Von Menschen - Laurent Mauvignier - E-Book

Von Menschen E-Book

Laurent Mauvignier

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Beschreibung

Ein unauffälliges Bergdorf in Frankreich, ein Geburtstagsfest, ein zu teures Geschenk und ein Verdacht. Eine simple Geste legt frei, was jahrzehntelang beschwiegen und verleugnet, aber nie vergessen wurde. Zu Beginn scheint es ein alltägliches Familiendrama. Bernard – Mitte 60, Alkoholiker, mittellos und im Dorf verschrien – schenkt seiner Schwester Solange eine goldene Brosche zum Geburtstag. Doch woher hat er das Geld? Die Verdächtigungen schlagen in Aggression um, und Bernard seinerseits lässt seine Wut an den algerischen Nachbarn aus. Nur sein Cousin Rabut, mit dem er Jahrzehnte zuvor in Algerien stationiert war, kennt die entsetzlichen Gründe dafür. Er teilt seine Erinnerungen an ungelebte Liebesgeschichten und an Hitze, Gewalt und Verzweiflung im felsigen Hochland, wo völlige Sinnlosigkeit und blanke Brutalität sie verstummen lassen. Es gibt keine Worte für das, was sie dort sehen und tun, für das Grauen des Krieges. Auch vierzig Jahre später nicht. Von diesem Schweigen handelt der Roman: vom kollektiven wie innerfamiliären Schweigen. Mauvignier umkreist die historische und die individuelle Wahrheit seiner Figuren in kunstvoll geflochtenen, atemlosen Sätzen, seine Bilder sind nachdenklich und genau, seine Fragen bleiben offen.

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Ein scheinbar alltägliches Familiendrama. Bernard – Mitte 60, mittellos und im Dorf verschrien – schenkt seiner Schwester Solange eine goldene Brosche zum Geburtstag. Doch woher hat er das Geld? Der Verdacht schlägt in Aggression um, und Bernard seinerseits lässt seine Wut an den algerischen Nachbarn aus. Nur sein Cousin Rabut, mit dem er Jahrzehnte zuvor in Algerien stationiert war, kennt die entsetzlichen Gründe. Er teilt seine Erinnerungen an ungelebte Liebesgeschichten und an Hitze, Gewalt und Verzweiflung im felsigen Hochland, wo völlige Sinnlosigkeit und blanke Brutalität sie verstummen lassen. Von diesem Schweigen handelt der Roman: vom kollektiven wie innerfamiliären Schweigen. Mauvignier umkreist die historische und die individuelle Wahrheit seiner Figuren, seine Fragen bleiben offen.

Laurent Mauvignier

Von Menschen

Roman

Aus dem Französischen von Annette Lallemand

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Und wo hast Du Deine Wunde?

Ich möchte gern wissen, wo sie ist,

wo sich die geheime verwundbare Stelle versteckt hält,

zu der jeder Mensch Zuflucht nimmt, wenn man seinen

Stolz antastet, wenn man ihn kränkt?

Er bläht diese Wunde – die dadurch zum Gewissen wird –

weit auf und füllt sie aus. Jeder Mensch weiß sie zu

ergründen bis zu dem Punkt, an dem er diese Wunde,

eine Art verborgenes und empfindsames Herz, selbst wird.

Jean GenetDer Seiltänzer

NACHMITTAG

Es war schon kurz vor ein Uhr mittags, und er war überrascht, dass nicht gleich alle zu ihm hinschauten, dass man sich nicht wunderte, weil auch er sich Mühe gegeben hatte und eine Jacke trug, die zu seiner Hose passte, ein weißes Hemd und eine jener Krawatten aus Skai, die vor zwanzig Jahren in Mode gekommen und in Ramschläden auch heute noch zu finden waren.

Heute werden sie zugeben müssen, dass er nicht allzu schlecht roch. Sie werden nicht sticheln, er sei wie immer nur wegen des Essens da und habe Glück, diesmal keinen Vorwand suchen zu müssen. Zwar werden sie ihn, wie seit Jahren schon, Feu-de-Bois nennen, aber einige werden sich daran erinnern, dass er, auch wenn er verdreckt rumlief, nach Fusel stank und verwahrlost war, mit seinen 63 Jahren noch immer einen richtigen Vornamen hatte.

Man wird sich entsinnen, dass man in Feu-de-Bois den alten Bernard wiederfinden könnte. Man wird ja hören, dass seine Schwester ihn Bernard nennt. Man wird sich erinnern, dass er nicht immer dieser Typ war, der sich von anderen aushalten lässt. Man wird ihn unauffällig beäugen, um sein Misstrauen nicht zu wecken. Natürlich hat er wie immer denselben gelbstichig grauen Haarschopf, vom Tabak und der ewigen Holzkohle, denselben struppigen und schmutzigen Schnauzbart. Und natürlich auch die kohlschwarzen Punkte auf der Nase, dieser pockennarbigen dicken Nase, rund wie ein Apfel. Und auch die blauen Augen, die rötliche und unter den Lidern aufgequollene Haut. Den stämmigen und vierschrötigen Körperbau. Aber diesmal, wenn man nur genauer hinschaute, würde man im nach hinten gestrichenen Haar die Spuren des Kamms erkennen, das Bemühen um Sauberkeit erahnen. Und sogar feststellen, dass er nicht getrunken hatte und eigentlich auch gar nicht böse aussah.

Man hatte gesehen, dass er sein Mofa wie jeden Tag vor Patous Kneipe abgestellt und erst nach einem Schlenker die Straße überquert hatte, um hierher zu gelangen, in den Festsaal, wo seine Schwester Solange mit uns allen, ihrer Verwandtschaft, aber auch Freunden, ihren sechzigsten Geburtstag und den Beginn ihres Rentnerdaseins feierte.

Und nicht in diesem Moment, sondern erst viel später, als alles vorbei war und man diesen Samstagmittag und den leeren Saal mit seinen Gerüchen nach kaltem Tabak und Wein und den zerrissenen und beklecksten Papiertischtüchern hinter sich gelassen hatte und der Schnee draußen auf der Betonstufe vor dem Eingang die Fußspuren der Gäste, die auf dem Nachhauseweg und daheim diesen sonderbaren Tag besprachen, längst wieder zugedeckt hatte, erst da sollte auch mir jede dieser Szenen wieder so deutlich vor Augen treten, dass ich mich nur wundern konnte, wie präzise mein Gedächtnis sie gespeichert hatte, wie gegenwärtig sie mir waren.

Beispielsweise der Moment, als die Geschenke überreicht wurden: Da hatte ich ihn, der ein wenig abseits stand, beobachtet, wie er ständig etwas in seiner Jackentasche betastete. Diese Jacke hatte ich übrigens noch nie an ihm gesehen, aber ich kannte sie. Will sagen, dass ich ihn sie noch nie hatte tragen sehen, diese, wie man am Kragen sah, mit Wolle gefütterte Wildlederjacke. Sie war ein wenig abgewetzt, und bei längerer Betrachtung war mir der Gedanke gekommen, dass sie wohl einem der Brüder von Solange und Bernard gehört haben dürfte, der ihm für gewisse Handlangerdienste, wenn zum Beispiel ein Ster Holz in die Garage geschafft werden musste, vielleicht aber auch ohne Gegenleistung, alte Kleidungsstücke überließ, die er selbst nicht mehr trug.

Das habe ich mir gesagt, als ich ihn betrachtete, weil er ständig die rechte Hand in der Tasche hatte und mit ihr etwas festzuhalten oder abzutasten schien; zuerst dachte ich an eine Packung Zigaretten, dann aber ging mir auf, dass es das nicht sein konnte, natürlich nicht, weil ich ja gesehen hatte, wie er sie aus der Gesäßtasche geholt und später wieder dort verstaut hatte.

Die Gäste hatten zunehmend lauter gesprochen und gelacht, ein Lachen, das von Mund zu Mund anschwoll, während immer mehr Korken flogen und Gläser beim Zuprosten aneinanderklickten. An Solange waren Dutzende und Aberdutzende von Freunden und Bekannten vorbeidefiliert, Gesichter, so vertraut wie die auf den Fotos im verglasten Aufsatz ihrer Wohnzimmeranrichte.

Komm, Solange, stoß mit uns an.

Und Solange hatte mit angestoßen.

Na los, Solange.

Und Solange hatte gelächelt, geplaudert, und auch sie hatte laut gelacht, und dann hatte man fast vergessen, dass sie da war, weil man sie ja von Grüppchen zu Grüppchen schlendern ließ, denn es hatten sich, je nach Zuneigung und Bekanntschaftsgrad, Grüppchen gebildet, und einige gingen von einem zum anderen, während wieder andere allen aus dem Weg zu gehen trachteten.

Ich weiß nicht, ob sie ihm absichtlich auswich, sie hatte ihn ja sozusagen einladen müssen, aber ich weiß, wie sehr sie sich vor der Begegnung mit ihm fürchtete, mehr noch als vor der mit der Chouette und deren Mann, mehr noch als vor der Anwesenheit von Jean-Jacques, Micheline und Evelyne und so mancher anderer. Speziell vor ihm, vor seiner Anwesenheit, fürchtete sie sich. Vor Feu-de-Bois. Bernard. Dieses Unbehagen hatte ich schon oft bei ihr gespürt, wenn sie sich schuldig fühlte, weil sie sich in ihrer Küche verschanzt hatte, um ihm nicht die Tür öffnen zu müssen, wenn er bis La Bassée heruntergerollt kam und nach längerem Zwischenstopp bei Patou plötzlich vor ihrem Gittertor stand und rief, er liebe seine Schwester, er wolle seine Schwester besuchen, sie müsse mit ihm reden, sie müsse, müsse, sagte er, brüllte er, fast schon bedrohlich, weil niemand kam, um ihm aufzumachen, und aus den Neubauten ringsum nur Stille und Leere widerhallten. Stille und Häuser, leer wie Höhlen, in denen seine Stimme sich verlor, immer dünner wurde und verhallte, bis er schließlich aufgab und den ganzen Weg zurück nur noch vor sich hin brummelte, bis zurück zu seinem Mofa, das ihn heimbrachte, sofern er nicht abermals einkehrte bei Patou, wo er seine Enttäuschung, wieder einmal etwas verbockt zu haben, vermutlich in einem weiteren Glas ertränkte, dem letzten, sozusagen als Wegzehrung, und sich schließlich doch von Patou überzeugen ließ, dass Solange vermutlich bei der Arbeit war, jeder muss doch schließlich arbeiten, und erst recht eine alleinstehende Frau mit Kindern, das musst du doch verstehen …

Woraufhin er vermutlich einlenkte, ja, ja, so wird’s sein, versteh schon, meine Schwester ist ja allein, meine Schwester und die Kinder. Er senkte den Blick und lief rot an vor Empörung über so viel Ungerechtigkeit, so ein Mist, sagte er zu den anderen Gästen, zu jedem, der es hören wollte, oder, besser gesagt, zu denen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sitzen zu bleiben und mitzuhören, anstatt ihm zuzuhören, trotz der Stimmen von Jean-Marc oder Patou, die begütigend auf ihn einredeten, ja, ja, Feu-de-Bois, schon klar, ja, Feu-de-Bois, deine Schwester, hast ja recht, Feu-de-Bois …

Und beim Hinausgehen spuckte er wie immer nah bei der Tür und immer an derselben Stelle kräftig aus, schwankte wie immer, war kurz vorm Umfallen, fiel aber nie, hielt sich immer noch gerade, selbst wenn ihm jämmerlich, elend, sterbenselend zumute war.

Seine Ungeduld war schuld. Seine besondere Art zu lächeln. In seinem Auftreten lag wie immer etwas Feindseliges, oder von vorneherein misstrauisch Lauerndes, wenn nicht gar, ja, das war’s wohl, eine Art Herablassung.

Der Meinung war ich schon immer gewesen.

Und auch jetzt, als ich ihn so sah: eher abgeschrubbt als sauber gewaschen, sodass die ganze Sauberkeit nach Anstrengung roch, nach Arbeit, nach dem verbissenen Versuch, präsentabel auszusehen.

An diesem Mittag habe ich ihn lange betrachtet. Ich weiß nicht, warum, aber meine Augen wanderten immer wieder zu ihm hin. Er aber sah mich nicht. Ich beobachtete, wie er mit Jean-Marcel, mit Francis ein paar Worte wechselte, sah auch, wie er den Kindern zulächelte, die er nicht wiedererkannte.

Und plötzlich hatte er sich einen Ruck gegeben.

Ich sah, wie er sich zu voller Größe aufrichtete und jetzt nicht mehr verstohlen, sondern arglos, mit gerecktem Hals und großen Augen, Ausschau hielt. Ich konnte auch noch sehen, wie er einen Gegenstand aus der Jackentasche zog, der aber zu klein war, als dass ich ihn hätte erkennen oder etwas begreifen können. Nur flüchtig nahm ich etwas Schwarzes wahr, dessen Form von seiner Hand sofort verschlungen wurde. Die Finger schnappten gleich wieder zu. Eine geballte Faust, breit, fest und rau.

Und dann setzte er sich in Bewegung. Und rief nach Solange. Und je näher er ihr kam, desto lauter rief er nach ihr. So lange, bis die Gäste einen Moment lang innehielten, bis jeder zu ihm hinsah und sich wunderte über diesen unvermuteten Elan, über diese unerwartete Bewegung und über sein Lächeln, über diese Energie, ich hätte eher gesagt, ihm sei plötzlich eine Erleuchtung gekommen (für einen solchen Gedanken und diese Sicht hatte ich meine Gründe), aber das war es nicht, es war die helle Freude eines sehr eigenen und verunsicherten Mannes, der gewiss nicht gerne hier war, der gewiss nicht gekommen wäre, wenn Solange ihn nicht persönlich eingeladen hätte. Ich will damit sagen, dass er einer Einladung eines seiner Brüder oder einer der anderen Schwestern nicht gefolgt wäre, keiner von denen, mit denen er nur von Zeit zu Zeit ein Wort wechselte und von denen er sich gelegentlich, selten, auch mal einladen ließ, doch nur, um sich für abgelegte Kleidung bedanken zu können, oder weil er etwas zu essen brauchte, aus Hunger, weil der Hunger ihn aus dem Haus trieb.

Sie traten zur Seite, um ihn durchzulassen. Es brauchte eine Weile, bis das Erstaunen so groß wurde, dass das Hin und Her, die Blicke, die Sätze abbrachen. Es brauchte eine Weile, bis die Bewegungen sich verlangsamten und zum Stillstand kamen: Es brauchte etwas anderes als eine bloße Geste oder ein Lachen, ein Aufschrei war nötig.

Kein Schrei des Entsetzens, des Erschreckens. Nein. Eine vor Verblüffung brechende Stimme, eine Vorwärtsbewegung, ein Zurückprallen. Kaum schriller als die anderen Stimmen und kaum heftiger als die allseits nur beiläufig auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit, auf seine Bewegungen und seine Stimme, auf seine Hand, die er Solange entgegenstreckte, aber noch klang es nicht eindringlich genug, dass alle verstummten und aufhorchten.

Einen, der etwas bemerkt, gibt es ja immer.

Und hier war es Marie-Jeanne, die als Erste sah, weil sie direkt neben Solange stand und in dem Moment, als er den Tisch erreichte, an dem jene sich leicht abgestützt hatte – die Hand auf dem Rand der Tischplatte, flach auf dem Papiertischtuch –, sich gerade noch eines dieser köstlichen Anchovis- oder Thunfischcremetörtchen schnappen wollte und sich genötigt fühlte, einen Schritt zur Seite zu tun oder, aber das ist nebensächlich, sich umzudrehen und ihm plötzlich ins Gesicht zu sehen, und zunächst glaubte, die Hand mit diesem kleinen, nicht schwarzen, wie ich zuerst gedacht hatte, sondern tiefblauen und goldgeränderten Ding gelte ihr, es sei ein unerwartetes Geschenk, das diese mächtige, schwielige Hand ihr überreichen wollte, ein Geschenk von diesem hier nicht erwarteten, Furcht erregenden Mann, der so plötzlich vor ihr auftauchte, dass sie ohnehin aufgeschrien hätte, selbst wenn da keine Hand oder Faust und auch nicht dieses kleine nachtblaue Ding gewesen wäre.

Ja, man muss sich diese eigenartige, dumpfe Stille vorstellen, und vielleicht fiel ja auch wieder Schnee, es war, als wäre etwas von dieser besonderen Stille verschneiter Tage in den Festsaal eingedrungen. Man hätte auch sagen können, ein Engel ging durch den Raum, aber dafür war die Zeitspanne, der Augenblick doch zu kurz. Weil Marie-Jeanne sich sofort wieder fing, den Arm ausstreckte und sich ein Häppchen einverleibte und dann schrill auflachte,

Oh, hast du mich erschreckt!

Ohne dass er sich vom Fleck rührte oder etwas sagte, weil sie ihn sofort weiter verhöhnte,

Willst du mir einen Antrag machen?

Woraufhin alle angefangen hatten zu lachen, das heißt noch nicht alle, nur die, die in unmittelbarer Nähe standen und die Szene miterlebt hatten und die nachher, als er fort war, bezeugen konnten, dass in genau diesem Moment alles schon beschlossen und besiegelt war. Weil er überhaupt nicht lachte. Er sah nur Marie-Jeanne an, ihre schillernde Perlenkette, die über ihrem üppigen Busen funkelte, das apfelgrüne Kleid mit dem im Nacken hochgestülpten Schalkragen, das gefärbte Haar mit dem mausgrau-violetten Schimmer und diesen lächelnden, jetzt laut lachenden Mund, und da war es nicht mehr an ihr, sondern an ihm, sich zu wundern und erstaunt zu sein. Aber er fing keineswegs an zu stammeln, sagte kein Wort zu ihr, die da lachend vor ihm stand und, Zustimmung heischend, in die Runde blickte, vor allem zu Jean-Claude, ihrem Mann, der näher gekommen war, weil er seine Frau gehört hatte, und nun mitlachte, den Schelm spielen wollte, sich für amüsant hielt, als er sich plötzlich brüstete und beinahe verwegen rief,

Sieh dich vor, Kumpel, ich hab ein Auge auf dich.

Und als hinter ihm der eine oder andere mit einstimmte,

He, Feu-de-Bois, ein echter Draufgänger!

Was für ein Playboy, dieser Feu-de-Bois!,

da wiederholte Jean-Claude:

Sieh dich vor, Kumpel, ich hab ein Auge auf dich.

Und er lachte keineswegs, als er Jean-Claude ansah, das Gelächter hörte und sich wieder Marie-Jeanne zuwandte, deren Gekicher ein paar Thunfischtörtchenkrümel auf dem Apfelgrün des Kleides zum Hüpfen brachte.

Es war nur eine abrupte, kaum merkliche Bewegung, mit der er den Mund schloss und sich unter dem dichten, gelbstichig grauen Schnauzbart womöglich auch auf die Lippe biss. Aber sicher ist das nicht. Es bleibt unklar. Denn sein Gesicht war wie eine rote und aufgedunsene Maske, aus der verschwommen, wie von Regenwasser grau umflort, zwei blaue Augen stierten; und dieser Flor, das waren keine Tränen, das war nichts, denn Feu-de-Bois selbst war nichts anderes mehr als kompaktes Schweigen. In dem Moment, als seine Hand erneut das nachtblaue Ding umschloss, hatte er sich ganz in sich zurückgezogen.

Solange kam hinzu.

Das heißt, ich irre mich, sie hat sich nur zu ihm umgedreht. Ja, so war’s. Sie stand ja dabei, weil sie direkt neben ihnen stand. Sie brauchte sich also nur umzudrehen. Die Hand vom Tischtuch zu lösen und wegzuziehen. Sich umzuwenden. Eine kleine Drehung, und da sah sie den Bruder plötzlich vor sich.

Sie ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie etwas sagte. Weil sie ja nicht sofort begriffen hatte, dass er speziell auf sie zugekommen war, um ihr jetzt sein Päckchen zu überreichen, lange nach all den anderen. Als ob er, na klar, selbstverständlich, sich nicht zu benehmen hätte wie alle anderen. Mit denen er ja nichts zu schaffen hatte. Aber vielleicht unterstelle ich ihm da Hintergedanken, die er gar nicht hatte. Weil er diesmal nicht so herablassend wirkte, nicht überheblich, nicht wie üblich den verarmten, aber abgeklärten Aristokraten mimte. Er hatte seiner Schwester vielleicht nur auf intimere und weniger feierliche Art und nicht vor aller Augen und ohne die zu erwartenden Kommentare sein Geschenk überreichen wollen. Weil er sich gedacht und gesagt haben dürfte – womit er recht hatte –, dass die Gäste sein Geschenk aufmerksamer betrachten würden als jedes andere, zumal, und das stimmte ja, erst einige und dann alle sich fragen mussten, was ein Habenichts wohl zu verschenken haben könnte.

Lange mussten sie nicht warten.

Alles Gute zum Geburtstag, sagte er, und dann kam schon die linke Hand, die wurstigen, rosigen und rauen Finger, klobig, aber auch wund, strapaziert von der Kälte und den Arbeiten, die er immer ohne Handschuhe ausführte, diese Linke also, die er Solange hinhielt, um deren Hand zu fassen und sie zu seiner Rechten zu führen. Als sollte niemand etwas sehen.

Und jetzt wünschte er ihr nochmals alles Gute, aber mit einem Lächeln und mit so schwacher und zittriger Stimme, dass niemand seine Worte wirklich hören, sondern höchstens erahnen konnte bei all dem Gerede im Hintergrund, dem Lärm der spielenden und herumtollenden Kinder und dem Geschnatter der drei fröstelnden Alten, die auf grauen Plastikstühlen dicht neben dem Heizkörper saßen. Dann diese Stille und das allgemeine Erstaunen, als Solange den Blick auf das Schächtelchen senkte, das sich allein schon durch sein Format identifizieren ließ und zudem in goldenen Lettern den Namen der Familie Buchet, Uhren- und Schmuckhersteller seit zwei Generationen, verriet.

Sie sah den Bruder an, wagte aber nicht, das Etui zu öffnen. Erst einmal ließ sie ein ungläubiges Staunen sich auf ihrem Gesicht ausbreiten, sich über jeden ihrer Gesichtszüge legen und sich nach und nach ganz tief dort einprägen. Und ab und zu versuchte sie zu lächeln (es war fast schon ein Lachen, sogar dann, wenn sie zu den anderen hinschaute, zu denen, die dicht neben ihr oder etwas weiter entfernt standen, so wie ich, hinter einem Grüppchen von Menschen, die sich jede Regung, jedes Wort versagten und plötzlich, wie gebannt, mit Glas oder Zigarette in der Hand dastanden, als hätten sie beides vergessen).

Nun mach’s schon auf, Solange.

Ich glaube, das war der Moment, in dem ihr klar wurde, was alles hatte geschehen müssen, bis es so weit gekommen war, dass sie sein Schmucketui – natürlich war darin ein Schmuckstück – in der Hand hielt und nicht zu öffnen wagte, nicht, weil sie nicht abschätzen konnte, was es enthielt, sondern welche Folgen das alles haben würde, die Zweifel, die Risiken, die Angst, die schon da war, da bin ich mir ganz sicher, man brauchte ja nur zu hören, zu sehen, zu beobachten, wie porös und dicht zugleich das Schweigen war, das im Festsaal den Rauch und den Atem der Gäste durchdrang.

Er hingegen dürfte sich nur gefragt haben, ob sein Geschenk ihr auch gefallen würde. Und bei dieser Frage dürfte sein Herz geklopft, wie wild geschlagen haben, allein schon bei dieser Frage, während man sich ringsherum bereits darüber zu wundern und zu empören begann, dass man so lange auf die Folter gespannt wurde, und sich insgeheim sagte, sich fragte, ich träume wohl, ein Schmuckstück, ein Juwel, er kann ihr doch keinen Schmuck schenken, wie kann so einer Schmuck schenken, sie muss das Etui öffnen, muss hineinschauen, aber sie will es nicht, weil sie ja weiß, weil sie schon weiß, was sie auf dem blauen Samt finden wird, und auch weiß, dass sie ihre Angst und die Frage, die alle außer ihm umtreibt, unterdrücken muss, während das, was er fragen möchte, schon jetzt keinen Sinn mehr macht,

Gefällt’s dir?

Die Frage lag ihm schon auf der Zunge, drehte und wendete sich im Mund, wollte gemurmelt oder als Bitte hinaus, aber bislang war sie nichts weiter als gespannte Erwartung, die sich in ihre Augen senkte, wo er bald schon Erschrecken und Verständnislosigkeit finden würde. Sie zögerte. Tat alles, um die Zeit aufzuhalten. Um zurückzuweichen. Nicht öffnen. Nicht hineinschauen, ihm und allen Umstehenden nur zulächeln. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Holte tief Luft. Versuchte sich an Satzfetzen, an unbeholfenen Dankesworten, die sich aber nicht an ihn, den Bruder, sondern an alle richteten. Weil ja alle erwarteten, dass sie etwas sagte, dass sie endlich aufhörte mit ihrem Lächeln und den nichtssagenden hohlen Phrasen,

Das war doch nicht nötig, Bernard, ich, ich fasse es nicht.

Und ihr Gesicht, das immer blasser wurde, ihre helle Haut unter dem Make-up, fast schon aschfahl, als entglitten ihr Blut und Leben und Gedanken und jede Fähigkeit, ihm die Stirn zu bieten, als lösten sie sich in Luft auf oder wichen zurück in die verborgenen Winkel ihres Innersten.

Nun mach’s schon auf, Solange.

Tja. Ja, ja, natürlich. Ja klar werd ich’s aufmachen, ich muss es ja erst aufmachen, wie dumm von mir. Ein echter Witzbold, unser Bernard, was? Er hat sie nicht mehr alle, oder? Völlig übergeschnappt, hab ich nicht recht? So was. Ich. Ich.

Und als sie das Etui öffnete und die Brosche zum Vorschein kam, geriet etwas in ihrem Blick ins Straucheln.

Eine große goldene Brosche. Blank poliertes Gold, diamantbesetzt und gehöht mit einem Blumenmotiv aus Perlmutt.

Ich hab gezögert zwischen ihr und einem Skarabäus, der mir auch gut gefiel, sagte er, wie um sich schon im Voraus zu entschuldigen oder seine Entscheidung zu erklären. Da du ja Broschen magst, dachte ich, sie würde dir gefallen.

Sie antwortete mit einem Kopfnicken, und in ihren Gesichtszügen lag etwas Überstürztes, beinahe Panisches.

Und man sah deutlich, wie ihr in die Runde schweifender Blick nach etwas wie Hilfe, Energie, nach Kraft zu einer Antwort, einer Ausflucht suchte, aber um sie herum machte sich auf allen Gesichtern nur die eine Frage breit:

Wie hat er das bloß angestellt?

Wie kann das sein, mit welchem Geld?

Er, der doch kein Geld hat, der sich von anderen aushalten lässt, von allen hier Versammelten, deren Blicke zwischen der Brosche und ihm, ihm und der Brosche, dann auch zwischen der Brosche und ihnen, zwischen ihnen allen hin- und herschweiften, Blicke, die alle dieselben Fragen stellten und allesamt schon Erstaunen und Wut erkennen ließen.

Solange stand sprachlos da, auch gerührt, nicht nur wie versteinert oder schockiert oder irritiert, sondern auch und vielleicht vor allem gerührt, wie ich glaube, das glaube ich wirklich, ich, der im ersten Augenblick gedacht hatte, sie empfände Angst, eine unbestimmte, flaue, wirre Angst, die sich aber auf etwas Kommendes bezog und nicht auf diesen Moment, als sie dieses kleine nachtblaue Etui in Händen hielt und betrachtete, die Brosche aber nicht herauszunehmen wagte.

Nimm sie, Solange. Steck sie dir doch an.

Ja, ja, natürlich.

Ich war näher getreten, stand jetzt dicht neben ihm. Und bekam diesen Geruch in die Nase, dieses Gemisch von Seife und erzwungener Reinlichkeit. Haut und Hautbläschen mussten beim Schrubben aufgerissen sein. Und doch war dieser undefinierbare Geruch der Verwahrlosung haften geblieben, dieser Körpergeruch, den sie nicht loswerden und der scharf und säuerlich nach Schmutz riecht und auch süßlich nach Urin.

Und aus der Nähe sah ich nun auch Solanges Finger zittern, als sie nach der Brosche griff. Sie hatte sich wieder umgedreht, um das Etui auf dem Tisch abzustellen. Sie nahm ihre Lorbeerblattbrosche ab, betrachtete dann abermals die neue. Eingehend. Dann abwechselnd diese Brosche und den Bruder. Dann die Umstehenden, und sie begann zu lachen, es klang irgendwie albern, fast glucksend, wie um sich selbst zu verheimlichen, dass sie errötete, sich irgendwie auch verschluckte im Bemühen, die Worte und das Erstaunen, das sie verbergen sollten, zu unterdrücken. Dann steckte sie die Brosche an die Stelle der vorigen. Sie verharrte eine Weile, dafür muss ich dir einen Kuss geben, und dann hielt sie dem Bruder ihr Gesicht hin und sie küssten einander.

Sie gefällt dir also. Gefällt sie dir wirklich?

Ja, natürlich gefällt sie mir.

Solanges Antwort klang abgehackt, ihr Tonfall immer unglaubwürdiger, gekünstelt, ohne Überzeugung, als ginge es ihr jetzt erst einmal darum, dem Ganzen so schnell wie möglich ein Ende zu setzen, alle Gäste zu verabschieden, Feu-de-Bois loszuwerden, wäre er doch bloß nie gekommen, diesen Moment bloß nicht noch einmal zu erleben, mit diesem verlogenen ja, natürlich, an das sie selbst nicht glaubte, weder sie noch die anderen, wir alle, die um sie herum standen, wie wir uns um ein Feuer hätten versammeln können, nicht um Wärme und Licht zu suchen, sondern einzig und allein, weil dort etwas knisterte, ein kleines Drama sich anbahnte, eine Story zum Weitererzählen, der Witz vom Habenichts, der seiner Schwester vor den Augen all derer, die ihm einst Almosen in die Hand gedrückt hatten, eine Brosche schenkt, die keiner der anderen je hätte schenken können.

Und Solanges Augen, die bei den Umstehenden vergebens um Hilfe baten, während plötzlich jedem einfiel, dass er eine Zigarette in der Hand hielt, die er anzünden oder ausdrücken sollte, ein nur halb volles Glas, das er sofort auffüllen oder aber hastig, in einem Zug leeren musste.

Weil Solange noch ein Weilchen durchhielt. Noch würgte sie nicht an Tränen, nur an einer schrecklichen, monströsen Beklemmung, die in ihrer Kehle anschwoll wie die Ratlosigkeit in ihrem Blick. Während er zu lachen begonnen hatte, ja, anfangs war es ein Lachen, wobei die Hände in die Taschen glitten und eine wieder zum Vorschein kam, um über den Schnauzbart zu streichen, wie um ihn zu kämmen, ihn über dem Mund zu glätten, bevor sie wieder in die Gesäßtasche griff und eine Packung Gitanes hervorzog. Und wie schüchtern er aussah, als er seiner Schwester, noch bevor sie etwas sagte, schon Antwort gab,

Keine Sorge.

Bernard, das kostet ein Vermögen.

Keine Sorge, sag ich dir.

Womit hast du das bezahlt?

Gefällt sie dir?

Darum geht es nicht.

Worum dann?

Und plötzlich stieg da, sagen wir, Rührung auf. Dieser Überschwang, der ihr auf den Magen schlug und den sie mit allen Kräften zu bekämpfen suchte. Sie gestattete ihrer Stimme, zu stocken und sich in einem Lachen zu befreien, das, wie mir schien, ein wenig zu schrill, ein wenig pathetisch klang. Eigentlich war nicht nur dieses Lachen pathetisch. Auch ihre Art, es in Szene zu setzen, wohl wissend, was sich hier schon jeder fragte, was man kommentierte, zunächst noch durch Blicke, Getuschel und Gestupse, eine Hand drückte einen Arm, ein Mund verzog sich, um Zweifel und Bedenken auszudrücken, ein Kopf wiegte sich vielsagend hin und her, und dazu das Mienenspiel: hochgezogene Augenbrauen, Stirnfalten, alles Gesten und Signale, die man andauern ließ, damit sie von den anderen wahrgenommen wurden.

Nicole sah zu mir herüber, und allmählich wurde mir klar, dass sie einschreiten wollte, aber ohne so recht zu wissen, wie, wozu auch mir nichts einfiel.

Und so zog sich alles noch ein wenig hin.

Dann ging die Chouette in ihrem bis zum Hals hin zugeknöpften, staubhellen und stumpfen Zobel zum Angriff über, keine Erklärungen fordernd, noch nicht, weder sie noch Evelyne. Das heißt, dass die Ersten näher traten, um besser zu sehen, um es sich aus der Nähe anzusehen – eine der Schwestern, Evelyne, und eine der Schwägerinnen, die Frau von Jean-Jacques (dem, nach der Art zu urteilen, wie er sich in der Nähe der Küche im Abseits hielt und mit Pingeot und Chefraoui diskutierte, das Ganze womöglich tatsächlich gleichgültig war) … Die beiden traten also nahe heran. Dann Marie-Jeanne. Solange blickte zu mir herüber. Da trat auch ich näher. Nicole hingegen wich einen Schritt zurück.

Da stand ich nun und ließ meinen Blick auf den Rücken derer ruhen, die sich jetzt vorwärtsbewegten, auf Solange zu, ohne sich recht zu trauen, das auszusprechen oder hervorzustammeln, was ihnen sicher schon auf den Lippen brannte, wie später gewiss auch den anderen, die nähergerückt waren, die dabeistanden, ganz nah und im höchsten Maße interessiert, die Geschwister, die Schwäger und Schwägerinnen – nicht aber die Freunde, nicht die Bekannten, nicht die, die nur kurz zum Gratulieren vorbeigekommen waren und die man nicht unbedingt hier erwartet hatte –, und von meinem Platz aus sah ich, wie Solange zögerte, bevor sie die Hände zur Brosche führte, sich dann aber doch abrupt entschloss, sie unter irgendeinem Vorwand wieder abzunehmen, welcher es war, weiß ich nicht, vielleicht eine Banalität wie: Sie passt nicht zu diesem Pullover, sie ist zu schön, ja, viel zu schön für diesen Pullover, du bist verrückt, Bernard, eine goldene Brosche, und überhaupt, wo hast du das Geld her.

Da pflanzte sich die Chouette vor Feu-de-Bois auf und warf ihm einen vernichtenden Blick zu,

Schön, ha, schön ist sie, allerdings, das kann man wohl sagen.

Dann, fast schluchzend, Evelyne, mit vibrierender Stimme, als wollte sie flehen,

Wir haben dir doch immer nach Kräften geholfen, und du, wie kannst du nur?

Und er, nun nicht mehr lächelnd und sich zu voller Größe aufrichtend:

Sie gehört Solange. Sie ist für Solange, und das geht niemanden was an.

Und erst viel später, am späten Nachmittag, in Anwesenheit der Gendarmen und des Bürgermeisters, sollte Patou im Hinterzimmer ihrer Kneipe, wo sie sich an einem der Tische niederließ und sich aus Sympathie für Feu-de-Bois eine Zigarette an der anderen ansteckte, da also sollte sie lang und breit erzählen, in welchem Zustand er nach dem Vorfall mit der Brosche hier bei ihr aufgetaucht war.

Mit ihren Worten: Er hat überhaupt nichts kapiert. Er hat wirklich nur das Beste gewollt, wochenlang hat er gegrübelt, was er ihr schenken könnte. Er hatte sogar schon davon erzählt, sagte sie. Aber wie immer hatte man ihn nur reden lassen und sein Gerede aus Gefälligkeit mit jenem halbherzigen kleinen ja unterstützt, das man beim Aussprechen nicht einmal selbst hörte.

Ja, ja, Feu-de-Bois. Eine Brosche, so, so, Feu-de-Bois. Da wird sich deine Schwester aber freuen, ja, eine gute Idee, eine Brosche, toll.

Während man Gläser spülte und die einen oder die anderen bediente, mittags die Arbeiter oder später die jungen Billardspieler, nur um sein Selbstgespräch ein wenig aufzulockern,

Ja, Feu-de-Bois,

Aber ohne wirklich hinzuhören, als er behauptete, schon beim Juwelier, bei Buchet gewesen zu sein.

Dabei war Monsieur Buchet persönlich, gleich als seine Frau ihn rief, aus seiner Werkstatt nach vorne in den Laden gekommen, noch bevor Feu-de-Bois, der noch wartete, bis eine Kundin ihre Rechnung bezahlt und das Geschäft verlassen hatte, über die Schwelle getreten war und irgendetwas hätte sagen können.

Dann hatte er ziemlich lange einfach nur dagestanden, hatte gelächelt und seine Mütze geknetet, vermutlich mit einem recht dümmlichen oder kindlichen Gesichtsausdruck, obwohl sein massiger Körper, sein Blick, sein Gesicht, dieser ganze ungehobelte Kerl in seinem zerlöcherten kürbisfarbenen Pullover kaum dazu angetan war, Gedanken an Kindheit zu wecken, oder auch nur die Vorstellung, die man sich von Kindheit, von Scheu und kindlicher Unbeholfenheit macht. Und wenn er hier trotzdem kindlich wirkte, dann eher durch die Art, wie er aus der Tasche seines Parkas den dicken gelben Umschlag hervorkramte, das rote Gummiband abstreifte und ein üppiges Bündel Zweihundertfrancsscheine auf dem Ladentisch ausbreitete.

So dürften Buchet und seine Frau es den Gendarmen geschildert haben: dieser Haufen Scheine auf ihrem Ladentisch, und Feu-de-Bois, der gesagt hatte,

Das soll für eine Brosche sein.

Das Ehepaar dürfte Blicke gewechselt und sich ohne ein Wort die Aufgaben geteilt haben, indem er die Schätze aus den Schatullen nahm, ein paar mit schwarzem oder blauem Samt bezogene Tabletts präsentierte, auf denen die schönsten Stücke – Sie sehen, wir haben von allem etwas – prangten, während seine Frau blitzschnell einen Schein durch einen dieser Kontrollapparate laufen ließ, um zu prüfen, ob ihnen da Falschgeld oder echtes Geld vorgelegt worden war (so ein Haufen Geld, das er da einfach ausgebreitet hatte, fast beiläufig, als bedeute es ihm nichts, dieser arme Schlucker, dieser Habenichts), und vielleicht hat sie in ihrem Misstrauen den Schein sogar noch zwischen den Fingern gerieben, ihn abgetastet und ein letztes Mal im Licht einer Lampe überprüft, bevor sie ihrem Mann mit einem Augenzwinkern zu verstehen gab, alles in Ordnung, gutes Geld. Monsieur Buchet hat vermutlich auch Feu-de-Bois’ Zögern erwähnt, als er sich partout nicht hatte entscheiden können zwischen zwei Broschen, den goldenen Skarabäus aber dann doch nicht nahm, was Madame Buchet schier zur Verzweiflung trieb, weil sie wusste, dass der Gestank von Gammlern wie diesem im Raum hängen bleibt wie der von nassem Hundefell; sie dürfte besagten Skarabäus verflucht haben, während ihr Mann diesem Zögern noch Vorschub leistete, anstatt auf schnellen Geschäftsabschluss zu drängen, ja, sie wollte, dass endlich Schluss war, dass er zahlte und abhaute mitsamt seiner Brosche und dem, was von seinem Geldbündel noch übrig blieb, vor allem aber mitsamt seiner verdreckten und stinkenden Kleidung und deren ekelhaftem Geruch, den sie, daran bestand kein Zweifel, noch wochenlang zu bekämpfen haben würde.

Es war schon Nacht geworden, sehr früh richtig schwarze Nacht, weil die Nacht im Dezember bereits am Spätnachmittag hereinbricht, wenn nicht gar noch früher. Draußen sah ich dicke Schneeflocken wirbeln, mal blau, mal orange, weil die Weihnachtsdekoration die Straße in voller Länge bunt ausleuchtete.

Patou hatte den Gendarmen, dem Bürgermeister und mir gegenüber doch glatt behauptet, natürlich wisse sie, woher das Geld stammte.

Im Schankraum war niemand mehr. Jean-Marc stand hinter seinem Tresen. Von Zeit zu Zeit hielt ein Auto, die Beifahrertür sprang auf, jemand kam hereingestürzt, grüßte und fluchte über das Wetter. Jean-Marc verkaufte Zigaretten, und schon fuhr der Wagen wieder los. Mit dem Schwall Kaltluft, den der Kunde beim Hinausgehen hereingelassen hatte, kam Jean-Marc an unseren Tisch. Er sagte nichts, Jean-Marc. Stimmte nur manchmal zu, wenn Patou, Unterstützung heischend, zu ihm hochschaute, und so hörten wir ihn mehrmals wiederholen, natürlich wisse er es, und Patou wisse es auch, weil Feu-de-Bois es ihnen gesagt habe, es nicht verheimlicht habe, als er, der bei ihnen hoch in der Kreide stand, seine Schulden bis auf den letzten Centime bar bezahlt habe, und zwar mit Einhundert- und Zweihundertfrancsscheinen, die, wie Patou sagte, ziemlich verknittert waren und leicht ranzig rochen (dass es alte Scheine waren, ja, darauf bestand sie) und eben daher stammten, dass er plötzlich zu sehr viel Geld gekommen war. So viel, wie in den Sarg passen würde. Nein, nicht in seinen, natürlich nicht. Nicht in seinen Sarg. Sie hatte sich korrigiert, als ich plötzlich eingeworfen hatte,

Seine Mutter, das Geld seiner Mutter.

Das war mir plötzlich durch den Kopf geschossen. Seine Mutter. Und dass ihm dieses Geld nicht so einfach in den Schoß gefallen war, sondern dass er es sich geholt, sich bedient hatte, ja, das war es, im Haus der Mutter, als Solange und Evelyne sie vor drei Monaten abgeholt hatten, um sie ins Altersheim zu bringen. Noch bevor die paar Habseligkeiten, die sie hatte mitnehmen wollen, zusammengepackt waren und das Haus verschlossen wurde. In dieser Zeitspanne dürfte er gekommen sein, zumal er der Einzige war, der noch in der Nähe der vom alten Weiler übrig gebliebenen Bauernhäuser wohnte, da kam man ja leicht hinein, konnte alles durchwühlen, die Schränke ausleeren und nach Geld suchen, das sie ja irgendwo versteckt haben musste, in einem Schuhkarton oder im hinteren Teil, in der Scheune, in den auszementierten Boxen, wo früher die Schweine geschlachtet wurden.

Da gibt es ja so mancherlei Verstecke. Es sei denn, er hätte es schlicht und einfach unter ihrem Bett oder zwischen den Schrankbrettern gefunden.

Gefunden hatte er es.

Und das sah ihm ähnlich, die eigene Mutter zu bestehlen, gleichsam als Entschädigung für etwas, das er seiner Ansicht nach eingebüßt hatte, und am Tag ihres Auszugs war er ja tatsächlich plötzlich aufgetaucht und stumm wie ein Fisch ein paar Meter oberhalb des Hauses stehen geblieben, um zuzusehen, wie sie abzog ins Altersheim, ohne Aussicht auf Rückkehr zu dem Ort, an dem sie seit eh und je gelebt hatte, und als wäre er jetzt der Einzige, der hier das Sagen hatte, der Erbe einer uralten Dynastie – Zeitenwende, Dekadenz, das Ende vom Lied –, der mit Adlerblick und unverhohlener, wilder Entschlossenheit, wenn nicht gar Bosheit abmaß, was das Ende von Jahrhunderten Morast und harter Feldarbeit bedeutete und für ihn, das war unbestreitbar, das Ende von Demütigung und Ausbeutung durch eine einzige Frau, die sich auch jetzt noch, vom Alter gebeugt und schwarz gekleidet, mit blassblauem Blick an ihrem Reich festkrallte, an ihrem alten baufälligen Haus und der Remise auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Rabut?

Ja, pardon, ich war in Gedanken, bei seiner Mutter.

Er mag Sie wohl nicht sonderlich.

Nein, nicht besonders.

Und dann erzählte sie, wie er vorhin, kurz nach dem Zwischenfall mit der Brosche, hier bei ihnen aufgetaucht war.

Wir hatten ihn über die Straße kommen sehen, aber nicht weiter darauf geachtet, es dürfte am frühen Nachmittag gewesen sein, vielleicht gegen halb zwei, oder ein bisschen später. Er hatte im Hereinkommen kein Wort gesagt und auch nicht am Tresen haltgemacht, ja nicht einmal einen Blick hinübergeworfen, was ganz gegen seine Gewohnheit war. Er war durch den vorderen Raum hindurchgegangen und hatte sich dann im hintersten Winkel an einem Tisch dicht an der Wand und direkt neben der Musicbox niedergelassen. Weil sie sich wunderte, ihn so früh hier zu sehen, war Patou gleich zu ihm gegangen. Er hatte gesagt, er habe Hunger, und keine Antwort gegeben, als sie gefragt hatte, wieso er nicht zum Mittagessen drüben geblieben sei, bei den anderen.

Ihr war klar gewesen, dass er erst etwas trinken und essen musste, damit die Zunge sich löste und die Augen sich endlich wieder öffneten und jemanden vor sich sahen, mit dem er reden konnte, auch wenn er von dem wirren Knäuel in seinem Schädel nur Satzfetzen abspulte, aber dass es hart auf hart ging, hatte sie leicht sehen, erraten, sich vorstellen können, als sie ihm kurz danach zusah, wie er auf den Kartoffeln herumkaute, als wären es zähe Fleischbrocken. Weil er so hastig getrunken und geschlungen hatte.

Plötzlich hatte er dann loswerden wollen, was er auf dem Herzen hatte, das Herz war ihm zu schwer, und beinahe wäre ihm der Kragen geplatzt, wie er sich ausdrückte, als er zu reden anfing; weißt du, sagte er, der Kragen geplatzt wegen … dabei goss er sich immer wieder Wein nach und ließ ihn durch die Kehle rinnen, ein Schwall, in dem man mehrere Würfe Kätzchen hätte ertränken können. Und während er redete, kaute er weiter, schlug die Zähne ins Brot, die Kartoffeln und den Hering, unbekümmert um den Anblick, den er bot, als ginge ihn das gar nichts an und als wüsste er nicht, dass es obszön, ekelerregend, auch abstoßend war, so zu schlingen, wie er es tat, als wollte er Mund und Kinn mit dieser öligen, glitschigen und glänzenden Masse imprägnieren. Und trotzdem saß da kein Vielfraß, auch kein Monster, nur ein armer Teufel, in dem die Wut aufstieg, weil er sich ungerecht behandelt fühlte und nicht begreifen konnte, wieso er ein Opfer von Verachtung und Hass geworden war.

Weil er, den man als großmäulig und überheblich kannte, jetzt wirkte, als wäre eine Feder in seinem Innersten geborsten, nachdem sie überspannt, überdreht worden war, und hätte einer Unsicherheit Raum gegeben, die im Blau seiner Augen flackerte, wenn er einen ansah oder man sich von ihm angeschaut glaubte, wobei man sich aber nicht sicher war, vielleicht bildete man es sich auch nur ein, weil trotz flatternder Augenlider zeitweilig etwas fast unmerklich Bohrendes, etwas blaugrün Starrendes in seinem Blick zum Vorschein kam.

Und so dürfte es gewesen sein, als er mit Patou sprach und seine Verwirrung darüber eingestand, dass Solange die Brosche abgenommen hatte, und dass er hatte sehen müssen, wie die anderen, die Brüder und die Schwestern, sich plötzlich wie Raubvögel, die sie ja auch waren, um sie scharten und das viele Geld witterten, als wären sie die rechtmäßigen Eigentümer und, was noch schlimmer war, als wäre auch er ihr Eigentum. Dieser Haufen Idioten, diese Bauerntrampel, die Paris nur von Ansichtskarten oder aus dem Fernsehen kannten, die überhaupt nichts anderes kannten als das Wasser vom hiesigen Fluss und die ölig schmierigen Sümpfe, aus denen die Kühe saufen mussten, als sie alle hier noch Kinder waren.

Das war’s. Seine Verachtung. Seine Verachtung für sie. Seine Wut.

Und Patou erzählte, wie sie immer mal wieder hatte aufstehen müssen, um jemanden am Tresen oder in der Gaststube zu bedienen, und wie er dann verstummte und weitertrank, Kaffee, Schnaps, Wein, dann wieder Schnaps und wieder Wein, dann zu brummeln anfing und durch die Glastür starrte, um nach jenen Ausschau zu halten, die aus dem Festsaal kamen, wo jetzt der Stehempfang zu Ende war und man fürs Mittagessen gedeckt hatte, das vermutlich inzwischen schon aufgetragen wurde.

Da war er aufgestanden. War auf den Tresen zugegangen, den Blick aber nicht geradeaus, sondern schräg von unten nach draußen gerichtet, nach der anderen Straßenseite hin, obwohl man von hier aus nur die Eingangstür und den oberen Teil der gelb gestrichenen mächtigen Fassade sehen konnte. Da sah er hin. Als er nach einer Zigarette griff,

Komm, schenk noch mal ein, ’nen Roten.

Und nach einer Weile,

Sie sind schon immer vor Eifersucht schier geplatzt.

Und das Ärgste war, sagte sie, als der Bürgermeister vorbrachte, Bernard habe vermutlich alles geplant, diese Provokation, diese Inszenierung, dass es eben nicht so gewesen war, eben nicht, das schwöre ich, da bin ich mir ganz sicher, er war überzeugt, dass niemand daran Anstoß nehmen würde.

Sie erzählte sogar noch, dass sie etwas ganz anderes bekümmerte, nämlich, dass er sich ihretwegen noch mehr in seine Wut hineingesteigert haben könnte. Gewiss, er hatte vorher schon viel getrunken und war nahe daran, zusammenzuklappen, und nun trank er weiter, wie um sich zu betäuben, weil er ja hörte, wie er ihr, gerade ihr, sein Herz ausschüttete, um durch Worte diese Demütigung loszuwerden, die sie ja gar nicht miterlebt hatte, als Solange die Brosche wieder abgenommen und die Geschwister sich um sie geschart hatten – gut, nicht alle, zugegeben –, aber immerhin hatten sie den engsten Kreis gebildet, und dann waren andere, wieder andere, dazugekommen, die sich auch herandrängten, ganz dicht heran an ihn, um sich nichts entgehen zu lassen und mitzukriegen, was man ihm vorwerfen würde, zum Beispiel Evelyne, die Jüngste, flennend und schniefend, Nach allem, was wir für dich getan haben.

Und die als Erste die Alte erwähnt hatte. Die gesagt hatte: unsere Mutter.

Du hast die Alte ausgeraubt.

Und Solange, die gekeucht hatte,

Jetzt reicht’s aber,

Entschiedener noch,

Haltet den Mund.

Er war nur zurückgewichen, hatte nichts gesagt. Hatte sie reden lassen. Es über sich ergehen lassen, wie immer. Wie jedes Mal, wenn etwas in der Luft lag. Da braute sich etwas zusammen, das spürte er, sagte aber nichts, noch nicht, er wich nur zurück und bahnte, bohrte sich einen Weg durch all die feindlichen oder vielleicht nur dümmlichen Blicke und Leiber hindurch, von Neugier getriebene Idioten, verließ den Saal und lief, kaum dass er draußen war, über die Straße und blindlings hier herein, zu Patou.

Und diese blickte Jean-Marc an, als die Gendarmen sagten, es sei ernst. Und danach hat sie, um ein Lächeln bemüht, noch ein Glas Wein anbieten wollen. Und wie um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, wandte sie sich an mich,

Sagen Sie mal, Rabut, das wollte ich Sie schon seit Jahren fragen, wieso nennt er Sie den Abiturienten? Gibt’s dazu eine Geschichte?