Von hier betrachtet sieht das scheiße aus - Max Osswald - E-Book + Hörbuch

Von hier betrachtet sieht das scheiße aus Hörbuch

Max Osswald

5,0

Beschreibung

 »Ein weiterer ereignisloser Tag in einem ereignislosen Leben. Ein Unspektakel jagt das nächste, und wenn ich nicht aufpasse, kaufe ich mir morgen einen Gartenzwerg und sortiere meine Tassen nach Farben.« Ben Schneider ist erst 29, hat aber schon genug vom Leben im Hamsterrad: aufstehen, arbeiten, Sorgen machen, sterben. Seinen Job bei einer Wirtschaftsprüfungskanzlei hasst er mindestens so sehr wie seinen Vorgesetzten. Der Kontakt zu seiner Familie ist größtenteils abgerissen, für die Liebe oder Freunde hat er schon lange keine Zeit mehr. Wenn ihm das Leben also nichts mehr zu bieten hat, findet Ben, könnte er doch zumindest über einen coolen Abgang nachdenken. Einfallsreich und überraschend sollte der sein. Sein Dealer Tobi hat die perfekte Lösung: Er kann ihm im Darknet einen Auftragskiller besorgen. Ben ist einverstanden, will aber noch 50 Tage Zeit haben bis zum großen Finale. Doch wie lebt es sich, wenn der eigene Todestag immer näher rückt?

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Zeit:7 Std. 50 min

Sprecher:Max Osswald
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Max Osswald

Von hier betrachtet sieht das scheiße aus

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für alle Suchenden

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WIE ICH ANFING, ZU ENDEN

Friedhofstoiletten sind erstaunlich sauber. Um dem Raum ein Stück Perfektion zu nehmen, pisse ich auf die Klobrille, spucke ins Eck, wasche mir die Hände und trete nach draußen. Die Sonne kotzt mir ins Gesicht.

Grün und grau liegt er da, der Zoo der Toten, die Galerie der Ewigkeit, die letzte Ruhestätte. Dabei dauert die letzte Ruhe maximal 30 Jahre, in München sogar nur zehn, dann muss Platz gemacht werden für die Neuen, deren Höchsthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Die Denkmäler der Vergänglichkeit sind vergänglich, wie ironisch, wie passend, wie hässlich, wie verabscheuungswürdig, wie gleichgültig.

Nach heute wird es also noch vier Besuche geben, bis die Unendlichkeit ihn vollends verschluckt und verdaut hat. An den ersten Besuch erinnere ich mich unangenehm genau, er hat einen sehr prominenten Platz unter den Lowlights meines Lebens.

 

Vor sechs Jahren spielte sich das bizarre Stück ab: ein toter Anfang-20-Jähriger in einem Holzkasten, Eiche rustikal, bestimmt gepolstert und aus Meisterhand, direkt aus dem Schöner-sterben-Magazin. So weit, so unspektakulär, wären wir nicht befreundet gewesen und wüsste ich nicht, dass nicht er darin liegt, sondern, wenn überhaupt, seine zermatschten Überreste. Ich ertrug die Vorstellung nicht. Das ist falsch, das sollte so nicht sein, dachte ich die ganze Zeit, doch das Leben zuckte mit den Schultern.

Selbstmord ist der Cousinenfick unter den Todesarten. Nicht verboten, fühlt sich aber auch nicht richtig an. Zumindest für alle anderen nicht. Wenn es aber sowieso nichts Richtiges im Falschen gibt, wäre das Falsche dann nicht das Richtige?

Ich erinnere mich genau, wie ich hier stand und ihn sah, den ganzen in Schwarz eingepackten Haufen von Heuchlern, all die entfernten Bekannten und Verwandten, denen man nur bei »Anlässen« begegnet. Sie warfen Blumen in ein Loch im Boden, sagten ein paarmal »Ja, ja, echt schlimm, so tragisch, er war viel zu jung, wie es wohl den Eltern gehen muss?«, endlose Worthülsen wie aus dem Maschinengewehr, Ratatatablablablablabla, gefolgt von der Frage, was es nachher zu essen gebe. Dann taten sie noch ein bisschen betroffen und fuhren anschließend damit fort, bedeutungslos zu sein.

Wir saßen beim Gottesdienst, vor uns stand ein alter weißer Mann in einer albernen schwarzen Montur, der sein ganzes Leben damit verbrachte, ein einziges verschissenes Buch zu interpretieren, woraus er eine furchtbar geschriebene Geschichte vorlas. Ein paar pseudopersönliche Phrasen, die klangen, als hätte er sie aus einem Achtsamkeitskalender abgeschrieben, und schließlich die immer korrekte Schlussfolgerung »Gott wird’s schon richten, musst halt dran glauben«, der jämmerliche Versuch, Mut zu machen. Alle weinten. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt und versuchte, mich den anderen anzuschließen, doch es klappte nicht. Kurz kam mir der Gedanke, einfach an etwas noch Traurigeres zu denken, um meinen Augen wenigstens ein paar Tröpfchen zu entlocken, nicht dass alle dächten, es wäre mir egal, was passiert ist. Mir fiel jedoch nichts ein und ich entschied mich dazu, betreten auf den Boden zu starren.

Das Schluchzen wich dem nächsten Punkt auf der Tagesordnung des Todes, eine Melodie waberte durch den Raum und ich ging unter im Meer des Kirchengesangs, zwischen bassigem Brummen und all den Höhen und Tiefen des Schwarms von Stimmen; irgendwie gruselig und eindrucksvoll zugleich.

Das Allergruseligste an alldem war aber vermutlich, dass es mich nicht allzu sehr überraschte. Wenn, dann er, dachte ich. Wir waren gute Freunde, sehr gute, und das war wunderschön, aber offensichtlich reicht es im Leben nicht, einen sehr guten Freund zu haben, um es erträglich zu machen. Nein, offensichtlich nicht. Entweder das – oder ich war nicht gut genug.

 

Nach den ersten Tagen der Trauer, als sich in mir nicht mehr alles zusammenzog und ich wieder normal essen konnte, war mein erster in Zynismus getränkter Gedanke: Von einem Hochhaus stürzen, echt jetzt? Da war ich schon leicht enttäuscht. Ich hätte, wenn schon, etwas Heroischeres oder Rockstarmäßigeres gewählt. Mich in die Luft gesprengt und ein paar Nazis mit in den Tod gerissen, irgendwas Krasses, irgendwas Bedeutungsvolles, irgendwas mit Stil, irgendwas. Aber egal. Ich frage mich seither nur: Wie fühlt man sich während des freien Falls? Ist man eins mit sich und allem? Oder will man zurück?

 

Heute, sechs Jahre später, zuckt nicht nur das Leben mit den Schultern, sondern auch ich. Stein ist immer noch Stein, der FCBayern immer noch Meister und ich stehe wieder hier.

Die Sonne grinst mich hämisch an, während ich mich an all dem Grün vorbeischleife und vor seinem Grab stehen bleibe, das sein Leben in zwei Wörtern und einem Zeitraum auf einem Stück Stein zusammenfasst. Das bleibt also letztendlich von uns: zwei Fakten und zwei Quadratmeter.

Wenn ich zurückblicke, passierten die meisten schlimmen Dinge meines Lebens im Frühling. Vielleicht, weil man die Dunkelheit des Herbstes und Winters verschleppt wie eine Erkältung, die einen pünktlich zum Urlaub umhaut. Vielleicht, weil die Hoffnungen und Gefühle des jeweils vorausgegangenen Sommers lediglich bedeutungsschwanger waren und daher regelmäßig Fehlgeburten produzieren. Vielleicht, weil das Schicksal einen Winterschlaf macht und nach dem Aufstehen erst mal wild um sich schlägt, vielleicht einfach aus Zufall, vielleicht ist das alles aber auch völlig egal.

Ich lege meine am Wegesrand gepflückten Blumen ab, Gänseblümchen und irgendwas Gelbes aus einem Vorgarten, verabschiede mich von ihm und am liebsten von allem.

ERLEUCHTE MICH

Beim ersten Mal war das Feuerzeug himmelblau, der Knopf der Gaszufuhr feuerrot, die Flecken, die hinterher blieben, babyrosa; als hätte sich die Haut an dieser Stelle noch nicht entschieden, ob sie wirklich wieder zu Haut werden möchte. Nach dem Verheilen habe ich mir als kleines Mahnmal einen Smiley darüber tätowieren lassen. Doch wie bei allen Mahnmalen gewöhnt man sich schnell an sie und die Bedeutungen versanden im Alltag, und kaum versieht man sich, sind Nazis in allen Parlamenten und mein Finger am Zündknopf.

Heute habe ich ein schönes Exemplar dabei, Der Kuss von Gustav Klimt ziert das Äußere. Ich suche mir eine neue Stelle und erwecke das Feuer zum Leben, klick, zack, 1000 Grad Celsius aus einem Stück Plastik. Vor 10.000 Jahren wäre das Magie gewesen, heute ist es banal.

Ich lasse die Flamme langsam an meiner Haut entlangtanzen, sodass sie sie anfangs nur streichelt. Ich genieße die Wärme und stelle mir vor, ich würde an einem Lagerfeuer sitzen. Am Meer. Um mich herum lauter liebe, viel zu schöne Menschen. Ein langhaariger Typ, der einmal zu oft in Neuseeland war, um normal im Kopf zu sein, spielt Gitarre und singt. Alle sind nett und freundlich zu mir, ich knutsche mit irgendjemandem, komme mir vor wie ein richtiger Mensch, bin superwild und frei und ohne Zwänge und Termine und Verpflichtungen, wir brauchen hier keine Jobs, keine Wohnungen und keine professionellen Zahnreinigungen, wir sind einfach wir und hier und wir leben und das ist gut so.

Ich habe offensichtlich zu viele bescheuerte Popmusikvideos gesehen. Seit all unsere Erinnerungen das Format ».jpg« haben, frage ich mich, was am Ende des Tages realer ist: Das, was in uns vorgeht, oder das, was sich in der sogenannten Wirklichkeit abspielt.

Ich denke daran, dass ich morgen mein Jahresgespräch habe, und beginne damit, erst diese bescheuerten Vorstellungen und dann meine Haut zu verbrennen.

Das erste Mal habe ich es getan, weil ich mich nicht anders zu bestrafen wusste: Ich bekam eine Aufgabe ums Verrecken nicht gelöst, fühlte mich dumm, unnütz, wie eine Belastung, ein Kalorienverschwender, ein Luftwegatmer; wenn ich nicht mal das schaffe, wozu existiere ich dann, was rechtfertigt mein Dasein? Das Feuer erzeugte für eine kurze Zeit ein größeres Problem, bis ich wieder zu mir kam.

Mittlerweile tue ich es immer, wenn ich das Gefühl habe, in einem absurden Film, einer Matrix, einer vorgegaukelten Realität gefangen zu sein, dem müden Witz, der sich mein Leben nennt und dessen Pointe nie zu kommen scheint; wenn ich nicht weiß, ob ich tatsächlich lebe. Wenn es brennt, weiß ich, dass ich existiere. Schmerz ist real, so viel ist sicher. Alles andere kann täuschen.

Ich halte das Feuerzeug an meine Haut. Sie schreit. Das tut sie immer. Als würden darunter ein paar winzige Wesen stecken, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Haut AG, welche einen kleinen roten Notschalter umlegen und wie wild durch die Gegend rennen: »Fuck, fuck, fuck, es brennt, was tun wir?!« Der Vorstand, der Aufsichtsrat, der Betriebsrat, alle wissen sie: Oh, es brennt. Es gibt Pressemeldungen, die verkünden: Oh, es brennt. Aber wie in jedem Unternehmen ändert sich nichts, bis der Staat es dazu zwingt. Et l’état, c’est moi. Ich wünsche Ihnen vorab viel Spaß beim Aufräumen der Trümmer und halte das Feuerzeug weiter an die Stelle.

Meine Augen klappen wie automatisch zu, ein Schauer prasselt durch meinen ganzen Körper, ein glühend heißer Platzregen von innen.

Ich bin fertig. Meine Haut weint. Ich nicht.

STETS ZU DIENSTEN

Aufstehen, arbeiten, Sorgen machen, sterben. So hat mal jemand in irgendeinem VICE-Artikel das Erwachsenenleben beschrieben. Gegen das Aufstehen kann ich mich nicht wehren und Sorgen kommen mit der Zeit sowieso: Entweder man hat zu wenig und das stresst – oder man hat zu viel und Angst, es zu verlieren.

Auf das Arbeiten habe ich mich jahrelang vorbereitet, habe meine ganze Jugend damit verbracht, irgendwas zu lernen, mich auf irgendeine Arbeit abzurichten und zu dressieren, einen Beruf, einen Job, wobei das alles sehr unterschiedliche Dinge sind. Einen Beruf haben die wenigsten, einen Job die meisten und Arbeit hat dich glücklich zu machen, dich zu erfüllen, Spaß zu machen, tut es aber nie. Die einzigen Dinge, die mit der Zeit zunehmen, sind nicht deine Zufriedenheit oder der empfundene Sinn, sondern dein Gewicht und die Länge deiner Augenringe. Willkommen in der Erwerbstätigkeit.

Wie belanglos ein Job eigentlich ist, habe ich erst festgestellt, als ich einen hatte.

Und danach einen anderen.

Und danach noch einen anderen.

Und egal, was es ist – lass genug Zeit vergehen und alles ist scheiße. Scheiße und langweilig und es saugt dir die Seele aus, lässt dich und deinen Elan zurück wie eine verschrumpelte Rosine, kaut dich durch und kotzt dich aus, zum Dank bekommst du Schlafstörungen, Depressionen, ein okayes Arbeitszeugnis und alle drei Monate ein »Danke« von Leuten, denen es genauso scheiße geht wie dir. Die wichtigen Leute sind für Dankbarkeit zu wichtig, da sie mit wichtigeren Dingen beschäftigt sind als dir. Aber man klopft sich gegenseitig auf die Schulter und freut sich, ein glänzendes, strahlendes Zahnrädchen zu sein, eins, auf das die Eltern der Freundin stolz sind, eins, das vielleicht dieses Jahr sogar in einer schlecht vorbereiteten Rede einer völlig rhetorikfernen Vorgesetzten erwähnt wird, eins, das entweder nicht weiß oder ignoriert, dass es überhaupt ein Zahnrädchen ist. Opium fürs Volk, Gehalt auch, also haltet es aus und vor allem die Fresse.

Und es ist egal, ob man beruflich Blut abnimmt, PowerPoint-Präsentationen erstellt oder Schwänze lutscht, man prostituiert sich sowieso, verkauft sich, tauscht Lebenszeit gegen Geld und hofft, einen guten Deal gemacht zu haben. Man kriecht Menschen in den Arsch, die man normalerweise mit ebenjenem nicht mal anschauen würde, dann leckt man noch dran, rubbelt ihn wieder sauber und freut sich über das Trinkgeld.

 

Jahresgespräch. Der Arsch, in den ich zu kriechen habe, ist der Puffvater des Bordells, in dem ich arbeite und das sich nach außen hin »Wirtschaftsprüfungskanzlei« nennt. Fehler zu finden ist mein Job, das habe ich seither in jedem Lebensbereich perfektioniert, unser Geschäftsmodell aber ist: Wir schauen uns Zahlen an und sagen, dass sie stimmen. Wenn sie nicht stimmen, flüstern wir das den Mandantinnen und Mandanten ganz vorsichtig zu und sie ändern es. Es gibt keine Fehler. Nie. Zumindest keine, die nicht tolerierbar wären.

Er trägt den Namen Thomas Reichardt.

Beziehungsweise Dr. Thomas Reichardt, schließlich hat er damals als geschäftsführender Partner mit Ende 40 nebenberuflich promoviert.

Klar.

Beziehungsweise Dr. Dr. Thomas Reichardt, schließlich wurde ihm von seiner alten Universität aufgrund der Verdienste für ebendiese noch der Ehrendoktortitel verliehen.

Klar.

Als ich damals als Werkstudent einmal zu ihm sagte, meine Hochschule suche noch Dozierende, meinte er: »Für Titel mach ich alles«, und kicherte dann, obwohl es kein Scherz war. Unter Kolleginnen und Kollegen, die sich tatsächlich mögen, wird oft gescherzt, dass er erst dann ruht, wenn seine Titel länger sind als sein Vor- und Nachname. Da er streng genommen noch seinen Steuerberater- und Wirtschaftsprüfertitel dazunehmen kann (»StB« und »WP«), fehlen ihm noch exakt eine Professur und ein weiterer Doktortitel, dann herrscht Buchstaben-Gleichstand und seine Seele findet Frieden. Wir fragen uns schon lange, ob er dann nett sein würde.

Er ist ein Mensch, der sich viel zu viel Zeit für seine viel zu wenigen Haare nimmt und der gerne einen über den Durst trinkt, wenn ein Projekt durch ist. Dann lässt er sich das zweite Mal blicken (das erste Mal ist ganz am Anfang des Projekts), schüttelt Hände, schwadroniert über früher und wie ausgezeichnet das hier wieder gelaufen ist und dass es im nächsten Jahr – »Sie werden sich doch nächstes Jahr wieder für uns entscheiden, oder?« – wieder mindestens genauso gut laufen wird, man kümmere sich ja viel um Personalentwicklung, was übersetzt so viel heißt wie: Er hofft, dass nächstes Jahr 60 % der Belegschaft noch dieselbe ist. Mindestens einmal pro Gespräch muss in irgendeinem willkürlichen Zusammenhang möglichst eindrucksvoll das Wort »Interdisziplinarität« fallen, denn das macht immer was her, dann nicken alle Mandantinnen und Mandaten, hauchen möglichst wissend »Aaah, sehr gut« und am Ende gehen alle möglichst lächelnd nach Hause.

Klingt langweilig und bescheuert? Ist es auch. Ich habe zu lange gebraucht, das festzustellen; wenn man sich auf der Überholspur befindet, stellt man dummerweise oft die Richtung nicht mehr infrage.

Einmal hat er mir im Suff erzählt, dass er viel Wert darauf lege, dass man seinen Nachnamen richtig schreibe, und zwar, Zitat: »Reichardt mit dt, verfickte Scheiße! Das kann doch nicht so schwer sein! Oder wieso begreifen diese behinderten Praktikanten das nicht, was lernen die eigentlich in der Schule?« Er schnaubte kurz und fuhr fort: »Entschuldigen Sie, da ging es grade ein bisschen mit mir durch. Aber das bleibt ja unter uns.« Ein richtiger Sympathieträger. Zu allem Übel zwinkerte er dann sogar noch. Ich fragte mich, ob er sich eigentlich selbst für sympathisch hält und mit sich ein Bier trinken gehen würde.

 

Es ist 9:25 Uhr. Fünf Minuten vor Terminbeginn stehe ich vor seinem Büro, falls er schon früher kann, denn er sagt immer »Zeit ist Geld und Geld ham’ wir nich’!« und lacht dann laut.

Ich hasse Lügner.

Er kommt den Gang entlang und huscht geschäftig an mir vorbei.

»Ah, Herr Kollege, Sie sind schon da! Na, dann mal rein in die gute Stube.«

Ich nicke, lächle bemüht und trete ein. Die gar nicht mal so gute Stube ist ein Raum mit zu vielen Quadratmetern für eine Person, zu viel Edelholz (»Palisander, Mahagoni, kein Billigscheiß«) und zu wenig Seele. Alle, dessen Namen er sich nicht merken kann, nennt er ganz pragmatisch »Herr Kollege« oder »Frau Kollegin«. Noch im Stehen schaut er auf seinen Bildschirm, um sich kurz die groben Fakten über mich in Erinnerung zu rufen: Name, Position, Notiz der Sekretärin.

»Setzen Sie sich. Auch einen Espresso?«

»Gern.«

Zu angebotenen Dingen immer Ja sagen. Soll eine positive Grundstimmung erzeugen, war mal ein Tipp für Bewerbungsgespräche in irgendeinem Studienheftchen. Ich empfinde das Leben als permanentes Bewerbungsgespräch.

Ich schlängele mich gekonnt durch das initiale Smalltalk-Blabla, bis es richtig losgeht.

Ob ich zufrieden sei.

»Klar.«

Meine Antwort ist so knapp wie unehrlich, aber mir fällt nichts Besseres ein. Ehrlich gesagt ist es mir auch völlig egal.

Er grübelt, legt seinen Zeigefinger auf den Mund und lehnt sich in seinem pompösen Sessel zurück; die Hintern von Arschgesichtern sind meistens bequem gepolstert. Er schaut mich erwartungsvoll an. Ich sage nichts und versuche, zu lächeln. Ich bin mir sicher, dass es wahnsinnig künstlich wirkt.

Er lehnt sich wieder nach vorne und wischt imaginäre Krümel von seinem riesigen und perfekt aufgeräumten Schreibtisch.

»Schön, schön. Also Herr …«, Blick auf den Bildschirm, »… Schneider. Jetzt haben Sie also ein Jahr lang Prüfungsteams geleitet. Wie war das für Sie?«

»Gut.«

Lüge. Ich bin sehr anpassungsfähig und hasse mich dafür.

»Ja?«

»Sehr gut. Die Zusammenarbeit mit den Assistentinnen und Assistenten ist super gelaufen …«

Dem nächsten Juhu-ich-darf-einen-Anzug-tragen-aber-hab-in-der-Uni-überhaupt-nicht-aufgepasst-Praktikanten, dem ich den Anlagenspiegel erklären muss, drehe ich den Hals um.

»… und die Mandate waren super angenehm.«

20:30 Uhr und schon Feierabend? Sie kommen ja gut voran, zwinker, zwinker, haha, ja, fick dich.

»Gerade Freiburg hat mir sehr gut gefallen. Wirklich, sehr, sehr gut.«

Stimmt.

»Ich freu mich schon aufs nächste Jahr.«

Lüge.

»Sehr gut«, schließt er das Thema ab und glaubt mir. Ich mir selbst beinahe auch. Tief in meinem Herzen stirbt gerade ein kleiner Punk.

»Mein Vorstandskollege Herr …«, Blick auf den Bildschirm, »Melano – der hält ja auch große Stücke auf Sie.«

Ich glaube, darauf soll ich jetzt demonstrativ stolz sein, denn er taxiert mich, lehnt sich zurück und wippt etwas mit dem Stuhl vor und zurück, während er sich den Zeigefinger auf die Oberlippe legt. Es sieht aus, als würde er an seinem Finger riechen und daraus seine nächsten Worte extrahieren.

Ich nicke und lächle pflichtbewusst.

»Mal ein kleines Gedankenspiel: Wenn Sie es sich komplett aussuchen könnten, wie würde Ihre ideale berufliche Zukunft aussehen?«

Anders als die Gegenwart. Aber so was kann man ja nicht antworten. Ist auch eine selten bescheuerte Frage. Wir beide kennen den nun aufzuführenden Affentanz, die einstudierten und erwarteten Antworten.

Das Problem ist: Ich kann nichts. Nichts anderes. Nichts Besonderes. Ich habe nie etwas anderes gelernt als das, was ich eben gelernt habe, und das ist fast ausschließlich Quatsch. Bei einer Zombie-Apokalypse braucht niemand einen Steuerberater, der Jahresabschlüsse prüft. Scheiß auf die Zombies, bei keiner Apokalypse braucht man einen Steuerberater. Überhaupt braucht man nie einen Steuerberater, außer man ist reich oder kriminell oder beides. Niemand schreit: »Hilfe, Hilfe, Achtung, macht den Weg frei, lasst den Mann durch, er ist Steuerberater! Ich brauche dringend meine Umsatzsteuer-Voranmeldung, es geht um Leben und Tod.« Wir haben ein paar Regeln auswendig gelernt, die sich ein paar vermeintliche Schlauköpfe irgendwann mal ausgedacht und in Gesetze und Lehrbücher geschrieben und damit ein System geschaffen haben, das normalen Menschen ins Gesicht spuckt. Manchmal bereue ich es, nichts »Gescheites« gelernt zu haben, irgendwas von Substanz, ein Handwerk, etwas Technisches, Naturwissenschaftliches, Medizinisches – oder wenn schon Geisteswissenschaften, dann wenigstens richtig, Philosophie oder eine andere Form der inspirierten Arbeitslosigkeit, aber doch nicht »Wie mach ich viel Kohle?« getarnt als Wissenschaft mit pseudointellektuellen Kackbegriffen.

»Herr Schneider?«

»Hm?«

Er grinst. »Na, guten Morgen. Lange Nacht gestern? Ihr Espresso wird kalt.«

»Ah, entschuldigen Sie, danke«, lache ich, kippe ihn munter runter und bemühe mich, keine Schlürfgeräusche zu machen. »Also idealerweise sitze ich in der Zukunft auf Ihrem Stuhl.«

Ich versuche zu zwinkern und komme mir vor wie ein Alien, während Reichardt gebauchpinselt schmunzelt.

»Sehr schön, sehr schön. Das heißt, Sie haben vor, bald das Wirtschaftsprüfer-Examen anzugehen?«

Bitte, lieber Gott, falls es dich gibt, nein. Lieber würde ich in Säure baden und Rohrreiniger trinken.

»Klar«, beantworte ich seine Frage richtig.

»Sehr schön, sehr schön.«

Er sieht zufrieden aus.

»Schön, dass wir so ambitionierte und engagierte junge Mitarbeiter haben, sehr schön. Ich sag’s Ihnen, wie’s ist, Herr Schneider.«

Er macht eine Kunstpause, stützt seine Ellbogen auf dem Tisch ab und faltet seine Hände beinahe sakral.

»Wir sind von Ihrer Arbeit und Ihrem Entwicklungspotenzial überzeugt. Deshalb wollen wir genau das würdigen und Ihr Jahresgehalt um 4000 Euro aufstocken. Runtergerechnet also einmal schön essen gehen im Monat, das ist doch was.«

Er kichert und zwinkert mir zu. Ich glaube, er will väterlich rüberkommen, wirkt aber eher wie ein Pädophiler.

»Oh, ja, fantastisch, vielen Dank!«

Seit ich das Steuerberater-Examen bestanden habe, rufen mich alle paar Wochen Headhunter an, um mich abzuwerben. Das ist bei allen mit bestandenem Examen so, branchenübergreifend, das ist allseits bekannt, selbstverständlich auch bei Vorgesetzten. Wir beide wissen, dass ich jederzeit weg sein könnte, aber ich weiß, dass es nirgendwo merklich besser wäre, nur weil dann die Zahl, die monatlich auf mein Konto purzelt, ein bisschen höher wäre. Da sein Fokus hauptsächlich auf dem Purzeln liegt, ist er überzeugt, mir gerade einen großen Gefallen zu tun, und die meisten würden das an meiner Stelle wohl genauso sehen. Es ist völlig absurd. Da war ich mein ganzes Leben in dieser Bettler- und Bittsteller-Position, und auf einmal: zack, verkehrte Welt.

»Was natürlich auch mit einem Mehr an Verantwortung und einem Mehr an Mandaten einhergeht, was für einen ambitionierten jungen Mitarbeiter wie Sie ja aber genau das Richtige ist, quasi die Überholspur Richtung Führungsposition. Super, oder? Win, win, win!«

Ich hasse ihn und alles, was er liebt.

»Ja … super! Klar. Vielen Dank.«

Ich will hier raus.

In der Wirtschaftsprüfung arbeitet und reist man von Jahresende bis Jahresmitte sehr viel, die sogenannte busy season; im Wesentlichen sieht man sein Zuhause nur, um Wäsche zu waschen und den Koffer umzupacken. Ich ging in der vergangenen Saison schon auf dem Zahnfleisch, noch mehr Mandate und ich kippe im Stehen tot um. Ein Kollege, der im selben Zeitraum sieben Mandate gleichzeitig zu betreuen hatte, braucht seither eine Brille und hat unkontrolliertes Muskelzucken im Gesicht.

»Wunderbar, na dann frisch ans Werk, die Berichte schreiben sich ja nicht von alleine!«

Ich stelle mir manchmal vor, wie er als Kind in einen Topf voller Floskeln gefallen ist, jetzt ist er wie Obelix, nur dass seine Superkräfte das Phrasendreschen und der langweilige Klamottenstil sind.

Ich lächle, damit er sich gut fühlt.

»Einen schönen Tag noch, Herr Dr. Reichardt. Und vielen Dank noch mal!«

»Sehr schön, sehr schön. Gerne!«

Mein holder Wohltäter geleitet mich nach draußen und drückt mir die benutzten Espressotassen in die Hand.

 

Ich beginne den Arbeitstag mit dem Ziel, ihn zu beenden. Als hätte sich seit der Schule nichts verändert. Wenn es immer nur das Ende ist, wonach man sich sehnt: hat man es dann nicht auch in der Hand, diesen Zeitpunkt selbst zu bestimmen?

Irgendwann ist Mittagessen, irgendwann ist Kaffeepause, irgendwann ist Feierabend. Meine Augen brennen, mein Inneres längst nicht mehr.

Aufstehen, arbeiten, Sorgen machen, sterben. Fehlt noch das Sterben. Auch dagegen kann ich mich nicht wehren. Will ich auch gar nicht.

WAS MAN VERDIENT

Es ist Abend, ich stehe am Fenster meiner balkonlosen, viel zu teuren und von mir viel zu wenig bewohnten Einzimmerwohnung in der Münchner Innenstadt. Ich rauche und lasse die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger hin und her rollen. Eigentlich bin ich Nichtraucher. Behaupte ich zumindest seit Jahren, vor anderen und vor allem vor mir selbst.

Hier stehe ich also.

Wieder ein Tag vorbei.

Wieder habe ich meine Zeit erfolgreich entführt und mit voller Wucht totgeschlagen.

Wieder frage ich mich, ob ich einen guten Deal gemacht habe. Und kenne die Antwort eigentlich längst. Ich tauschte Zeit gegen Geld und Freude gegen Status und wusste dabei nie, was die eigentliche Währung des Lebens ist. Bis heute nicht.

»Es gibt nix Geiles, alles ist scheiße, da dacht’ ich mir, ich mach halt einfach das, womit man wenigstens das meiste verdient«, begründete eine ehemalige Mitschülerin ihre Entscheidung, Betriebswirtschaftslehre zu studieren; das beliebteste Studium des 21. Jahrhunderts, die Pilgerstätte der kleinen hörigen Messdienerinnen und am Tropf hängenden Ministranten der einen großen Religion, auf die sich alle, wirklich alle erbärmlichen Würmer auf dem Globus einigen können – Geld, drecksverschissenes Geld, Kohle und Asche, denn nicht selten geht etwas deswegen in Flammen auf.

Doch wir richten uns danach und beten es an, erklären es zum Maßstab für Lebensglück, denn es ist messbar in Euro, Dollar und Urlauben an exotischen Orten, an die man reist, um dort beim Hotelfrühstück exakt das Gleiche zu essen wie zu Hause. Ja, Herr, hier bin ich, nimm mich, am liebsten von hinten, ich hab schon alles vorbereitet, brauchst nur noch Anlauf nehmen, komm, ich bin nichts, du bist alles, gib meinem Leben einen Sinn, gib mir einen Wert, schau, ich kann was, ich hab was, ich bin was, ich habe, also bin ich, ich hab Aktien, schwarze Kreditkarten, kein Gewissen und einen Gürtel, der zu meinen Schuhen passt.

Und wir hören auf sie, auf die Propheten, die Wirtschaftsweisen, Börsenmakler und Professorinnen, die uns freundlicherweise die Welt erklären und wie wir sie zu verstehen haben, was alternativlos ist und was nicht, und wir sind froh, glücklich, strotzen vor Dankbarkeit, denn die Wege des Marktes sind unergründlich, zumindest vorher, im Nachhinein finden sich immer eine Erklärung und ein Sündenbock. So bringet ihnen ein Opfer dar, den Kursen, den Indizes, den Algorithmen des Hochfrequenzhandels; zum Beispiel die Lebensmittelpreise in Entwicklungsländern, oh ja, geil, ja, ja, noch ein Leerverkauf, ja, ich komme, fuck, ja, ich spritz den armen Schweinen der dritten Welt den Ausfluss meines Wohlstands in die Fresse, einfach, weil ich’s kann. Seht mich an, wie ich in meinem Industrieland in meinen Sessel furze, euch bei jeder Gelegenheit ins Gesicht scheiße und mit Plastikmüll überhäufe, das moderne Teeren und Federn des Steroid-Kapitalismus, es grüßt der Neoliberalismus freundlichst.

Tja. So einiges wurde mir erst klar, lange nachdem ich mich für Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben hatte.

AUSKNIPSEN

Es ist dunkel und ich finde den Schalter nicht mehr. Manchmal, wenn ich im Bett liege und nicht schlafen kann, drängt sich die Vorstellung in meinen Kopf, einfach so nach draußen zu gehen, wie ich gerade bin, in T-Shirt und Boxershorts, und mich irgendwo in ein versifftes, dunkles Eck zu legen und in Ruhe zu erfrieren. Das würde sich wirklich hervorragend anhören, wenn ich nicht wüsste, dass das enorm unkomfortabel werden würde und es jetzt nicht schon längst zu warm dafür wäre. Das beschissene Wetter ist einfach nie so, wie man es gerne hätte.

Ich gehe nach draußen. Tür zu, Kopf leer. Der Himmel, meine Jacke und mein Gemüt sind schwarz und ich frage mich, ob es das Ziel aller Menschen ist, der Erkenntnis näher zu kommen wie Vögel dem Himmel, wissend, sie nie erreichen zu können, aber ebenso unfähig, zu verstehen, dass man sich längst mittendrin befindet.

Eine schwarze Katze läuft vorbei, langsam, ziellos. Hätte beinahe was Poetisches, wenn ich nicht wüsste, dass sie einfach nur Futter sucht und dann schlafen möchte. Hat aber auch was, so ein Katzenleben, denke ich. Während ich rauchend auf den verlassenen, regennassen Straßen stehe und das Geheule der letzten S-Bahnen in der Ferne höre, beneide ich sie ein wenig. Die Zigarette ist fast zu Ende und Schrift ist Gift, sagt man, aber ich rauche den letzten Rest, weil ich sowieso nicht zum Genuss oder zur Beruhigung rauche, sondern einzig deshalb, weil es mir schadet und ich daraus eine seltsame Form der Genugtuung ziehe. Macht kaputt, was euch kaputtmacht, heißt es, also gebe ich mir Mühe, denn ich kann ehrgeizig sein, wenn ich möchte. Der Frühling ist launisch und meine Finger eisig, noch spüre ich sie, nach dem nächsten Glimmstängel nicht mehr und ich weiß, dass ich morgen erkältet sein könnte, aber das wäre in Ordnung, dann hätte mein Körper wenigstens mal etwas zu tun und ich zudem eine praktische, allgemeingültige Ausrede für all meine Unzulänglichkeiten.

Ich schlurfe die Straße entlang und bleibe vor einem Graffiti an einer Häuserfassade stehen. Ich glotze und der aufsteigende Zigarettenrauch brennt in meinen Augen. Aus einer dunklen Ecke des furchtbar umgesetzten Motivs starren mich zwei Augen an. Das Schwarz ist an einer Stelle so ausgebleicht, dass man meinen könnte, die mysteriöse Figur hätte einen Mund und würde schief grinsen. Eigentlich wollte ich über mein Leben nachdenken, doch ich stelle lediglich fest, wie wenig schmerzhaft es ist, die Glut in der eigenen Handfläche erlöschen zu lassen, drehe um und gehe nach Hause. Bevor ich dort ankomme, erwischt mich ein Regenschauer. Das ist wohl Gottes Weg, mir ins Gesicht zu spucken.

Ich habe nicht das Recht, mich schlecht zu fühlen. Dazu bin ich zu privilegiert. Ich bin ein Hochstapler, ein undankbarer noch dazu.

Ich habe glücklich zu sein und zu lächeln und mich verfickt noch mal darüber zu freuen, dass im Großen und Ganzen alles glattläuft. Im Großen und Ganzen ist immer alles toll, im Großen und Ganzen ist man nie klein oder unvollständig, weil man das nicht darf, niemand schreibt »Selbstwertprobleme« unter »Sonstiges« in eine Bewerbung, das verkauft sich schlecht.

An meinem Fenster noch eine Gute-Nacht-Kippe. Jede Inhalation von Zigarettenrauch ist Materie gewordener Selbsthass. Jeder Zug ist abgefahren. Der Rauch brennt im Auge. Und genau das soll er, brennen soll er. Was soll groß passieren? Blind war ich schon immer. Der Wind lässt die Glut tanzen wie ein Discolicht, bis sie von einem Regentropfen zum Schweigen gebracht wird.

Stille.

ZIEHEN SIE EIN EREIGNISLOS!

Der Wecker klingelt, ich bin schon wach. Ein weiterer ereignisloser Tag in einem ereignislosen Leben. Ein Unspektakel jagt das nächste, und wenn ich nicht aufpasse, kaufe ich mir morgen einen Gartenzwerg und sortiere meine Tassen nach Farben.

Ich gehe zur Küchenzeile. Ich habe Hunger, will in irgendetwas reinbeißen, nichts Weiches, etwas Hartes, sodass es knirscht und kracht und der Kiefer sich beim Zermalmen anstrengen muss. Den Durst versuche ich seit jeher zu stillen und habe bis heute noch nicht herausgefunden, womit. Ich mache mir einen mittelmäßigen Kaffee, trinke ihn gedankenlos, ohne ihn wirklich zu brauchen oder zu wollen. Routine und Komfortzone, die Mörderinnen eines jeden Lebens. Seine Feinde zu lieben ist ein unfassbar beschissener Ratschlag gewesen.

Schlafen, essen, trinken, ficken – egal, was, letztendlich lenken wir uns nur ab, bis das alles hier vorbei ist. Man macht und tut, man rät und versucht, doch im Vergleich zu Tetris kann man die Scheiße, die man gebaut hat, nicht mit ein paar Klicks aus dem Weg räumen, das Leben lässt sich nicht einfach neu starten, wenn man es verkackt hat.

Und das bereue ich wirklich, denn ich habe einen erschreckend großen Teil meines Lebens damit verbracht, über das Leben nachzudenken, anstatt es einfach zu leben. 29 Jahre des Machens und Verpassens, des Aufschiebens und des »Jaja, ich bin ja noch jung«. Immer fleißig gewesen, nur um festzustellen, dass ich mir mit meinem Fleiß lediglich einen riesigen Trümmerhaufen errichtet habe.

Meine Krawatten sind vorgebunden. Ich sehe es nicht ein, damit jeden Morgen aufs Neue meine Zeit zu verschwenden. Ich besitze zehn verschiedenfarbige Krawatten, sieben weiße Hemden, zwei Paar Business-Schuhe, klassisch und casual, drei Anzüge, schwarz, dunkelblau, grau, wobei ich den grauen nie trage, weil er mich deprimiert und ich den schwarzen im Büro erst tragen darf, seit ich Teamleiter bin. Was ich aber trotzdem nie tue, da ich sonst das Gefühl habe, tagtäglich meine eigene Beerdigung zu besuchen, auch wenn das unabhängig von den Farben meiner Kleidung der Fall ist.

Ich verlasse das Haus.

Ich komme an.

Ich treffe einen Kollegen: Ja, gut und dir; auch; bald ist ja Wochenende, haha; ja, der ist ein Arschloch; mhm; voll; jap; nee ich hatte schon einen; keine Ahnung, ich interessier mich nicht für Fußball; ja, hier, nimm; klar hab ich auch Feuer, bringst es halt wieder; ok bis später.

8:40 Uhr. Ich fange an.

Klick, klick, ja, ja, nein, frühestens Ende Mai, ja, nein, klick, klack, klack, klick, klick.

9:15 Uhr. Ich trinke Kaffee und werde in ein nervtötendes Gespräch über den Immobilienmarkt verwickelt. Einer von ihnen stellt fest, dass die Mieten in München »megateuer« sind. Na so was. No shit, Sherlock. Ich möchte ihm die Augen ausstechen.

Klick, klick, klack, klack.

Ich brauche Unterlagen von einer Kollegin. Man nennt sie die »seufzende Sophie«, weil sie in jedem zweiten Satz entweder leidvoll stöhnt oder seufzt oder sich beklagt, wie schwer das ja alles sei, wie viel das ja alles sei, was sie nicht alles zu tun habe und bla. Die meisten – auch ich – meiden sie nach Möglichkeit.

»Hey, Sophie, hi.«

»Hey Ben … boah … ich sag’s dir, ich bin ja bei diesem neuen Mandat aus Augsburg mit dabei, erst mal haben die ein furchtbares internes Kontrollsystem und dann muss ich denen wegen jedem Scheiß hinterherrennen, das glaubst du nicht.«

»Ja, na so was, voll blöd. Apropos fehlende Unterlagen, sind die Saldenbestätigungen aus Fürstenfeldbruck da?«

»Nee, immer noch nicht, dafür aber 84 nachgereichte Belege zum Anlagevermögen!«

Ich habe meine Antwort und fliehe, während ich im Gehen »Die Sonne scheint zum Fenster rein, hak’s ab, es wird schon richtig sein« ins Zimmer rufe. Ein Klassiker; was haben wir alle herzlich gelacht, als wir das zum ersten Mal gehört haben.

9:50 Uhr, mein Büro. Ich bin alleine und starre, starre, starre, die Zahlen und Buchstaben beginnen zu tanzen, formen einen Stinkefinger, alles wird unscharf.

E-Mail vom Puffvater. Einladung zur Schulung für Führungskräfte, Samstag und Sonntag übernächste Woche, ganztägig, er freue sich.

Mir wird schwindelig. Ich schlafe zu wenig, rauche zu viel und habe mittlerweile Blut in meiner Koffeinbahn. Er entweiht mein letztes Heiligtum, das Wochenende, das ich immer versucht habe freizuhalten, auch wenn ich dafür montags um 4:00 Uhr anfangen oder freitags um 23:30 Uhr aufhören musste. Eine Schulung, jetzt, also mehr Arbeit, um mehr arbeiten zu können, warum, wieso, wer bin ich und was habe ich mit mir gemacht, wieso mache ich das hier, wieso mache ich überhaupt noch irgendwas, wieso, wieso, wieso, wozu?

9:55 Uhr. Ein Blick auf meinen Posteingang verrät mir, dass ich heute bereits 28-mal wichtig war, es 17-mal noch nicht zur Kenntnis genommen habe und heute das Büro erst nach der Putzkraft verlassen werde; der Sonnenuntergang wird mich garantiert nicht befreien.

Ich zittere. Ich nehme einen Schluck Kaffee. Ich sabbere auf mein Hemd. Ich finde das nicht gut. Ich habe ein Ersatzhemd im Schrank. Ich denke nach. Ich stelle fest, dass es mir egal ist. Ich denke abermals nach. Über alles außer Hemden. Ich finde keine Antwort, keine Lösung, aber eine Alternative.

Der Kaffee ist eingetrocknet.

Ich werde gehen. Einfach gehen.

Als ich meinen Körper gerade in Bewegung setzen möchte, pocht meine soziale Ader lauthals los.

»Hey!«, schreit sie und plustert sich auf. Ich stelle sie mir immer vor wie einen aufgepumpten und mies gelaunten Türsteher mit missglückten Gesichtstattoos. »Wo willst du denn hin, sag mal?«

»Einfach weg.«

»Halt, halt, halt, so nicht, du kommst hier nicht raus.«

Ich würde sie gerade gerne aufschlitzen und ihr beim Verbluten und Vertrocknen zuschauen.

»Wieso nicht?«

»Weil ich das sage. Ich bestimme, wer hier rauskommt.«

»Ich bin krank, mir geht’s nicht gut.«

»So? Hauch mich mal an.«

Ich tue, wie mir geheißen.

»Ganz im Gegenteil, dir geht’s wohl ein bisschen zu gut, mein Lieber. Du bist nicht krank, hör auf, mich verarschen zu wollen. Du bleibst schön hier.«

»Ich kann ja wohl selber entscheiden, ob ich aus diesem Büro gehe oder nicht.«

»Nix da. Da hab ich immer noch was mitzureden, Kollege. Führerschein und Arbeitsvertrag, bitte.«

»Ich hab doch meinen Arbeitsvertrag nicht dabei.«

»Dann sag ich dir jetzt einfach so, was da drinsteht, und zwar, dass du hier nicht rauskommst und gefälligst auf deinem Arsch sitzen bleibst und das tust, wofür du hier bist und bezahlt wirst.«

»Fick dich.«

»Denk mal an die anderen, die müssen deine ganze Arbeit übernehmen, wenn du jetzt hier abhaust! Bis die sich in deine Unterlagen eingearbeitet haben, dauert das locker anderthalb Wochen, die müssen endlos Überstunden schieben, nur weil du keinen Bock hast!«

Ich grüble.

»Es tut mir leid, aber du musst heute leider drinnen bleiben«, sagt sie.

Ich resigniere und widme mich wieder meinen Mails wie ein braves Kind, das von Mama gelobt werden möchte.

»Sehr gut, siehst du«, sagt meine soziale Ader stolz, »es lohnt sich immer, auf mich zu hören.«

Fragt sich nur, für wen.

Ich klicke bei der ersten Mail auf »Antworten«, als plötzlich die unsoziale Ader aus dem Nichts auftaucht und der sozialen Ader hinterrücks eine Flasche Whiskey über den Kopf zieht.

»RENN!«, schreit sie, während sie zusammen mit der egoistischen Ader auf die soziale Ader eintritt und die sadistische Ader das Ganze lachend mit dem Handy filmt, mich anfeuert und »JA, MANN, LOSJETZT, WHOOO!« grölt.

Ich beginne, eine Mail ans Sekretariat zu tippen.

»Stopp! Lasst das!«, röchelt die soziale Ader am Boden liegend. Sie spuckt Blut, keucht, krümmt sich und schafft es gerade noch, meine Finger zittern zu lassen.

Vergeblich.

Ich tippe die Mail fertig und verlasse das Büro durch einen Seitenausgang. Ihr panisches Gebrabbel wird leiser, ich ziehe meine Krawatte aus und meine Kopfhörer auf, es läuft Sympathy for the Devil und ich frage mich, ob sich Mick Jagger in seinem ganzen Leben jemals ein Attest geholt hat und dann, ob er überhaupt noch lebt, aber das tut er bestimmt, der tritt wahrscheinlich sogar immer noch auf und sieht irgendwann als Rock-’n’-Roll-Zombie mit 150 noch aus wie knackige 110.

Ich schaue nach oben, die Sonne gibt mir zu verstehen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

 

Zwei Stunden später liege ich mit Gras im Gras auf dem Olympiaberg, mein Kopf fährt Karussell und ich finde, es ist besser, rote Augen vom Kiffen zu haben als vom Schlafmangel. Ich spiele mit dem weichen Papier der Zigarettenschachtel. Ich habe in der letzten Dreiviertelstunde 153Züge für zehn Kippen und 16 für den Joint gebraucht und frage mich, ob der Begriff Schadstoff nicht vielleicht daher kommt, dass es schade ist, nicht noch mehr von diesem Stoff in sich zu haben, und dass es bestimmt kein Zufall ist, dass im Wort »verbraucht« das Wort »Rauch« steckt.

Ich bin eingedöst, wache wieder auf. Es ist 14:00 Uhr an einem Wochentag und ich starre auf den künstlich angelegten, glitzernden See vor meiner Nase. Idylle in Perfektion, also eigentlich alles andere als perfekt. Früher fand ich es hier schön, wärmend, euphorisierend. Heute finde ich es grün, blau, das Gras zwickt.

Ich fühle mich gut. Die Zeit verstreicht, das Gefühl jedoch auch. Mir wird klar, dass ich mich auf der Flucht befinde und für Fliehende geht es in den seltensten Fällen gut aus.

Selbst wenn ich jetzt ein, zwei, drei Wochen schwänze, selbst wenn ich ein Sabbatjahr nehmen würde, was würde das letztendlich für einen Unterschied machen?

Was macht überhaupt noch einen Unterschied?

Warum überhaupt noch einen machen wollen?

Warum ein zerstörtes Auto tanken?

Warum eine Salzwüste wässern?

Warum?

CHECK

Mein ganzes Leben ist eine einzige To-do-Liste. Schon immer gewesen. Eine Pflicht, die es zu erledigen gilt, ein Hetzen von einem zu nächsten, von Einkaufen bis Handyvertrag kündigen, von Sack rasieren bis Buch fertig lesen, alles Aufgaben, alles Zwang, alles Muss, alles kann man auf Listen schreiben und durchstreichen. Will ja stolz sein. Selbst Meditieren steht drauf, als ob Seelenheil etwas wäre, das man abhaken kann. Ich erledige alles, aber immer zu wenig, weil ich immer mehr hätte erledigen können; am allermeisten erledige ich aber mich selbst. Trotzdem klopfe ich mir für das erfüllte Soll auf die Schulter, betrachte die durchgestrichenen Aufgaben, die Abzeichen meines Fleißes, die am nächsten Tag wieder verblassen, dahinschmelzen, wegplätschern, vergehen und spätestens vergessen sind, sobald der Wecker schreit. Alles muss quantifizierbar sein, weil alles quantifizierbar ist – wenn man sich nur genug Mühe gibt. Ich habe nachgerechnet und festgestellt: Die Summe meines Lebens ist negativ, das Produkt ein Haufen Scheiße.

Ich bin krankgeschrieben. Eine Woche geschenkte Lebenszeit. Und jetzt? Das Leben verabscheut mich und ich tue es ihm gleich. Immer wieder habe ich mich gefragt, wann es endlich losgeht, und mittlerweile glaube ich, dass das entweder nie der Fall sein wird oder ich diesen Losgeh-Moment verpasst habe, was heißen würde, dass das hier tatsächlich das ist, worauf ich all die Zeit hingefiebert habe. Die immergleichen Gespräche, die immergleichen Ereignisse, gefangen in einem ewigen Kreislauf beschwerlicher Scheiße.

Seit jeher habe ich jeglichen Schmerz mit Ablenkung betäubt, bis sie irgendwann nicht mehr geholfen hat und ich Ablenkung von der Ablenkung gebraucht habe, nur leider hilft das nicht viel. Einmal angefangen, Dinge infrage zu stellen, ist es schwierig, wieder loszulassen. Die rote Pille schmeckt bitter, Morpheus ist ein Arschloch.