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Von Netzwerken zu Märkten E-Book

Martin Bühler

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Beschreibung

Globale Märkte werden von den einen gelobt, von den anderen verteufelt. Doch wie sind sie entstanden und wie lassen sie sich soziologisch untersuchen? Dieses Buch zeigt sowohl an modernen als auch an vormodernen Getreidemärkten, wie sich eine Konkurrenz verschiedener Angebote einstellen konnte. Vergleichspraktiken und Publikumsimaginationen haben sich historisch derart verändert, dass während des 19. Jahrhunderts Handelsnetzwerke von globalen Beobachtungshorizonten überlagert wurden und die Kaufleute zunehmend mit einem globalen Markt rechnen mussten.

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Martin Bühler

Von Netzwerken zu Märkten

Die Entstehung eines globalen Getreidemarktes

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Globale Märkte werden von den einen gelobt, von den anderen verteufelt. Doch wie sind sie entstanden und wie lassen sie sich soziologisch untersuchen? Dieses Buch zeigt sowohl an modernen als auch an vormodernen Getreidemärkten, wie sich eine Konkurrenz verschiedener Angebote einstellen konnte. Vergleichspraktiken und Publikumsimaginationen haben sich historisch derart verändert, dass während des 19. Jahrhunderts Handelsnetzwerke von globalen Beobachtungshorizonten überlagert wurden und die Kaufleute zunehmend mit einem globalen Markt rechnen mussten.

Vita

Martin Bühler, Dr. phil., ist Visiting Scholar am Department of Sociology der London School of Economics and Political Science.

Inhalt

1.Einleitung

Fragestellung und analytische Perspektiven

Aufbau der Studie

2.Eine historische Soziologie globaler Märkte

2.1Märkte: Von der Vermeidung und Entstehung von Konkurrenz

Märkte als soziale Strukturen der Konkurrenzvermeidung

Märkte als Konkurrenzstrukturen

Operative Voraussetzungen von Konkurrenz: Knappheit, Mitteilung, Vergleich

2.2Globalität: Von weltweiter Verteilung und globaler Beobachtung

2.3Geschichte: Von evolutionären Voraussetzungen und diskontinuierlichen Phänomenen

Getreidemärkte um 1800 und um 1900: Ein historischer Vergleich

Getreidemärkte als Fallstudie

Drei Teilfragen als analytische Perspektive und als Organisationsprinzip

3.Die lokalen Getreidemärkte um 1800

Eine sehr kurze Geschichte des Getreidehandels

Das Getreide erreicht den Marktplatz

Obrigkeitliche Marktüberwachung und die Entstehung von Konkurrenzsituationen

3.1Sensorische Urteile, Herkunft und Naturalgewichte

Kriterien zum Vergleich der Angebote und sensorische Vergleichspraktiken

Herkunft als relationales Vergleichskriterium

Das Naturalgewicht als relatives Vergleichskriterium

Zwischenfazit

3.2Preiskuranten und Korrespondenznetzwerke

Die Preiskuranten als ›Gedächtnis‹ des Marktes für lokale Geschäftsleute

Marktinformation für Kaufleute an fernen Orten

Die Preiskuranten als Mittel der obrigkeitlichen Steuerung

Kaufmännische Handels- und Korrespondenznetzwerke

Marktnachrichten als soziale Dinge und die Übermittlungsgeschwindigkeit

Zwischenfazit

3.3Der Markt als Interaktion und die lokale Öffentlichkeit

Wechselseitige Angebotsunterbreitung und das Feilschgespräch

Feilschgespräche, eingebettet in die lokale Marktsituation

Marktöffentlichkeit und die Differenz von Markt und Marktplatz

Institutionelle Kristallisationskerne für operative Konkurrenzstrukturen

Zwischenfazit

3.4Die Globalisierungsschwellen von Getreidemärkten

Der Angebotsvergleich um 1800

Übermittlung von Marktinformation und Medien um 1800

Marktöffentlichkeit und Marktpublikum um 1800

Die Globalisierungsschwellen von Märkten um 1800

Lokale Märkte, eingebettet in globale Handels- und Korrespondenznetzwerke

4.Der globale Getreidemarkt um 1900

Die globale Getreidewirtschaft um 1900

Freihandel und Zollpolitik im Getreidegeschäft

4.1Der Vergleich der Getreideangebote um 1900

Von der singulären Ernte zum homogenen Standardprodukt

Objektivierung, Standardisierung und Verrechnung

Zwischenfazit

4.2Kaufmannshandbücher, Telegraphie und Zeitschriften

Die telegraphische Unterbreitung von Angeboten: Gleichzeitigkeitsfiktionen

Vom ›Fischen‹ und Beobachten von Preisen

Temporalisierungseffekte der Telegraphie: Taktung und Gültigkeit

Marktinformation und die Konstruktion von Knappheiten

Zwischenfazit

4.3Der Markt als Vergleichshorizont und die weltweite Öffentlichkeit

Die »Ausdehnung des geistigen Horizontes« durch Nachrichten aus »allen Teilen der Welt«

Die gleichzeitige Informierung »jedermanns«: Erreichbarkeitsfiktionen

Die potenzierende Wirkung öffentlicher Marktnachrichten

Weltmarktpreise als Referenzpreise für ein globales Marktpublikum

Zwischenfazit

4.4Die überwundenen Globalisierungsschwellen

Der Angebotsvergleich um 1900

Übermittlung von Marktinformationen und Medien um 1900

Marktöffentlichkeit und Marktpublikum um 1900

5.Fazit: Von Handelsnetzwerken zu globalen Märkten

Getreidemärkte um 1800 und die Entstehung eines globalen Marktes um 1900

Der Vergleich der Angebote

Interconvertibility Devices

Historische Ausdifferenzierung von Beobachtungs- und Vergleichsordnungen

Die Angebotsunterbreitung und weitere Marktnachrichten

Kommunikationsmedien, mediale Formen und die Konstruktion von Knappheit

Aktuelle Nachrichten und die Konstruktion von Gültigkeit

Die Entstehung der Marktöffentlichkeit und die Grenzen des Marktpublikums

Die Entstehung von Publikumsimaginationen 1800 und 1900

Die Beobachtung von Weltmarktpreisen

Lokale Märktplätze und globale Märkte – und lokale Märkte?

Kontinuität und Diskontinuität

Die Einbettung der Märkte in globale Strukturen: Von Netzwerken zu Märkten

Lokale und globale Marktöffentlichkeiten

Anhang

Abbildungen

Literatur

Dank

1.Einleitung

Im noch jungen 20. Jahrhundert blickten John Hubback und George Broomhall, zwei prominente Getreidehändler aus Liverpool, auf ihre langen Händlerkarrieren zurück und konstatierten, dass sich die Getreidemärkte in einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten entscheidend verändert hätten: »Within the period of one lifetime the grain trade of Britain has undergone such vital changes that our predecessors would be quite at a loss if it were possible for them to revisit Brunswick Street« (Broomhall/Hubback 1930: i). Ihre unmittelbaren Vorgänger, so führten sie weiter aus, könnten höchstens noch als Zuschauer und in oberflächlicher Weise die neuen Entwicklungen registrieren, eine Teilnahme am Markt sei jedoch ausgeschlossen. Denn die modernen Bedingungen des Handels würden nicht mehr zu jenen passen, die in ihrer Zeit erfolgreich gewesen seien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe der Markt noch auf einem Platz vor dem Stadthaus stattgefunden, und das Getreide sei offen ausliegend angeboten worden. Broomhall und Hubback betonen darüber hinaus, dass damals noch keine der unzähligen Handelsnachrichten, Statistiken oder Ernteberichte angeschlagen wurden, die in ihrer Gegenwart die Wände des ›News Rooms‹ zu füllen und die Aufmerksamkeit der Händler auf sich zu ziehen begannen (ebd.: 1–15).

Diese Veränderungen wurden jedoch nicht nur in England bemerkt, sondern zur selben Zeit auch an anderen Orten registriert. Ein amerikanischer Staatssekretär hielt 1903 erstaunt fest, dass auf dem Marktplatz von Nikolaev im Russischen Reich sogar einfache Getreidebauern den telegraphisch übermittelten Preis aus Amerika zur Basis ihrer Angebote nehmen würden – etwas, das vor wenigen Jahren noch kaum denkbar gewesen sei (siehe Goodwin/Grennes 1998: 408). Otto Jöhlinger (1910: 317), ein ehemaliger Getreidehändler, beobachtete Ähnliches bei den Händlern in Berlin. Diese würden den Preis aus Chicago sogar dann zur Grundlage nehmen, auch wenn sie kaum Getreide aus den Vereinigten Staaten importierten. Der Müllerfachmann Emerich Pekár (1882: 260) beobachtete die Transformation der Getreidemärkte von Budapest aus. Auch er betonte die enorme Geschwindigkeit, mit der aktuelle Preise aus Übersee eintrafen, doch sei ebenso die telegraphische Übermittlung der Getreidegattung für die neuen Verhältnisse mitentscheidend. Denn nun könne, so Max Roscher, ein weiterer Beobachter der neuen Verhältnisse, »die persönliche Anwesenheit beim Abschluss von Tauschgeschäften allgemeiner und unbedenklicher als bisher fortfallen« (Roscher 1911: 157f.).

Kurt Wiedenfeld, ein weiterer Zeitgenosse dieser Umbrüche, brachte die Beobachtungen auf den Punkt: Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hätte sich auf globalem Niveau eine Situation eingestellt, wie sie ehemals auf dem lokalen Marktplatz herrschte: »Infolgedessen steht – ähnlich wie auf dem städtischen Wochenmarkt stets die eine Ecke weiß, unter welchen Bedingungen in der gegenüberliegenden Ecke gehandelt wird – der moderne Getreidehandel an jeder einzelnen Stelle unter dem Einfluss von Faktoren, die an ganz anderer Stelle entsprungen sind […]. Der Welthandel«, so fasste der Nationalökonom Wiedenfeld diese Transformation zusammen, »hat sich zum Weltmarkt verdichtet« (Wiedenfeld 1929: 310).

Fragestellung und analytische Perspektiven

Diese historischen Szenen und die zunächst tautologisch anmutende These von Kurt Wiedenfeld nehme ich zum Ausgangspunkt dieser soziologischen Studie. Ich stelle die Frage ins Zentrum, welche Veränderungen dazu geführt haben, dass ein globaler Markt entstehen konnte. Diesen makrosoziologischen Transformationsprozess nehme ich aus einer mikrohistorischen Perspektive in den Blick und analysiere ihn anhand einer Fallstudie zu Getreidemärkten im Zeitraum des späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dabei soll der Schwerpunkt darauf liegen, wie die Veränderung von Evaluationspraktiken und die Einschätzung von medial vermittelter Marktinformation im Laufe des 19. Jahrhunderts zu veränderten Erwartungen darüber geführt hatten, wer als Marktteilnehmerin oder -teilnehmer und damit als mögliche Konkurrentin oder Konkurrent berücksichtigt werden musste. Es ist aufzuzeigen, wie auf der Basis der verfügbaren Marktpraktiken, der damals herrschenden medialen Situation und der darauf aufbauenden Interpretation der Akteure neue Vorstellungen darüber entstanden sind, wo die räumlichen Grenzen von Märkten liegen. Während auf den Getreidemarktplätzen des 18. Jahrhunderts noch hauptsächlich die anderen Anwesenden als Konkurrentinnen und Konkurrenten betrachtet wurden, schien man seit dem späten 19. Jahrhundert plausibel davon auszugehen, dass der Kreis der Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer eine weltweite Ausdehnung angenommen hatte. Die Marktöffentlichkeit hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts demnach über die Grenzen des lokalen Marktplatzes hinaus ins Globale ausgedehnt. Dabei wurde der Raum jedoch nicht obsolet oder irrelevant, ganz im Gegenteil: Angebote wurden nach wie vor an konkreten, lokalisierbaren Orten unterbreitet, Informationen mussten noch immer Distanzen überbrücken, und die anderen – mitunter auch imaginierten – Konkurrenten befanden sich an bestimmten Marktplätzen, weshalb man gut daran zu tun schien, sich über die weltweiten Geschäftsgänge auf dem Laufenden zu halten.

Globale wirtschaftliche Zusammenhänge sind etablierte Gegenstände der soziologischen wie auch der historischen Forschung. Die soziologische Analyse, wie globale Märkte entstehen, scheint jedoch im Vergleich zur Prominenz des Gegenstandes vernachlässigt. Indem in dieser Studie einerseits nach der Entstehung von Märkten und andererseits nach der Herausbildung von globalen Zusammenhängen gefragt wird, verbinde ich eine zentrale Fragestellung aus der Wirtschaftssoziologie mit dem Erkenntnisinteresse der soziologischen Globalisierungsforschung. Das vorliegende Buch nimmt aktuelle Einsichten dieser soziologischen Forschungsrichtungen zum Ausgangspunkt und entwickelt am historischen Fallbeispiel der Getreidemärkte eine neue Perspektive auf das Entstehen von globalen Märkten. Es soll deshalb sowohl einen Beitrag zur Wirtschaftssoziologie wie auch zur soziologischen Globalisierungsforschung darstellen und Anregungen für historisch interessierte Leserinnen und Leser bereithalten.

Stärker, als dies in der Marktsoziologie bisher getan wurde, beschreibe ich Märkte konsequent als auskristallisierte Konkurrenzsituationen. Komplementär zu etablierten Forschungsrichtungen der Wirtschaftssoziologie richte ich deshalb das Augenmerk nicht in erster Linie darauf, wie Konkurrenz durch sozio-kulturelle Maßnahmen vermieden werden kann, sondern darauf, wie Konkurrenz erst entsteht. Dazu soll an die von Georg Simmel vorgeschlagene und in der aktuellen Marktsoziologie wieder aufgenommene Unterscheidung von Handel und Markt beziehungsweise von Transaktion und Konkurrenz angeschlossen werden. Nach dieser Vorstellung entstehen Konkurrenzsituationen dann, wenn auf der Seite der Anbieter oder der Abnehmer mindestens zwei Parteien um die Tauschchance mit der anderen Seite wetteifern (siehe dazu Kapitel 2.1 des vorliegenden Buches).

Diese wirtschaftssoziologische Perspektive wird mit Überlegungen aus der soziologischen Beschäftigung mit Vergleichsmechanismen und deren Beitrag zu Globalisierungsprozessen kombiniert. Die Entstehung von weltweiten Strukturen lässt sich nicht hinreichend als Steigerung von kommunikations- und transporttechnologischer Vernetzung beschreiben, sondern es sollten auch kulturelle Deutungs- und Aneignungsprozesse bei deren Analyse berücksichtigt werden. In der vorliegenden Studie schließe ich deshalb an die These an, dass das Entstehen weltweiter Beobachtungs- und Vergleichszusammenhänge eigenständige Globalisierungsmechanismen darstellen (siehe dazu Kapitel 2.2). Am Fall der Getreidemärkte wird in einer mikrohistorischen Perspektive gezeigt, wie translokale Beobachtung und der überregionale Vergleich von wirtschaftlichen Angeboten möglich wurden und wie die Marktteilnehmer zunehmend mit einer weltweiten Marktöffentlichkeit und mit Bedingungen von globaler Konkurrenz rechnen mussten (Kapitel 3 und 4).

Aus der Diskussion dieser beiden Forschungsstränge gewinne ich drei analytische Teilfragen, die die historische Fallstudie organisieren: Erstens wird dabei gefragt, wie Angebote als vergleichbar betrachtet wurden und wie die Marktteilnehmer diese Angebote miteinander vergleichen konnten. Durch den Vergleich werden Getreideangebote zueinander in Beziehung gesetzt und dadurch als konkurrierende Angebote erkennbar. Zweitens ist der Frage nachzuspüren, wie die Getreidenagebote mitgeteilt beziehungsweise wie potentielle Abnehmer erreicht werden konnten und welche weiteren Marktnachrichten den Marktteilnehmerinnen und -teilnehmern zur Beurteilung der Angebote zur Verfügung standen. Drittens frage ich nach der Konstitution einer Marktöffentlichkeit, die gleichzeitig Vorstellungen darüber hervorbringt, wer als Marktteilnehmerin oder -teilnehmer in Betracht gezogen werden muss. Diese Frage verdichtet sich zur zentralen These, nach der globale Märkte dann entstehen, wenn die beteiligten Marktakteure davon ausgehen, dass sich ein weltweites Marktpublikum für konkurrierende Angebote herausgebildet hat (siehe dazu Kapitel 2.3).

In dieser Studie analysiere ich deshalb am Fall historischer Getreidemärkte mit mikrohistorischem Blick, wie neue Formen wirtschaftlicher Kommunikation und veränderte Praktiken des Vergleichs an der Entstehung von neuen Erwartungen und Vorstellungen beteiligt waren und wer als Teil des Marktes berücksichtigt werden sollte. Die Ausdehnung von Märkten soll in der hier vorgeschlagenen Perspektive deshalb nicht primär anhand der Ausweitung der Angebotsherkunft oder von räumlichen Absatzgebieten, noch über sinkende Transaktionskosten oder der Ausdehnung von Transport- und Handelsrouten bestimmt werden. Auch Abweichungen von einem marktweit einheitlichen Preis, die gemäß dem ökonomischen »law of one price« Marktgrenzen markieren, werden hier nicht als solche verstanden. Wie anders als über den Preis könnten beispielsweise zwei qualitativ identische Angebote voneinander unterschieden werden? Schließlich soll in dieser Studie auch nicht davon ausgegangen werden, dass Märkte in erster Linie durch Regulierungen und Institutionen limitiert sind und erst deren Abbau (Zölle, Abgaben etc.) oder deren Entstehung (etwa Weltbank, IMF und WTO) für die Be- oder Entgrenzung von Märkten verantwortlich sind. Diese zentralen Einsichten sollen in den folgenden Überlegungen jedoch weder negiert noch ausgeschlossen werden, im Gegenteil: Sie sollen in eine komplementäre, mikrohistorische Perspektive integriert werden.

Aufbau der Studie

Nach dieser Einleitung gliedert sich dieses Buch in vier Teile: Im Kapitel 2 werden die theoretischen Grundlagen erörtert und eine analytische Perspektive für die historische Fallstudie entwickelt. Im Teilkapitel 2.1 zeige ich, dass etablierte Vertreter der Marktsoziologie ihren Gegenstand hauptsächlich in der Analyse der Vermeidung von Konkurrenzsituationen erkennen. Die Konkurrenz wird dabei oft als gegeben betrachtet, vor deren Hintergrund dann das eigentlich soziologisch Interessante geschieht. Demgegenüber gewinne ich in der Diskussion von aktuellen Erkenntnissen der Wirtschafts- und Marktsoziologie eine Perspektive, die es erlaubt, die Entstehung von Konkurrenzsituationen in den Blick zu nehmen. In einem ersten Schritt unterscheide ich dazu Handel von Markt beziehungsweise Transaktion von Konkurrenz und definiere Märkte als auskristallisierte Konkurrenzsituationen. In einem zweiten Schritt wird nach den operativen Voraussetzungen dieser Konkurrenzsituationen gefragt. Als basale Bedingungen schlage ich zunächst die soziale Konstruktion der Knappheit von Tauschressourcen vor, daraufhin die Mitteilung von Angeboten und schließlich der Vergleich, der die Offerten zueinander in Beziehung setzt.

Im Teilkapitel 2.2 ist dann anhand der Auseinandersetzung mit Studien aus der aktuellen soziologischen Weltgesellschaftsforschung ein Verständnis für die Globalität von globalen Märkten zu entwickeln. So gesehen sind Strukturen nicht erst dann global, wenn sie überall auf dem Globus auftauchen oder hinreichend dichte, transnationale Netzwerke gebildet haben. In beiden Fällen müsste man den Grad der Ausbreitung oder Verdichtung angeben, ab dem man soziale Entitäten oder Strukturen als global bezeichnen möchte. In dieser Studie sollen Phänomene demgegenüber dann als global bezeichnet werden, wenn sich erstens Beobachtungszusammenhänge herausgebildet haben, die nicht indexikalisch an bestimmte Lokalitäten gebunden sind und dadurch erlauben, den gesamten Globus in den Blick zu nehmen. Zweitens werden Märkte dann als global beschrieben, wenn sich bei den Marktakteuren die Erwartung einstellt, dass sich das Marktpublikum über den gesamten Globus erstrecken könnte. Unter diesen Bedingungen können medial übermittelte und als aktuell interpretierte Informationen von weit her – potentiell von überall her – das lokale Geschehen entscheidend beeinflussen.

Im Teilkapitel 2.3 skizziere ich das gewählte Untersuchungsdesign und gebe einen Überblick über die verwendeten empirischen Quellen. Im Rahmen einer historischen Soziologie werden die Erklärungsansprüche diskutiert, die mit einer diachronen Fallstudie verbunden sein können, die zwei historische Zeitpunkte miteinander vergleicht. Zuletzt beschreibe ich vor dem Hintergrund der ersten zwei Teilkapitel den gewählten mikrohistorischen Zugang. Dabei werden die Erkenntnisse in den bereits angedeuteten drei Teilfragen verdichtet: 1. Wie konnten Angebote verglichen werden? 2. Wie wurden sie mitgeteilt, und welche Marktinformationen wurden zur Einschätzung hinzugezogen? 3. Welche Vorstellungen der Marktteilnehmerschaft beziehungsweise der Marktöffentlichkeit hatten sich herausgebildet? Diese Teilfragen dienen einerseits als analytische Perspektiven und andererseits als Organisationsprinzip für die historische Fallstudie.

Die Kapitel 3 und 4 umfassen die historische Fallstudie. Im Kapitel 3 gehe ich zunächst in einer etwas umfangreicheren Einleitung auf die Geschichte des Getreidehandels ein. Danach liegt der Schwerpunkt dieses Kapitels auf der Zeit um 1800. Das Kapitel 4 hat demgegenüber den Zeitraum vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand. Diese beiden Kapitel sind analytisch identisch aufgebaut und orientieren sich an den skizzierten Teilfragen. Im Kapitel 3.1 soll deshalb gezeigt werden, wie Getreideangebote am Ende des 18. Jahrhunderts miteinander verglichen wurden. Während die Getreideangebote zu diesem Zeitpunkt aufgrund der verfügbaren Vergleichsmöglichkeiten noch lokal unterbreitet und überprüft wurden, ist im Kapitel 4.1 zu erläutern, wie die Übernahme von neuen technologischen Möglichkeiten und die Entstehung von neuen Rollen dazu geführt haben, dass Getreideangebote unabhängig vom Ort der Anbieter, der Abnehmer und selbst der Ware unterbreitet werden konnten. Im Kapitel 3.2 gehe ich auf die Bedeutung von Marktinformationen ein und plausibilisiere, dass deren Einsatz im 18. Jahrhundert einerseits hauptsächlich lokale Bedeutung hatte und andererseits überwiegend in Handels- und Korrespondenznetzwerken von Akteuren zirkulierten, die sich untereinander kannten. Gezeigt werden soll, dass und warum sie in dieser Form nicht zur Herausbildung von überregionalen Märkten beigetragen haben. Demgegenüber gehe ich im Kapitel 4.1 auf die telegraphischen Möglichkeiten zur Übermittlung von Getreideangeboten und auf neue Publikationen mit Marktberichten und Preisinformationen ein. Dort soll behandelt werden wie Marktteilnehmer unabhängig vom Standort und trotz teilweise noch immer signifikanten Übermittlungszeiten ab dem späten 19. Jahrhundert davon ausgegangen sind, dass es sich um aktuelle Angebote und Marktinformationen gehandelt hat. In den Kapiteln 3.3 und 4.3 erläutere ich auf der Basis der jeweils ersten beiden Teilkapitel, wie sich die Akteure um 1800 (Kapitel 3.3) und um 1900 (Kapitel 4.3) die räumlichen Grenzen der Marktteilnehmerschaft vorgestellt haben. Die Märkte um 1800 waren noch stark von der Interaktion und der lokalen Anwesenheit auf dem Marktplatz geprägt, und die Marktteilnehmer gingen von einer räumlich limitierten Marktöffentlichkeit aus. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts haben sich diese Erwartungen so sehr verändert, dass die Marktakteure von einem globalen Marktpublikum ausgegangen sind. In dieser Situation wurden von weltweit verstreuten Marktteilnehmern sogenannte Weltmarktpreise beobachtet und zur Einschätzung des eigenen Geschäfts eingesetzt.

Das fünfte und letzte Kapitel systematisiert die historischen Entwicklungen, diskutiert die Ergebnisse der Studie und öffnet den Blick über den historischen Fall der Getreidemärkte hinaus. Im Rahmen der Marktsoziologie wird einerseits diskutiert, inwiefern die historische Ausdifferenzierung von verschiedenen Vergleichsordnungen zu unterschiedlichen Marktformen führen kann. Andererseits wird die Beobachtung von Weltmarktpreisen als eigenständiger Mechanismus zur Angleichung von Preisen vorgeschlagen Im Kontext einer kommunikationstheoretischen Weltgesellschaftsforschung wird schließlich das Globalisierungspotential von sprachlichen Standardisierungen hervorgehoben. Auch wird dann die Frage aufgeworfen, wie trotz weltregional unterschiedlicher Standards globale Märkte entstehen konnten. Im Rahmen einer historischen Soziologie der Weltgesellschaft schlage ich schließlich vor, die Entstehung von globalen Märkten als eine Überlagerung von weltweiten Handels- und Korrespondenznetzwerken (»Welthandel«) durch globale Beobachtungs- und Vergleichszusammenhänge (»Weltmärkte«) zu beschreiben.

2.Eine historische Soziologie globaler Märkte

In diesem Kapitel soll die theoretische Grundlage dieser Studie geschaffen werden. Drei Teilfragen dienen der Analyse des historischen Falls. Im ersten Teil setze ich mich mit der aktuellen Marktsoziologie auseinander (Kapitel 2.1). Statt sich bei der soziologischen Analyse von Märkten auf die Vermeidung von Konkurrenz zu konzentrieren, schlage ich vor, die Entstehung von Konkurrenzsituationen in den Blick zu nehmen. Im zweiten Teil werden Globalitätsvorstellungen diskutiert, die den soziologischen Analysen von globalen Märkten bisher zugrunde lagen (Kapitel 2.2). Statt bei globalen Strukturen hauptsächlich von verdichteten Punkt-zu-Punkt-Verbindungen auszugehen, wird hier Anregungen aus der kommunikationstheoretischen Weltgesellschaftsforschung gefolgt: Berücksichtigt werden deshalb auch Mechanismen der Beobachtung und des Vergleichs. Globalisierungsprozesse entstehen somit nicht nur aus zunehmender Vernetzung, sondern auch durch Beobachtungs- und Vergleichszusammenhänge, die keine lokalen Beschränkungen haben. Im letzten Teil erläutere ich die methodischen und empirischen Grundlagen dieser Studie (Kapitel 2.3). Statt determinierende, makrosoziologische Faktoren zu identifizieren, wird am Fall von Getreidemärkten in mikrohistorischer Perspektive veranschaulicht, wie veränderte Marktpraktiken zu einem globalen Markt geführt haben. Am Ende sind die Erkenntnisse in drei Teilfragen zu verdichten, die zur Analyse und Organisation der historischen Fallstudie dienen.

2.1Märkte: Von der Vermeidung und Entstehung von Konkurrenz

Märkte als soziale Strukturen der Konkurrenzvermeidung

Die disziplinbildenden Beiträge der ›neuen‹ Wirtschaftssoziologie sind in den 1980er Jahren mit dem Anspruch angetreten, die ihrer Meinung nach idealisierten Annahmen der mikroökonomischen Theorie soziologisch zu befragen (siehe etwa Granovetter 1985; White 1981 und die resümierende Beschreibung in Swedberg 1997). Ökonomen würden, so der Einwand, analytische Modelle des ›perfekten‹ Marktes entwickeln, um diese dann auf empirisches wirtschaftliches Geschehen anzuwenden. Transaktionen sollen dadurch kostengünstiger und Märkte entsprechend effizienter werden. Demgegenüber wollten die Soziologen keine idealisierten Marktmodelle entwickeln, sondern untersuchen, was auf Märkten empirisch geschieht und wie sie ›tatsächlich‹ funktionieren: »Reproducibility, rather than efficiency, is the main issue« (Leifer/White 1987: 86). Während die ökonomische Theorie die Konkurrenz per Definition voraussetzen würde, problematisierte die Wirtschaftssoziologie diese Annahme. Eine der entscheidenden Einsichten der Marktsoziologie sei deshalb, so fassen Neil Fligstein und Luke Dauter (2007: 113) den marktsoziologischen Forschungsstand zusammen, »that market actors will develop social structures to mediate the problems they encounter in exchange, competition, and production«. Die soziale Struktur der Märkte bestehe deshalb nicht aus Konkurrenzsituationen, sondern gerade aus Versuchen, diese Konkurrenz zu vermindern (siehe auch Fligstein 1996: 657).1

Je nach theoretischer Position werden unterschiedliche Formen der Konkurrenzvermeidung beobachtet, die sich dann im jeweiligen soziologischen Marktbegriff niederschlagen. Zeigen lässt sich das beispielsweise an marktsoziologischen Forschungszweigen, die in Überblicksartikeln wiederholt als etablierte marktsoziologische Beiträge identifiziert wurden: Harrison Whites Marktbegriff etwa, aber auch netzwerktheoretische Ansätze sowie die Feld- und Institutionentheorie (siehe Fligstein/Dauter 2007; Fourcade 2007 und Swedberg 2005).

Harrison Whites Überlegungen basieren auf der Prämisse, dass es den Anbietern in modernen Märkten nie ganz gelingen wird, herauszufinden, was die Abnehmerinnen und Abnehmer eigentlich möchten. Deswegen würden sich die Konkurrentinnen und Konkurrenten eher gegenseitig beobachten, als von den Präferenzen der Konsumentinnen und Konsumenten zu ›träumen‹ (White 1988: 238). Durch die wechselseitige Beobachtung würden sich die Anbieter einander angleichen und sich zugleich voneinander abgrenzen: »In my view, firms seek niches in a market in much the same way as organisms seek niches in an ecology« (White 1981: 520). Die Anbieter, so White (1981: 520), stünden deswegen »not in pure competition but in finding and sustaining roles with respect to one another given an environment of discerning buyers«. White (1981: 518) beschreibt Märkte entsprechend als Cliquen von sich grundsätzlich ähnlichen, wechselseitig beobachtenden Unternehmen.

Demgegenüber wird in netzwerktheoretischen Studien gezeigt, wie Märkte von Beziehungen zwischen sich persönlich bekannten Akteuren durchsetzt sind. Märkte und das Handeln wirtschaftlicher Akteure, so die zentrale Beobachtung dieser Arbeiten, sind in soziale Beziehungen eingebettet, was sich stabilisierend und konkurrenzvermindernd auswirke (paradigmatisch etwa bei Granovetter 1985 und darauf aufbauend bei Uzzi 1997; für eine kultur- und institutionentheoretische Erweiterung der »embeddedness« siehe Zukin/DiMaggio 1990). Gegenüber Harrison Whites Beobachtungskonzept wird in diesen netzwerktheoretischen Perspektiven jedoch kein eigener soziologischer Marktbegriff entwickelt, sondern überwiegend das idealisierte Marktverständnis aus der Ökonomie übernommen und mit sozialen Beziehungen ›angereichert‹ (siehe für diese Kritik Krippner 2001). Das Unterhalten von Bekanntschaften kann zwar kurzfristig kostenintensiv sein und sich in höheren, von der ökonomischen Theorie nicht erwarteten Preisen niederschlagen, längerfristig aber durchaus Wettbewerbsvorteile mit sich bringen. In dieser Vorstellung geht es also nicht primär um die Suche nach Nischen, sondern die Konkurrenzverhinderung – und damit die Überlebens- und Profitchancen von Unternehmen – wird im Verfügen über bestimmte soziale Beziehungsmuster erkannt: »The social structure of competition is about the negotiability of the relationships on which competitors survive. That is the essence« (Burt 1993: 98).

Feld- und institutionentheoretische Perspektiven beschreiben schließlich, wie die Konkurrenz durch Machtbeziehungen eingedämmt wird. Etablierte Unternehmen hätten gegenüber ihren Herausforderern eine Machtposition und können dadurch die Konkurrenz kontrollieren (siehe Fligstein 2001: 68). Märkte werden von Fligstein (2001: 69) deshalb als »systems of power« beschrieben, »whereby incumbent (dominant) firms use tactics and strategies to stabilize themselves and reproduce their position over challenger (dominated) firms«. Die Konkurrenzsituation erscheint als »geregelter Konflikt« (Kieserling 2004: 134), und die Theorie des ökonomischen Feldes wird nicht als Konkurrenz-, sondern als Konflikttheorie ausgearbeitet (siehe unten).2 Da in modernen kapitalistischen Volkswirtschaften mitunter staatliche Institutionen stabile Verhältnisse garantieren, werden die etablierten Unternehmen nicht nur als erfolgreiche Akteure im Kampf um die Marktmacht beschrieben, sondern auch als geschickte Beeinflusser von staatlichen Rahmenbedingungen und der Gesetzgebung (siehe Bourdieu 2005: 195–204; Fligstein 1996: 657).

Diese Perspektive auf die Konkurrenzvermeidung und die stabile Reproduktion von Märkten ist für die Marktsoziologie eine produktive Einsicht. Mit dem Fokus auf die Konkurrenzvermeidung sind in der ›neueren‹ Marktsoziologie nicht nur empirische Beobachtungen dessen verbunden, was Akteure auf Märkten ›tatsächlich‹ tun, sondern er beruht auf einer analytischen Einsicht. Diese Forschungsstränge beschreiben die Konkurrenz durchaus als konstitutiv für Märkte. Deshalb setzen sich überhaupt soziale Dynamiken zu ihrer Vermeidung in Gang. Gäbe es jedoch diese Ordnungsbildung durch verschiedene Maßnahmen der Konkurrenzvermeidung nicht, würde sich die ökonomische Situation als undurchdringlich, als inhärent unsicher und ›trüb‹ präsentieren. Gerade die Konkurrenz in der modernen Gegenwartsgesellschaft, die meist zwischen sich persönlich Unbekannten stattfinde, sei keine Grundlage für stabile Marktstrukturen (siehe Fligstein/Dauter 2007: 113). Erst die durch die Konkurrenzvermeidung hervorgebrachten sozialen Strukturen würden für Ordnung sorgen und erst wenn die von der Konkurrenz hervorgebrachte Unsicherheit reduziert sei, könnten Märkte entstehen (siehe Beckert 2007a: 51; Beckert 1996; Fligstein 2001: 21).

Dieser analytische Fokus hatte für die soziologische Untersuchung von Märkten zwei Konsequenzen: Auf der einen Seite rückten die Konkurrenz und ihre Entstehung, gerade unter den Bedingungen, dass man die Mitkonkurrentinnen und -konkurrenten oder die potentiellen Abnehmerinnen und Abnehmer nicht persönlich kennt, aus dem Blickfeld der Marktsoziologie. Auf der anderen Seite wurden Märkte soziologisch deshalb meistens nicht über die Konkurrenz, sondern als Konfliktstrukturen oder als Tauschzusammenhänge zwischen sich einander bekannten Akteuren beschrieben.3 In den nächsten Abschnitten soll vom Ausgangspunkt der Differenz von Konkurrenz und Handel ein Verständnis von Märkten als auskristallisierte Konkurrenzstrukturen entwickelt werden. Das Ziel soll jedoch nicht ein konkurrierender Marktbegriff sein, sondern eine zur Verhinderung der Konkurrenz komplementäre Perspektive auf die Entstehung von Konkurrenz.

Märkte als Konkurrenzstrukturen

Im Folgenden schlage ich vor, Konkurrenz und Handel konsequent zu unterscheiden und den Marktbegriff nicht von der Tauschsituation, sondern von der Konkurrenz her zu denken. Die Unterscheidung von Konkurrenz und Handel geht auf Georg Simmels (2008b, 1992: 323–349) Formenlehre zurück und wurde in der Marktsoziologie von Patrik Aspers (2011: 7f.) wieder aufgegriffen. Während die oben beschriebenen Marktsoziologien den sozial befriedeten Markt mit der notorisch unsicheren und undurchdringlichen Konkurrenz kontrastieren, legt ein Anschluss an Simmel die Unterscheidung von Handel (auch Tausch oder Transaktion) und Konkurrenz nahe. Tausch und Konkurrenz erscheinen dann als zwei Formen von sozialen Wechselwirkungen, die eine vergesellschaftende Wirkung entfalten. Weitere Vorschläge für solche Formen sind beispielsweise die Kooperation, der Streit oder die Nachahmung (siehe Simmel 1992 [1908] und als kritische Würdigung die Beiträge in Tyrell u. a. 2011).

Doch wie lässt sich der Tausch von der Konkurrenz unterscheiden? Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Zahl der beteiligten Parteien. Während eine Transaktion zwischen zwei Handelspartnern stattfindet, die beispielsweise ein Gut gegen Geld tauschen, wetteifern in einer Konkurrenzsituation mindestens zwei Anbieter um die knappe »Gunst eines oder vieler dritter Personen« (Simmel 1992 [1908]: 327; Hervorhebung durch M. B.). In einer Konkurrenzsituation braucht es also mindestens drei beteiligte Parteien, wobei zwei von ihnen auf derselben Seite stehen. Mit dieser Konkurrenzdefinition ›soziologisiert‹ Simmel die herkömmliche Vorstellung der Konkurrenz, die von einem Kampf zwischen zwei Wettstreitenden um einen knappen Preis ausgeht (siehe prägnant Werron 2010b: 305f.). Die »Konkurrenz in der Gesellschaft« sei, so Simmel (1992: 328), »doch Konkurrenz um den Menschen«. In der Gegenwart sei es oft genug eine Konkurrenz um viele Dritte, die man meist persönlich gar nicht kennt, es sei »ein Ringen der Wenigen um die Vielen wie der Vielen um die Wenigen« (ebd.: 328).

Im Gegensatz zum Handel, bei dem die dyadische Transaktion eines Gutes oder einer Dienstleistung zwischen zwei Parteien im Vordergrund steht, handelt es sich bei der Konkurrenz also mindestens um eine Dreierkonstellation, bei der zwei Anbieter um die knappe Gunst eines oder mehrerer potentieller Abnehmer buhlen (siehe Abbildung 1). Deshalb reicht in Simmels (1992: 323) Konkurrenzmodell das Besiegen der Gegnerin oder des Gegners noch nicht aus, um den knappen Preis zu gewinnen. Ein Anbieter, der einen Konkurrenten oder eine Konkurrentin beim Publikum unmöglich gemacht hat, hat noch nichts gewonnen, wenn die Abnehmer sein Angebot nicht goutieren.

Abb. 1: Konkurrenz vs. Transaktion.

Erweiterung auf Basis von Aspers 2011: 8.

Mit Hilfe von Simmels Konkurrenzbegriff lässt sich der Markt deshalb nicht als Gegenbegriff zur anonymen ökonomischen Konkurrenz denken, sondern es lässt sich gerade die marktkonstitutive Konkurrenz in den soziologischen Blick nehmen. Gleichwohl Märkte hier als Verfestigungen von triadischen Konkurrenzsituationen beschrieben werden sollen, legt der Anschluss an die oben beschriebene marktsoziologische Forschung nahe, Märkte aber nicht darauf zu reduzieren. Die vorgeschlagene Perspektive erlaubt es vielmehr, auch die sozialen Formen der Konkurrenzvermeidung – Kooperation, Machtbeziehungen oder Angebotsdifferenzierung – weiterhin zu berücksichtigen. Die triadische Situation der Konkurrenz kann deshalb zu Kooperationen, zu Differenzierungen und zu Formen der Über- und Unterordnung führen. Solange wir es jedoch mit Märkten zu tun haben, verschwindet die dahinterliegende Konkurrenz nicht.4 Die Konkurrenz wird vielmehr von den anderen Sozialformen überlagert, zu deren Entstehung sie ursprünglich Anlass gegeben hat.

In mindestens einem Fall transformiert sich die Konkurrenzsituation in eine andere soziale Form, anstatt überlagert zu werden: Aus der triadischen Konkurrenzsituation kann eine dyadische Tauschsituation werden. Abnehmer wählen zwischen vergleichbaren Angeboten das für sie passende aus und realisieren eine Transaktion. Je nach Rahmung, beispielsweise ob fixe oder verhandelbare Preise verwendet werden, kann der Transaktion noch ein dyadischer Aushandlungsprozess vorausgehen. Haben sich aber eine Anbieterin und ein Abnehmer auf ein Geschäft geeinigt, wird die Konkurrenz in eine Transaktion überführt.5

Ein Tausch zwischen zwei Parteien kann auf der einen Seite auch ohne Konkurrenzsituation zustande kommen. Gerade der Blick in die Geschichte des Getreidehandels zeigt, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein die überwiegende Menge des umgeschlagenen Getreides wohl nicht von Marktstrukturen erfasst wurde (siehe Braudel 1990: 322–373; Brunt/Cannon 2013: 323). Auf der anderen Seite umfassen Märkte jedoch immer auch realisierte Transaktionen. Stark verkürzt lässt sich formulieren: Dyadischer Handel kommt zwar ohne Markt aus, Märkte beinhalten jedoch immer auch Handel (siehe Aspers 2011: 7).

Eine einzelne Konkurrenzsituation macht allerdings noch keinen Markt. Die Konkurrenzsituationen müssen sich zu sozialen Konkurrenzstrukturen verfestigen, damit von Märkten gesprochen werden kann. Erst wenn sich einzelne soziale Formen überlagern und erwartbar aneinander anschließen, können sie sich zu ›größeren‹ Strukturen, wie es Märkte sind, auskristallisieren und dadurch verfestigen (siehe Simmel [1908] 1992: 32–35; daran anschließend auch Martin 2009). Märkte erscheinen entsprechend als gesellschaftliche Gebilde, die sich aus unzähligen Konkurrenzsituationen herausgebildet haben. »Alle jene großen Systeme«, so lässt es sich in leichter Abwandlung von Georg Simmels Diktum formulieren, »an die man bei dem Begriff von Märkten zu denken pflegt, sind nichts anderes als die Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden – von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden Formen der Konkurrenz« (Simmel 2008a: 13f.; kursive Einfügungen durch M. B.).

Erwartbar reproduzierte Konkurrenzsituationen erscheinen dann als Entstehungsgrundlage von Märkten, indem kleinste soziale Formen der Konkurrenz ständig operativ reproduziert werden, sich überlagern und dadurch zu größeren sozialen Marktstrukturen auskristallisieren. Diese wiederum können auf die Entstehung und Dynamik der einzelnen Konkurrenzsituationen zurückwirken. Damit stellt sich die Frage nach den operativen Voraussetzungen der Konkurrenz und danach, wie diese sich stetig reproduzieren kann.

Operative Voraussetzungen von Konkurrenz: Knappheit, Mitteilung, Vergleich

Eine Konkurrenzsituation kann sich zwar in eine Handelssituation verwandeln. Unter Konkurrenzbedingungen wird jedoch nicht jede Transaktionschance auch in einen Austausch münden. Wenn sich zum Beispiel eine Abnehmerin unter Konkurrenzbedingungen für das Angebot eines Anbieters entscheidet, bedeutet dies gleichzeitig, dass andere Anbieter nicht zum Zuge gekommen sind. Abnehmerinnen und Abnehmer wählen also zwischen alternativen Angeboten eines aus und erweisen so einem der konkurrierenden Anbieter ihre ›Gunst‹. Diese Gunst, etwa in Form von Aufmerksamkeit oder Geld, wird als knapp wahrgenommen, weshalb nicht jeder Anbieter damit rechnen kann, dass seine Angebote auch tatsächlich einen Abnehmer oder eine Abnehmerin finden. Würde die Gunst als unversiegbar wahrgenommen, so müsste man sich auch nicht um sie bemühen. Die Wahrnehmung von Knappheit ist damit eine der Voraussetzungen von Konkurrenzsituationen.

Der einfachste Hinweis auf die Existenz von Knappheit lässt sich in der vollzogenen Transaktion erkennen: Hat der eine eine Ware gekauft, kann sie der andere nicht mehr haben. Doch Knappheiten sind nicht ›natürlich‹ gegeben, sondern sie sind soziale Wahrnehmungen von Beschränkungen und damit soziale Konstruktionen (siehe Baecker 2006: 12–45; Luhmann 1999b). Obwohl beispielsweise Erdöl immer schon in einer begrenzten Menge vorhanden gewesen ist (gewissermaßen eine naturwissenschaftlich festgestellte und damit eine als objektiv wahrgenommen endliche Menge), wurde das Öl wirtschaftlich erst dann knapp, als es Grundlage moderner Technologien wurde. Es wurde in entsprechend höherem Maße nachgefragt und mit Preisen versehen (siehe für eine Wirtschaftsgeschichte des Erdöls beispielsweise Yergin 1991). Alois Hahn (1987: 122–124) erkennt im Preis nicht nur eines der deutlichsten Symbole von Knappheit, er sieht Knappheiten gar erst durch die Konkurrenz entstehen (siehe dazu auch Werron 2010b: 310). Knappheit und Konkurrenz erscheinen dann als Korrelate: Wird um Transaktionschancen nicht konkurriert, sind sie nicht knapp; sind die Transaktionschancen nicht knapp, muss auch nicht um sie konkurriert werden.6

Entsprechend lässt sich fragen, wie Knappheiten konstruiert werden. Je nach dem, aus welcher Richtung die Knappheit wahrgenommen wird, kann sich auch die Konkurrenzsituation unterschiedlich präsentieren. Auf der einen Seite können die Aufmerksamkeit (Zeit) oder die Tauschressourcen der potentiellen Abnehmer (Geld) als knapp konstruiert werden. Auf der anderen Seite kann die Beschränkung in der Menge der angebotenen Güter, Immobilien oder Dienstleistungen erkannt werden (siehe für Überlegungen in diese Richtung Luhmann 1999b: 197–199). Am empirischen Fall der Getreidemärkte soll in dem vorliegenden Buch gezeigt werden, wie Knappheiten jeweils operativ geschaffen wurden. Die Art und Weise jedoch, wie Knappheiten – und vor allem zukünftige Knappheiten – wahrgenommen wurden, scheint jedoch von der Verfügbarkeit von als aktuell wahrgenommenen Angeboten und weiteren Marktnachrichten abhängig gewesen zu sein. Diese Wahrnehmung war wiederum abhängig von den verwendeten Kommunikationstechnologien.

Damit ist eine weitere Voraussetzung der Konkurrenz verbunden: Angebote müssen übermittelt und potentielle Abnehmerinnen und Abnehmer erreicht werden, damit Konkurrenzsituationen entstehen können. Werden Angebote nicht unterbreitet oder können potentielle Käuferinnen und Käufer nicht erreicht werden, kann auch keine Konkurrenz entstehen. Hinter dieser scheinbar trivialen Feststellung verbergen sich zwei analytisch zu unterscheidende Teilfragen: auf der einen Seite die Frage, wie Angebote übermittelt werden können, und zum anderen die Frage, wie Angebote überhaupt als Angebote wahrgenommen werden. Diese Problematisierung lässt zu, dass eine weitere zentrale Erkenntnis der gegenwärtigen Marktsoziologie in die Erklärung aufgenommen werden kann. Aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei Märkten um Phänomene handelt, die aus kommunizierten Beobachtungen, Geschichten oder Konversationen entstehen (siehe beispielsweise Baecker 1988; Diaz-Bone/Krell 2009; Kennedy 2008; Knorr Cetina 2007; Luhmann 1999a; Mützel 2009b). Die Kernthese dieser Studien bezieht sich nicht nur auf die Feststellung, dass man Märkte als kommunikative Phänomene analysieren sollte, sondern auch darauf, dass unterschiedliche Medientechnologien einen Einfluss auf die Ausgestaltung von Märkten haben. Medien, so die These, sollten deshalb nicht bloß als reibungslose »Übertragungskanäle« von Marktinformationen betrachtet werden, sondern sie sollten auf ihre je eigene, marktkonstitutive Bedeutung hin untersucht werden (siehe für diese These Knorr Cetina 2003; Mützel 2009a: 226f.; Podolny 2001).

Solche Übertragungsmöglichkeiten können beispielsweise die mündliche Rede, verschiedene schriftliche Aufzeichnungs- und Verbreitungstechnologien (Briefe, Listen, Zeitungen und Zeitschriften, Telegraphie) oder Medien sein, die auch Bilder übertragen können (z. B. Fernsehen und Internet). Verschiedene mediale Übertragungsformen besitzen jedoch unterschiedliche Reichweiten und Eigenlogiken, die, so die These, auf eine unterschiedliche Ausgestaltung von Konkurrenzsituationen hinführen.7 Solange beispielsweise Angebote nur mündlich angepriesen werden, reicht deren Reichweite nur so weit, wie andere die eigene Stimme hören können. Besonders Marktfahrer scheinen um die Bedeutung der eigenen Stimme und Erscheinung zum Erheischen der knappen Aufmerksamkeit der Laufkundschaft zu wissen (siehe dazu etwa Clark/Pinch 1995). In den Fallstudien zeige ich, wie im 18. Jahrhundert das Marktgeschehen, trotz bereits leistungsfähiger Korrespondenznetzwerke, noch stark durch die mündliche Rede und die wechselseitige Wahrnehmung geprägt war. Ab dem späten 19. Jahrhundert, so die daraus entwickelte These, werden die Marktteilnehmer gerade dadurch ›integriert‹, dass sie ein weltweites Publikum derselben medial verbreiteten Marktnachrichten darstellen.

Diese These orientiert sich an marktsoziologischen Analysen, die Publikumsmedien wie Zeitungen und Zeitschriften eine marktkonstitutive Bedeutung beimessen. So heben beispielsweise Mark Kennedy (2005: 205) oder Anand/Peterson (2000) hervor, dass sich Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer in der Gegenwart meist nicht direkt, sondern vielmehr durch Massenmedien vermittelt beobachten. Gerade in einer historischen Perspektive fällt die marktkonstitutive Bedeutung von Medien besonders deutlich auf, da Angebote im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend nicht nur mündlich, sondern auch durch die Verwendung von Schrift oder der Telegraphie unterbreitet wurden.8

Damit Konkurrenzsituationen entstehen können, müssen die mündlich oder schriftlich übermittelten Angebote jedoch nicht nur mögliche Abnehmerinnen und Abnehmer erreichen, sondern sie sollten einerseits auch als gültige und andererseits als gleichzeitige Angebote wahrgenommen werden. Nur Angebote, die gültig und gleichzeitig unterbreitet werden, können überhaupt miteinander in Konkurrenz treten. Man kann durchaus in einer alten Zeitung die Getreidepreise von damals entdecken und sie mit aktuellen Preisen vergleichen. Die Differenz kann man dann bedauern, (ver-)kaufen kann man dafür jedoch nichts. Gerade im Unterschied zum dyadischen Handel und dem Feilschen zweier Händlerinnen oder Händler, bei dem Angebote diachron und aufeinander aufbauend erfolgen, ist die Konkurrenz das Resultat von synchron unterbreiteten, gültigen Angeboten.9

Die Überlegung, dass globale Märkte durch neue kommunikationstechnologische Grundlagen entstehen können, ist in der Marktsoziologie von Karin Knorr Cetina und Urs Bruegger (2002) angestellt worden. Dabei führen sie Überlegungen zur medialen Eigenlogik, zur Erreichbarkeit der Marktakteure und zur Synchronizität der Nachrichten zusammen. In Studien zu globalen Währungsmärkten und den daran beteiligten Händlern entwarf Knorr Cetina (2003) die Idee von »skopischen« Medien. Auf modernen Fremdwährungsmärkten sind die Händler durch Computersysteme miteinander vernetzt. Diese erlauben, dass alle Angebote in diese Systeme eingegeben und die Transaktionen darüber abgewickelt werden können. Gleichzeitig sind die erfolgten Transaktionen für alle angeschlossenen Händler unmittelbar sichtbar, so dass sie wiederum direkt darauf reagieren können. Diese Computernetzwerke und ihre sozialen Effekte nennt Knorr Cetina (ebd.: 8) deshalb »reflex systems«. Die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung der Marktinformation und die unmittelbaren Reaktionsmöglichkeiten konzentrieren die Aufmerksamkeit der beteiligten Währungshändler auf das Bildschirmmedium und integrieren sie dadurch in einen gemeinsamen Marktzusammenhang.10 In der späteren Fallstudie sollen diese Überlegungen historisiert werden, um nachzuvollziehen, wie die Marktakteure im Getreidemarkt ab dem späten 19. Jahrhundert mit einem medial ständig aktualisierten Marktzusammenhang rechneten, der weltweite Ausdehnung angenommen hat.

Schließlich stellt sich die Frage, wie verschiedene, sowohl als gültig wie auch als synchron wahrgenommene Angebote überhaupt miteinander in Verbindung gebracht werden. Diese Verbindung zwischen wirtschaftlichen Angeboten, so legt etwa Patrik Aspers (siehe 2011: 7) nahe, stiftet ein Vergleich