Von kommenden Stürmen - Thomas Barthelemy - E-Book

Von kommenden Stürmen E-Book

Thomas Barthelemy

4,5

Beschreibung

Europa in naher Zukunft: Die EU ist nach einer Zeit der Wirren - der Finanzkrisen, Bürgerkriege und Vertreibungen - in verschiedene Territorien von Einheimischen und Fremden zerfallen, in denen die geschrumpften europäischen Völker von Gouverneuren einer totalitären Rest-EU beherrscht werden. Demokratie wird von einer scheinbar allmächtigen Einheitspartei vorgegaukelt, sämtliche Medien sind gleichgeschaltet und das herrschende System hat fast alle Erinnerungen an die Vergangenheit ausgelöscht. Nach der Invasion von Millionen Afrikanern gehört der Süden bis zur Rhein-Donau-Linie zum mächtigen Kalifat Eurabia und zum "Emirat Al Parisi". München heißt nun"Monasti Basar", und Wien ist Vijana. Nur nördlich der Donau und in Osteuropa leben noch Europäer. Polen, Ungarn und Siebenbürgen werden vom starken Russland beschützt. Lukas, der Protagonist des Romans, hat als sogenannter Mentor im totalitären Medien-Ministerium einen privilegierten Zugang zum Archiv aller verbotenen, "toxischen" Medien aus der Vergangenheit. Zu einer geistigen Neuorientierung führt Lukas' Begegnung mit einer geheimnisvollen schönen Frau aus dem östlichen Freistaat Transylvania. Zoe gehört einer neuartigen, weltweiten Kultgemeinschaft an, die mithilfe psychoaktiver Pflanzen ein neues Bewusstsein entwickeln und, die Welten hinter den "Pforten der Wahrnehmung" erkunden. Geduldig führt sie den staunenden Lukas schrittweise in die Mysterien ihres Bundes ein und wird bald seine Geliebte und spirituelle Führerin. Als eine Invasion der Gottesstaaten droht, die schon lange das dekadente Rest-Europa belagern, kommt es zum Volksaufstand. Werden nun auch die "Psychonauten" in den Kampf eingreifen? Der spannende Roman ist ein kulturkritischer futuristischer Abgesang, der zeigt, was Mitteleuropa blüht, wenn heutige Entwicklungen weiter aus dem Ruder laufen und eine Illustration zum "Untergang des Abendlandes" mit satirischen und esoterischen Highlights. Darüber hinaus ein philosophischer Science-Fiction-Roman, in dem der Autor naturwissenschaftliche Erkenntnisse und mystisch-esoterisches Wissen zusammenführt.

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Inhalt

Prolog: Rückblick auf Europa

Erster Teil: Wir sind die Toten

Der Codex

Die neuen Fellachen

Die Verschwörer

Erinnerungen

Austrasia mon Amour

Volksverräter!

Die Tore des Hades

Der Sturmwind des Geistes

Operation Waldgang

Brennendes Land

Zweiter Teil: Das innere Reich

Das Schloss der Chimären

Die Chroniken der Psychonauten

Der Tag der Toten

Die Ewige Stadt

Epilog: Die Schwarze Sonne

PROLOG:

RÜCKBLICK AUF EUROPA

Die neuen Schriftfunde aus der europiden Spätzeit

Einführung von Prof. Condor Bodhisattva, Meister des Ordens von Hyperborea, aus: »Kulturgeschichte Eurasiens im 21. und 22. Jahrhundert« Encyclopädia Solaris, Bd. XXVIII, Samarkanda, im Jahr 3525 A. D. (Jahr 513 der kosmischen Ära)

Die Katakomben von Castel Fantome

Als sich unsere Expedition im Sommer des Jahres 3512 vom Hafen Samarkanda aus zu den Inseln im Westen einschiffte, ahnte keiner von uns, welch sensationelle Entdeckungen wir dort machen würden. Wir waren eine Gruppe von Forschern und Archäologen der Universität von Guge in Tibet, und von den Akademien Taschkent, Astana und Katmandu. Begleitet wurden wir von Ordensbrüdern und -schwestern aus Ladakh und der Mongolei. Wir wollten den kurzen Sommer nutzen, um auf den kalten kimmerischen Inseln nach Resten der antiken Zivilisation von Europa zu suchen.

Unser altes Schiff segelte gemächlich über die Thetys, die westliche See, die im Licht der untergehenden Sonne in tausend Farben schimmerte. Kein Laut war zu vernehmen außer dem Rauschen des Windes, der gurgelnden See und dem Knarren der Segel, während ich meinen Betrachtungen nachhing. Vor mehr als tausend Jahren hatte hier einmal eine große Steppe gelegen, durch die die Karawanenwege von Asien nach Europa führten.

Europa – welch Name voll magischen Glanzes! Die Wiege der Freiheit, der Künste und der Wissenschaften – auf immer wird sein Licht durch die menschliche Geschichte leuchten! Die europäische Zivilisation gilt uns heute als die größte Hochkultur des Altertums und ist noch immer ein Mythos voller Rätsel und Widersprüche. Seit Generationen forscht die Menschheit nach Überresten, aber wenig wurde bisher gefunden. Dafür ranken sich zahllose Mythen und Legenden um die geheimnisvollen versunkenen Länder, die heute mehrere hundert Meilen tief auf dem Grunde des Ozeans liegen.

Weit im westlichen Weltmeer, fernab der großen Häfen an den Küsten Afrikas und Asiens, liegen fast vergessene Archipele am Rande der Nacht. An felsigen Klippen brechen sich hier die windgepeitschten Wellen zweier Meere, wo der Kimmerische Ozean und das Thetys-Meer aufeinander treffen. Aufgrund des rauen Klimas – Nebel, Kälte, eisige Fluten – leben dort heute nur wenige Menschen, doch vor langer Zeit gehörten all diese Inseln zu einer großen kontinentalen Landmasse, einer Halbinsel von beachtlicher Größe, genannt Europa. Dieses Land – oder besser: dieser Subkontinent – ging während der großen Erdkatastrophe des Polsprungs in der Weltflut unter. Seine Länder und Städte wurden innerhalb kurzer Zeit von den steigenden Wassermassen überspült und versanken in den Tiefen. Übrig blieben Inseln und Inselketten, die höchsten Teile des einstigen Landes, die Gipfel damaliger Gebirge.

Diese Archipele bestehen aus einigen größeren und vielen kleinen Inseln. Zu ihnen gehören die großen lang gestreckten Inseln Carpatis und Caucasia, das raue nahezu unbewohnte Alpidia, und die Inselgruppem der Avalonen, der Apenninen und, vorgeschoben nach Westen, das schroffe Massiv von Armorica. Die nach Alpidia und Caucasia drittgrößte der Inseln heißt Carpatis. Dort lag unser Ziel.

Nach den reichen Funden und sensationellen Entdeckungen, die bereits vorher auf anderen westlichen Inseln gemacht worden waren, erhofften wir uns auch auf dem kalten, in ewiger Dämmerung schlafenden Carpatis einigen Erfolg. Auf den unweit liegenden Kimmerischen Inseln hatte man bereits Siedlungsreste und Ruinen sakraler Bauwerke aus der Zeit vor der Flut ausgegraben, doch dass uns ein epochaler Fund gelingen würde, der ein völlig neues Licht auf den Niedergang und das Ende des antiken Europa werfen würde, ahnten wir damals noch nicht.

Bei den ersten Grabungen auf der Hauptinsel Carpatis stießen wir auf die Fundamente der von uns erst einmal so genannten »Burg der Vogelmenschen«. Beim weiteren Graben gab uns diese Burg immer neue Rätsel auf: Wir förderten Artefakte zutage, die nach unserer Chronologie nicht im geringsten zusammen passten, ja, die aus verschiedenen Kulturräumen und Epochen der Alten Welt stammten, aber alle offenbar zur selben Zeit als Bauelemente benutzt worden waren. Es handelte sich um steinerne Säulen, Skulpturen, Reliefsteine, Götterbilder und Tierbildnisse aus verschiedenen Epochen des Altertums, sowie von alten amerikanischen und asiatischen Hochkulturen. Wir waren ratlos: die Burg (die damals Castel Fantome hieß, wie wir später erfuhren) passte in keine der bekannten Bauperioden des alten Europa, sie schien jeder chronologischen Einordnung Hohn zu sprechen. Die einzig mögliche Erklärung für uns war, dass dort ein Herrscher oder wohlhabender Sammler am Werk gewesen war, der Schätze aus der ganzen Welt zusammengetragen hatte, um sie zu einem einmaligen, phantastischen Ensemble zu verbinden.

Zuerst legten wir das später so berühmte »Tor der Vogelmenschen« frei (es zeigt menschliche Figuren mit großen Schwingen (wie denen von riesenhaften Vögeln). Dann fanden wir tonnenschwere steinerne Figuren von ausgestorbenen vorzeitlichen Tieren, wie Stieren, Löwen und Elefanten. Im weiteren Verlauf der Ausgrabung entdeckten wir an den Resten der Grundmauern verwitterte Wandmalereien mit rätselhaften mythologischen Szenen, die wir erst viel später zu deuten lernten. Weltbekannt wurde hier die Darstellung einer brennenden Stadt in dunkler Nacht, aus der ein Menschenpaar flieht, und ein großes kastenförmiges Schiff, das auf hohen Wellen schwebt und hunderte von Tieren, jeweils in Paaren, über ein dunkles Meer zu bringen scheint. Berühmt wurde auch eine Heilige oder Gottheit im blauen Gewand mit ihrem Kind im Arm, wahrscheinlich die einzige erhaltene Darstellung einer alteuropäischen Himmelsgöttin.

Weiter fanden wir Steinplatten mit gut erhaltenen Reliefs unbekannter Männer und Frauen, vielleicht Grabplatten oder Sarkophagdeckel, die in den Mauern verbaut waren (anhand der inzwischen teilweise entzifferten Inschriften glauben wir, dass es sich um Herrscher oder Heilige aus der Ära des Mittleren Zeitalters Europas handelt). Doch wussten wir damals noch viel zu wenig über die alten Europiden, ihre Geschichte und Mythologie.

Schon in der Epoche der großen Völkerwanderungen, war ihre Zivilisation fast ausgelöscht worden. Sprachen, Schriften und Kunst ihrer Völker gingen unter, wurden zerstört und vergessen. In den dunklen Jahrhunderten, die folgten, besiedelten andere Völker das Festland. Sie alle verschwanden in der Weltflut. Was haben sie noch von Europas Kultur gewusst? Gab es Überlieferungen? Wir wissen es nicht.

Durch welche Faktoren endete diese Zivilisation so schlagartig am Beginn des dritten Jahrtausends? Die Forscher hatten viele Theorien: Gab es Bürgerkriege, in denen die Europäer sich gegenseitig auslöschten? Oder eine Invasion von außen? Kam eine unbekannte Seuche über sie oder löste ein plötzlicher Klimawandel Dürren und Überschwemmungen aus? Oder flüchtete die Bevölkerung massenhaft – aber wovor? Hier auf Carpatis hofften wir nun, weitere Hinweise zur Lösung dieser Rätsel zu finden.

Nachdem wir die gut erhaltenen Grundmauern der Burg frei gelegt hatten, an denen wir teils künstlerisch reizvolle, teils auch befremdende, ja verstörende Reliefs, Mosaiken uns Malereien fanden, stießen wir auf einen verschütteten Eingang, der offenbar in eine unterirdische Grotte führte. Unsere weiteren Messungen zeigten uns, dass sich unter der Burg ein ausgedehntes Höhlensystem befand, das tief in den Berg hinabzureichen schien. So legten wir also in tagelanger Arbeit diesen Eingang frei und standen schließlich vor einer uralten Steintreppe, deren kaum noch sichtbare, mit Moos überwachsene Stufen steil in die Dunkelheit hinabführten.

Das Herz schlug mir bis zum Halse, als ich mit den anderen zum ersten Mal hinunter stieg. Eiskalte Luft wie aus Grüften drang von unten zu uns herauf. Die seltsame Vorahnung einer großen historischen Stunde versetzte mich in einen Zustand gesteigerter Wahrnehmung. Da ich auf der Akademie schon früh die üblichen trancemedialen Techniken erlernt hatte, sah ich, als ich die alten Steine berührte, eine Vision der Menschen, die hier zuletzt gelebt hatten: Sie waren hoch gewachsen und hellhäutig, wie man in den alten Sagen erzählt, mit blauen oder grünen Augen, viele hatten helles Haar. Uns ähnelten sie nicht, eher noch den heutigen Bewohnern Sibiriens oder Neuseelands. Sie trugen grüne und schwarze Anzüge oder Kampfgewänder, einige hielten Fackeln, andere seltsame alte Waffen in ihren Händen. Sie schauten nach oben, als erwarteten sie einen Feind aus der Luft, und brachten schwere Kisten und Gegenstände in die Höhle hinab.

Wir tasteten uns langsam voran, mit Seilen gesichert, jederzeit einen Abgrund erwartend. Ich warf einen Stein in die Dunkelheit, er fiel tief unten ins Wasser. Die Treppe endete an einem unterirdischen See. Von hier aus konnten nur Taucher das Höhlensystem weiter erkunden. Nach einiger Zeit kehrten sie zurück und berichteten von einer weiteren Kaverne. Dort waren sie auf ein steinernes Tor gestoßen, das aus dem See ragte. Es war von einem archaischen Rundbogen eingefasst, in dessen Stein vorzeitliche Figuren und Symbole gehauen waren. Und es war mit schweren Felsen fugenlos fest verschlossen.

Nachdem ich mich selbst dorthin begeben hatte, war ich überwältigt von dem Anblick. Während die anderen aufgeregt um mich herum standen und debattierten, betrachtete ich die steinernen Figuren aus einer anderen Zeit, die sich im flirrenden Zwielicht der Höhle zu bewegen schienen. Ganz oben war – noch gut erhalten – ein Mann zu sehen, der einen Kelch in den Händen trug, neben ihm eine weibliche Gestalt, die von Pflanzen umrankt war. Kleinere Figuren standen zu beiden Seiten. Eine Riesenschlange schien sich um den ganzen Torbogen zu winden.

Mit Hilfe des Ultramolekular-Scanners stellten wir fest, dass sich hinter dem Tor weitere große Hohlräume verbargen. Zuerst schien es vollkommen ausgeschlossen, das Tor zu öffnen, denn es war mit tonnenschweren monolithischen Felsblöcken hermetisch und fugendicht verschlossen. Erst nach vielen Tagen konnten wir endlich einen Sonnenlaser in die Höhle bringen und die Steine aufschneiden.

In Schutzanzügen drangen wir nun in das dahinter liegende Höhlensystem vor, das wohl seit Jahrhunderten kein Mensch mehr betreten hatte. Und unglaublich war, was sich unseren Augen im flackernden Licht der Lampen darbot: Von einem kuppelartigen Hauptgang zweigten in alle Richtungen lange Schächte ab und verloren sich im Dunkel. Diese labyrinthischen Gänge, die sich tief in die Erde zu erstrecken schienen, öffneten sich immer wieder zu größeren Räumen und Raumfluchten eines ausgedehnten Katakombensystems. Zuerst stießen wir auf Grabnischen, die angefüllt waren mit menschlichen Schädeln und Knochen. Dann fanden wir Sarkophage mit teilweise noch erhaltenen Mumien. Weiter gab es Wohnräume, Lager und sakrale Räume. Das Licht unserer Lampen erweckte eine unberührte Welt zum Leben, deren Schönheit uns den Atem nahm. Perfekt erhaltene Malereien schmückten die Wände, und aus dem weichen Stein waren kunstvoll Säulen und Reliefs heraus gemeißelt worden. Goldglänzende Mosaike bedeckten Wände und Kuppeln. Wir waren auf eine ganze unterirdische Stadt gestoßen, ein Zuflucht- und Bunkersystem, in dem sich Hunderte oder gar Tausende von Menschen aufgehalten hatten und offenbar lange überlebten!

Die Luft war stickig und feucht, und die Räume angefüllt mit Geröll, Metall- und Holzresten. Viele Gegenstände waren zerfallen, aber Artefakte aus Stein und Eisen waren noch gut erhalten. Die Metallreste deuteten auf antike technische Geräte hin, Holz- und Glasreste auf altes Mobiliar. Insgesamt war der Erhaltungszustand der Höhlenstadt sensationell gut, denn in die Abgeschlossenheit der Luftblase war kein Wasser oder Feuer eingedrungen, seit der letzte der Bewohner die Höhle verlassen und versiegelt hatte oder hier gestorben war. Uns war klar: Dies war ein historisch einmaliger Fund von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert! Er konnte die Lösung vieler Rätsel und Geheimnisse bringen, die die versunkene Zivilisation Europas uns bis heute aufgibt.

Und so war es: Die Katakomben der Burg Castel Fantome (so ihr antiker Name) wurden weltbekannt und seitdem von Spezialisten aus aller Welt intensiv erforscht. Die bald darauf gefundene »Bibliothek« wurde sogar zur Hauptquelle unseres Wissens über die alten Bewohner Europas. Zum ersten Mal sprachen diese Menschen gleichsam direkt zu uns, und wir können nun ihre Geschichte ganz neu schreiben und auch das Rätsel ihres Verschwindens lösen.

Hier war ihre geheime letzte Zufluchtsstätte gewesen, doch wer waren die Menschen, die hier unermessliche Schätze gesammelt hatten – offenbar gerade auch, um sie der Nachwelt zu erhalten? Die Burg hatte damals auf einem hohen Bergrücken inmitten dichter Wälder gelegen, umgeben von Gebirgen. Dieses Land hieß Transylvania und blieb während der Invasionen der Steppenvölker noch lange von Angriffen verschont. Die Burg scheint noch ein- bis zweihundert Jahre nach dem Ende der westlichen Staaten bewohnt gewesen zu sein. Später wanderten die meisten ihrer Bewohner weiter nach Osten. (Nach den neu aufgefundenen schriftlichen Quellen können wir den Untergang der westlichen Gebiete endlich exakt datieren: es war im Jahr 2046 des römischen Kalenders, also etwa vor anderthalb Jahrtausenden.)

Wer waren diese Menschen, die hier vor 1500 Jahren lebten? Erste Hinweise gaben uns die erstaunlich gut erhaltenen Überreste der Wandmalereien im zentralen Gewölbe, die Szenen zeigen, die auf den Bund der »Amazonier«, den wir später ausführlich erforschten, hindeuten: Neben Darstellungen heiliger Tiere wie der Anaconda und des Jaguars sehen wir hier den Adler, den Stier, den Löwen und einen Vogelmenschen aus der alten römischen oder christlichen Religion. Der Prophet der Amazonier wird dargestellt mit einem Kelch in der rechten Hand und einer Schriftrolle in der linken. Neben ihm die Heilige Jungfrau, Königin des Waldes und der Pflanzen mit einer Sternenkrone über dem Haupt, umgeben von geflügelten Wesen. Wir sehen außerdem Bäume, Vögel und Pflanzen des tropischen Waldes, wir sehen Schlangen und Delfine, denn durch diese Wildnis fließt ein majestätischer Strom. Weiter gibt es Szenen mit Menschen und großen, göttergleichen Wesen, strahlend weiß, mit kreisrunden dunklen Augen, umgeben von Spiralen und Blitzen. Wir sehen, wie diese Wesen den Auserwählten unter den Menschen Pflanzen, einen Kelch und Schriftrollen reichen. Wie wir später herausfanden, handelt es sich dabei um die drei Sakramente der Amazonier: Die göttliche Pflanze Yagé, den Heiligen Vinho und die Gesänge.

Insgesamt war die Fülle der Gestalten auf diesen Fresken überwältigend: Immer wieder sind Gruppen von Menschen zu erkennen, Anbetende, Heilige und Propheten, im Wald und auch in den Städten. Und über allen thronen der Prophet Lazaro und die Göttin des Waldes.

Bis dahin hatten wir herausgefunden: Es waren Anhänger eines mystischen Kultes, einer verfolgten Religion gewesen, die sich während der Verfolgungen im untergehenden Europa hierher zurückgezogen hatten. Nach dem Zusammenbruch des westlichen Staatenbundes lebten hier offenbar die letzten Magier, unterstützt von Schreibern und Künstlern. Dann fanden wir die Schriften.

In einer luftdicht abgeschlossenen Kammer stieß unsere Expedition auf den größten Fund von allen: Es waren insgesamt etwa 600 mittelgroße Behälter aus rostfreiem Stahl. In ihnen eingeschweißt fanden wir ein Korpus unschätzbarer Werke, die uns bisher nur teilweise aus Erzählungen bekannt waren, kurz gesagt, die Krone des antiken europiden Schrifttums, in nicht weniger als tausend Papierbüchern, die großenteils gut erhalten sind, gedruckt in lateinischer Schrift, wie sie damals ja weltweit benutzt wurde: die weltbekannte »Bibliothek« von Castel Fantome.

Doch eins nach dem anderen: Eines Tages entdeckten wir einen Raum am unteren Ende des Labyrinthes. In ihm befanden sich in den Wänden eingemauerte steinerne Kisten oder Sarkophage. Wir öffneten sie und fanden in ihnen Schmuck, Waffen und die besagten Stahlbehälter, aber keine sterblichen Überreste.

Das Geheimnis der leeren Sarkophage konnte bisher nicht gelöst werden, deutet doch alles andere auf reguläre Bestattungen hin. Es sei denn, wir nehmen an, dass schon damals die mystische Technik der »Entrückung« praktiziert wurde, des »Gehens, ohne Spuren zu hinterlassen«…

In Sarkophag A fanden wir unbekannte Schriften mit seltsamen Titeln wie Edda, Parzival, Faust, von denen wir nicht wissen, ob sie reale oder phantastische Ereignisse schildern. Sie sind abgefasst in der alten Sprache Deutsch, die von früheren Ureinwohnern Europas gesprochen wurde. Hatten sie ihre Bücher rituell bestattet?

In Sarkophag B befanden sich wiederum verschweißte Stahlbehälter, die weitere Schriften enthielten: Eine so genannte »Göttliche Komödie« des Schreibers Dante, neben mehreren Werken eines Philosophen, genannt Platon und einer so genannten Odyssee des Schreibers Homer.

In Sarkophag C befand sich komplett erhalten die heilige Schrift der Römer, das »Zweite Testament«, in der damals gängigen Sprache Multilangue. Ein unschätzbarer Fund, da er uns nicht nur den Schlüssel zu einer der alten Religionen in die Hand gab, sondern auch die Möglichkeit, die Sprache Multilangue zu verstehen. Denn wir besaßen bereits Fragmente anderer Übersetzungen des römischen Testamentes, die ausreichend waren, um Schrift und Sprache zu dechiffrieren. Danach konnten wir endlich viele andere Schriften lesen.

Der nächste Sarkophag enthielt ein Korpus von Tausenden Gedichten und Liedern in verschiedenen alten Sprachen aus allen Epochen und einen in Leder gebundenen handschriftlichen Band mit dem Titel: »Die Chronik des Lukas«, verfasst in Multilangue, der damaligen Umgangssprache, die aus Vulgärformen der europäischen Hauptsprachen gebildet worden war.

Es gab noch hunderte andere stählerne Behälter, die angefüllt waren mit Büchern aller Art in den alten Sprachen. Leider war das Papier einiger Bücher so weit zerfallen und durch Feuchtigkeit oder Schimmel zerstört, dass es bei der ersten Berührung einfach zu Pulver zerfiel. So geschah es mir selbst, als ein Buch, dessen Titel »Zauberberg« ich bereits entziffert hatte, bei meiner ersten vorsichtigen Berührung zu Staub verwehte. Doch konnte Vieles auch gerettet werden: Dramen und Erzählungen, Abhandlungen über Geschichte, Biografien und Reiseberichte aus vielen Jahrhunderten: Eine Arche des Wissens aus der Zeit vor der Flut!

Natürlich sind auch auf anderen Kontinenten Schriften des Altertums gefunden worden, doch oft blieb es bei Auszügen oder Fragmenten. Wir hoben einen Schatz der Überlieferung und gewannen so einen direkten Blick auf die Kultur des alten Kontinents.

Nach vielen Jahren des mühevollen Entzifferns und Übersetzens der alten Quellen, und weiterer archäologischer Forschung setzte sich für uns die Geschichte der alten Zivilisation allmählich zusammen, besonders die der letzten Jahre vor ihrem abrupten Ende. Aus diesen Tagen stammt die nachfolgend veröffentlichte »Chronik des Lukas«. Der Verfasser rettete sich aus dem Chaos des Untergangs und war in späteren Jahren wahrscheinlich einer der ersten Padrinhos, also der religiösen Führer im damaligen transylvanischen Gebiet. Um dem heutigen Leser das Verständnis zu erleichtern, halte ich es für sinnvoll, eine kurze Einführung in die Verhältnisse und Geschehnisse der damaligen Zeit vorauszuschicken. Sie basiert auf den umfassenden neu gewonnenen Erkenntnissen, die wir aus den schriftlichen Quellen gewonnen haben.

Mythos Europa

Europa – welch Name voll magischen Glanzes! Die Wiege der Freiheit, der Künste und der Wissenschaften – auf immer wird sein Licht durch die menschliche Geschichte leuchten. Die europäische Zivilisation gilt uns heute als die größte Hochkultur des Alten Zeitalters und ist zugleich ein Mythos voller Rätsel und Widersprüche. Wir bezeichnen diese Ära gerne als ein Goldenes Zeitalter, aber sie war auch eine blutige und eiserne Epoche.

Soviel wir wissen, nannten die ursprünglichen Bewohner ihren Subkontinent seit vielen Jahrhunderten Europa, nach einer mythischen Prinzessin, und sich selbst Europide, European, Europeos. Die später eingewanderten Mauretanier und Steppenvölker nannten die Urbevölkerung Franken. Nach deren Vertreibung oder Unterwerfung wurde der Name Europa nur noch historisch verwendet, die neuen Bewohner bezeichneten die Länder zwischen Afrika und Asien als Avrupa, oder die Nördliche Steppe.

Diese Zivilisation blieb ein erhabener Mythos, denn sie galt als größte Hochkultur des Altertums, doch nur Weniges war uns bisher bekannt. Wir wussten von blühenden Reichen, die als Seefahrer zeitweise die ganze Erde beherrschten. Sie führten vernichtende Kriege untereinander um die Weltherrschaft, aber keines von ihnen errang sie auf Dauer.

Nun wissen wir: In diesem »Zeitalter der kämpfenden Reiche« gaben die Europiden ihre Religion nahezu vollständig auf und überließen sich der Herrschaft ihrer hoch entwickelten Maschinen. Sie wurden reich, reicher als alle anderen Völker der Erde, reicher als die barbarischen Völker des Südens und Ostens. Aber ihr geistiger Standpunkt blieb materiell, deshalb fielen sie zum Schluss in Verwirrung und Verzweiflung. Von der Kunst und Literatur der Europiden ging später fast alles verloren, aber wir wissen, dass sie die höchsten Gipfel der damaligen menschlichen Kultur erreicht hatten. Ihre Städte, überragt von den Türmen alter Kathedralen, sollen von Marmor, Gold und Kristall geglänzt haben. Sie waren von unermesslichem Reichtum, manche ihrer kristallenen Türme reichten fast bis zum Himmel, und ihre Museen waren voll der herrlichsten Kunstwerke. Denkmäler und Statuen schmückten die Plätze und Alleen, in den Häfen ankerten Schiffe, die alle Meere des Planeten befuhren und Händler und Forscher in die entlegensten Länder brachten. Alle Ozeane, Gebirge und Wüsten des Planeten, selbst die Pole und der Weltraum wurden von ihnen erforscht. Mit ihren Wissenschaften und Technologien schufen die Europiden die Grundlagen aller späteren Zivilisationen. Sie entdeckten die meisten Naturgesetze und Elemente, fanden als erste die Prinzipien der Energie und des Antriebes, bauten die ersten selbst bewegenden Fahrzeuge, Luftschiffe und Raumschiffe. Sie vereinten die Menschen aller Länder und Kontinente, und doch gingen sie zum Schluss an sich selbst zugrunde. Sie gaben der menschlichen Evolution die Richtung – und endeten in Selbstzerstörung. Sie suchten nicht nur nach exakten Erkenntnissen in der Natur, sondern besaßen auch eine tiefe Metaphysik. Sie forschten lange nach höherem Wissen, ohne es wirklich zu finden und endeten schließlich im Zweifel. Nach den grauenvollen Kriegen des Maschinenzeitalters waren sie ermüdet und gaben sich ganz dem Wohlleben hin. Diese Spätzeit ging als die »Goldene Zeit« in ihre Geschichte ein.

Die letzten Völker Europas, durch Kriege geschwächt, genossen in der Goldenen Zeit, die immerhin bis 2021 dauerte, Jahrzehnte des Wohlstandes, der durch die Technisierung vervielfacht wurde. Aber sie waren nicht mehr schöpferisch, wie in früheren Zeitaltern. Es wurde gesammelt, kopiert und erhalten, aber eine tyrannische Doktrin der Hypermoral fraß sich wie Säure durch ihre Gesellschaft.

In der Spätzeit breitete sich offenbar diese geistige Epidemie aus, von der kaum jemand verschont blieb. Es war eine Doktrin des Selbsthasses, die von oben nach unten durch die Gesellschaft sickerte, eine pseudomoralische »Korrektheit«, die zur Ersatzreligion der letzten Europiden wurde und von Tugendwächtern überwacht wurde. Sie war das tödliche Gift, das schließlich zu ihrem geistigen Niedergang, zu ihrer Lähmung und Selbstaufgabe führte. Das eigene Erbe wurde verleugnet, die geistigen Leistungen sanken, Lügen und Ideologie beherrschten das Denken, Schuldgefühl und schlechtes Gewissen wurden Staatsdoktrin, und ein unheimlicher Trieb zum Abgrund erfasste die Massen.

Trotz des Luxus und des Wohllebens war in der Spätzeit der Verfall überdeutlich: Die Künste waren unfruchtbar, anorganisch und mechanisch. Sie brachten nur mehr Schrecken erregende und unmenschlich zu nennende monströse Schöpfungen hervor, die in ihrer sterilen Härte und Hässlichkeit merkwürdig kontrastierten zu dem sentimentalen und hypermoralischen Zeitgeist. Es zeigte sich ein Verlust des Gleichgewichtes, ein Abschied von der Klassik, eine Anbetung der Maschinen, ein Kult des Hässlichen, des Dämonischen, ja des Verbrechens. Dem heutigen Betrachter zeigt sich deutlich der Verlust aller organischen Formen und eine totale Technisierung. Dazu passt, dass die Zerstörung von Erde, Pflanzen, Tieren, Wäldern, Flüssen und Meeren damals unvorstellbare Ausmaße annahm. Dieser Stil der Spätzeit offenbart den schnellen Verfall, das Zersplittern aller Formen.

Der Abbruch der Bildung war ebenso deutlich: Wo einst Gipfel der humanen Wissenschaften erreicht worden waren, gab es hundert Jahre später nur noch Bruchstücke; Kenntnisse und Zusammenhänge gingen verloren, viele Menschen konnten nicht mehr richtig lesen und schreiben. Nur wenige Spezialisten waren noch in der Lage, Texte, die älter als fünfzig Jahre waren, zu verstehen.

Diese letzten Europiden interessierten sich nicht mehr für geistige Aufschwünge, sie verstanden schon nicht einmal mehr die metaphysischen Probleme, um die man zweihundert Jahre vorher noch gerungen hatte. Ihnen, den Spätlingen der Goldenen Zeit, ging es nur noch um Geld, Luxus und Genuss. Sie verbrauchten mehr Ressourcen als alle Generationen vor ihnen und häuften mehr Schulden an, als jemals vorher gemacht worden waren. Gleichzeitig verachteten sie die Taten ihrer Vorfahren und interessierten sich kaum für die Zukunft ihrer wenigen Kinder. So zerrissen sie die Kette der Generationen und wurden zu den unglücklichen »letzten Menschen«, wie sie einer ihrer großen Denker nannte.

Die vergiftete Doktrin der Spätzeit zerstörte nicht nur die gewachsenen Völker Europas mit ihren Traditionen, Wissenschaften und Künsten, sondern auch die Familien, denn sie erzwang eine Art von Gleichschaltung der Geschlechter. Außer Männern und Frauen gab es nun Eunuchen, Hermaphroditen und hybride Mischwesen, die zwar unfruchtbar waren, aber große Macht und viel Einfluss besaßen.

Damals herrschte eine Kaste von Technokraten und Ideologen, die ihre eigenen Völker verrieten. Sie hatten die Macht in einem System unter sich aufgeteilt, das sie »Demokratie« nannten. Es war ein verkappter Feudalismus, der später zur Tyrannis entartete und in die Bürgerkriege mündete. So begann der letzte Akt der Tragödie, das Zeitalter der Aufstände, Religionskriege und des Gesinnungsterrors.

Die Europiden scheinen damals in einer Art von kollektivem Selbstmord ihre eigene Kultur aufgegeben zu haben; aus der Chronik des Lukas erfahren wir von Bücherverbrennungen und einem Bildersturm. Sie gaben der menschlichen Zivilisation die Richtung – warum endeten sie zuletzt in Selbstzerstörung? Worin liegen die Gründe für ihren rasanten, ja fast abrupten Untergang, der uns noch immer so rätselhaft und unheimlich anmutet?

Warum ging Europa unter?

Eines der großen ungelösten Rätsel der alten Geschichte war lange Europas ruhmloses Ende. Es ist kaum vorstellbar, wie diese blühenden Länder im Laufe eines Zeitraumes von nur etwa hundert Jahren aus der Geschichte verschwinden konnten. Aus der Zeit nach 2200 sind keine Inschriften, Denkmäler oder Grabstätten der Indigenen mehr dokumentiert.

Nach vielen Jahren des mühevollen Entzifferns und Übersetzens können wir nun aus dem Textfund von Castel Fantome die Geschichte der alten Zivilisation rekonstruieren, besonders die der letzten Jahrzehnte vor ihrem Untergang.

Im Jahr 2000 stand die Europäische Union noch in voller Blüte, doch bereits 2100 existierte selbst der Name nicht mehr, nachdem die letzten Homelands von den Armeen der Mauretanier und des Kalifats besetzt worden waren. Die großen Metropolen, oder was nach den Religions- und Bürgerkriegen noch von ihnen übrig geblieben war, verwandelten sich in übervölkerte, von Millionen elender Menschen angefüllte Brutstätten von Seuchen und Gewalt, wie sie in der damaligen Epoche überall in den Ländern der wandernden und erobernden Völker zu finden waren.

Während die Europiden alterten und wohl auch immer weniger fruchtbar waren, fand gleichzeitig die Landnahme neuer Völkerschaften aus den endlosen Weiten Mauretaniens und den Steppen des Ostens statt, die von hungrigen jungen Menschen überquollen. Die Anzahl der Europiden nahm ständig ab, erst durch Massenflucht, Bürgerkrieg und Invasion, später durch Hunger und Krankheiten. Die Städte verödeten, die Steppe breitete sich aus, die Wüste wuchs.

Aber der Verfall hatte schon lange vor der Völkerwanderung begonnen. Die neuere Wissenschaft hat nach den Ursachen gesucht und stieß auf vielfältige Faktoren, die ja in der älteren Geschichte immer wiederkehrten und zum Untergang großer Zivilisationen geführt hatten: Verlust gemeinsamer Werte, des Zusammenhaltes und der Identität, Reichtum und Luxusleben, die zum Verfall der Sitten, zu Verweichlichung und Perversion führten, Gifte in Nahrung und Wasser, die Unfruchtbarkeit und Demenz erzeugten. Das alte Europa ging nicht erst durch Völkerwanderung und Barbareninvasion zugrunde, sondern durch sich selbst. Es gab eine große Müdigkeit und Schwäche, die es den Völkern unmöglich machte, sich gegen Invasoren zu verteidigen.

Wo lagen die ersten Ursachen für den so schnellen Untergang der Europiden, der uns immer wieder so unheimlich anmutet? Die heutige historische Forschung vermutet neben den materiellen auch tief liegende spirituelle Ursachen, die den damaligen Menschen nicht bewusst waren. Es kristallisierten sich in der Hauptsache fünf Ursachen heraus – die durch die neuen Funde begründet werden.

Das Verschwinden ist eine demographische Erklärung: Es kam zu einer so schnellen Abnahme der einheimischen Völker, dass die Kulturträger und mit ihnen die Kultur innerhalb von zwei bis drei Generationen einfach verschwanden. Als Gründe werden genannt: Unfruchtbarkeit, bedingt durch Krankheiten oder durch Gifte. Wir wissen von der gängigen Praxis der Abtötung der Leibesfrucht ohne alle Skrupel, von den Staaten legitimiert. Frauen und Männer lebten ihrem eigenen Genuss, in der dekadenten Gesellschaft wurden alle Arten von Perversionen ausgelebt, die Familie wurde gering geschätzt. Eine Kaste mächtiger Hermaphroditen und Hybriden versuchte sogar, eine Abschaffung der Geschlechter durchzusetzen. Es wird vermutet, dass nach dem Aussterben der zahlenmäßig starken älteren Generation ab 2030 nur noch sehr wenige Jüngere nachfolgten. Der Blutzoll der Bürgerkriege dezimierte diese ohnehin schon spärliche Generation noch weiter. Durch Vertreibungen und Massaker wurden ganze Provinzen entvölkert, Tausende wurden nach Asien und Afrika verschleppt. So war vor 2040 die Urbevölkerung so dezimiert, dass sie in sieben Homelands zusammengepfercht werden konnte.

Selbsthass und Schuld: Einige Forscher glauben, dass im Goldenen Zeitalter die gealterte, aber noch sehr reiche Bevölkerung Europas sich von einer schweren historischen Schuld belastet fühlte. Diese zwang sie, ihre Vorfahren zu hassen, sich selbst und ihre eigene Kultur zu verachten und ihre Kinder zu diesem Selbsthass zu erziehen. Dieses Schuldgefühl soll entstanden sein aus dem großen Wohlstand, der zunehmend als unrechtmäßig erschien, als Ursache der Armut anderer Völker. Man glaubte nun nicht mehr wie früher, der Reichtum sei durch bessere Leistungen, Fähigkeiten oder kulturelle Begabungen entstanden, sondern nur durch die Ausbeutung fremder Völker. Man wollte diese Schuld abtragen, indem man das Eigene aufgab und es mit den Massen der Einwanderer aus den armen Ländern teilte. In jener Zeit begann man, die Geschichte umzuschreiben: Was man hundert Jahre zuvor als heldenhaft empfunden hatte, erschien nun als Menschheitsverbrechen. Man suchte den nagenden Schuldgefühlen zu entkommen, indem man die eigene Kultur, Religion und Tradition verachtete und Kräfte begrüßte, die diese Kultur bekämpften. Viele glaubten an diese Ideen, die nichts anderes waren als tödliche Illusionen, die traurige Melodie des kollektiven Untergangs.

Der Selbsthass zerstörte den Lebenswillen der Europiden und verwirrte ihre geistige Orientierung. Bezeichnend dafür ist das ständige Schwanken der intellektuellen Kaste der Endzeit zwischen größenwahnsinnigen Projekten der Weltrettung und Wellen apokalyptischer Hysterie. Man gab die überlieferte Vernunft auf, und offenbar herrschte nun ständige Angst. Den Menschen erschienen überall Vorzeichen des Untergangs, in Fluten, in Stürmen, im Klima. Viele glaubten, Kometen könnten auf die Erde stürzen, andere, es würde Gift regnen, wieder andere sahen eine neue Eiszeit oder eine schreckliche Hitze kommen. Alles konnte zum bösen Vorzeichen des kommenden Untergangs werden. Nur die wirklichen Gefahren sah man nicht. Im Goldenen Zeitalter, der reichen Zeit vor Inflation und Bürgerkrieg, wurde also bereits die Bühne zum großen Drama der Endzeit bereitet.

Der Kulturbruch: Im Gegensatz zu den aus Funden und Quellen eher schwierig herzuleitenden Theorien der mentalen Entwicklung ist der Niedergang und Zerfall der Bildung und Kunst klar zu erkennen. Die Degeneration der Künste setzte schon im zwanzigsten Jahrhundert ein, sie nahm die Entwicklung der übrigen Gesellschaft voraus. Statt einer freien Betätigung der Künstler entstanden plötzlich Schulen, die im Kern auf die Auflösung der Künste gerichtet waren. Von diesen Verirrungen ist nichts auf uns gekommen, denn sie gingen, wie auch der Großteil aller übrigen Kunstwerke, in den folgenden Bilderstürmen unter. Es wurden nur einige schwere, deformierte Metallobjekte ausgegraben, von denen wir nicht wissen, ob sie Kunstwerke waren oder in Kriegen durch radioaktive Hitze verformte Maschinen.

Der Abstieg der Bildung ist ebenso deutlich: Wo zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein Gipfel der humanen Wissenschaften erreicht war, mit einer ungeheuren Tiefe und Weite der Kenntnisse von Naturwissenschaften, Geschichte und Literatur, sind hundert Jahre später, am Ende der Goldenen Zeit, nur noch Bruchstücke zu finden. Die Schulen vermittelten keine Kenntnisse und Zusammenhänge der humanen Wissenschaften mehr, so dass innerhalb weniger Jahrzehnte zweitausend Jahre kultureller Überlieferung vergessen wurden. Religion, Philosophie und Literatur wurden ersetzt durch die tyrannische »korrekte« Doktrin.

Trotzdem gab es immer noch einzelne Eingeweihte, die sich um das kulturelle Gedächtnis bemühten, wie auch aus dem folgenden Tagebuch des Schreibers Lukas deutlich wird. Schätzungen zufolge gelten heute nicht mehr als fünf Prozent der damaligen Bücher als überliefert. Zu diesen raren Schätzen gehören auch die Schriften, die von uns auf der Insel Carpatis gefunden wurden.

Der Verrat der Eliten: In der Geschichte der alten Reiche war es häufig gewesen, dass sich schwache Eliten untergehender Zivilisationen mit zukünftigen fremden Herren verbündeten. Beispiele dafür gibt es zuhauf: Die letzten Kaiser der Römer verbündeten sich mit christlichen Bischöfen gegen die Mehrheit der Bevölkerung, die die alten Götter verehrte. Gewisse Könige in Mexiko unterstützten die spanischen Eroberer, bevor alle Mexikaner ohne Unterschied versklavt wurden. Afrikanische Könige schlossen Verträge mit Seefahrern aus Europa, denen sie gegen Gold und Privilegien ihre eigenen Völker als Sklaven verkauften. So war es auch in Europa: Der Verrat war von langer Hand geplant. Ein Plan der Euro-Technokraten sah die Einschmelzung aller europäischen Völker in einem Völkergemisch vor. Die Verkünder der Korrektheit trafen mit den Führern der an Zahl und Kraft explodierenden Völker des Südens die geheime Abmachung, ein Gebilde namens »Eurabia« zu schaffen. Der Süden besaß Menschen und Energiereserven, die die Technokraten dringend benötigten. Im Gegenzug fand man sich bereit, die Ausbreitung der Mauren und ihrer Religion in Europa zu unterstützen. Selbst als dieser Plan zu Massenmorden, Unruhen und Bürgerkrieg führte, ließ die herrschende Kaste nicht ab von ihrer wahnsinnigen Idee. So nahm, gefördert von den Eliten, die Bevölkerung der Mauren, Afrikaner und Asiaten ständig zu. Mit sich brachten sie ihre Religion der Wüste, die grausam und hart war und die schon seit langem die Herrschaft über die ganze Welt anstrebte. Sie forderte von den Einheimischen Unterwerfung. Die Europiden, innerlich hohl, setzten ihr kaum noch Widerstand entgegen.

Der spirituelle Selbstmord ist die hintergründigste und dennoch für uns Heutige wohl plausibelste Theorie, denn sie bezieht sich nicht nur auf den vitalen oder mentalen Menschen, sondern schaut tiefer in die Kräfte der spirituellen Welt. Was uns heute klar erscheint, war damals nur dunkel und wie in einem Spiegel zu sehen. Diese Theorie besagt, dass die Europiden an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte aus eigenem Willen und voller Hochmut ihren Gott verließen, ja ihn töteten, wie es ein Philosoph metaphorisch beschrieb. Auf den Gottesmord folgte der Selbstmord. Die Europiden hatten ihren Gott verlassen, doch dann verließ er sie und machte den Weg frei für einen anderen, grausamen Gott, der mit den fremden Völkern kam. Und sie wehrten sich nicht, ja, die herrschenden und gebildeten Klassen gingen als erste zu dem neuen Gott über. Es war eine Krankheit zum Tode, sie glaubten fest an ihren Untergang. Sie wollten fallen – und sie sollten fallen.

Wir wissen, dass sich die vielfältigen Völker in der Spätzeit zu einer politischen Union zusammengeschlossen hatten. Diese Union zählte um das Jahr 2000, zur Zeit ihrer größten Ausdehnung, über zwanzig verschiedene Völkerschaften und Sprachgebiete. Von diesen waren nach den Bürgerkriegen noch sieben übrig, die nun zusammengedrängt in verschiedenen Territorien des Westens lebten. Die freien Staaten Osteuropas, die sich rechtzeitig von der Union getrennt hatten, blieben von den unheilvollen Entwicklungen verschont. Europa teilte sich wieder entlang alter Linien.

Inzwischen hatten sich die Völker in Afrika und Asien mit ungeheurer Geschwindigkeit vermehrt und suchten nach neuen Lebensräumen. Als Wüsten und Steppen sich ausdehnten, begannen sie zu wandern: Millionen setzten sich in einem nicht mehr abreißenden Strom in Bewegung, um zu Wasser und zu Lande in das noch reiche Europa zu gelangen. Heerscharen von Fremden standen nun vor den Toren und begehrten Einlass, erst friedlich, später mit Gewalt. Den Europiden nützten ihre Friedensappelle nichts mehr, sie waren reif zum Untergang.

In jener Zeit also lebte Lukas Lidenbrook, der Verfasser der folgenden Aufzeichnungen, der uns einen authentischen, wenn auch subjektiven Bericht aus dem Jahr 2046 gibt, dem Jahr des Untergangs der letzten Staaten des Westens. Die Zunft der Historiker hat sich darauf geeinigt, dieses Jahr als Epochenwende zwischen der Spätzeit und dem Beginn des Mittelalters anzusetzen.

Die Endzeit Europas und die Wiedergeburt der Magie

Da die eurokratischen »Fürsten des Fortschritts« offenbar ungeheuere Schulden angehäuft hatten, die von einem gewissen Zeitpunkt an niemals mehr rückzahlbar waren, fiel das Finanzsystem der Union im Jahr 2021 über Nacht wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das war das Ende der reichen Epoche. Während der folgenden Inflation und Depression brach der Gegensatz zwischen der verarmten Bevölkerung und den Oligarchen auf, die parasitär die ganze Gesellschaft überwuchert hatten. Gleichzeitig wurden die Kämpfe zwischen den Einheimischen und den bereits in großer Zahl eingewanderten radikalen Mauren schärfer ausgetragen. Es begann eine Zeit der Wirren. Überall in Europa brachen Aufstände aus, es kam zu Protesten, Besetzungen und Plünderungen, die nicht mehr enden wollten. Die Demokratien zerfielen und es schlug die Stunde der Demagogen. Fast unmerklich glitt ein Land nach dem anderen in einen erst unterschwelligen, dann offenen Bürgerkrieg mit immer undurchschaubareren Fronten und Allianzen.

Diese Kämpfe verliefen in Wellen und führten zur Bildung separater Zonen und Territorien in den Städten und Stadtlandschaften. Clans errichteten regelrechte Verbrecherprovinzen, Industrie und Landwirtschaft lagen danieder, ganze Regionen wurden ausgeplündert und verlassen, die staatlichen Ordnungen lösten sich auf.

Die Mauretanier, Eurabier und Tataren erklärten nun einige Territorien zu unabhängigen Gottesstaaten. Die Autochthonen flüchteten oder wurden vertrieben, andere konvertierten und lernten, unter dem neuen Gott zu leben. Die Herrscher der Union erkannten die neuen Emirate sofort an, ja, die Eurokraten verbündeten sich sogar mit ihnen, denn ihr wahnsinniges Ziel war es, die alten Nationen Europas aufzulösen, einzuschmelzen, in eine gesichtslose Masse zu verwandeln. Nun zerfiel die Union in einen Flickenteppich verschiedener Territorien, zwischen denen mehr oder weniger offener Bürgerkrieg herrschte. Die Lage war über viele Jahre völlig unübersichtlich und Millionen von Europiden wanderten aus, während hunderttausende streng gläubige und hoch motivierte junge Glaubenskrieger nach Europa strömten.

Im Jahr 2028 stellte der Hohe Kommissar Batista von der Festung Brüssel aus mithilfe seiner Truppen die Herrschaft über die Rest-EU wieder her. Über die verarmten Länder errichtete er nun eine zentralistische und autokratische Militärdiktatur. Er erklärte sich zum Hochkommissar aller europäischen Regionen, zum »Freundlichen Führer« auf Lebenszeit. Viele Menschen erhofften sich einen wirtschaftlichen Aufschwung, doch stattdessen entstand ein totaler Staat. Moderne Überwachungstechnik und Gesinnungskontrolle waren in dieser totalen Demokratie genauso effektiv wie neurologische Manipulation und subtiler Terror. Das System verfolgte alle politischen Gegner als »Rechtsabweichler«, und die Lager füllten sich schnell. In den folgenden Jahren wurde die extrem vereinfachte Kunstsprache Multilangue entwickelt und als Amtssprache in allen Ländern der Union eingeführt. Die alten Muttersprachen konnten nur noch im Verborgenen benutzt werden. Dann wurde der so genannte Scharia-Sozialismus eingeführt und alle nichtmaurischen Religionen, auch die christliche, unterdrückt.

Nun formierten sich die Autochthonen in denjenigen Regionen, die von der Masseneinwanderung noch weitgehend verschont geblieben waren. Sie gründeten Heimatmilizen und Schattenarmeen, die diese Regionen verteidigen sollten. Schon am Ende der Goldenen Zeit hatte die junge Generation erkannt, dass sie keine Zukunft mehr haben würde, dass ihr die Eurokraten, die Tyrannen der Korrektheit, alles rauben würden: Zukunft, Identität, Freiheit, ja sogar die Länder ihrer Vorfahren. Und ihr dafür drückende Steuern, Unsicherheit und Gewalt gaben. Unter der Eurokratie bildeten sich nun viele neue Gruppen und Bewegungen, die sich als Widerstand im Untergrund organisierten. Sie hatten viele Namen: »Résistance«, »Reconquista«, »Identitäre«, »Waldgänger«. Auf ihrer Seite standen Einwanderer aus den Vereinigten Amerikas, Russland und Asien und viele Flüchtlinge aus den Gottesstaaten. Die Eurokraten dagegen, meist Alt-Sozialisten, Sozialtechnokraten und Scharia-Ökologen, vereinigten sich mit militanten Gruppen im Kampf gegen Tradition und die alte Kultur. Außerdem kauften sie Söldner aus Afrika und Asien, die sie aus den dortigen Bürgerkriegen abzogen und denen sie in Europa Macht und Gold versprachen.

Die Partisanen hingegen lebten in den Wäldern, aber auch in den Großstadtdschungeln und waren entschlossen, die Freiheit wiederherzustellen und die zentralistische Diktatur der Gouverneure und Kommissare zu stürzen. 2029 erklärten alle autochthonen Regionen den Austritt aus der Union und gründeten die Konföderation Freies Europa. Die Aufständischen eroberten Städte zurück, andere verschanzten sich auf dem flachen Land. Als die Zentralregierung ihre Armeen entsandte, brach der Bürgerkrieg aus. Die Union hatte überlegene Waffensysteme, aber ihre Armee bestand zum Großteil aus fremden Söldnern. Der Bürgerkrieg wurde verbissen und grausam geführt, er stand nur anfangs unter politischen, später immer mehr auch unter religiösen Vorzeichen. Er verwüstete Länder und Städte, dann wurde er zum Religionskrieg zwischen Mauren und sogenannten Ungläubigen.

Das mächtige Kalifat sah nicht lange untätig zu und reagierte auf ein gemeinsames Hilfeersuchen der Zentralregierung und der Emirate mit der Entsendung einer großen Invasionsarmee. Der mauretanische Staatenbund Nordafrikas folgte mit einer zweiten Invasion von Süden her über das Meer. Nun steigerte sich der Bürgerkrieg zum Krieg der Völker. Die fremden Armeen fielen in Europa ein, begeistert empfangen von ihren Glaubensbrüdern, verzweifelt bekämpft von den Rebellen. Die Armeen Mauretaniens kamen bis an den Rhein und die Armeen des Kalifats erreichten die Donau. Die Invasion führte fast zu einem Weltkonflikt, der nur in letzter Minute verhindert wurde durch den Verzicht der Vereinigten Amerikas, den Partisanen beizustehen. Dies war ihr Ende, es siegten die Eurokraten und die mit ihnen verbündeten maurischen Armeen, die letzten Partisanen legten die Waffen nieder. 2036 wurde der Frieden von Vijana/Wien geschlossen.

Europa wurde nun geteilt: Die Einwanderer bekamen große Territorien, neue Emirate, für die Einheimischen wurden so genannte Homelands eingerichtet. Der Polnisch-Baltische Bund, Hungaria und Transylvania stellten ihre großen Länder im Norden und Osten unter den Schutz des Russischen Reiches.

Die Bevölkerung der indigenen Europiden ging immer weiter zurück. Etwa ab 2036 waren die Indigenen wohl insgesamt in der Minderheit. Millionen flüchteten nach Amerika und Ostasien, was zu einer Aufblühen der Länder rund um den Pazifik führte, während Europa dunklen Zeiten entgegen ging. Ab 2036 herrschten die Gouverneure in den Nachfolgestaaten der EU als Diktatoren, die Industrie war zerstört, die Bevölkerung verarmte. Das Kalifat hingegen, das nun von der Donau bis zum Persischen Golf reichte, blühte auf, hier schossen Millionenmetropolen empor, denn das Öl brachte Reichtum.

2036 war auch das Jahr der Kulturrevolution, es kam zum großen Bildersturm. Was nicht schon während des Bürgerkrieges zerstört worden war, wurde nun systematisch vernichtet. Fanatische Garden stürmten Museen, Bibliotheken und Universitäten, die meisten Kirchen gingen in Flammen auf, Malerei, Musik und Theater wurden nun endgültig verboten. Zehntausende von Büchern landeten auf dem Index der verbotenen Schriften und wurden verbrannt. Der Bevölkerung wurden strikte religiösökologische Lebensregeln aufgezwungen. Es schien dabei hauptsächlich um Moral, Kleiderordnung, Geschlechtertrennung, Energie, Klima und Genussmittel gegangen zu sein. Außerdem um das Einhalten unzähliger Gedenktage und das ständig wiederkehrende Bekennen historischer Schuld.

Es regierte also weiter die Abschaffung der Vernunft oder die »korrekte Doktrin«, aber eigentlich regierte nun nur noch der Mangel. Die Jahrzehnte jener Endzeit muss man sich als traurige Epoche des Niedergangs vorstellen. Der Glanz des alten Europa war nun vergangen, die letzten Nachkommen der stolzen Völker lebten in verkommenen Städten und Favelas; die Versorgung funktionierte nicht mehr, Nahrungsmittel, Medikamente, Treibstoff, Elektrizität waren rationiert und mussten importiert werden. Allein der blühende Schwarzmarkt garantierte noch das Überleben. Nur der Tourismus aus den Gottesstaaten brachte Geld ein, wobei die Prostitution und der reichlich erhältliche illegale Alkohol wohl die größte Rolle spielten. Es galten zwar strenge Gesetze, aber Prostitution, Alkohol und Glücksspiel wurden geduldet. Dies zog Scharen vergnügter Mauren an, und die Homelands erlebten ihre letzte, grelldüstere Blüte als Bordelle.

Schon während der Großen Depression und noch lange vor dem Bürgerkrieg begann der Wiederaufstieg der Religionen. Es bildeten sich hunderte neuer Kulte, Wanderprediger und Untergangs-Propheten traten auf, Trance, Ekstase und Raserei bemächtigten sich der Massen. Religionen aus aller Welt wurden importiert, und immer mehr fremde Götter kamen nach Europa. Es wuchs die Sehnsucht nach Erlösung, nach geheimen Wissen und nach magischer Macht. Ein Tanz alter und neuer Göttinnen und Götter, hoher und niederer Dämonen begann und erfasste die verarmten und verwirrten Menschen. Man dürstete nach Antworten, nach Erkenntnissen, nach Heilung und spirituellen Höhepunkten und man suchte nach Wegen in andere Welten.

Außerdem drang die mächtige Religion der Mauren in die Metropolen Europas ein und verbreitete sich schnell, durch Mission wie durch Terror. Die alte Religion der Römer stand dem hilflos gegenüber, denn sie war innerlich ausgehöhlt. Kaum mehr einer der Christen glaubte noch an die Schriften der Gründer. Nachdem ihr letztes Oberhaupt, der »Pontifex«, 2036 ermordet wurde, wurden die Christen zu einer verfolgten Minderheit, die in ständiger Gefahr lebte.

Im gleichen Maß, wie sich die neue Barbarei verfestigte, wuchsen Gegenbewegungen, die versuchten, die schwindende geistige Substanz festzuhalten und in alten oder neuen Formen wieder zu beleben. Mysterienreligionen knüpften an Religionen der Vorzeit an, übernahmen Rituale und Philosophien aus Asien oder begründeten neo-gnostische Kulte, die mit Außerirdischen, Besuchern aus dem All und Planetengöttern zu tun hatten.

Die Enttäuschung über das Versagen der monotheistischen Religionen in den Religionskriegen war grenzenlos: Niemand glaubte mehr freiwillig an einen Gott, der zu unsäglichem Blutvergießen aufrief oder fern im Himmel residierte, während seine Anhänger sich gegenseitig umbrachten. Nach dem Zwischenspiel des Nihilismus verstanden immer mehr Menschen, dass das einzige Gegengift gegen die monotheistischen Herrschaftsreligionen die direkte mystische und gnostische Erfahrung war.

Deshalb wurde das Verlangen nach direkter Erfahrung übermächtig. Wagemutige »Reisende« begaben sich wieder auf den uralten »Weg nach Innen«, in die Psychosphäre, wo sie echte Erkenntnis zu finden hofften. Zu ihnen gehörte auch ein geheimnisvoller Bund, der unter vielen Namen bekannt war. Zuerst nannte er sich »Bund vom Amazonas«, dann »Psychonauten« und »Krieger des Lichts«.

Die Amazonier waren ein magischer Geheimbund. Sie waren gewaltlos, aber entwickelten offenbar auch Techniken des magischen Kampfes. Ihre Musik und ihre Schriften zirkulierten im Untergrund, von den etablierten Mächten wurden sie wegen »Gotteslästerung« und »Zauberei« verfolgt. Sie selber sahen sich als Reisende und Entdecker in den inneren Räumen und Pioniere des Bewusstseins. Aus heutiger Sicht und mit dem Abstand von mehr als einem Jahrtausend erkennen wir in ihnen bereits die ersten Vorläufer unseres weltumspannenden Ordens von Hyperborea. Sie öffneten als erste Pioniere die Pforten der Zeit und gelangten in die todesfreien Zonen. Sie begannen genau in der Zeit die Spezies zu transzendieren, als die alte Kultur Europas im Sterben lag. Sie begründeten neue Ordnungen, als die alten zerbrachen. Da sie ahnten, dass ihre Welt bald vergehen würde, bewahrten sie viele Überlieferungen in geheimen Höhlen wie in Castel Fantome und retteten sie so durch die dunklen Jahrhunderte.

Die letzten Bewohner Westeuropas kehrten nach dem Jahr der Schwarzen Sonne, einem mysteriösen Eissturm, in ihre verödeten Territorien zurück, aus denen die Fremden geflohen waren. Dort führten sie als Bauern und Siedler ein einfaches Leben; ihre Städte bauten sie nicht wieder auf und die alte Höhe der Zivilisation erreichten sie nicht mehr. Die christlichen Nationen in Osteuropa standen noch länger in Blüte. Die Völkerwanderungen führten jedoch später zu immer neuen Wellen von Krieg und Plünderung, Zerstörung und Vertreibung, und es bleibt die nüchterne Tatsache, dass die letzten Nachkommen dieser stolzen Menschen als Gefangene in den Steppen des Kalifats verschwanden, als Sklaven nach Afrika gebracht wurden oder sich mit den Eroberern vermischten, so dass wir sagen können: am Anfang des 23. Jahrhunderts gab es keine Europiden im alten Sinne mehr. Ihre Sprache, das Multilangue, wurde nur noch in abgelegenen Regionen gesprochen, aber immer mehr gemischt mit Türkisch, Arabisch, Urdu.

Die Schrift des Lukas

Das Idiom Multilangue haben unsere Sprachwissenschaftler entschlüsseln können, denn ist es eine sehr einfach gebaute Vulgärsprache mit eingeschränktem Vokabular. In ihr ist die Schrift des Lukas verfasst, die wir hier vorstellen. Sie wurde im Jahr 2046, dem Jahr des Untergangs der letzten Staaten des Westens verfasst und enthält eine Chronik persönlicher Erlebnisse und historischer Ereignisse von unschätzbarem Wert für die Wissenschaft. Außerdem gewährt sie uns einen Blick in die Frühzeit des Bundes vom Amazonas.

Wer war der letzte Sprecher des alten Multilangue, der lingua franca Europas, wie es auch genannt wurde? Natürlich wissen wir es nicht. Für uns ist es der Chronist Lukas, der uns sein Tagebuch überliefert hat, und der später zum Amazonischen Padrinho des Ostens gewählt wurde. Lukas entkam, wie er selber berichtet, zusammen mit anderen Mitgliedern des Bundes aus einem zusammenbrechenden Homeland in der Mitte Europas und floh in die Berge des Ostens. Dort, inmitten tiefer Wälder, lebte und lehrte er wohl noch einige Jahrzehnte. Er führte das Leben eines Gelehrten und war ein Anführer des Bundes. Wir wissen nicht, was danach passierte, irgendwann wurden die Katakomben versiegelt und die letzten Bewohner verließen die Burg. Plünderer haben wahrscheinlich vieles zerstört, fanden aber glücklicherweise nie den Zugang zu der unterirdischen Stadt.

Lukas verfasste seinen Erfahrungsbericht in dem dramatischen Jahr 2046, als die unglücklichen Staaten des Westens untergingen. Er lebte in einer Metropolis, die an einem der großen Ströme im Zentrum des Kontinents lag. Sie war offenbar Hauptstadt und Verwaltungszentrum des Homelands Austrasia, des ehemaligen westlichen Deutschlands. Wo sie lag, kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. Wir wissen aber, dass in einer Distanz von etwa drei Tagereisen die alte Kaiserstadt Vijana lag, die zur damaligen Zeit bereits zu den Emiraten gehörte. Heute verläuft dort der Tiefseegraben am Fuße der alpidischen Inseln. Etwa sieben Tagereisen östlich lag das unabhängige Gebiet Transylvania mit den Bergzügen der Karpaten, den heutigen Inseln.

Wir wissen aus seinen Aufzeichnungen, dass Lukas zur Zeit der Niederschrift 30 Jahre alt war. Er absolvierte eine technokratisch-politische Ausbildung im Sinne des »Neuen Menschen«. Er erlebte die Kulturrevolution und arbeitete sich im Apparat hoch bis in den inneren Zirkel der Macht. Hier bekam er erstmals Zugang zu verbotenen Büchern der Vergangenheit, wodurch bei ihm offenbar eine geistige Wandlung einsetzte.

Seine Aufzeichnungen erlauben uns nicht nur authentische Einblicke in die politischen und kulturellen Zustände der damaligen Zeit, sondern auch in die Psychologie eines Vertreters der Funktionärskaste, der sich erst zum Renegaten, dann zum Widerstandskämpfer, schließlich zum geistigen Krieger wandelt.

Diese Tagebücher stellen wir hier zum ersten Mal in – wie wir hoffen – gelungener Übersetzung vor. Sie sind mehr als eine bloße Schilderung der äußeren Ereignisse von 2046, als die letzten Homelands der Einheimischen zusammenbrachen. Sie überliefern uns die einzigen erhaltenen Fragmente der frühen ersten Fassung der »Illuminationen«, der Chroniken der Psychonauten. Und sie eröffnen uns einen Blick auf die Denkweisen und Gefühle der damaligen Menschen. Welche Ängste, welche Hoffnungen bewegten sie? Ahnten sie, was auf sie zukam? Welche Erinnerungen hatten sie noch an ihre Vergangenheit?

Der Schriftenfund von Carpatis gibt uns eine Fülle neuer Antworten. Und viele Bücher und Fragmente, in alten Sprachen und noch dunkel, harren der Entschlüsselung. Was werden sie uns in der Zukunft offenbaren?

Während die übrige Welt schnell voranschritt, begann in Europa eine Zeit der Restauration, die in ein neues Mittelalter mündete. Durch die Steppenlandschaften von der Donau bis zur chinesischen Dsungarei, von den Alpen bis zum Hindukusch zogen die Stämme der Mauren, Berber und Tataren. Sie kämpften um die immer schmaler werdenden fruchtbaren Länder, um Wasser und um Nahrung. Die Sklaverei kehrte zurück, Sippen und Clans regierten im Geiste ihres Propheten. Von der stolzen Kultur Europas blieb nichts als traurige Reste, durch die Wölfe und Schakale strichen. Der Wüstenwind wehte durch die Ruinen der einst herrlichen Dome und Paläste, in denen nun nachts die Karawanen rasteten. Der Dschungel überwucherte Bauwerke, deren Sinn niemand mehr verstand. Es war das Ende eines Zeitalters – und der Beginn seiner Unsterblichkeit im Reich der Legenden. Was uns Heutigen von dieser ebenso genialen wie verblendeten Rasse bleibt, sind einige wenige Reste ihrer Baukunst, Fragmente ihrer Literatur und Grundlagen der Wissenschaft und Technik, ohne die auch unsere Welt nicht denkbar wäre.

ERSTER TEIL:

WIR SIND DIE TOTEN

»Die Katastrophen prüfen, in welchen Maßen Menschen und Völker noch original gegründet sind, ob wenigstens noch ein Wurzelstrang unmittelbar das Erdreich aufschließt – daran hängen Gesundheit und Lebensaussicht jenseits der Zivilisation…«

(Aus Ernst Jünger: »Der Waldgang«, Frankfurt/Main, 1952)

Der Codex

6. Januar 2046

Mitten in der Nacht erwachte ich vom Heulen ferner Sirenen. Und wieder überkam mich diese unendliche schwarze Leere, wie so oft in letzter Zeit. Sie wächst, und sie zehrt an mir. Weil ich mit niemandem sprechen kann, keinem Menschen vertrauen kann. Deshalb habe ich mich heute Nacht entschlossen, aufzuschreiben, was mich bewegt. Vielleicht kann ich so das Nichts besiegen.

Diese Leere ist wie ein unheimlicher Sog. Als sei ein unsichtbarer Feind ganz nah, als sei ich in ein Niemandsland zwischen zwei Fronten geraten. Das Fluidum des Lebens entweicht, und nur die toten Gegenstände bleiben sichtbar. So müsste sich der letzte Mensch auf Erden fühlen. Dort, wo die Leere ist, werden die Schatten länger und dichter. Als würden sie leben.

Sind die Schatten in mir oder außer mir? – Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir in dunklen Zeiten leben – hier in der Millionenstadt Metrocity Grande, der Hauptstadt des EU-Nachfolgestaates Austrasia in der Mitte Europas. Obwohl ich im exklusiven District Norte wohne, dringt der Lärm von Metrocity bis in mein Apartment. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich auf schmutzige Wohntürme, die in langer Reihe in den grauen Wintermorgen ragen. Hier und da leuchten trübe Lichter hinter den Fenstern auf – es scheint heute Energie zu geben –, und unten im alten Park lodern Feuer, um die sich die Straßenmenschen scharen. In der Ferne erstrecken sich die Favelas bis zur großen Mauer, die unser Territorium vom benachbarten Emirat trennt.

Mein Privatname war früher Lukas Lidenbrook, mein Gender-Neutralname ist M-3001. M, weil ich zur privilegierten Kaste der Mentoren gehöre. Wir Mentoren wurden ausgebildet, um immun zu sein gegen die gefährlichen Gedanken der Vorfahren, gegen die vergifteten Bilder und Schriften der alten Zeiten, die in den unterirdischen Geheimarchiven und Datenbanken des Ministeriums schlummern. Ich aber bin ein Abtrünniger meiner Kaste, ein heimlicher Renegat der Partei. Ich führe ein gefährliches Doppelleben, und nur meine Stellung im Apparat und meine hochentwickelten psychomimetischen Fähigkeiten der Tarnung, die ich lange an der Kriegsakademie trainiert habe, schützen mich noch.

Meine Eltern starben kurz nach dem Sezessionskrieg und ich kam in ein Umerziehungslager. Später studierte ich Multilangue, Codex und Neue Doktrin und gehöre nun zum inneren Zirkel der Partei, zu den Reprogrammierten von Austrasia. Wir sind die anonymen und gesichtslosen Diener des Codex Mental, der unsere Verfassung und unser Gesetzbuch zugleich ist. Der Codex wurde von unseren Vorgängern erschaffen als das große Heilmittel gegen die Gifte der Geschichte und als Damm gegen die trübe Flut der Erinnerungen. So sagt es jedenfalls unsere allmächtige »Partei der Neuen Menschen«.

Schwarze Hubschrauber kreisen heute morgen über der Stadt. Wahrscheinlich wieder wegen eines Zwischenfalls am Grenzwall, der fern am südlichen Horizont das Häusermeer zerteilt. Er ist bewehrt mit Wachtürmen, Detektoren und Kameras, denn niemand soll unser Territorium verlassen – und niemand eindringen können. Jenseits der Mauer kann ich den anderen Teil der Stadt erkennen: dort ragen Minarette in den Himmel, neben den stolzen Glaspalästen orientalischer Firmen und Hotels, die nachts in vielen Farben angestrahlt werden.

Früher einmal hieß diese Stadt anders, aber der alte Name wurde in unserer Einheitssprache Multilangue durch einen Neutralnamen ersetzt. Denn die alten Namen sind belastet mit der Geschichte, von der wir uns endgültig losgesagt haben. Wir leben nur noch in der Gegenwart, von der Vergangenheit wissen wir nicht viel, und eine Zukunft haben wir nicht mehr. Ich ahne, dass unser Zeitalter bald enden wird. Wir, die letzten Europäer, leben im Zwielicht am Abend unserer Geschichte, und die Schatten werden von Tag zu Tag länger. Die Anderen, die nach uns kommen werden, warten schon lange auf ihre Stunde.

Das gesellschaftliche Klima in unserer totalitären Demokratie ist aufgeladen mit Misstrauen und Lügen. Die Wahrheit, über die niemand offen zu sprechen wagt und die doch jeder täglich am eigenen Leibe erfährt, wird nur notdürftig von der Propaganda verschleiert: Hunger, Gewalt, Prostitution, korrupte Milizia und Securitate, Energieknappheit. Immer wieder drosseln die Emirate die Nahrungs- und Energiezufuhr, um Tributzahlungen von uns zu erpressen oder politischen Druck auszuüben. Und unsere Führer, allen voran der Gouverneur Hagen, haben uns längst verraten und unterwerfen sich willig den Forderungen der mächtigen Nachbarn.

Ich will von unseren letzten Tagen berichten, damit die Späteren, so sie denn jemals diese Zeilen lesen werden, wissen, wie wir lebten, was wir dachten und wie unser Ende war. Ich spreche vom Ende, denn wir befinden uns seit langem in einer tödlichen Umklammerung. Jeder weiß, dass die Armee des Kalifats vor zwei Jahren von der Enklave Berlin aus die letzte Straße nach Polen sperrte. Seitdem sind wir von der Polnisch-Baltischen Union abgeschnitten. Allerdings weiß kaum jemand, dass auch die Mauretanier im Süden seit Monaten Truppen rund um unser Homeland zusammenziehen, so wie auch um die anderen Homelands der Indigenen in Europa. Wir befinden uns im Belagerungszustand.

7. Januar

Ich verfüge über diese geheimen Informationen, denn ich arbeite im Ministerium des Codex und Medien, kurz Mincom, einem schwarzen Stufenturm im Nachkriegsstil des Neo-Khmer. Er überragt den zentralen »Platz der Kulturen der Welt« und ist zwanzig Stockwerke hoch.

Heute Morgen war die Prozedur beim Einchecken wie immer lästig und zeitaufwendig: Vor dem Augenscanner wartete eine lange Reihe von Mitarbeitern. Es folgten die Fingerabdrücke, die Stimmkontrolle und die Durchleuchtung, der Kartenleser und die geheime PIN. Endlich betrat ich das geräumige, von Kameras überwachte Foyer. Überall war Milizia in ihren schwarzen Uniformen zu sehen. Der Aufzug summte nach oben, während leise Musik erklang. Meine Abteilung, der Datenschutz (wir schützen nicht die Daten, sondern wir schützen die Gesellschaft vor den Daten), befindet sich im 13. Stock und ist klein, denn sie befasst sich nur mit der Säuberung alter Daten aus der Vergangenheit, für die sich nur noch eine Minderheit interessiert. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist süchtig nach Entertainment und virtuellen Realitäten, besonders den Traummaschinen der neuesten Generation, Phantom 4 und 5. Sie erzeugen künstliche Welten, die realer sind als die Wirklichkeit und die Spieler in kürzester Zeit abhängig machen. Man hörte schon von Phantom-Spielern, die wochenlang in ihren Maschinen blieben, bis sie an Schwäche oder Hunger starben. Niemand stört sich daran, solange nur die Bevölkerung ruhiggestellt und betäubt ist.

In den ersten zehn Stockwerken des Mincom-Turms befinden sich die Behörden des Äußeren Codex: Volksaufklärung, Infotainment und Communication – kurz Infocom – mit Studios und Redaktionen, die TV und Internet produzieren. Täglich werden dort Begriffe und Sätze entwickelt, die als klare Vorgaben für alle Journalisten unseres Staates verbindlich sind. Über ihnen liegen die Büros des Inneren Codex: Datenschutz und Reinigung, Memory und Selection.

Das Problem ist, dass diese Abteilungen innerhalb Mincom seit langem verfeindet sind. Die Äußere, der alle Studios und Redaktionen des Infotainment-Sektors unterstehen, wird geleitet von dem fanatischen Propagandaminister M-001, Carlos Radek, einem der Verfasser des ersten Codex. Er ist ein persönlicher Vertrauter von Gouverneur Hagen und wird von manchen als dessen Nachfolger gehandelt. Unsere Abteilung hingegen untersteht M-002, Alexis Sakharov, der dem Partei-Fanatismus kühl gegenübersteht und dessen hauptsächliches Bestreben es ist, den unermesslichen Datenspeicher, die Archive im Keller des Gebäudes, zu erhalten und zu schützen. Im uns benachbarten Turm Minint, dem Ministerium des Inneren, befindet sich die Exekutionsbehörde für Demokratie und Toleranz, die eine eigene Geheimpolizei unterhält, die fast allmächtige »Securitate«. Sie wurde von Radek in seiner Zeit als Brigaden-Chef nach dem Vorbild der gut organisierten Religionspolizei der Gottesstaaten aufgebaut, bevor er in die Volksaufklärung wechselte.

Wer gegen den Codex verstößt, landet sehr schnell wegen Hassverbrechen wie Volksverhetzung und Rassismus oder Verstößen gegen Toleranz und Respekt in den Zellen der Securitate. Wer der Blasphemie oder »Zauberei« – wie es neuerdings heißt – überführt wird, kann sogar an religiöse Gerichte auf der anderen Seite des Zauns ausgeliefert werden. Dies kommt praktisch einem Todesurteil gleich; nur wenige kehrten von dort je zurück. Denn in den Gottesstaaten herrscht das religiöse Recht mit seinen grausamen Strafen. Dies ist ein dunkles Kapitel, das niemand anspricht, denn in der Union von Las Americas, dem Zusammenschluss der USA, Kanadas und der lateinischen Länder, wird so etwas natürlich sofort zu Propagandazwecken gegen uns missbraucht. Die Amerikaner versuchen immer wieder, Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen einzuschleusen, um nach vermissten Landsleuten zu suchen; ja, sie prangern die Zustände in Europa generell an. Russland hingegen hat uns aufgegeben und sichert seine Grenzen und die der östlichen Freistaaten. Nach Meinung unserer Kommissare und Volksaufklärer gibt es Verbrechen gegen die Menschlichkeit allein in Amerika und Russland. Immerhin haben wir Europäer eine Verfassung, die auf 2000 Seiten alle Rechte und Pflichten der Bürger darlegt, während die amerikanische nur 14 Seiten kurz ist, dachte ich, als ich die Schwingtür mit der zerbrochenen Scheibe zum 13. Stockwerk öffnete.

Ich hatte kaum den langen Korridor betreten, als auch schon mein Kollege, der Administrator 90666, Grün, aufgeregt auf mich zukam.

»Guten Morgen, Mentor, kommen Sie bitte in mein Büro, schon wieder eine neue Direktive aus Brüssel!«

Grün hechelte, und winkte mich in sein Büro. Seine großen dunklen Augen quollen hervor, so wie immer, wenn er entsetzt oder betroffen war. Er war ein kleiner, gefährlicher Mann, der typische Fanatiker und Denunziant.

»3001, hören Sie: Es sind wieder Raubdrucke aufgetaucht. Die ganzen Sachen, die in den letzten Jahren aus dem Verkehr gezogen worden sind, Sie wissen schon. Jetzt taucht der Dreck als Raubkopie auf dem Schwarzmarkt auf. Brüssel will sofort Erklärungen: Wo sind die undichten Stellen? Haben wir nicht alles erfasst und vernichtet? Ich will«, seine Stimme senkte sich und bekam etwas Verschwörerisches, »ich will eine schöne Aktion für die Medien, eine große Verbrennung, etwas, das wirklich überzeugt, und zwar so schnell wie möglich!«

Unser Ministerium ist zuständig für das Homeland Austrasia, das zu den EU-Nachfolgestaaten gehört, und untersteht daher direkt dem Hochkommissar für Volksaufklärung in der Festung Brüssel. Von dort kommen ständig neue Gesetze und Richtlinien, die umgehend umgesetzt werden müssen. Ich entgegnete Grün mit geheucheltem Eifer:

»Ich werde gleich die schwarzen Listen checken, 366. Wir müssen jeden Verlag, jede Bücherei, jeden Markt kontrollieren, ob nicht doch noch irgendwo vergessene oder geheime Restbestände existieren. Außerdem muss die ›Freiwillige Mithilfe der Menschen‹ in allen Medien aktiviert werden: Kampf dem Hass, Aufstand der Anständigen, Gesicht zeigen, Metrocity steht auf – Sie wissen schon. Wir brauchen noch viel mehr Hinweise aus der Bevölkerung!«

»Den Raubkopierern muss man auf die Finger klopfen. Das muss auch in den Medien kommuniziert werden!« sagte Grün drohend, »oder sind es die verdammten Amerikaner, die immer wieder die Internet-Bibliotheken auffüllen, die wir löschen? Aber wie kommen sie durch unsere Sperren? Hier muss die EU-Netzpolizei eingeschaltet werden!«