Von nichts kommt was - Maik Martschinkowsky - E-Book

Von nichts kommt was E-Book

Maik Martschinkowsky

4,8

Beschreibung

Maik M. soll ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Oder zumindest so wirken. Deshalb geht er der Frage nach, wie sich nichts in die Praxis umsetzen lässt. Hinter den Dingen der Ordnung sucht er nach der Differenz, gerät aber immer wieder an Zusammenhänge oder stolpert über eine unsichtbare Hand, die ihm Antworten in den Weg legt, nach denen er nicht gefragt hat. Das Ergebnis ist eine Sammlung satirischer Kurzgeschichten. Maik Martschinkowsky ist bekannt für seine Kurzgeschichten, in denen er Philosophie mit Humor und Kapitalismuskritik mit Alltagssatire verbindet.

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Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2014

© by Verlag Voland & Quist OHG

Umschlaggestaltung: Roman Klein, Stuttgart

Satz: Fred Uhde, Leipzig

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-105-8

www.voland-quist.de

Für sich

Mutterliebe, modern

Mit sorgenvollem Blick

Schaut die Mutter auf den Sohn

Seufzt und denkt geknickt:

Ob der Aufwand sich wohl lohnt?

Am Ende zieht man so was groß

Und dann wird’s doch nur arbeitslos

Inhalt

Vom Verlag nicht gebilligtes InhaltsverzeichnisAllgemeine SicherheitshinweiseVon nichts kommt wasKnustLillithStar-CraftFallmut kommt vor dem HochIch muss dann mal losFun FactoryDas Osterei des KolumbusWas tunIntegrationshintergrundAuf dem HolzwegIch sehe was, was du auch siehstSchlandDie groben UnterschiedeVon Türen und TorenKrieg’ den PalastUnter dem KardamondPunk is DadHigh NoonRude BoysPleb! – Chaot demaskiert!UnangenehmnesieVon einem, der auszog, das Fürchten zu lernenPolitisch kochenDuc de CoeurEnergiehandelHeute Kinder, wird’s was gebenWas kommt von NichtsOpilogDank

Vom Verlag nicht gebilligtes Inhaltsverzeichnis

1.  Einige Grundbegriffe. Allgemeinheit und Notwendigkeit

2.  Das Problem des Nichts

2.1  Die sinnliche Gewissheit oder: Das Ding und das Meinen

2.2  Das Für-sich und das Sein der Möglichkeiten

2.3  Die Klippe des Solipsismus

2.3.1  Die Architektonik der reinen Vernunft

3.  Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der Frage nach dem Sein

3.1  Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie

3.2  Ironie als beheerschtes Moment

4.  Auf der Suche nach dem Sein

4.1  Erfindung eines neuen Vergnügens

5.  Über die Deutung des Inneren aus dem Äußeren

6.  Heteronomie des Willens als Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit

6.1  Der Blick (Das Objekt Wir)

6.2  Die Ideologie überhaupt, namentlich die Deutsche

7.  Moral und Selbstpraktik

7.1  Der Kampf um den Normalarbeitstag

7.1.1  Ausschluss sekundärer Weisen des Seins aus der Untersuchung (Was als Drängen vor sich geht)

8.  Das Phänomen der Verdinglichung

8.1  Der grundsätzliche Fehler in der relativistischen Position. Erneute Bekräftigung des Satzes vom Widerspruch.

9.  Der Sieg über das unglückliche Bewusstsein; Produktion und Distribution

9.1  Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft

9.1.1  Zerfall der Materialien

10.  Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urteile – Realität als ontologisches Problem

10.1  Von der Finsternis

10.2  Die Eroberung des Brotes

10.2.1  Das Unbehagen in der Kultur

11.  Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der Welt

12.  Verwechslung des Umgreifenden mit seiner partikularen Objektivierung

13.  Nichtssagendes Nachspiel

13.1  Das geschichtliche Engagement der Philosophie

13.2  Von der Freiheit der Untertanen

Allgemeine Sicherheitshinweise

Meine Damen und Herren, herzlich willkommen an Bord der kapitalistischen Marktwirtschaft. Wir bitten kurz um Ihre Aufmerksamkeit, um Sie mit den wichtigsten Sicherheitsaspekten unseres Wirtschaftssystems vertraut zu machen.

Achten Sie zunächst darauf, dass Ihr Geld richtig angelegt ist. Belegen Sie hierzu die dafür vorgesehenen Fächer an der Hochschule oder Fachhochschule und schließen diese ordentlich ab.

Wenn Sie über größere Geldpakete verfügen, können Sie diese auch vorübergehend unter einem anderen Wohnsitz verstauen.

Sichern Sie anschließend Ihren Arbeitsplatz. Zum Sichern des Arbeitsplatzes schieben Sie die entsprechenden Abschlüsse in die dafür vorgesehenen Praktika und passen Ihr Profil an. Da jederzeit unerwartet Turbolenzen auftreten können, raten wir Ihnen, Ihren Arbeitsplatz für die gesamte Dauer Ihres Aufenthalts nicht zu verlassen, zumindest jedoch, bis wir unsere geplante Wachstumsprognose erreicht haben. Sie werden durch ein kleines Symbol auf dem Dax darüber informiert, ob Sie weiterhin in diesem Verhältnis bleiben sollten. Zum Entsichern des Arbeitsplatzes genügt ein einfacher Fehlgriff.

Wir bitten Sie, Ihre Mobiltelefone und andere technische Kommunikationsmittel einzuschalten und diese jederzeit eingeschaltet zu lassen, um Ihre Erreichbarkeit zu garantieren.

Bitte beachten Sie zudem das Privateigentum an Bord unseres Wirtschaftssystems. Nichtbeachtung hat juristische Konsequenzen und wird dementsprechend verfolgt.

Unser Wirtschaftssystem verfügt über verschiedene Ausgänge. Diese befinden sich jeweils am oberen und am unteren Ende des Systems. Die oberen Ausgänge verfügen über bequeme Rücklagenpolster, die im Notfall ein längeres Schwimmen ermöglichen. Bezüglich der jeweiligen Sicherungsmaßnahmen an den unteren Ausstiegen erkundigen Sie sich bitte bei den zur Verfügung stehenden Sachbearbeiterinnen.

Im sehr unwahrscheinlichen Fall eines Druckabfalls im Regierungskabinett fallen automatisch Maskierungen aus den Positionen über Ihnen. Ziehen Sie die Maskierungen ganz zu sich heran und achten Sie darauf, dass Ihre Sicht ganz bedeckt ist. Kümmern Sie sich zunächst immer erst um sich selbst und verweisen dann auf Hilfsbedürftige.

Meine Damen und Herren, abschließend möchten wir Sie mit der Benutzung der Rettungspakete vertraut machen. Die Rettungspakete befinden sich unter Ihnen und sind auf Anraten eines Experten zu übernehmen. Zur Verwendung des Rettungspaketes stülpen Sie dieses über einen Nachbarn und schnallen den Gürtel eng an. Im Falle eines bevorstehenden Ausstiegs ziehen Sie einfach die Auflagen straff, das Rettungspaket bläht sich dann ganz von selbst auf. Nutzen Sie auch die an den Rettungspaketen angebrachten Signalgeber, um von sich abzulenken!

In jedem Fall gilt: Zu Ihrer eigenen Ruhe bleiben Sie in Sicherheit und erheben Sie sich erst, wenn das System zum Stillstand gekommen ist.

Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt an Bord und – viel Glück.

Von nichts kommt was

»Nein«, sage ich zu der Frau, die mir gegenübersitzt und ein Klemmbrett auf den übereinandergeschlagenen Beinen liegen hat. Sie ist Mitarbeiterin beim psychologischen Service der Bundesagentur für Arbeit, etwa in meinem Alter, und kommt mir irgendwie bekannt vor. Weshalb, weiß ich aber nicht. Sie fragte mich grade, ob ich wüsste, warum ich hier bin.

Ich hielt es für eine gute Idee, mich vorübergehend Hartz-IV suchend zu melden, und bekam nach meinem zweiten Besuch beim Amt direkt eine ›Einladung‹ zu diesem Gespräch beim psychologischen Service der Arbeitsagentur. Es ist mir vollkommen schleierhaft, warum. Aber der konkrete Sinn seiner Vorgänge gehört ja nun mal zu den am besten gehüteten Geheimnissen des Arbeitsamtes, das so verwirrende Hieroglypheninschriften verfasst wie ein Alchemistenbund, der sein Wissen darüber verbergen will, wie man Gold in Blei verwandelt.

Die Psychologin verschränkt ihre Hände über dem Klemmbrett und lächelt mich freundlich an. »Ihre Sachbearbeiterin, Frau Tüte, hat dieses Gespräch vorgeschlagen. Sie scheint … ich sage mal, zu der Annahme gekommen zu sein, dass Sie, Herr Martschinkowski, sich bezüglich Ihrer allgemeinen Lebenssituation … orientieren sollten. Ich möchte Ihnen dabei helfen, deshalb sind Sie hier. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Okay«, sag ich, »klingt äh … interessant.«

Die Frau schaut kurz in eine Ecke, als ginge sie einem Gedanken nach, ordnet ihre Hände auf dem Klemmbrett neu und blickt mich dann wieder an: »Herr Martschinkowski, wie würden Sie Ihre Haltung gegenüber der Agentur für Arbeit beschreiben?«

»Puh!«, sag ich überrascht. »Ehm … es ist eine staatliche Institution zur Erhaltung und Verwaltung der kapitalistischen Reservearmee, deren grundlegendste Aufgabe in der Bereitstellung von Arbeitskraft im Niedriglohnsektor sowie der Organisation einer ausreichenden Drohkulisse einerseits und der Garantie von Vermittlungspotential hochqualifizierter Kräfte im Bedarfsfall andererseits liegt?«

Die Frau zieht die Stirn in Falten. »Und … Ihre persönliche Haltung?«

»Hm«, ich überlege kurz, »ich glaube, das ist meine persönliche Haltung.«

Sie nickt. »Gut, dann lassen wir das mal so stehen. Aber … wo sehen Sie sich?«

»Wie jetzt? Wo?«, frage ich irritiert.

»Genau. Wo. Wo sehen Sie sich in diesem Bild, im Niedriglohnsektor oder im hochqualifizierten Bereich?«

»Äh …«, sag ich, »so, wie die Dinge stehen: im hochqualifizierten Niedriglohnsektor?«

»Verstehe. Aber, Herr Martschinkowski, die Frage ist doch letztlich: Was wollen Sie?«

»Na ja. Geld. Und Zeit.«

»Sie wollen also einen gut bezahlten Job, der Ihnen aber dennoch genug Raum zur Freizeitgestaltung lässt, sollen wir das erst mal so festhalten?«

»Also, eigentlich würde mir der Raum zur Freizeitgestaltung reichen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich dabei nicht um Geld herumkomme«, sag ich.

Die Psychologin nickt abermals. »Sie sagen es ja selbst – auf kurz oder lang werden Sie dieses Geld verdienen müssen. Sie wissen doch, wie es so schön heißt: Von nichts kommt nichts.«

»Ehm … ich möchte zu diesem Thema eines meiner großen Vorbilder zitieren: Bumm!«

»Was meinen Sie damit?«, fragt die Psychologin. »Welches Vorbild?«

»Na, den Urknall«, sag ich begeistert. »Die endgültige und wissenschaftlich einigermaßen fundierte Widerlegung des Satzes ›Von nichts kommt nichts.‹ Beim Urknall hat das Universum sich quasi wie ein Münchhausensches Kaninchen selbst an den Ohren aus dem nicht vorhandenen Zauberhut gezogen. Ich finde, das war eine der beeindruckendsten Leistungen der Geschichte. Deswegen ist der Urknall ein großes Vorbild für mich. Nichts machen und irgendwann – paff! – alles da.«

»Würden Sie sich als Phlegmatiker bezeichnen?«

»Ist das jetzt eine Diagnose?«

Die Psychologin entwaffnet lächelnd. »Lassen Sie die Diagnose mal meine Sorge sein«, sagt sie. »Ich denke nicht, dass wir in Ihrem Fall überhaupt eine stellen müssen.«

Ich wiege den Kopf hin und her. »Na ja … ich sag mal, eine gute Diagnose könnte mich ein ganzes Stück weiterbringen.«

Die Frau seufzt. »Ich werde Ihnen keine Berufsunfähigkeit bescheinigen, wenn Sie darauf anspielen. Ehrlich gesagt, glaube ich, wäre es für Sie sogar abträglich, wenn ich Sie aus diesem Gespräch mit irgendeiner Z56er-Diagnose oder so etwas entlasse und Sie dann versuchen, sich darauf auszuruhen.«

»Z56er?«, frag ich. »Klingt nach schnittigem Auto.«

Die Psychologin schüttelt lächelnd den Kopf. »Das ist so ziemlich das Gegenteil von schnittigen Autos. Z56er-Diagnosen betreffen die psychosozialen Probleme mit Bezug auf Berufstätigkeit oder Arbeitslosigkeit.«

»Ah. Und was gibt’s da für Modelle?«, frag ich.

Sie mustert mich einige Zeit nachdenklich. Dann sagt sie: »Z56.0 Arbeitslosigkeit, nicht näher bezeichnet. Z56.1 Arbeitsplatzwechsel. Z56.2 Drohender Arbeitsplatzverlust. Z56.3 …«, sie überlegt, »belastende Einteilung der Arbeitszeit. Z56.4 Unstimmigkeit mit Vorgesetzten oder Arbeitskollegen. Z56.5 Nicht zusagende Arbeit. Z56.6 Andere physische oder psychische Belastung im Zusammenhang mit der Arbeit. Und Z56.7 Sonstige oder nicht näher bezeichnete Probleme mit Bezug auf die Berufstätigkeit.«

»Hab ich alles«, sag ich.

»Sie haben doch studiert, wenn ich das richtig sehe«, übergeht die Psychologin meinen Einwurf, indem sie auf das Klemmbrett schaut.

»Äh … ja. Schon.«

»Na, da können wir doch anknüpfen. Was haben Sie denn studiert?«

»Philosophie und …«, ich überlege angestrengt, »noch irgendwas.«

»Fällt Ihnen denn nicht etwas ein, was Sie damit machen könnten?«

»Ich könnte ein Buch über Arbeitsvermeidungsstrategien schreiben«, sag ich.

Die Psychologin sieht mich schweigend an.

Ich seufze. »Okay. Versteh schon. Aber darf ich Sie was fragen?«

»Wenn es keine persönliche Frage ist«, sagt sie.

»Wie lange machen Sie diesen Job schon?«

»Das ist eine persönliche Frage, Herr Martschinkowski.«

»Ja, ich weiß«, sage ich entschuldigend, »aber ich hab mich die ganze Zeit gefragt, woher ich Sie kenne. Und da ist mir aufgefallen: Wir haben vor drei Wochen zusammen im Warteraum beim Arbeitsamt gesessen.«

Die Psychologin erstarrt kurz, schaut mich noch einmal nachdenklich an, seufzt dann ihrerseits und legt das Klemmbrett zur Seite. »Ich habe vor zweieinhalb Wochen einen Job als Psychologin hier beim Arbeitsamt bekommen. Und raten Sie was: auf ein Jahr befristet. Wie die meisten, die hier arbeiten. Dann sitze ich wieder da, wo Sie jetzt sitzen. Beziehungsweise bei Frau Tüte, die hat mir diesen Job nämlich vermittelt. Und da Sie ja nun sozusagen meinen Namen erraten konnten, werde ich mich, wenn Sie diesen Raum verlassen haben, selbst in Stücke reißen. Entspricht das in etwa Ihren Vorstellungen?«

»Hm«, sag ich, »irgendwie hätte ich da jetzt was Spannenderes erwartet.«

»Das hier ist das Arbeitsamt, Herr Martschinkowski. Hier passiert nichts Spannendes. Der ganze Betrieb ist wie ein großer Bottich, in dem Gold in Blei verwandelt wird: Die Leute kommen hierher mit Zeit, zum Teil auch mit Talenten und bisweilen mit Ideen. Und wir transmutieren das alles in grauen Alltag. Das wissen Sie doch, Herr Martschinkowski, was soll denn da noch passieren?«

Ich überlege. »Erst mal nichts«, sag ich, »aber irgendwann gibt’s einen großen Knall.«

Knust

»… ich bin Künstler, male riesige Bilder auf Rigipsplatten, und zwar mit einem Gemisch aus Kaffee und Kacke, und nenne sie: Der Morgen in mir.«

– Julius Fischer

»Tiktak! Tik. Tak!«

Der Typ vor mir verrenkt wild den Oberkörper und beißt sich mit irrem Blick in die Hand. Dann schreit er wieder: »Tiktak! Tik. Tak!«

Vorsichtig nippe ich an meinem Sektglas und bewege mich mit einem dezenten Seitwärtsschritt – seitwärts. Überall um mich herum liegen und stehen Leute in seltsamen Kostümen, die komische Geräusche machen oder mit grotesken Verrenkungen Phrasen vor sich hin murmeln. Beziehungsweise schreien. Dazwischen flanieren Menschen mit Sektgläsern und schauen dem Treiben interessiert zu.

Ich befinde mich in einer Performance-Installation mit dem Titel »Tatwort«. Mein Freund Maurice hat mich hierhergeschleppt. Maurice heißt eigentlich Moritz, aber weil er irgendwann einmal auf die Idee gekommen ist, ein berühmter Fotograf zu werden, hat er sich den Künstlernamen »Maurice Charamár« gegeben. Das wiederum hat ihm den im Grunde viel cooleren Namen Moritz Schawarma eingebracht, aber er besteht darauf, dass wir ihn weiterhin Maurice nennen.

›Wegen des Wiedererkennungswerts‹, sagt er, wegen der ›Crazybility‹ steht im Subtext, ›weil er einen an der Waffel hat‹, ist vermutlich richtig.

Er taucht neben mir auf. »Und, wie gefällt’s dir?«, fragt er, wobei er seine zu große Hornbrille, die er ausschließlich zu solchen Anlässen trägt, zurechtrückt.

»Äh … na ja, ich hab ein bisschen das Gefühl – man sieht die Kunst vor lauter Kunstwerken nicht?«

Maurice schaut mich vorwurfsvoll an. Er versucht mir seit Jahren Kunst beizubringen.

»Okay«, sag ich versöhnlich, »also, wenn ich es richtig verstehe geht es darum, dass diese … Leute passend zu den darüber hängenden … Bildern Redewendungen … darstellen, richtig?«

Maurice wiegt den Kopf hin und her, »oberflächlich betrachtet, ja. Auch.«

»Deswegen ist der Titel der Veranstaltung ›Tatwort‹. Weil Überall Worthülsen rumliegen.«

Maurice verdreht die Augen.

»Der Typ hier zum Beispiel ist eine tickende Zeitbombe«, ich deute auf den Mann, der sich grade wieder wie irre in die Faust beißt.

Maurice nickt. Skeptisch.

»Gibt es einen Mitmachteil?«, frag ich. »Wir könnten ›Ankotzen‹ darstellen.«

Maurice schüttelt konsterniert den Kopf. »Du hast einfach einen unglaublich beschränkten Horizont.«

»Entschuldige mal bitte, hier verrenken sich einige soziopathische Mittdreißiger auf dem Boden und stöhnen Phrasen vor sich hin – da weiß ich gar nicht, wer den beschränkteren Horizont hat, die armen Würstchen in ihren Cellophan-Verpackungen, oder die, die ihnen dabei zuschauen!«

»Maik, ich hatte eigentlich gehofft, wir könnten uns diese Diskussion heute mal sparen!«

»Du hast damit angefangen!«

»Ja, weil es mich maßlos ärgert, dass du nicht mal versuchst, dich auch nur ansatzweise auf eine Kunst einzulassen, die nicht dem bourgeoisen Bild entspricht, das du seit der Grundschule mit dir herumträgst!«

»Mein lieber Herr Schawarma, die Forderung ›sich auch mal auf was einzulassen‹ ist für schlechte Schaumpartys erfunden worden – bezeichnend, wenn du das auf eine Kunstinstallation anwenden musst.«

Maurice atmet tief durch und massiert sich die Schläfen. »Kunst besteht vor allem darin, die Wahrnehmung zu ändern und …«

»Jaha – das Gefühl hab ich auch. Zum Beispiel in Bezug auf Verstreichen der Zeit.«

Maurice wird immer röter. »Wenn es nach dir ginge, wäre Kunst wahrscheinlich auf idyllische Landschaftsmalereien und hübsch geschnitzte Gartenzwerge beschränkt!«

»Landschaftsmalerei hat wenigstens eine Perspektive eröffnet! Das lässt sich wohl kaum sagen, wenn irgendwelche Yuppie-Kinder ständig mit vollgepissten Spülschwämmen oder so was um die Ecke kommen und behaupten, das sei Kunst!«

»Du bist … du bist … einfach total reaktionär! – Jeder kann etwas machen und es als Kunst deklarieren. Da kannst du dann immer noch sagen, das sei schlechte Kunst, aber nichts, gar nichts auf der Welt gibt dir das Recht, zu sagen, das sei keine Kunst.«

»Ehm, Entschuldigung, was wird hier dargestellt?«, fragt ein modisch gekleideter Mann, der sich interessiert zwischen uns beugt.

»Äh … Schnauze, sonst Beule«, sag ich.

»Ach, wie interes…« – Ich gebe ihm einen Nasenstüber. Die Umstehenden schauen kurz irritiert. Dann applaudieren sie höflich. Ich wende mich wieder Maurice zu.

»Mein Begriff von Kunst ist also reaktionär, ja? Weil ich der Meinung bin, dass ein Kunstwerk sich aus sich selbst heraus als Kunst definiert und nicht, weil irgendjemand einfach behauptet, etwas sei Kunst, egal was es ist? Weil ich der Meinung bin, dass Kunst genug Ausstrahlungskraft besitzt, sie zu erkennen, auch ohne detaillierte Hintergrundinformationen über das Paarungsverhalten des reinrassigen Gelbrücken-Zwergkaninchens in den Höhenlagen des Kong-Gebirges? Fick dich!«

»Oh, mein Lieber, damit kommst du in des Teufels Küche!«, ruft Maurice und deutet aufgebracht in eine Ecke des Raumes, wo eine Frau mit angeklebtem Pferdehuf Zwiebeln schneidet. »Dann ist also nur das, was du verstehst Kunst, ja? Was ist bitteschön mit alter Kunst, die wir nur verstehen können, wenn wir etwas über den historischen Kontext wissen, hm? Ist das keine Kunst?«

»Na, das bleibt Kunst, weil es mal einen Sinn hatte!«

»Und alles andere ist …? Na, was? Entartet? – Wenn etwas in einen Kunstraum gestellt wird, ist es Kunst!«

»Nee, dann ist es Ware!«

»Faschist!«

»Bauernfän…«

Ich blicke mich um. Einige Besucher und Besucherinnen haben einen Kreis um uns gebildet und wirken sehr interessiert. Sie tuscheln ein wenig untereinander, und ein älterer Herr erklärt einer deutlich jüngeren Frau ungefragt seine Meinung. Eine andere blättert irritiert im Ausstellungskatalog.

»Moritz Schawarma!«, rufe ich ihr zu. »›Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte‹.«

»Wir sollten vielleicht besser gehen«, flüstert Maurice, der plötzlich wieder sehr Moritz geworden ist.

»Sie haben uns als Kunst definiert«, sag ich grinsend. »Jetzt verstehen sie uns nur noch mit Ausstellungskatalog.«

Eine kleine Frau mit unglaublich hohen Absätzen drängelt sich zwischen den Leuten hindurch und baut sich vor uns auf. »Was wird das hier?«, fragt sie bissig.

»›Schlafende Hunde wecken‹«, sag ich, »Berlin 2014.«

»Sehr witzig«, sagt die Frau.

»Wir wollten eh grad gehen«, murmelt Maurice und zieht mich am Ärmel.

»Hilfe, Kunstraub!«, rufe ich. Maurice nimmt seine Brille ab und putzt sie. Das ist wie bei Katzen. Die Putzen sich auch immer, wenn ihnen etwas peinlich ist.

Ich wende mich an die Frau. »Wir haben uns nur kurz darüber ausgetauscht, ob das, was hier passiert, Kunst ist oder nicht«, sage ich in erklärendem Tonfall.

»Das hier ist eine Galerie. Folglich ist alles, was sie hier sehen, Kunst.«

»Oh Mann!«, brülle ich, schlagartig wieder auf 180. »Wenn ich also jetzt dieses Glas hier nehme und es an die Wand werfe«, ich werfe mein Sektglas an die Wand, »dann ist das jetzt Kunst? Weil ich es in einem Kunstraum getan habe?«

Die Frau flattert mit den Augenlidern. »Sie werden jetzt gehen.«

Ich ignoriere ihre Aufforderung. »Oder wenn ich hier diese Tür öffne und sage: ›Das ist ein Kunstraum!‹, aber dahinter ist – so eine Überraschung – nichts. Ist das dann noch Kunst? Nur weil ich sage, es ist Kunst?« Ich reiße mit einigem Umstand ein Stück von einem Plakat ab, kritzle eine Zahl darauf und halte es in die Höhe. »Oder wird es Kunst nur, weil ich ein bekacktes Preisschild dranhänge?«, meine Stimme überschlägt sich. Dann ist es still in der Galerie. Alle Umstehenden starren mich mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen an. Plötzlich erhebt sich tosender Applaus, unter den sich bald auch einige ›Bravo!‹-Rufe mischen. Ich schaue irritiert zu Maurice. Der nickt anerkennend.

»Es passiert nicht grade das, was ich fürchte, dass grade passiert, oder?«, frage ich ihn ungläubig.