieg, dass seine Frau ihn ständig triezte, er möge die Stelle wechseln.
Die Rebbezin Perele war in Aussehen und Charakter das genaue Gegenteil ihres Mannes. Sie war klein mit schmalen Schultern und dünnen Armen, hatte kalte, kluge, forschende Augen und die hohe Stirn eines Rabbiners, ein Erbe ihres Vaters, R.Ascherl Broido, der Gaon von Staripol. Perele litt an Kopfschmerzen, nervöser Anspannung, Sodbrennen und schlechter Laune. Sie besaß einen ganzen Schrank voll Arzneifläschchen und lag manchmal tagelang auf dem Sofa, den Kopf in ein nasses Handtuch gewickelt. Sie sog an Zuckerwürfeln, die mit Valerian beträufelt waren, und schlürfte Medizin von kleinen Löffeln. Die Frauen in der Stadt meinten, sie habe gar nichts und sei gesund wie ein harter, bitterer Rettich. Die Krankheiten, die sie sich ausdachte und einredete, rührten von ihrem sauertöpfischen Wesen. Graipewo war der Ansicht: So nett der Rav war, so garstig war seine Frau.
Nicht dass Perele sich darum scherte, was die Dörfler über sie sagten oder dachten. Sie hatte sich nie mit ihnen angefreundet. Wenn man ungebildete Leute zu nah an sich heranließ, setzten sie sich einem in den Pelz. Zu ihrem Mann sagte sie: Solange er jemandem stundenlang zuhörte, hielt dieser ihn für einen Heiligen. Aber sobald jener am nächsten Tag sah, dass der Rav auch einem anderen endlos zuhörte, hielt der erste Schwafler ihn für ein Weichei. Früher bei ihrem Vater, dem Staripoler Rav, und später bei ihrem Mann hörte Perele viele Lehrsätze aus der Gemara, die sie glatt und gezielt anzuwenden wusste. Aber zum Beten in die Synagoge ging sie nur an Feiertagen und an jenen Schabbaten, an denen man den Monatsbeginn segnete. Niemand hätte sagen können, die Rebbezin gehöre zu den religiösen Fanatikern. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, sich bei ihrem Mann darüber zu beklagen, dass die Leute nicht vor ihm zitterten wie vor einem Kosakenführer mit Stock. Keine Frau der Stadt hatte so viele Kleider, Mäntel und Kopfbedeckungen wie Perele. Doch ihre Kleider waren alle im alten Stil geschneidert. Auch neue Kleider bestellte sie nach der alten Mode. Dafür hielt sie den Satz bereit: Der Unterschied zwischen einem alten hebräischen Buch und einem jiddischen Büchlein ist, dass man das Büchlein nach dem Lesen wegwirft, das alte Buch aber küsst und ins Regal stellt, um es ein Leben lang zu benutzen. Genauso sei es, verzeiht den Vergleich, mit Kleidern. Jene im alten Stil kann man immer tragen, aber Kleider nach der neuesten Mode trägt man heute, morgen wirft man sie weg.
Gesandte aus fernen Talmudhochschulen und Wanderprediger, die einen Schabbat im Städtchen verbrachten und beim Rav zu Gast waren, konnten die Rebbezin nicht hoch genug loben. Obwohl es sich eigentlich nicht schickte, dass Talmudgelehrte über die Frau eines anderen Mannes sprachen, machten die Gäste in diesem Fall eine Ausnahme und erzählten den Juden von Graipewo, ihre Rebbezin sei klug wie Berurja, die Frau des antiken Gelehrten R.Meir. Die Männer gingen nach Hause und erzählten es ihren Frauen. Doch die verzogen ihre Gesichter und sagten: »Angeberin! Sie will nur beweisen, dass sie klüger ist als ihr Mann und daheim das Zepter schwingt.«
Schon in den ersten Ehejahren hatte die Rebbezin ihrem Mann gelegentlich zugesetzt, ein angeseheneres Rabbinat zu suchen. R.Uri-Zwis Entgegnung war immer: Erstens, woher willst du wissen, dass ein anderes Städtchen besser ist als Graipewo? Und zweitens kam es selten vor, dass ein Rav eine Stelle in einer neuen Gemeinde antrat, ohne dort großen Streit auszulösen. Warum sollten sie beide das auf sich nehmen? Zwar hatte Perele den Sumpf von Graipewo und seine Einwohner gründlich satt, sie hatte aber zugeben müssen, ihr Mann hatte nicht unrecht. Nun aber, da die Kinder verheiratet waren und in Horodno lebten, plagte sie ihn ununterbrochen, sie sollten dorthin ziehen.
R.Uri-Zwi zuckte die Achseln: »In Horodno gibt es schon einen Oberrabbiner und ein voll besetztes Rabbinisches Gericht.«
»Wer sagt denn, dass du ein Leben lang Rabbiner sein musst? Wir können einfach zu den Kindern ziehen.«
R.Uri-Zwi wollte nichts davon wissen und Perele verstand im Grunde noch besser als ihr Mann, dass Eltern, solange sie gesund waren und ihr Auskommen hatten, nicht bei den Kindern wohnen sollten. Sie ließ das Thema so plötzlich wieder fallen, wie sie davon begonnen hatte.
Die Graipewer Rebbezin wusste ganz gut, dass sie nicht nur wegen der Kinder nach Horodno ziehen wollte. Es gab noch einen anderen Grund. Er war ihr Geheimnis. Gott sei Dank kannte es niemand, nicht einmal ihr Mann. Auch vor sich selbst schämte sie sich, einzugestehen, dass ihre Gedanken immerfort um den Rabbiner von Horodno kreisten und sie ihren Mann ständig an ihm maß, an R.Mosche-Mordechai Eisenstadt, ihrem ersten Bräutigam.
Perele war das einzige Kind des Ravs von Staripol, R.Ascherl Broido, ein kleines Männchen mit fein gerunzeltem Gesicht, einer Haut wie Pergament und einem dünnen silbernen Bärtchen. Auch im Sommer trug er eine Winterjacke aus Pelz, denn ihm war immer kalt. Die Staripoler Juden wussten, dass man ihren Rav für einen Gaon hielt. Berühmte Rabbiner, große Juden mit weißen Bärten, Männer wie verschneite Eichen, kamen von weit her nach Staripol gefahren, um beim Rav einen Schabbat mit dem Studium des Talmuds zu verbringen. Mit den Leuten im Städtchen redete R.Ascherl fast nie. Er interessierte sich auch nicht für die Angelegenheiten der Gemeinde. Ein Rav, sagte er, sollte sitzen und lernen. An Leuten, die Gemeindekram kompetent erledigten, fehlte es nie, doch an Gelehrten schon. Die Leute hörten das mit Verdruss, trösteten sich aber mit dem Wissen, dass ihr Rav berühmt war und sich tatsächlich Tag und Nacht über die Gemara beugte.
Die Gemara und die Tochter waren R.Ascherls einzige Freuden, seit die Frau ihm gestorben war. Er ließ Perele in der heiligen Sprache unterrichten, außerdem in Russisch und sogar in Deutsch. Allerdings mussten die Lehrer ins Haus kommen, weil er aufpassen wollte, dass sie ihr während des Sprachunterrichts keine ketzerischen Ideen einbliesen. Obwohl Perele klein und unattraktiv war, stand sie schon als Kind im Ruf, intelligent und gelehrt zu sein. Schließlich wurde ein Bräutigam für sie gewählt: ein bekannter junger Gelehrter, Mosche-Mordechai Eisenstadt. Der Schetler Ilui, wie man den begabten Jüngling in seiner Knabenzeit genannt hatte, sollte nach der Hochzeit beim Schwiegervater, dem Gaon, wohnen, studieren und das Staripoler Rabbinat übernehmen.
Der Bräutigam war einige Male bei der Braut zu Gast. Als man schon daranging, die Hochzeit vorzubereiten, schickte er völlig unerwartet den Verlobungsvertrag und alle Geschenke zurück, die er erhalten hatte. Der Schetler Ilui schickte auch einen Brief: Die Staripoler Gemeindevorsteher hätten ihm unumwunden gesagt, sie würden ihn nicht als neuen Rabbiner annehmen müssen, nur weil er der Schwiegersohn des alten Rabbiners sei. R.Ascherl sei eben R.Ascherl. Sie wollten einen jungen Rav, der gut predigte, Fremdsprachen beherrschte und mit Worten umgehen konnte. Was Gelehrtheit anging, störte es sie nicht, wenn der junge Rav keine große Leuchte war. »Ich aber beherrsche keine Sprachen und kann auch nicht vor Leuten sprechen, darum ist es ein Fehler für beide Seiten.« So erklärte der Bräutigam in seinem Brief an den alten Rav seinen Rücktritt von der Hochzeit. Seiner Familie aber sagte er die Wahrheit: Er wolle die Braut nicht, sie sei eine garstige Frau. Perele verstand. Während der Bräutigam bei ihnen zu Gast war, hatte er einige Male zu ihr gesagt: »Du bist klug, aber nicht gut.« Er hatte es mit einem kleinen Lachen gesagt, als wäre es ein Scherz. Später verstand die Braut, dass er vor ihr erschrocken und es ihm überhaupt nicht zum Lachen gewesen war.
»Weißt du, warum der Schetler mich nicht will?«, sagte Perele zu ihrem Vater und verkniff die Lippen zu dünnen Strichen, »Staripol ist ihm zu klein und ich bin ihm auch zu klein. Er will eine große Stadt und eine große Braut, eine große Kuh, ein dickes Vieh, eine Närrin, eine Gute. Aber gute Narren gibt es nicht. Denn ein Narr ist ein geistiger Krüppel und ein Krüppel kann nicht gütig sein.« So sang die Tochter in die Ohren des Vaters, der zuhörte mit unruhigen, wässrigen Äuglein. Dann vergrub er seinen Kopf wieder in der Gemara. Hinsichtlich ihres Charakters, dachte er, hatte der Schetler Ilui sich nicht geirrt.
Schließlich verlobte sich Perele mit dem Kejdaner Studenten Uri-Zwi Königsberg, ein starker und schöner junger Mann mit hellen Augen, klarem Gesicht und ruhigem, gutem Wesen. Wenn die Braut ihn mit ihrem ersten Bräutigam verglich, schien ihr, sie müsste eigentlich hochzufrieden sein, dass der erste einen Rückzieher gemacht hatte. Denn er war klein und dünn und sprach durch seine große Nase, die sich wie ein Widderhorn bog. Aber er hatte kluge, lachende Augen, die blitzten wie Silberbrokat auf einem Gebetsmantel. Gleich bei der ersten Begegnung hatte sich der Schetler für seine Sprachbehinderung bei Perele mit der Bemerkung entschuldigt, dass Moses, obwohl er ein Stammler war, die Welt mit seiner Lehre eroberte. Der Kejdaner Student hingegen war nicht nur gelehrt, er konnte auch gut reden. Die Braut zitterte, dass man ihr diesen wohlgeratenen Jüngling noch ausspannen könnte, und trieb die Hochzeit voran. Nach ein paar Jahren ›auf Kost‹ im Haus des Schwiegervaters übernahm ihr Mann das Rabbinat in Graipewo, denn gerade, weil er der Schwiegersohn des alten Ravs war, wollte R.Uri-Zwi Königsberg sich Staripol nicht aufdrängen. So wurde Perele die Graipewer Rebbezin und Mutter einer Tochter und zweier Söhne.
Von Zeit zu Zeit hörte sie Neuigkeiten über ihren ersten Bräutigam. Mosche-Mordechai Schetler heiratete die Tochter des Ravs von Horodno und gelangte schnell zu Ansehen. Allerdings berief ihn niemand auf eine Stelle und er selbst bemühte sich auch nicht um eine hohe Position. Trotzdem wurde er schon zu Lebzeiten seines Schwiegervaters Vorsitzender Richter des Bet-Din von Horodno. Danach kam Perele zu Ohren, man sähe in R.Mosche-Mordechai Eisenstadt bereits den gadol hador, den größten Gelehrten seiner Generation, und von überall erhielte er religionsgesetzliche Fragen. Man wollte ihn als rabbinische Autorität in Białystok und sogar in Łódź. Doch die Juden von Horodno wachten mit tausend Augen darüber, dass man ihr Juwel nicht stahl. Der Graipewer Rebbezin wurde die Kehle trocken, wenn sie solche Berichte hörte. Wie der junge Mosche-Mordechai Schetler ging und innehielt, stand ihr mit solcher Klarheit vor Augen, als sei er erst gestern ihr Bräutigam gewesen. Jede Kehre und jede Bewegung bezeugten seine Brillanz. In jeder Antwort blitzte die Geistesschärfe eines Gaons.
Je lauter das Lob auf den Rav von Horodno erschallte, desto mehr fand Perele am eigenen Mann auszusetzen. Er war ein Einfaltspinsel. Wenn er einen Disput schlichten sollte, gab er allen Parteien recht. Er bestand nie auf seiner Autorität, darum fürchtete ihn niemand. Zum Prediger taugte er wirklich nur in einem kleinen Kaff. In einer größeren Stadt scheute er sich, öffentlich zu sprechen und als Anwärter für ein Rabbinat aufzutreten. Aber was ein Mensch wirklich beherrschte, sollte er auch öffentlich unter Beweis stellen können. Selbstverständlich gab es hinsichtlich der Gelehrsamkeit überhaupt keinen Vergleich zwischen ihm und ihrem seligen Vater. Perele suchte und fand Mäkel selbst im Aussehen und in den Angewohnheiten ihres Mannes. Ein Rav darf nicht so groß und bärenhaft sein. Wie oft schon hatte sie ihn gebeten, die Schläfenlocken glattzukämmen. Aber bei ihm kräuselten sie sich wie bei einem Schaf. Wenn er Tee trank, keuchte und schwitzte er und blies durch die dicken Lippen, als hätte er sich verbrannt. Diese Unzulänglichkeiten ihres Mannes nahm die Graipewer Rebbezin allerdings nur wahr, wenn Kunde vom Horodner Rav ihr in den Ohren klang. An gewöhnlichen Tagen war R.Uri-Zwi die Krone auf ihrem Haupt. Sie sonnte sich in seiner würdevollen Erscheinung und sorgte sich um seine Gesundheit. Doch wenn längere Zeit verging, ohne dass jemand den Horodner Rav erwähnte, fehlte ihr etwas. Mit ihrem Mann wollte sie über ihn nicht sprechen und mit den Frauen der Stadt schon gar nicht. Frauen können ein sehr gutes Gedächtnis haben, und sie erinnerten sich womöglich daran, dass der Horodner Rav ihr Bräutigam gewesen war und sie zurückgewiesen hatte. Die Graipewer Rebbezin hatte ohnehin keine Lust, in der Gesellschaft von Frauen ihre Zeit zu verbringen. Wenn aber ein Gelehrter in ihrem Haus zu Gast weilte und ihr Mann noch nicht von der Synagoge zurückgekehrt war, fragte Perele beiläufig:
»Wir haben gehört, man sieht im Horodner Rav den gadol hador. Worin besteht denn seine Größe? Ist er wirklich ein solches Genie, wie man allgemein sagt?«
»Einsame Spitze! R.Mosche-Mordechai Eisenstadt ist einzigartig!«, rief der Gast ekstatisch und schüttelte Bart und Schläfenlocken.
»Und klug. Man sagt, er sei auch sehr klug«, fügte die Rebbezin traurig hinzu und ging hinaus in die Küche, um dem Gast ein Glas Tee zu bringen. Das Wasser im Teekessel war schon halb verdunstet, doch Perele verharrte vor dem Herd und blickte gedankenverloren mit großen kalt-glänzenden Augen ins Feuer.
Die Tochter des Graipewer Ravs, das älteste seiner drei Kinder, heiratete in Horodno in eine gutsituierte Familie, die auch die Rabbiner der Stadt zur Hochzeit einlud, allen voran natürlich R.Mosche-Mordechai Eisenstadt. Bevor Perele ihn noch ganz zu Gesicht bekam, erkannte sie ihn schon an seinem Gang, an den flinken Kehren und Bewegungen von damals. Als sie aber sein Gesicht sah, traute sie ihren Augen nicht. Sie wusste, R.Mosche-Mordechai war kaum über fünfzig, aber er glich einem alten Mann mit hängenden Schultern und langem grauem Bart. Nach der Trauungszeremonie unter der Chuppa saß die Graipewer Rebbezin neben ihrer Tochter am oberen Ende des Frauentischs und beobachtete, wie der Horodner Rav sich am Männertisch freundschaftlich mit ihrem Mann unterhielt. Allerdings verweilte R.Mosche-Mordechai nicht lange. Er erhob sich schon bald, um zu gehen. Perele beobachtete, wie alle Rabbiner und wichtigen Gäste aufstanden, um ihn zur Tür zu begleiten. Er sagte da wohl noch etwas Geistreiches und Witziges, denn die Umstehenden schmunzelten und lachten. Obwohl der Horodner Rav anscheinend in guter Stimmung gewesen war und gar nicht in ihre Richtung gesehen hatte, schien ihr, als sei einzig sie es, die ihm den großen, vollen Hochzeitssaal hatte eng werden lassen, und er sich darum beeilt hatte aufzubrechen.
Später heirateten auch die Söhne des Graipewer Rav, zwei Jeschiwa-Absolventen, nach Horodno. Die Mutter hatte sich sehr bemüht, diese Heiraten in die Wege zu leiten. Von allen vorgeschlagenen Partien gefielen Perele nur die Bräute aus Horodno. Während einer der häufigen und langen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern platzte dem sonst geduldigen und weichen R.Uri-Zwi einmal der Kragen und er schrie: »Warum bist du denn so vernarrt in Horodno?« Seine Frau antwortete ihm ruhig, wenn er mehr Verstand hätte, würde er sich darüber nicht wundern. Ihre Tochter wohne in Horodno, also wäre es gut, wenn auch die beiden Söhne sich dort niederließen. Erstens würden sich die Kinder dadurch nicht in der Fremde fühlen, denn sie lebten ja alle in derselben Stadt. Zweitens müssten sie selbst nicht in drei verschiedene Städte fahren, um die Kinder zu besuchen. Da die Horodner Partien sehr ansehnlich waren und die Söhne seit ihrer Kindheit der Mutter gehorchten, verheirateten sie sich kurz nacheinander in Horodno.
Perele wusste, dass R.Mosche-Mordechais Frau ein Jahr nach der Hochzeit schwanger geworden war und eine Fehlgeburt erlitten hatte. Sie erkrankte und die Ärzte rieten ihr, keine weiteren Kinder zu haben. Sie setzte sich darüber hinweg, wurde wieder schwanger und gebar ein Mädchen. Perele hörte, dass die einzige Tochter der Horodner Rebbezin an Asthma und einem schwachen Herzen litt. Sie war ein blasses, launisches Mädchen, das oft den ganzen Tag weinte. Sie ging nicht in die Mädchenschule und hatte keine Freundinnen, weil sie sich wegen ihres dürren, kränklichen Aussehens genierte. Ständig saugte sie durch einen Schlauch etwas aus einer Flasche, was ihr das Atmen erleichterte. Der Vater ging mit ihr spazieren, brachte sie zu Ärzten, und die Mutter verteilte Spenden. Traf sie einen frommen Juden, bat sie stets um einen Segen für ihr einziges Kind. Wenn die Graipewer Rebbezin ab und zu davon hörte, seufzte sie tief, zuerst aus Mitgefühl, dann aus Erleichterung, dass ihre eigenen Kinder Gott sei Dank gesund waren. Später besserte sich der Zustand des kranken Mädchens und es ging die Rede, die Eltern suchten einen Bräutigam.
Im Winter versank Graipewo bis zu den verkitteten Doppelfenstern der Häuschen im Schnee. Das bleierne Tageslicht und der frühe Einbruch der Dunkelheit verbreiteten Lethargie und Trübsinn. Nach den langen finsteren Nächten erhoben sich die Menschen in Graipewo morgens mit schmerzenden Gliedern, als hätten sie in einem Sumpf geschlafen. Die einzig lichten und fröhlichen Zeiten waren der Freitagabend, wenn die goldenen Flammen der gesegneten Kerzen die Stuben erhellten, und Schabbat in der Synagoge: das Vorbeten des Kantors, die Predigt des Ravs nach Mincha, dem Nachmittagsgebet, das gemeinschaftliche Rezitieren der Psalmen in der tiefen Abenddämmerung. Aber an einem Freitag vor Chanukka zerstörte ein Reisender restlos die Schabbatruhe.
Der Mann hatte die Woche in Horodno verbracht und kam am Freitag in der Frühe zum Morgengebet ins Städtchen. Während er die Kapuze ablegte und sich aus dem schweren verschneiten Pelz schälte, verkündete er die traurige Nachricht, die Tochter des Horodner Ravs sei plötzlich gestorben. Es wäre nicht einmal Zeit gewesen, einen Arzt zu holen. Auf der Beerdigung der Tochter, erzählte der Mann, hätte ganz Horodno Tränen vergossen angesichts des gebrochenen Vaters, der am Grab stand und weinte. Die Mutter hingegen wäre versteinert. Seit einer Woche schon herrschten Trauer und Dunkelheit in Horodno, als wäre dort jeden Tag Sonnenfinsternis. Auch die Graipewer wurden von dieser Nachricht erschüttert. Obwohl die Juden »Gelobt sei der wahre Richter!« murmelten, blickten sie doch fragend auf den Aaron-Kodesch, in dem die Torah-Rolle verwahrt wurde: Wofür wurde der Gaon R.Mosche-Mordechai Eisenstadt so hart bestraft? Nach dem Gebet eilten die Männer nach Hause und erzählten ihren Frauen das Unglück. Sie rangen die Hände und trugen die schwarze Botschaft auf den Markt. Als R.Uri-Zwi von der Synagoge nach Hause kam, wusste seine Frau schon alles.
Die Trauer verlieh Pereles Gesicht eine matte Blässe und in ihren Augen glänzte ein Schweigen, das sie in sich verschloss. Die Katastrophe, die über den Horodner Rav hereingebrochen war, durchschauerte sie stärker als die anderen Frauen in Graipewo. Sie hatte das gespenstische Gefühl, dass sie und ihre Kinder dem schlimmen Schicksal ihres ersten Bräutigams entronnen waren. Gleichzeitig glühte sie vor Zorn, weil die Frauen sagten, es werde ein aufgewühlter Schabbat werden. Sie redeten, als wäre der Horodner Rav auch der Rav von Graipewo.
Der so höfliche wie arglose R.Uri-Zwi hatte immer vermieden, mit seiner Frau über den Horodner Rav zu sprechen, damit sie nicht daran erinnert würde, dass jener die Verlobung mit ihr gelöst hatte, und sich deswegen schämte. Doch angesichts dieses Schicksalsschlags glaubte R.Uri-Zwi, sich nicht vor seiner Frau in Acht nehmen zu müssen. Er seufzte, jammerte und rang die Hände. »Ein solches Urteil des Himmels! So eine Katastrophe! Die ganze rabbinische Welt wird zittern!« Perele konnte das Stöhnen ihres Mannes nicht ertragen, sein weibisches Händeringen und sein kuhdummes Gerede vom Zittern der »ganzen rabbinischen Welt«. Nichts weniger als die ganze Welt! Die Rebbezin fühlte ein Stechen in der Brust und begann zu husten. Sie legte sich aufs Sofa und schwieg lange mit trockenen Lippen. Die Graipewer Rebbezin litt fürchterlich, sowohl für den Horodner Rav als auch aufgrund einer Verärgerung, die sie selbst nicht verstand. Da sie aber für Schabbat noch einiges vorzubereiten hatte, raffte sie sich auf und sagte zu ihrem Mann, der noch jammernd und mit geschlossenen Augen dabei war, den langen Segen nach dem Essen zu sprechen:
»Trotzdem musst du deinen Leuten beim Gottesdienst heute Abend sagen, und sie sollen es an ihre Frauen weitergeben, dass man an Schabbat nicht trauern darf, zumal sie mit R.Mosche-Mordechai Eisenstadt nicht verwandt sind und er auch nicht ihr Rav ist.«
R.Uri-Zwi riss die Augen auf. Obwohl seine Ejsches chajil nüchtern und trocken sprach, kam es ihm vor, als redete sie im Wahn. Die Rebbezin hatte zwar von anderen verlangt, das Gebot der Schabbatfreude nicht zu verletzen, sie selbst aber verbrachte den ganzen Tag auf dem Sofa liegend in verbissenem, feindseligem Schweigen. Da lag sie noch, als R.Uri-Zwi am Schabbatabend aus der Synagoge zurückkam, und sagte zu ihm durch die Dunkelheit, R.Mosche-Mordechai Eisenstadt habe sich als junger Mann selbst zum Narren gemacht wie jeder Kluge, der neunmalklug sein will. Seine Frau sei ja schon als Kind kränklich gewesen, aber das sei ihm unwichtig gewesen. Er hätte ein krankes, verweintes Mädchen genommen, weil er es auf das Rabbinat von Horodno abgesehen hatte. »Er tut mir wirklich sehr leid«, sagte sie schließlich und erhob sich ächzend vom Sofa, um neben ihrem Mann zu stehen, während er den Segen sprach, der Schabbat von den Wochentagen unterschied.
Den Rest des Winters plagte Perele ihren Mann, sie sollten nach Horodno ziehen. R.Uri-Zwi erklärte sich das so, dass seine Frau über das Unglück mit der Tochter des Ravs so erschrocken war, dass sie nun in der Nähe ihrer Kinder sein wollte. Er versuchte sie zu beruhigen. »Närrchen, unsere Kinder sind, gottlob, frisch und gesund. Ein Jude muss an die göttliche Vorsehung glauben. Die Gemara sagt: ›Niemand verletzt sich hier unten an einem Finger, wenn es oben nicht so bestimmt wurde.‹ Perele antwortete, von solchen Gemara-Sätzen hätte sie jetzt genug. Wüsste er nicht oder vermiede er es nur zu wissen, dass ihre Tochter Serel demnächst wieder Mutter würde? Wenn Serel im Kindbett läge, wer passte dann auf die Zwillinge auf? Der Schwiegersohn hatte selbst alle Hände voll zu tun. »Dann fahre eben für eine Weile hin. Zur Beschneidung oder zum Glückwunsch, wenn es ein Mädchen ist, komme ich dann«, sagte der Rav und bat sie inständig, ihn nun in Ruhe zu lassen, er müsste studieren, eine Predigt vorbereiten, einen Brief beantworten. Aber die Rebbezin legte sarkastisch nach: »Wie schön, dass du zur Beschneidung oder zum Glückwunsch kommen willst. Und wer wird Serel helfen, wenn sie einen Säugling an der Brust und die Zwillinge am Schürzenbändel hat?«
Die Rebbezin sprach trocken und nüchtern wie eine Wanduhr, die hart und pünktlich tickt. Das Reden hinderte sie nicht daran, die Speisen von der Küche ins Esszimmer zu tragen oder die Stube aufzuräumen. Der Rav aber schaffte es nicht, seiner heiligen Arbeit nachzugehen und ihr gleichzeitig zuzuhören und zu antworten. Sobald Perele das Thema Tochter erschöpft hatte, begann sie von den Söhnen reden: Auch sie hatten schon Kinder, sie mögen gesund sein. Aber ihnen war sie keine richtige Großmutter, weil sie nur alle Jubeljahre zu ihnen kam. An den Söhnen hätte sie Freude haben können, wären sie nicht wie der Vater geraten, ein Herumsitzer ohne praktischen Verstand. Jankel-David und Gedalja hätten ja leider nicht Rabbiner werden wollen, aber als Kaufleute taugten sie nicht viel. Ohne ein Fünkchen Unternehmergeist ließen sie alles laufen, wie es eben lief, genau wie ihr Vater. Wenn sie in der Nähe der Kinder wohnte, würde sie sie schon auf Trapp bringen und verhindern, dass sie ihre Jugend verschliefen. Um ihrem Mann zu beweisen, dass die Söhne seinen schwachen Charakter geerbt hatten, erinnerte sie ihn daran, dass er nie versucht hatte, Rav in Staripol zu werden, wie ihr Vater es zeitlebens gewesen und wo sie geboren worden war. Seine Antwort, er hätte keinen Streit anzetteln wollen, war eine Ausrede. Ihr Vater, er ruhe in Frieden, hatte immer gesagt: »Ein Rav soll den Streit nicht suchen, aber er soll auch keine Angst davor haben.«
»Und ich sage, ein gelehrter Mann sollte sich jedem Streit durch Flucht ans Ende der Welt entziehen«, brummte R.Uri-Zwi.
Er fühlte, wie unter den Beschwerden, die seine Frau gegen ihn vorbrachte, sein Hirn glühte wie ein Kessel, der noch auf dem Feuer stand, obwohl das Wasser schon lange daraus verdampft war. Wenn aber ein Mann aus dem Städtchen das Haus des Rabbiners betrat und die Rebbezin ihn im Vorzimmer empfing, sprach sie mit solcher Achtung und Höflichkeit von ihrem Mann, als diene sie bei ihm in bescheidenster Stellung. »Ihr wollt den Rabbiner sehen? Ich werde nachsehen, ob er sich nicht aufs Ohr gelegt hat.« Perele erforschte außerdem, ob die Sache auch wichtig genug war: Sie wolle weder Einzelheiten noch Geheimnisse wissen und sie mische sich auch nicht in fremde Angelegenheiten, aber die Leute müssten verstehen, dass man den Rav nicht wegen einer Kleinigkeit belästigen durfte. Man dürfe die Zeit, die er zum Studieren und Ausruhen brauche, nicht in Anspruch nehmen. Erst nach all diesen Vorreden ließ sie den Graipewer in die inneren Gemächer eintreten und ging hinaus. R.Uri-Zwi atmete auf; er würde nun eine Weile vor ihr Ruhe haben. Aber er hatte Mühe, sich auf das Gespräch mit dem Besucher zu konzentrieren, denn es bedrückte ihn, wie seine Frau mit den Menschen sprach. Selbst alte Freunde wurden behandelt, als kämen sie zu einer Audienz.
Der Rav fand einen Ausweg: Er verbrachte einfach mehr Zeit in der Synagoge. Seine Frau mahnte, es schicke sich nicht für die rabbinische Autorität des Städtchens, im Bethaus herumzulungern wie ein religiöser Asket und Nichtstuer. Er wollte ihre Klagen nicht mehr hören? Gut, er würde sie nicht mehr hören. Perele hörte auf, mit ihrem Mann zu sprechen, und tat keinen Handschlag mehr im Haus. Es sah aus, als könnte sie auf Bestellung krank werden. Sie litt wieder an Kopfschmerzen, lag mit feuchten Tüchern auf der Stirn ganze Tage auf dem Sofa, löffelte Medizin oder trank sie aufgelöst in warmem, süßem Tee, seufzte und sah aus dem Fenster.
Draußen verdunkelte dichter grauer Schneefall das Tageslicht. Endlos wirbelten und tanzten die Flocken, verwehten und begruben alle Wege, Treppen, Eingänge und Veranden. Wenn der Schneefall für kurze Zeit nachließ, beobachtete Perele, wie die schweren Wolken sich langsam senkten, und fühlte, wie sie ihr das Herz abdrückten und sie erstickten. Sie wurde von Husten geschüttelt, rau, hart, böse und hartnäckig. Sie sog ihre Medizin von kleinen Löffeln und verbrachte schweigend den Tag. Ihr Schweigen und Husten quälten ihren Mann mehr als ihre ständige Nörgelei. Er trat an ihr Sofa und bat sie: Wenn sie sich so sehr nach den Kindern und Enkeln sehne, solle sie doch für zwei Wochen nach Horodno fahren. Er würde sich ohne sie schon zu behelfen wissen. Sie hörte ihn schweigend an und drehte den Kopf zum Fenster, als wollte sie ihm mitteilen, dass man in einem solchen Schneesturm nicht einmal einen Hund vor die Tür schickte, und nun riete er ihr, sich auf den Weg zu machen.
R.Uri-Zwi ging in sein Zimmer zurück. Perele sah ihm nach, wie er sich trollte mit hängenden Schultern, in einen gestrickten Hausmantel aus grüner Wolle gehüllt, ein abgetragenes Samtkäppchen auf dem ungekämmten weißen Haar. Es schmerzte sie, dass sie ihn erschöpfte, aber sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er in Graipewo versank, in seinen staubigen Sommern, schlammigen Herbsten und verschneiten Wintern. Weder fuhr er zu Rabbinerversammlungen, noch zog es ihn zu den Kindern. Perele erinnerte sich, dass sie ihm eine Mahlzeit zubereiten musste; er war gewiss hungrig; aber er bat sie nicht darum. Sie ging in die Küche, wärmte ein Gericht aus Buchweizengrütze, setzte den Teekessel auf und kochte ein paar Eier. Dann ging sie in das Bücherzimmer. Er saß mit gesenktem Kopf über einem offenen Folianten, studierte aber nicht. »Geh, wasch dich vor dem Essen«, hörte sie ihre Stimme sagen. R.Uri-Zwi hob den Kopf; in seinen Augen lagen Bitten.
»Perele, ich verstehe dich nicht. Ich weiß oft nicht, ob du diese Dinge im Ernst sagst. Warum sollten wir einen Ort verlassen, wo wir ein ehrenhaftes Auskommen haben, und stattdessen den Kindern zur Last fallen?«
Die Rebbezin lächelte ihm zu wie jemandem, der völlig danebenlag: In Graipewo vom Bettelbrot der Gemeinde zu leben sei würdevoller, als von den Kindern unterstützt zu werden? Und sie klagte wieder, diesmal lieblich-wehmütig und auf ruhige Weise beherzt: Es sei allemal rühmlicher, in einer Synagoge in Horodno zu sitzen und für sich zu lernen, als sich mit einem Kaff von der Größe einer Feige zu beschäftigen. Dann sagten die Leute wenigstens: Dieser Jude hätte Rabbiner in einer großen Stadt sein können. Perele wies auf die langen mit schön geschwungenen Schriftzügen bedeckten Papierbögen, die in einem Stapel auf dem Tisch lagen. Seit Jahren schon schreibe er an seiner Abhandlung und sie sei immer noch nicht fertig. Da es in Graipewo keine Gelehrten gäbe, mit denen er reden und studieren könne, habe er auch keine Freude daran, neue und überraschende Interpretationen der Torah zu entwickeln. In Horodno aber fehle es nicht an großen Gelehrten, mit denen er die feinen Punkte des Gesetzes diskutieren könnte, dann hätte er auch mehr Lust, seine Einsichten in die Torah als Buch herauszugeben.
»Da du nun schon einmal vom ehrenhaften Auskommen sprichst, das wir hier angeblich haben, kannst du deiner Gemeinde sagen, dass wir mit deinem Gehalt nicht mehr auskommen. Alles ist dreimal so teuer geworden und wir bekommen noch immer dieselben siebenundvierzig Złoty und fünfzig Groszy in der Woche.«
Der Rav freute sich. Wenn er eine Gehaltserhöhung bekäme, würde seine Ejsches chajil einsehen, dass das Städtchen ihn sehr wohl in Ehren hielt, und sie würde aufhören, ihn zu drängen wegzuziehen. Als R.Uri-Zwi am nächsten Tag nach dem Morgengebet die Gemeindevorsteher um eine Gehaltserhöhung anging, erhielt er eine seltsame Antwort: Es sei genau umgekehrt. Da der Rav seine Kinder glücklich verheiratet hatte und er mit seiner Frau jetzt allein war, müsste er eigentlich ein kleineres Gehalt bekommen als in der Zeit, in der er für Kinder zu sorgen gehabt hatte. In der Gemeindekasse sei nicht einmal genug Geld für Holz, um am Schabbat ganztägig das Gästehaus zu heizen, den Lehrern der Grundschule zahle man nur ein Drittel ihres Gehalts und die Waisenkinder liefen hungrig und verlumpt herum. R.Uri-Zwi hielt seinen schweren silbernen Bart, als habe er Angst, er könnte sich ablösen und herunterfallen. »Andere Rabbiner in Städtchen, die nicht größer sind als Graipewo, bekommen jetzt fünfundsiebzig Złoty oder sogar die vollen hundert Złoty in der Woche. Ich bekomme knapp fünfzig. In amerikanischem Geld sind das weniger als zehn Dollar in der Woche. Ihr sagt mir, das sei zu viel?« Die Gemeindevorsteher antworteten kalt und grimmig wie der winterliche Tag draußen, die Ladenbesitzer von Graipewo verdienten jetzt nicht einmal dreißig Złoty in der Woche.
Bedrückt und mit schuldbewusster Miene berichtete der Rav Perele von dieser Unterredung. Zu seiner Überraschung wurde sie überhaupt nicht böse. Allerdings ließ sie beim Einkaufen am nächsten Morgen in einem der Geschäfte die Bemerkung fallen, dass sie, so Gott wolle, schon bald nach Pessach Graipewo verlassen würde. R.Uri-Zwi erfuhr es in der Synagoge von den wütenden Gemeindevorstehern. »Zwanzig Jahre lang habt Ihr, Rabbi, auf unserem Rabbinerstuhl gesessen«, schleuderten sie ihm entgegen, »und mit einem Mal beschließt Ihr, unsere Stadt wegzuwerfen, weil man Euch keine Gehaltserhöhung gibt. Und Ihr habt es nicht einmal für nötig befunden, die Gemeinde davon zu informieren. Eure Rebbezin erzählt es den Frauen auf dem Markt.« R.Uri-Zwi ließ die Wut auf seine Frau an der Gemeinde aus: Zwanzig Jahre lang sei er ihr Rav gewesen; nie hatte er sich mit ihnen über Geld gestritten. Und jetzt, da er einmal im Leben um eine Gehaltserhöhung bitte, sagte man ihm, dass ein Krämer weniger verdiene als er. Wenn das so sei, werde er jetzt wirklich darüber nachdenken, ob er Graipewo verlassen solle. Zuhause aber hatte der Rav nicht die Kraft, mit seiner Frau einen Streit anzufangen. »Wie konntest du so etwas ohne mein Wissen tun?«, war alles, was er sich abringen konnte. Perele antwortete ihm erfrischt und halb singend, als sei sie um Jahrzehnte verjüngt.
»Ich habe nie daran gezweifelt, dass sie dir die Gehaltserhöhung verweigern werden. Aber ich wollte, dass du selbst erfährst, wie sehr sie deine Torah-Kenntnisse schätzen. Sie sind sofort bereit, alles für dich zu opfern, aber es darf sie keinen Groschen mehr kosten.«
Unter den Gemeindemitgliedern brach eine Debatte aus. Wenn der Rav kein Verständnis für die Lage der Gemeinde aufbringe, sagten die einen, solle er eben gehen. Die Mehrheit aber meinte, man müsse einen Kompromiss finden. Schließlich einigten sich die Gemeindevorsteher auf einen Plan und besprachen ihn mit dem Rav in der Synagoge: Die Gemeinde, klagten sie, könne es sich nicht leisten, sein Gehalt zu erhöhen, aber Graipewo sei bereit, der Rebbezin das alleinige Verkaufsrecht für Hefe einzuräumen; das bringe dem Rav eine erhebliche Aufbesserung seines Gehalts.
R.Uri-Zwi konnte den Leuten nicht erklären, dass seine Frau damit kaum einverstanden sein würde. Er wusste natürlich, dass vor Jahren alle Rabbinerfrauen in den kleinen Ortschaften Hefe verkauften. Als sie den Vorschlag der Gemeinde hörte, erbleichte Perele. In der ersten Schreckensminute starrte sie ihren Mann mit solchem Entsetzen an, als habe er von ihr verlangt, die Perücke abzulegen, die Schuhe auszuziehen und barfuß in den Schnee zu laufen. Doch dann lachte sie, bis ihr die Tränen in den Augen standen. Warum nur Hefe? Die Frauen der Rabbiner hätten auch Kerzen, Salz und Kerosin verkauft. Doch ihre Mutter, die Staripoler Rebbezin, hatte nie Hefe verkauft; als die Mutter starb und sie mit dem Vater allein blieb, hatte auch sie nie Hefe verkauft. Und nun solle sie, nachdem sie Jahrzehnte als Rabbinerin gelebt hatte, Hefekrämerin werden? Zu den Frauen in der Stadt habe sie immer Distanz bewahrt. Sie würden sich über sie aufschwingen: »Rebbezin, Ihr wiegt zu knapp ab«, mäkelte Breine, »Rebbezin, Eure Preise sind zu hoch«, plärrte Treine.
»Du siehst, wie viel die Graipewer Achtung vor einem Gelehrten wert ist, wie viel es ihnen bedeutet, dass du mit allen in Frieden lebst und der Stadt dienst wie ein Soldat. Die Gemeindeleute wollen mir nicht einmal die Ehre erweisen, hier in unserem Haus mit mir zu sprechen. Sie werfen mir diesen Knochen durch dich zu.«
Der Rav litt unter wachsender Verstimmung. Pereles Worte setzten ihm zu wie Nadelstiche. Er verschwand schnell in sein Bücherzimmer. Als er wieder im Esszimmer erschien, erwähnte die Rebbezin weder die Gehaltserhöhung noch den Umzug. Sie wusste, die Worte, die sie in die Gedanken ihres Mannes gesät hatte, erwärmten sich unter der Schneedecke seines Haares und würden mit der Zeit die gewünschten Sprossen treiben.
Der Konflikt zwischen dem Rav und der Gemeinde entwickelte sich im Verlauf des Winters zu einem bösen Streit. Die Gemeindeleute dachten, der Rav stehe ihnen feindselig gegenüber. »Alles nur, weil wir ihm nicht ein paar Złoty mehr geben?« Der Rav aber dachte, die Gemeinde interessiere sich nicht mehr für seine Predigten und grüße ihn auch nicht mehr mit einem herzlichen »Gut-Schabbes«. »Und alles nur, weil ich eine kleine Gehaltserhöhung wollte? Wenn das so ist, hat Perele recht!« So trieb R.Uri-Zwi seine Frau zur Eile. Gleich nach Pessach wollten sie das Städtchen verlassen.
Der Rav und seine Gemeinde schieden freundlich, aber kühl voneinander. R.Uri-Zwi Königsberg hatte etwas Geld gespart und auch das Rabbinerhaus war sein Eigentum. Die Gemeindevorstände versicherten ihm, sein Nachfolger müsse das Haus kaufen und bar bezahlen. In den letzten Minuten fühlte R.Uri-Zwi, wie es ihm das Herz zerriss, den Ort zu verlassen, wo er jahrzehntelang ruhig und geachtet gewohnt hatte. Auch die Ankunft des Ehepaars in Horodno war keineswegs wonnig. Statt sich zu freuen, warfen die Kinder der Mutter vor, den Vater im Alter durch einen Umzug aus dem Gleis zu werfen. Die Mutter gab zurück, wenn sie selbst einmal Enkelkinder hätten, würden sie die Sehnsucht von Großeltern schon verstehen; außerdem könnten sie sich beruhigen, die Eltern seien nicht auf ihren Beistand angewiesen und hätten auch nicht die Absicht, bei ihnen zu wohnen.
Die beiden Söhne, Jankel-David und Gedalja, hatten gekräuseltes Haar und volle Gesichter wie ihr Vater; auch sein Temperament hatten sie geerbt: Sie waren großmütig und gelassen, hielten wenig von Geschwätz und liebten ihre Ruhe. Nach ihren Heiraten hatten sie zusammen ein Schuhgeschäft eröffnet und waren zufrieden, in Horodno weit ab von den Einmischungen der Mutter leben zu können. Es missfiel ihnen außerordentlich, dass die Mutter nach Horodno übersiedelte und nun wohl glaubte, ihr Leben wie ehedem bestimmen zu können. Es war ihnen völlig klar, dass die Mutter es satt hatte, Rebbezin in einem unbedeutenden Nest zu sein. Aber würde es sie zufriedenstellen, für die Enkel die Kinderfrau abzugeben? Die Brüder sprachen mit niemandem über ihre Bedenken, nicht einmal mit den eigenen Frauen und auch nicht mit ihrer Schwester.
Im Unterschied zu den beiden Söhnen hatte die Tochter nie auf die Mutter gehört. Wenn die Mutter etwas erreichen wollte, musste sie ihren Mann bitten, Serel daran zu erinnern, dass man Vater und Mutter ehren sollte. Serel glich äußerlich der Mutter, auch wenn sie vom Wuchs her etwas größer und breiter war. Allerdings suchte sie sich einen Mann aus, dem sie gehorchen konnte und nicht umgekehrt, wie es bei ihren Eltern der Fall war. Serels Mann hatte ein pockennarbiges Gesicht, fröhliche Augen, breite Schultern und fleischige Hände mit kurzen Fingern. Obwohl er Esra Edelmann hieß, benahm er sich gelegentlich sehr unfein. Er besaß ein Tuchgeschäft und führte ein gut jüdisches, aber nicht fanatisch religiöses Leben, denn er war von Natur aus zu faul, um sich intensiv in einen Gegenstand zu vertiefen. Als seine Frau zu ihm sagte: »Verstehst du denn nicht, was die Mutter mit ihrem Umzug nach Horodno beabsichtigt?«, gab er nur zurück: »Das sollte deine geringste Sorge sein!« Er wusste, dass die Schwiegermutter mit ihren Plänen bei ihm nicht durchkommen würde.
R.Uri-Zwi nahm an, dass sie eine Zweizimmerwohnung mieten würden, und bereitete sich darauf vor, die Bücher, die er nicht wirklich brauchte, unter seinen Kindern zu verteilen. »Wir sind durchaus noch quicklebendig,« sagte Perele und mietete eine Fünfzimmerwohnung. Sie hatte all ihre alten Möbel aus Graipewo mitgebracht und kaufte weitere hinzu: ein neues Sofa, Geschirrschränke, einen ausziehbaren Esszimmertisch, eine Wäschetruhe und ein halbes Dutzend Stühle. Außerdem bestellte sie neue Bücherregale. Sie ließ die verblichenen Tapeten abreißen und ordnete an, die Wände dunkelblau und die Decken weiß zu streichen. Als die Zimmer ausgemalt und die Möbel aufgestellt waren, wusch sie zusammen mit einem Dienstmädchen alle Fenster und hängte Gardinen und Vorhänge auf. R.Uri-Zwi riss die Augen auf und erschrak: Wo hatte man je gehört, dass ein alter Gelehrter, der aus dem Rabbinat geschieden war, um zur Ruhe zu kommen, sich in einer solchen Wohnung installierte? Die Rebbezin erwiderte: Gott sei ein Vater. Als Rav habe er anderen immer gepredigt, ein Jude brauche Gottvertrauen; aber er selbst habe ja wohl keines.
Auch das Bethaus, in dem er sitzen und studieren sollte, suchte die Frau für ihn aus. R.Uri-Zwi hatte eine hölzerne Synagoge mit einer niedrigen Tür gewählt, sodass er sich beim Eintreten stets würde verbeugen müssen. Bima und Aaron-Kodesch standen einander nah gegenüber und schufen heimische Vertrautheit. Am großen Ofen an der Westwand konnte man sich im Winter den Rücken wärmen, und um einen einfachen langen Tisch saßen im Schein von Naphtalampen alte Männer über religiösen Büchern. Perele hingegen bestimmte für ihn eine große gemauerte Synagoge mit hoher Decke. Dort fühlte der kleinstädtische Rav stets die schweren bronzenen Kronleuchter über sich hängen. Durch die hohen Fenster strömte Licht und blendete, wenn man nach draußen sehen wollte. Um zur Bima oder zum Aaron-Kodesch zu gelangen, musste man jeweils mehrere Stufen hinaufsteigen, die von vornehmen schmiedeeisernen Geländern eingefasst waren. Sie erinnerten ihn – es sei zwischen ihnen wohl unterschieden – an ein Gefängnis. Da in der sogenannten Gemauerten Synagoge die beiden Söhne beteten, verlangte Perele, dass auch ihr Mann dort bete und studiere. An Feiertagen würde sie am Vorhang der Frauenabteilung stehen und beobachten, wie er und die Söhne den Aaronitischen Segen über die Gemeinde sprachen. »Bereite mir diese Freude«, bat sie und R.Uri-Zwi dachte: Na gut, er würde ihr diese Freude bereiten.
Die Juden von Horodno sprachen mit Begeisterung vom Graipewer Rav, der sein Rabbinat aufgegeben hatte, um sich Torah-Studium und Gebet zu widmen. Insbesondere die Juden der Gemauerten Synagoge waren hoch erfreut, weil sie nun plötzlich ein ansässiges Mitglied hatten, dessen Gelehrtheit und stattliche Erscheinung ihr Gotteshaus erhellen würde. Der erste Vorstand der Synagoge, David Gans, firmierte auch als Torah-Vorleser. Er wackelte ständig mit dem Kopf, war dünn wie eine Nadel und trug einen dicht geringelten und gekräuselten Bart. Die großen schwarzen Augen ruhten unbeweglich in ihren Höhlen wie die eines Erfrorenen oder Ertrunkenen. Der zweite Vorstand, Meir-Michel Joffe, liebte es, am Vorbeterpult, dem Amud, zu stehen, wenn der Kantor nicht selbst die Gebete leitete. Sein Mund war voller Goldzähne; er hatte einen runden Bart und einen runden Bauch. An Feiertagen erschien er in Zylinder und Frack. Der dritte und umtriebigste Vorstand der Gemeinde hieß Mosche Moskowitz. Er war klein, gesund und quirlig, hatte einen drahtigen weißen Bart und Warzen auf der Nase. Seine geschäftlichen Unternehmungen richteten sich nach der Jahreszeit. Vor Pessach buk er Matzen auf Bestellung, vor Sukkot handelte er mit Zitronen. Bei ihm zuhause konnte man einen Chanukka-Leuchter kaufen, aber auch einen neuen Gebetsmantel und eine gebrauchte Talmud-Ausgabe. Suchte ein Städtchen einen Rabbiner oder ein Rabbiner einen Bräutigam, kannte Mosche Moskowitz den geeigneten Kandidaten. In den Jamim noraim, den zehn Tagen der Furcht zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, blies er das Widderhorn, an Simchat Torah verkündete er, wem das ehrenvolle Tragen der Torah-Rollen zufiel, und das ganze Jahr über hatte er unumstößlich das Vorrecht etabliert, am Samstag nach Sonnenuntergang Hawdala zu machen, jene kurze Zeremonie durchzuführen, die den Schabbat verabschiedete. Der ehemalige Rabbiner von Graipewo, R.Uri-Zwi Hakohen Königsberg, hatte noch kaum die Möglichkeit gehabt, die Mitglieder der Synagoge kennenzulernen, als an einem blauen Nachmittag zwischen Pessach und Schawuot die drei Vorstände sich um ihn scharten und ihn so vertraulich wie respektvoll ansprachen.
»Nimnu wegamru, wir zählten und wir entschieden, Rabbi, dass Ihr an Schawuot bei uns eine Predigt über den Empfang der Torah halten sollte«, verkündete Mosche Moskowitz.
»Die Gemeinde bittet darum. Wir können Euch versprechen, die Synagoge wird so brechend voll sein, dass selbst ein Stecknadelkopf keinen Platz mehr findet«, sang Meir-Michel Joffe.
»Ho kol-zame lechu lamajim, jeder der dürste, komme zum Wasser, ele torah, oder zur Torah. Wie ein Durstiger in der Wüste nach Wasser, so lechzt unsere Stadt danach, alle Jubeljahre einen guten Prediger zu hören«, tönte der Vorleser, R.David Gans, während er seine schwermütigen Augen auf den Rav heftete. Mosche Moskowitz hasste Anspielungen, er redete lieber Klartext und so mischte er sich nochmals ein:
»Die Rabbiner von Horodno sind gute Rabbiner. R.Mosche-Mordechai Eisenstadt etwa ist ein Genie und weltberühmt. Aber die Gabe, eine herzhafte Predigt zu halten, wurde den hiesigen Gesetzesautoritäten nicht beschert. Warum solltet Ihr also nicht zu Ehren des Festtags und zur Feier des Empfangs der Torah unser tiefstes Bedürfnis befriedigen?«
Als die Rebbezin hörte, was man von ihrem Mann verlangte, verbreitete sich über ihre Wangen eine rosige Glut aus Freude und Ärger, weil ihr Einfaltspinsel noch schwankte. Natürlich würde er in der großen Gemauerten Synagoge eine Predigt halten. Warum sollte er sie nicht halten? – trällerte sie melodiös und sang weiter: Das Rabbinische Gericht, der Bet-Din von Horodno sollte so großmütig sein, ihn einzuladen, in der bedeutenden Stadtsynagoge zu sprechen, genauso wie er in Graipewo Rabbinern, die auf Besuch kamen, die Ehre angeboten hatte, eine Predigt in seiner Synagoge zu halten, auch wenn die Besucher ihm selbst nicht das Wasser reichen konnten. Da dem Rabbinischen Gericht dies offensichtlich nicht eingefallen war, zeigten sich die Vorstände des anderen Bethauses in der Stadt, die sich zu dieser Ehrerweisung verstanden hatten, in der Tat als edle Menschen. Auch für die Kinder war diese Einladung eine Ehre. Das wäre ja eine feine Bescherung für das Ansehen der Familie, wenn die Juden von Horodno nicht bemerkt hätten, dass der Rav von Graipewo sich in Horodno niedergelassen hatte.
Perele wurde in der Tat die Freude zuteil, die sie sich gewünscht hatte. Während des Morgengottesdienstes an Schawuot sah sie durch den Vorhang der Frauenabteilung, wie Mann und Söhne auf dem Ehrenplatz stehend den Priestersegen sprachen. Die anderen Kohanim brummten wahrscheinlich absichtlich etwas leiser, damit man besser hören konnte, wie der Graipewer Rav und seine Söhne die Gemeinde segneten. Im Betraum der Frauen zollte man Perele großen Respekt. Um sie herum standen ältere prominente Damen in ausladenden Hüten, von denen Bänder oder Straußenfedern wehten. Hausfrauen mittleren Alters und weniger betuchte Bürgerinnen trugen weniger extravagante Hüte und Mäntel mit tiefen Taschen. Die ganz jungen Frauen trugen kleine Hüte mit fröhlichem Putz und kurzen Schleiern. Die reich gekleideten Matronen beteten aus Rödelheimer Festtagsgebetbüchern in glänzenden braunen Ledereinbänden mit in Gold geprägten Buchstaben. Die armen Frauen, die Schals um Kopf und Hals trugen, beteten aus großen, mit schwarzer Leinwand überzogenen Büchern, auf deren Seiten oben der hebräische Text und unterm Strich die jiddische Übersetzung stand. Perele aber betete aus einem kleinen Büchlein, das in Jerusalem gedruckt worden war. Die fein geschnitzten hölzernen Buchdeckel zeigten die Palmen über dem Grab der Mutter Rachel in Bethlehem. Obwohl sie ununterbrochen mit leichtem Seufzen die Gebete murmelte, war ihr allzeit bewusst, dass alle Augen auf sie und ihre Kleidung gerichtet waren.
Eine andere Frau in diesem Aufzug hätte spöttisches Lächeln hervorgerufen, aber Perele verlieh die Kleidung Ansehen. Die Frauen um sie herum dachten, ja, so muss die wahre Rebbezin sich kleiden. Sie trug ein altmodisches dunkelrotes Kleid mit langen engen Ärmeln, eingezogener Taille und kleinen Kissen um die Hüften, ein Tournürenkleid, das längst aus der Mode verschwunden war. Aus den engen Ärmeln lugten nur die Fingerspitzen hervor und auch von den Füßen sah man nur die Spitzen der hochhackigen Schuhe. Den Hals verdeckte sie mit einem dunkelgrauen Pelz und die Perücke bekrönte sie mit einem kleinen Hut, der nicht größer war als ein Vögelchen mit ausgebreiteten Schwingen. An den reichen Damen um sie herum hingen Perlenschnüre und funkelten schwere Ringe und riesige Broschen. Aber Perele wirkte beeindruckender als sie, obwohl sie außer länglichen goldenen Ohrringen keinerlei Schmuck trug. Alle wussten, dass die Graipewer Rebbezin schon Großmutter war. Doch auf ihren straffen Wangen war noch kein Fältchen zu sehen. Ihre Zierlichkeit und seltsame Kleidung ließen an alte Porzellanstatuetten denken oder an die geschnitzten Figürchen, die aus hölzernen Spieluhren sprangen. Perele musste nur ihre großen hellen Augen öffnen und ihre hohe Stirn leicht runzeln und schon wusste man, die kleine Rebbezin war die Klugheit selbst. Sie verbreitete den Duft vornehmer Abkunft und edler Rede. Ihre gespitzten Öhrchen nahmen alles auf, was die Frauen in ihrer Umgebung sich zuflüsterten. Es kann natürlich sein, dass die Frauen absichtlich laut und vernehmlich redeten.
»Ihr Vater war ein großer Rav und ihr Mann ist ein großer Rav, die Schechina ruht auf ihm, so gut und schön ist er. Auch ihre Söhne hätten Rabbiner sein können, aber sie sind lieber Unternehmer. Stellt euch vor, ihr Mann hat sein Rabbinat aufgegeben, um nicht länger auf andere Menschen angewiesen zu sein. Eine gesegnete Familie.«
»Es ist widersinnig! Sie – und die Horodner Rebbezin! Sie leuchtet wie die Sonne und jene ist eine leidende, gebrochene Frau, eine Scherbe. Andererseits kann man es ihr kaum verdenken – eine todunglückliche Mutter, die ihr einziges Kind verloren hat.«
Perele verstand, dass von R.Mosche-Mordechai Eisenstadts Frau die Rede war. Im Betraum ging der Gottesdienst zu Ende und die Frauen drängten sich um Perele, um ihr gut yontef zu wünschen. »Morgen gedenkt man der Toten und nach dem Essen kommen wir, so Gott will, um Euren Mann zu hören. Die ganze Stadt wird kommen, ihn zu hören.« Die Rebbezin küsste ihr geschlossenes Gebetbuch und erzählte den Frauen, ihr Mann, er möge leben, hielte eigentlich keine Predigten. Deswegen hatte er auch so lange in einem kleinen Nest gelebt; schließlich war er sogar von dort weggezogen, damit er nicht so oft vor einem großen Publikum sprechen müsse. Doch sie habe ihren Mann bewogen, dieses eine Mal den Horodner Juden den Gefallen zu tun und zu predigen.
Am zweiten Tag von Schawuot stand die Rebbezin von vielen Frauen umringt wieder am Vorhang und lugte in den dicht besetzten Betraum der Männer, wo ihr Mann predigte. Perele konnte ihn nicht sehen, hörte aber seine Stimme und sah einen Teil der Männer und ihre beiden Söhne. Jankel-David und Gedalja standen hinter ihren Lesepulten an der Ostwand, lauschten mit gesenkten Lidern der Predigt des Vaters und studierten ihre Fingernägel. Die Mutter kannte das als eine Angewohnheit aus ihrer Jeschiwa-Zeit. Je konzentrierte sie zuhörten, desto intensiver betrachteten sie ihre Nägel. Heute hätten sie allerdings so klug sein müssen, dem Vater auf den Mund zu sehen, damit die Umstehenden sahen, dass sie jedes Wort verschlangen.
R.Uri-Zwi verzichtete an diesem Tag auf talmudische Subtilitäten. Er bot eine homiletische Auslegung des Wochenabschnitts mit Hilfe kleiner Erzählungen, sodass alle seinen Ausführungen folgen konnten: Als die Juden Ägypten verließen, wussten sie, dass sie fünfzig Tage später am Berg Sinai die Torah empfangen würden, wie im Vers geschrieben steht: Behotsiacha et ha’am mimitsrajim ta’avdun et haelokim al hahar haseh – »wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt haben wirst, sollt ihr Gott auf dem Berg dienen.« Der Buchstabe n am Ende des Wortes ta’avdun (dienen) ist überflüssig. Sein Zahlenwert aber gibt uns zu verstehen, dass vom Auszug aus Ägypten bis zum Empfang der Torah fünfzig Tage verstreichen werden. Es ist eines der Zeichen, weshalb wir fünfzig Tage zwischen Pessach und Schawuot zählen. Womit ist dies vergleichbar? Ein König fährt in seiner Kutsche an einer Grube vorbei, in der ein Gefangener liegt. Der König verspricht dem Mann, ihn auf dem Rückweg aus der Grube zu befreien. Der Mann in der Grube beginnt, die Tage zu zählen. Danach erinnerte R.Uri-Zwi an die Geschichte von Graf Potocki aus Wilna, den man um Schawuot herum auf dem Scheiterhaufen verbrannte, weil er zum Judentum konvertiert war. Aus diesem Grund hielt man in der Stadtsynagoge von Wilna am zweiten Tag von Schawuot einen Gedenkgottesdienst für den Märtyrer Abraham ben Abraham ab. Im Namen des Ger Zedek wird uns eine gute Beobachtung überliefert. Die rabbinischen Weisen erzählen, dass der Höchste die Torah zuerst anderen Völkern anbot: Edom und Ismael, Ammon und Moab. Keines der Völker wollte das Joch der 613 Gebote auf sich nehmen. Doch der Verstand sagt einem, dass es in jedem Volk besondere Individuen gibt, die es sehr gerne auf sich genommen hätten, die Torah zu verwahren. Aus ihrer Nachkommenschaft gehen in jeder Generation die Konvertiten zum Judentum hervor. Damit wird auch klar, warum wir am Fest der Übergabe der Torah das Buch Ruth lesen. Die Konvertitin Ruth stammte von jenen Moabitern ab, die sehr gerne die Torah empfangen hätten.
Die Mehrheit der Zuhörer, einfache Juden, waren mit Freude bei der Sache, weil sie jedes Wort verstanden. Perele aber achtete auf die Söhne. In ihren kalten Gesichtern las sie, dass sie von der Predigt des Vaters nicht angetan waren. Auch andere Juden der besseren und gebildeteren Klassen zupften sich an den Bärten und legten die Stirn in Falten. Sie hatten wohl tiefere Beobachtungen und gelehrtere Ausführungen erwartet. Perele biss sich auf die Lippen. Ihr Mann war mit zunehmendem Alter vertrocknet und vertrottelt. Seine Predigt war läppisch.
Plötzlich erhob sich Gemurmel in den hintersten Bänken, Aufregung erfasste die Menge. In den dicht besetzten Bänken entstand eine wellenartige Bewegung. Einer nach dem anderen standen die Juden auf. Die eingeklemmte Menge in den Gängen teilte sich und bildete eine Gasse für einen alten Mann mit weißem Bart und hängenden Schultern. Wer in seiner Nähe stand, verbeugte sich und flüsterte respektvoll: »Gut-jontef, Rabbi.« Er antwortete mit freundlichem Kopfnicken. Der Mann ging ganz nach vorne zur Ostwand und stellte sich neben die Brüder Königsberg. Jemand brachte sogleich ein Lesepult und der Neuankömmling stützte sich mit den Unterarmen auf. Perele erspähte ihn vom Betraum der Frauen aus. Ihr Atem stockte. Er war’s. Ihr erster Bräutigam, R.Mosche-Mordechai Eisenstadt. Ihre Augen wurden rund, ihr Herz verkrampfte sich aus Mitleid. Er war taubengrau und krumm. Ein Arm hing vom Lesepult wie ein zerbrochener Zweig von einem Baum. Der Tod der Tochter hatte ihn zerstört. Ihr Mitleid verwandelte sich schnell in Zorn, als sie sah, dass das Starren ringsum überhaupt kein Ende nahm. Sogar ihre Söhne konnten den Blick nicht von ihm wenden, als fürchteten sie, er könnte die Predigt ihres Vaters ablehnen. Perele fühlte ihre Lippen trocken werden. War der Horodner Rav gekommen, um seine Macht über die hiesigen Juden vorzuführen? Sie beobachtete ihn scharf, sezierte ihn mit den Augen. Den eigenen Mann bedachte sie mit leisem Gezisch: Schau dir den Waschlappen an! Angst hat ihm die Sprache verschlagen.
Sowohl der Gemeinde als auch den Gelehrten war sattsam bekannt, dass R.Mosche-Mordechai Eisenstadt weder Predigten hielt noch Predigten hören ging. Sein plötzliches Erscheinen in der Synagoge war eine unerhörte Ausnahme und verwirrte R.Uri-Zwi Königsberg. Doch er fasste sich schnell, brach seinen einfachen, verständlichen Vortrag in der Mitte ab und wechselte zu Ehren des hohen Gastes zu einer Auslegung der Halacha: Wir finden in der Gemara einen unentschiedenen Disput über den genauen Zeitpunkt, an dem die Torah gegeben wurde. War es am sechsten oder am siebten Siwan? Im Zentrum des Disputs steht die Auslegung des Verses wekidaschtem hayom um achar – »heilige sie heute und morgen« und ist noge’a halacha lema’aseh in injonej naschim wegen zeman klitat hassera…Perele sah, dass R.