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Zugegeben: Wie bei vielen Pilgerschwestern und -brüdern fing die Inspiration auch bei mir mit Hape Kerkeling an. Sein Buch kam zum richtigen Zeitpunkt. Als ich es verschlungen hatte, wurde mir klar, dass auch ich bald mal weg auf dem Camino sein würde. Schon seit Monaten suchte ich beharrlich nach einem Weg aus der Krise. Der Jakobsweg hat mir die Augen für einiges Unverstandene geöffnet. Er hat mir vieles abverlangt, mich immer wieder herausgefordert, sowohl mental, wie auch physisch, sodass ich mich manches Mal gefragt habe: Warum tue ich mir das an? Wenn ich es mir dann angetan habe, hat der Camino mich zuversichtlich gemacht. Mehr noch: Er hat mir neuen Mut verliehen. Ohne diesen wäre mein weiterer Lebensweg nicht so entstanden. Jeder, der ihn gepilgert ist, weiß, dass neben der Meditation die Begegnungen mit anderen Menschen in den Herbergen oder unterwegs einen erheblichen Teil der Faszination Jakobsweg ausmachen. Wunderschöne, abwechslungsreiche, zuweilen aber auch sehr einsame, öde Landstriche durfte ich durch die Jakobswege kennenlernen. Ich bin eingetaucht in die Geschichte Spaniens und Portugals, die mir aus Schulzeiten nur rudimentär bekannt war und habe in den Dörfern das andere Spanien jenseits von Mallorca und Barcelona erfahren. Gerade das Ankommen und Leben in den kleinen Ortschaften Spaniens und Portugals mit ihren archaischen Strukturen war sehr prägend und hat zur Ruhe und Gelassenheit beigetragen, die mir (zumindest vorübergehend) zuteil wurde.
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Seitenzahl: 64
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Stationen der Vía de la Plata
Für die Familie
Teil I
Kapitel 1 Bocholt – Madrid
Kapitel 2 Madrid – Puebla de Sanabria – Requejo
Kapitel 3 Requejo – Lubián
Kapitel 4 Lubián – A Gudina
Kapitel 5 A Gudina – Campobecerros
Kapitel 6 Campobecerros – Laza
Kapitel 7 Laza – Xunqueira de Ambía
Kapitel 8 Xunqueira de Ambía - Ourense
Teil II
Kapitel 9 Köln – Santiago de Compostela
Kapitel 10 Santiago – Ourense – Cea
Kapitel 11 Cea – Castro Dozón
Kapitel 12 Castro Dozón – Silleda
Kapitel 13 Silleda – Ponte Ulla
Kapitel 14 Ponte Ulla – Santiago
Kapitel 15 Santiago de Compostela
Lara‘s Eindrücke
„Vergiss nicht, deine Tochter zu fragen, ob sie dich auf dem Camino begleiten möchte“, ermahnte mich Rebekka eindringlich bei unserer Verabschiedung in Puebla de Sanabria. Die Amerikanerin aus Seattle hatte mir mit ihrer Tochter Elly und Claude aus der Bretagne bis hierhin auf meiner letztjährigen Pilgerreise Gesellschaft geleistet, bevor sie ihre Wanderung nach Santiago fortsetzte und ich nach Deutschland zurückkehrte – fast exakt vor einem Jahr.
In diesem Jahr möchte ich meine 2014 in Cáceres begonnene Pilgerreise auf der Vía de la Plata in Santiago abschließen. Die Frage, nach Laras Lust, mich nach Santiago zu begleiten, war schnell geklärt. Ich hatte meine Bitte noch nicht ausformuliert, als sie mir klar zu verstehen gab, dass sie sich sehr freuen würde, mit mir auf dem Camino zu wandern. Von ihren Geschwistern hatte sie ja schon einiges über das Pilgern auf spanischen Jakobswegen erfahren; offensichtlich nicht allzu viel Schlechtes.
Meine ursprüngliche Absicht, zunächst allein von Puebla de Sanabria nach Ourense zu laufen und dann Lara nach Ourense nachkommen zu lassen, gebe ich schnell wieder auf. Nein, ich möchte Lara nicht allein losreisen lassen, ich möchte das Abenteuer mit ihr zusammen starten. Da sie aber nur eine Woche Urlaub in ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin einplanen kann, beschließe ich, im Juni die 140 km bis Ourense allein zu wandern, dann von Madrid aus nach Deutschland zurückzukehren und schließlich im Juli nochmal mit ihr nach Spanien zu fliegen.
Der Termin für den letzten Teil meiner Vía de la Plata–Wanderung steht schon lange. Dieses Mal muss ich außergewöhnlich gut getaktet sein, um ihn noch zwischen die sonstigen Planungen zu schieben. Als ich vor einem dreiviertel Jahr die Flüge gebucht habe, konnte ich jedoch noch nicht ahnen, dass uns ganz besondere lebensverändernde Maßnahmen buchstäblich ins Haus stehen. Nach fünf Jahren Beziehungs-Erprobung hatten Kerstin und ich Anfang des Jahres beschlossen, zusammenzuziehen. Das Leben hat uns beiden eine zweite Chance gegeben; diese wollen wir nutzen. Da Luca, Lara, Johanna, Carlo, Juliane und Niki aber alle in einem Alter sind, in dem sie noch zu Hause wohnen, beziehungsweise gerne nach Hause kommen wollen und auch sollen, sind einige Umbaumaßnahmen erforderlich. Die heiße Bauphase fällt nun ausgerechnet in die Zeit der geplanten Jakobswege.
Strömender Regen auf dem Weg nach Köln. Luca bringt mich zum Köln/Bonner Flughafen. Es gibt zwei Schlangen für die Flugpassagiere. „Warum die lange nehmen, wenn man in der kurzen vermeintlich schneller ans Ziel kommt?“, denke ich mir. Tatsächlich geht es hier flott voran, während auf der anderen Seite Stillsand zu sein scheint. Als ich dann mein Ticket vorlege, fehlt leider ein spezieller Zusatz, der Voraussetzung für die Nutzung der kurzen Schlange ist: „Priority“. Eigentlich müsste ich nochmal zurück und mich in die lange Schlange stellen, aber die nette Flugbegleiterin lässt Gnade vor Recht ergehen und winkt mich durch. Es kommt mir sehr entgegen, denn die einstündige Verspätung brauche ich dank ihrer christlichen Nächstenliebe nicht in der Schlange zu verbringen, sondern kann es mir stattdessen in einem abgetrennten Bereich auf einem Sessel gemütlich machen.
Schnell komme ich im Flieger mit meinem Nachbarn ins Gespräch. Danilo ist Spanier und fliegt für eine deutsche Recycling Firma zur Messe nach Madrid. Dafür, dass er erst seit einem Jahr in Köln lebt, spricht er hervorragend Deutsch. Vor zwei Jahren hat er seine deutsche Freundin in Gran Canaria kennen gelernt, wo er in der Lobby eines Ferienhotels jobbte. Seit einem halben Jahr ist sie seine Frau. Stolz zeigt er mir seinen Ehering.
Mit einer Stunde Verspätung landen wir in Madrid. Die Beschreibung zum Ibis Hotel in der Nähe der zentralen Busstation ist schwierig. Ich hatte es gebucht, um morgens schnell den Bus nach Puebla de la Sanabria zu bekommen. Ein freundlicher U-Bahn-Angestellter nennt mir die nächste Metrostation zum Hotel; an der Ausgangpforte kann mir jedoch keiner den Weg zum Hotel erklären. Ich werde in die falsche Richtung geschickt und sehe an den offenen Lokalen auf den Bildschirmen Jogi Löw nägelkauend auf der Trainer-Bank sitzen. Zehn Minuten vor Schluss steht es im ersten Spiel der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft 1:0 für Deutschland. Das Spiel ist nicht so wichtig, ich will endlich mein Hotel finden. Um 22.00 Uhr sind es hier immer noch über 30 Grad Celsius. Ich überlege mir gerade ein Taxi zu bestellen, als mir ein Mann in Begleitung seines Labradors anbietet, mich dort hinzuführen. Es stellt sich heraus, dass sich das Ibis Hotel vielleicht 200 Meter von der Ausstiegstelle der Metro entfernt befindet.
Nicht abgesprochen wirft mich eine WhatsApp von Kerstin aus dem Bett. Um sieben Uhr verlasse ich das Hotel, um die zwei Stationen mit der Metro zur Busstation Sur Mendez Alvaro zu fahren. Fast alle Menschen in den überfüllten Waggons und auf den Gängen haben einen Stöpsel im Ohr und den Blick auf das Mobiltelefon gerichtet. Da wird in den nächsten Jahren noch eine Menge Arbeit auf die Orthopäden zukommen. Nach meinen Erfahrungen im letzten Jahr habe ich hier und heute keine Scham, den Seniorentarif zu nutzen. Für schlappe 22 Euro erhalte ich das Ticket zum vier Stunden entfernten Puebla de Sanabria. Endstation meines gebuchten Busses ist Pontevedra. Da werden Erinnerungen an den Caminho Portugues wach, den ich 2011 und 2012 in zwei Phasen gelaufen bin.
Die Wanderung von Porto nach Valenca an die portugiesisch–spanische Grenze ist für mich so bedeutungsvoll, da ich sie immer mit Kerstin in Verbindung bringen werde. Einen Tag vor dem Flug nach Porto Ende August 2011 hatte ich meine erste persönliche Begegnung außerhalb der Praxis mit ihr. Ein Anfall mutiger Unbekümmertheit brachte eine schicksalhafte Wende in mein Leben. Obwohl ich nichts Genaues über ihren Beziehungsstatus wusste, fasste ich die Gelegenheit beim Schopfe, sie zum Kaffee einzuladen, als sie mich wegen einer medizinischen Frage telefonisch kontaktierte. Ich folgte einer intuitiven Eingebung. Noch nie zuvor in meinem langjährigen Praxisdasein hatte ich mir so eine Dreistigkeit erlaubt. Aber was ist an einer höflichen Einladung zum Kaffee schon verwerflich? Jeder hat auch das Recht, sie abzulehnen. Das tat sie aber nicht. Das Treffen hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck, dass ich am nächsten Morgen vergaß, meinen Schlafsack in den Rucksack zu packen und sie mich Tag für Tag gedanklich auf meiner Wanderung von Porto nach Valenca begleitete.
Den zweiten Teil von Valenca nach Santiago bin ich im Juli 2012 mit Luca gewandert. Damals waren wir nach anstrengenden 35 km an der Herberge in Pontevedra angekommen, um dann festzustellen, dass es keinen Platz für uns gab und wir weiterlaufen mussten bis zu einer Notunterkunft. Trotz des Frustes habe ich die pittoreske Altstadt lebendig und attraktiv in Erinnerung.