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Die unfähige Quotenfrau, die nur wegen ihres Geschlechts eingestellt wurde. Der ewig gestrige alte weiße Mann, der um jeden Preis das Patriarchat aufrechterhalten möchte. Oder auch die Rabenmutter, die aufgrund ihrer Karriere ihre Kinder vernachlässigt: Menschen werden in der Arbeitswelt laufend mit Vorurteilen konfrontiert – mit häufig fatalen Folgen. Annahita Esmailzadeh kennt sich selbst mit Vorurteilen nur allzu gut aus, denn seitdem sie denken kann, wird sie in Schubladen gesteckt. Als attraktive junge Frau mit Migrationshintergrund und erfolgreiche Führungskraft in der Tech-Branche scheint sie zugleich in keine dieser Schubladen so recht zu passen. In ihrem Buch greift Annahita Esmailzadeh hartnäckige Vorurteile in der Arbeitswelt auf, beleuchtet tradierte Geschlechterrollen und macht die verheerenden Konsequenzen von Altersdiskriminierung, Rassismus und Klassismus deutlich. Ohne erhobenen Zeigefinger erklärt sie anhand von anschaulichen Beispielen, wie Vorurteile entstehen, warum wir alle nicht vor ihnen gefeit sind und weshalb sie in Zeiten des sich stetig zuspitzenden Fachkräftemangels für Unternehmen so gefährlich werden können. Mit Cartoons von Schlorian
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Annahita Esmailzadeh
Von Quotenfrauen und alten weißen Männern
Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt
Mit Illustrationen von Schlorian
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
»Mit alten Klischees müssen wir abschließen. Wir brauchen ein modernes Werteverständnis, das nicht auf das Geschlecht, das Alter oder die Herkunft einer Person schaut – sondern darauf, wofür diese Person steht, welche Haltung sie zeigt und was sie vermittelt.«
Hildegard Wortmann, Vorständin Marketing und Vertrieb Audi AG, Mitglied der Erweiterten Konzernleitung des Volkswagen Konzerns für den Bereich Vertrieb
»Vorurteile belasten das zwischenmenschliche Verhältnis – und verhindern ein produktives und innovatives Arbeitsumfeld! Ich selbst halte es bei Klischees mit dem Spruch ›Niemand gehört in eine Schublade – außer Socken!‹.«
Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht Deutsche Bahn AG
»Niemand gibt gern zu, dass Stereotype die eigene Weltsicht determinieren. Dabei sind – psychologisch gesehen – Stereotype sogar oft sinnvoll. Im beruflichen Kontext jedoch verhindern genau diese Stereotype leider unterbewusst, dass die Entscheidung wirklich für die Besten fällt.«
Dr. Sigrid Nikutta, Vorstand Güterverkehr DB AG, Vorstandsvorsitzende DB Cargo AG
»Diskriminierung, die aus Vorurteilen resultiert, erhöht vermeintlich die eigene Bedeutung durch die Abwertung anderer. Annahita Esmailzadeh räumt mit den gängigsten in der Arbeitswelt auf und spricht mit Menschen, die profitieren und die betroffen sind. Ein Buch, das eine Brücke schlägt.«
Andreas Weck, Redakteur für Neue Arbeit beim t3n-Magazin
»In Ihrem Buch räumt Annahita Esmailzadeh schonungslos mit Mythen rund um das Thema Unconscious Bias auf und bietet Hilfestellung an – unkonventionell, authentisch und mit Weitsicht. Gemeinsam können wir eine Gesellschaft schaffen, in der alle die gleichen Chancen auf Erfolg haben.«
Dr. Irène Y. Kilubi, Gründerin & Geschäftsführerin Joint Generations
Vita
Annahita Esmailzadeh ist seit 2021 Führungskraft bei Microsoft. Zuvor verantwortete sie bei SAP als Head of Innovation den Innovationsbereich für das SAP Labs in München. Die mehrfach ausgezeichnete Wirtschaftsinformatikerin und Bestsellerautorin gehört zu den bekanntesten und reichweitenstärksten Business-Influencerinnen und Keynote-Speakerinnen im DACH-Raum. Ihre Reichweite in den Medien und auf sozialen Netzwerken setzt sie für mehr Diversität und Inklusion sowie moderne Kultur- und Führungsansätze in der Arbeitswelt ein.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
1
Warum es dieses Buch geben muss
2
Die Schubladen in unseren Köpfen
3
Über Gorillas und Säbelzahntiger
Affinitätsverzerrung (Affinity Bias)
Attributionsverzerrung (Attribution Bias)
Gruppendenken (Conformity Bias)
Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)
Geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt (Gender Bias)
Halo-Effekt
Horn-Effekt
4
Die häufigsten Vorurteile der Arbeitswelt
Die alten weißen Männer
Die Quotenfrauen
Die Jungen
Die Alten
Die Schönen
Die Dicken
Die Gebär-Verdächtigen
Die Teilzeit-Muttis
Stereotypen und Rollenbilder
Finanzielle Aspekte
Institutionelle Fehlanreize
Betriebliche Faktoren
Betreuungssituation
Alleinerziehende
Die Rabenmütter
Die Wochenend-Väter
Die Nerds
Die Unstudierten
Die Arbeiterkinder
Die Integrations-Unwilligen
5
Die beliebtesten Geschlechterklischees
6
Folgen von Vorurteilen in der Arbeitswelt
7
Wege aus der Schubladenfalle
Akzeptanz
Selbstreflexion
Konfrontation
Anonyme Feedbackkanäle
Inklusive Stellenausschreibungen
Anonymisierte Bewerbungsunterlagen
Standardisierte Bewerbungsverfahren und Bewertungskriterien
Diversity-Quoten
Sensibilisierung der Belegschaft
Überprüfung der Unternehmensrichtlinien
Etablierung von Unternehmensnetzwerken für Minderheiten
Leadership und Vorbildwirkung
8
Und nun?
Danksagung
Anmerkungen
2
Die Schubladen in unseren Köpfen
3
Über Gorillas und Säbelzahntiger
4
Die häufigsten Vorurteile der Arbeitswelt
5
Die beliebtesten Geschlechterklischees
6
Folgen von Vorurteilen in der Arbeitswelt
7
Wege aus der Schubladenfalle
8
Und nun?
Ich erinnere mich noch so lebhaft daran, als sei es erst gestern gewesen. Es ist ein warmer Sommertag im Jahre 2012. Ich, Anfang 20 und Studentin der Wirtschaftsinformatik mit Bestnoten in Softwareentwicklung, habe meinen ersten Arbeitstag als Praktikantin in der Entwicklungsabteilung eines mittelständischen deutschen IT-Unternehmens. Ich stehe etwas verloren und sichtlich nervös im Gang meiner neuen Abteilung und halte Ausschau nach meinem neuen Team. Während ich warte, zupfe ich meine senfgelbe Bluse zurecht, die ich mir eine Woche vorher zugelegt habe, und überlege, ob ihr vielleicht doch ein Bügeleisen gutgetan hätte. Als nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ein freundlich aussehender, etwas rundlicher Mann mit einem übergroßen schwarzen AC/DC-Shirt barfuß an mir vorbeiläuft und mir kurz lächelnd zunickt, wittere ich meine Chance und stürme unvermittelt auf ihn zu. Der Mann blickt mich, zwar immer noch recht freundlich, aber nun auch etwas irritiert an: »Kann ich dir weiterhelfen?«, fragt er mich und zieht dabei seine buschigen Augenbrauen sichtlich skeptisch hoch. »Ja, sehr gerne! Ich heiße Annahita – freut mich sehr, dich kennen zu lernen! Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag. Ich mache ein mehrmonatiges Praktikum hier und freue mich schon sehr!«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen, ohne Luft zu holen. Der skeptische Blick des freundlichen Herrn wandelt sich nun in ein amüsiertes Schmunzeln: »Hi, Anita, herzlich willkommen! Du hast dich leider nur etwas verlaufen. Du stehst gerade in der Entwicklungsabteilung. Die Marketingabteilung ist im zweiten Stock.«
Tja, was soll ich sagen? Dieses abstruse Erlebnis, das ich damals nur stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm, sollte das erste seiner Art sein, dem im Laufe meiner Zeit in der Tech-Branche noch unzählige weitere folgen würden.
Mein Einstieg in die IT-Welt verlief eher zufällig. Ich wuchs als Tochter iranischer Einwanderer auf, die Mitte der 80er Jahre nach der Islamischen Revolution ihre Heimat verlassen hatten, um sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Mein Vater war Taxifahrer, meine Mutter arbeitete während meiner Kindheit in einem Elektronikfachhandel viele Jahre als Verkäuferin, bevor sie mit Anfang 40 eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Radiologieassistentin machte. Für meine Eltern, die beide nicht studiert hatten, stand nie außer Frage, dass ich, ihr einziges Kind, studieren werde. Und nicht einfach nur »irgendwas«. Nein, das Studium sollte mir finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen und damit hoffentlich auch ein privilegiertes Leben, das ihnen selbst nicht vergönnt gewesen war.
Nach meinem Abitur mit 17 Jahren stand ich erstmal ziemlich planlos da. Das Wissen, dass spannende Fächer wie Geschichte oder Philosophie aufgrund der K.-o.-Kriterien meiner Eltern schon mal aus dem Raster fielen, machte die Studienwahl nicht leichter. Zudem lachten mich die einzigen beiden Vorschläge meiner Eltern – Medizin oder Jura – auch nicht wirklich an. Nach anfänglicher Planlosigkeit begann ich also, sämtliche Suchmaschinen zu durchforsten, und achtete hierbei nur auf zwei Dinge: gute Berufsaussichten und ein attraktives Gehalt. Die Suchmaschinen spuckten wiederum praktischerweise ausnahmslos den gleichen Studiengang als Top-Treffer aus, der beide Kriterien erfüllen sollte: Wirtschaftsinformatik. So entschied ich mich, ohne jegliche Vorkenntnisse, für diesen Studiengang und saß einige Wochen später in meiner ersten Softwareentwicklungs-Vorlesung. Und das, ohne vorher jemals auch nur eine Zeile Code in meinem Leben geschrieben zu haben. Zu meinem eigenen Erstaunen fand ich schon nach kurzer Zeit großen Gefallen an dem Studium, und der Grundstein für meinen Weg in die Tech-Welt war geebnet.
Während im Bachelorstudium noch gut 20 Prozent der Studierenden weiblich waren, war ich im Masterstudium als Frau, neben zwei sehr smarten Kommilitoninnen, eine absolute Rarität. Ich erinnere mich noch sehr gut an die irritierten Blicke und häufig auch spöttischen Kommentare meiner männlichen Kommilitonen, als ich mit meinen langen, rot lackierten Fingernägeln und dem nicht minder grellen Lippenstift neben ihnen in der Datenbanken-Vorlesung saß. Ihre Irritation wich am Ende des Semesters schierer Fassungslosigkeit, als ich das Modul – verschrien als klassisches Exmatrikulationsfach – als eine der Besten abschloss. Doch ich sollte schnell merken, dass die Erfahrungen, die ich während meines technischen Studiums sammelte, im Vergleich zu den Erlebnissen, die ich in der Arbeitswelt noch machen würde, absolut harmlos gewesen waren.
Nach meinem Masterabschluss entschied ich mich für einen Einstieg als IT-Prozessberaterin mit Fokus auf die Automobilindustrie bei dem größten europäischen Softwarekonzern. Wie im Consulting üblich, lief ich in meiner Anfangszeit erstmal bei einer sehr erfahrenen Kollegin mit. Diese Kollegin war allerdings nicht nur fachlich überaus kompetent, sie war auch sehr resolut. Davon abgesehen war sie aber vor allem auch eines: verdammt direkt. »Dir ist schon klar, dass du mit dieser ganzen Schminke im Gesicht und deiner Wallemähne niemals von irgendeinem Kunden ernst genommen werden wirst, oder?«, stellte sie gleich zur Begrüßung bei unserem ersten Zusammentreffen kopfschüttelnd fest. »Sorry, aber du wirkst wie eine inkompetente Tusse«, ergänzte sie am darauffolgenden Tag mit einem fassungslosen Blick auf meine offenbar nicht adäquat lackierten Fingernägel. Nun, mit »tussig« wäre ich vielleicht noch zurechtgekommen, aber inkompetent wollte ich beim besten Willen nicht wirken. Dafür hatte ich mir die Jahre zuvor in meinem Studium und unzähligen Praktika, Werkstudentenstellen und Aushilfsjobs zu sehr den Hintern aufgerissen. Ich band also fortan meine langen Haare streng zurück, benutzte kaum noch Make-up und trug gedeckte Farben.
Wie sich in den nächsten Monaten herausstellen sollte, änderte aber auch meine optische Transformation kaum etwas an dem wenig schmeichelhaften Bild, das die Kollegin von mir hatte. Die Tussen-Schublade, in die sie mich bereits nach wenigen Millisekunden unseres ersten Aufeinandertreffens gesteckt hatte, schien wohl ziemlich zu klemmen. Für meine Kunden passte ich – auch ohne roten Lippenstift oder meinen neongelben Lieblingsblazer – wiederum nicht in ihre Schublade eines klassischen SAP-Consultants. Die meisten konnten ihre Verwirrung über mein junges Alter in Kombination mit meinem Geschlecht und dem obendrein »untypischen« Erscheinungsbild nur schwer überspielen. Es war schwer zu übersehen, dass sie sich unter einer IT-Prozessberaterin, die sie bei ihren ERP-Implementierungs-Projekten unterstützen sollte, vieles vorstellten, aber definitiv nicht mich. Ich hingegen verübelte ihnen dies nicht einmal. Schon damals war mir bewusst, dass ich mich mit meiner Wahl für die IT, Beratung und Automobilindustrie für eine Kombination aus drei Welten entschieden hatte, in der ich als Exotin herausstechen würde. Es war also auch wenig verwunderlich, dass ich zunächst mit großer Skepsis von allen Seiten beäugt wurde. Den Zweifeln meiner Kunden wich jedoch glücklicherweise schon meist nach kurzer Zeit Faszination und oft sogar Bewunderung, wenn sie sahen, dass ich offensichtlich doch nicht so sehr auf den Kopf gefallen war, wie mein Erscheinungsbild sie automatisch annehmen ließ. Einer der wenigen Vorzüge, pauschal unterschätzt zu werden, liegt zumindest in genau jenem garantierten Überraschungseffekt.
Nach meiner Zeit in der klassischen Beratung begann ich, industrieübergreifend große IT-Projekte zu leiten. Damit war ich plötzlich Menschen fachlich überstellt, die in der Regel fast doppelt so alt waren wie ich und rund 20 Jahre mehr Berufserfahrung auf dem Buckel hatten. Nicht selten wurde ich in dieser Zeit von Kunden oder auch Kollegen beim ersten Aufeinandertreffen – mal mehr und mal weniger charmant – aufgefordert, den Kaffee zu bringen oder in Terminen Protokoll zu führen. Der ertappte Blick der jeweiligen Personen, als ich – mal mehr und mal weniger freundlich – darauf hinwies, dass ich die jeweiligen Projekte leite und weder die Projektassistenz noch die Praktikantin bin, wie man scheinbar automatisch angenommen hatte, sprach jedes Mal Bände. Der Übergang von fachlicher zu disziplinarischer Führungsverantwortung verstärkte dieses Phänomen zunehmend.
Nun leite ich als Führungskraft große Teams in der Tech-Branche und bin damit oft weitaus jünger als meine eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. An die geschockten Blicke, wenn ich, Anfang 30, sichtbarer Migrationshintergrund, unaussprechlicher Vor- und Nachname und, dem grellen Lippenstift, Nagellack und Blazer sowie der Wallemähne nach zu urteilen, immer noch eine »Tusse«, mich und meinen Verantwortungsbereich vorstelle, habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Die Voreingenommenheit, die Menschen häufig haben, wird im virtuellen Raum noch deutlicher sichtbar als in der realen Welt. Während in der Realität Vorurteile oder Seitenhiebe oft weitaus subtiler sind, ist in den sozialen Netzwerken die Hemmschwelle vieler Menschen merklich niedriger. Demzufolge halten Menschen auf virtuellen Plattformen mit ihrer ungefilterten Meinung nicht hinterm Berg. So kommentierte einst ein Herr unter einem meiner Beiträge auf dem Berufsnetzwerk LinkedIn, in dem ich als Business-Influencerin sehr aktiv bin, dass er es angesichts meines Erscheinungsbildes höchst fraglich fände, ob ich denn tatsächlich in meiner angegebenen Funktion tätig sei. Aussagen dieser Art sind zwar zweifelsfrei nicht die feine englische Art, doch aus meiner Sicht müssen wir diesem Herrn für diese Aussage fast dankbar sein. Denn anders als die meisten anderen gab er seine Vorurteile auf diese Weise sehr offenherzig preis. Die uncharmante Art und Weise klammern wir hierbei mal großzügig aus.
Stereotypen und Vorurteile begegnen uns täglich. Wir alle wurden schon in Schubladen gesteckt oder lösten Irritation bei unserem Gegenüber aus, weil wir der »Zielvorstellung« der uns zuvor zugewiesenen Schublade plötzlich nicht mehr entsprachen. Und auch wenn es keiner von uns gerne zugibt: Wir alle haben auch selbst Vorurteile und stecken Menschen in Schubladen.
Im Alltag kategorisieren wir im Grunde täglich, indem wir einzelne Objekte Objektklassen zuordnen. Dies tun wir nicht nur bei Gegenständen (»Opel« und »BMW« sind Autos, »Fanta« und »Sprite« sind Softdrinks), sondern auch bei sozialen Objekten (»Fußballer« und »Tennisspieler« sind Sportler). Unsere begrenzten kognitiven Kapazitäten lassen uns hierbei auch keine andere Wahl, denn unser Gehirn kann nicht jeden einzelnen Umweltreiz individuell wahrnehmen. Im gleichen Zuge lernen wir auch schon von klein auf, Menschen intuitiv zu »stereotypisieren« und damit aufgrund von ihren sichtbaren Merkmalen unbewusst Kategorien zuzuordnen, die mit gewissen Eigenschaften verknüpft sind. Über die Jahre verinnerlichen wir auf diese Weise Attribute, die wir automatisch sozialen Gruppen wie Männern und Frauen, Alten und Jungen oder auch Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen zuschreiben.
Jene Überzeugungen von bestimmten Merkmalen oder Eigenschaften, die wir mit sozialen Gruppen in Verbindung bringen, werden als Stereotypen bezeichnet. Ein Stereotyp ist etwa, wenn wir bei der Vorstellung von Menschen aus dem bayerischen Raum sofort Männer in Lederhosen und Frauen im Dirndl vor Augen haben, die mit tiefbayerischem Dialekt sprechen. Stereotypen müssen nicht zwingend negativ behaftet sein, auch wenn sie in ihrer Natur bereits einschränkend und reduzierend sind. Kritisch wird es, wenn sich aus den Stereotypen Vorurteile entwickeln, die negativ konnotiert und mit negativen Emotionen behaftet sind. So wird aus dem obigen Beispiel der Bayern in Tracht mit bayerischem Dialekt ein Vorurteil, sobald basierend auf diesen Merkmalen eine Bewertung vollzogen wird. Verbinden wir Menschen aus Bayern automatisch mit klassischer Tracht und einem bayerischen Dialekt und assoziieren diese Merkmale wiederum mit einer geringeren Schulbildung oder mangelnder Intelligenz, sind wir einem klassischen Vorurteil zum Opfer gefallen.
Und das passiert nicht selten. Wer kennt nicht die Klischees, dass Frauen zu blöd zum Einparken und Blondinen nicht mit hoher Intelligenz gesegnet sind, Männer im Grunde nur Macht und Sex wollen, Hartz-IV-Empfänger faul und SUV-Fahrer egoistisch sind. Auch Vorurteile, die sich auf verschiedene Nationalitäten beziehen, gibt es zahlreich: So sind Italiener vermeintlich Muttersöhnchen, Russen trinken gerne und Deutsche gelten als zuverlässig, aber humorlos. Diese Liste der Stereotypen und Vorurteile lässt sich beliebig lang fortsetzen. Und jetzt mal Hand aufs Herz: Wer von uns kann von sich behaupten, keinem dieser Vorurteile jemals zum Opfer gefallen zu sein? Wohl die wenigsten.
Die große Gefahr von Vorurteilen liegt darin, dass sie Abwertung, Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen zur Folge haben können. Untersuchungen von Lehrpersonal zeigten etwa, dass Vornamen von Schülerinnen und Schülern, die weniger privilegierten Elternhäusern zugeschrieben werden (wie etwa Chantal oder Kevin), unabhängig von ihrer tatsächlich erbrachten Leistung eher mit Verhaltensauffälligkeiten assoziiert und damit potenziell auch ungerechtfertigt schlechter benotet werden.1 Der Grat zwischen harmlosen Stereotypen und Diskriminierung ist damit sehr schmal. Forscher der Universität zu Köln stellten im Herbst 2019 basierend auf knapp 1 000 Anfragen mit fiktiven Nutzerprofilen fest, dass Männer mit türkischem Namen in Deutschland schwerer eine Mitfahrgelegenheit fanden. Während der Durchschnitt der Zusagen im Falle von klassischen deutschen Namen bei 59 Prozent lag, wollten nur 44 Prozent einen Menschen mit einem türkischen Männernamen mitnehmen. Laut der Studie bevorzugten die meisten also lieber einen »Maximilian Schmidt« als einen »Hamid Yilmaz« als Beifahrer. Wohlgemerkt, ohne sonst jegliche weitere Informationen über die beiden Herren vorliegen zu haben.2
Eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Konstanz stellte außerdem fest, dass ausländische Namen auch im Bewerbungsprozess die Chancen auf eine Einladung zum Jobinterview wesentlich verschlechtern.3 Auch wer mit einem ausländischen Namen eine Wohnung sucht, hat es erheblich schwerer als Bewerberinnen und Bewerber mit einem klassischen deutschen Namen.4 Datenjournalisten des Bayerischen Rundfunks (BR) und des Nachrichtenmagazins Der Spiegel verschickten in einem Experiment über mehrere Wochen hinweg 20 000 Wohnungsanfragen mit fiktiven deutschen und nicht deutschen Profilen. Sie erhielten rund 8 000 Antworten, die eindeutig belegten, dass Menschen mit ausländischem Namen auf dem Mietmarkt deutlich diskriminiert werden. Besonders hart trifft es Wohnungssuchende mit türkischer oder arabischer Herkunft. In jedem vierten Fall, in dem ein Mensch mit einem deutschen Namen eine Einladung zu einer Besichtigung erhielt, wurden sie übergangen.5
Stereotypen, Vorurteile sowie Geschlechterklischees und die hieraus resultierende Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen machen auch vor der Arbeitswelt nicht Halt. Die unfähige Quotenfrau, die nur ihres Geschlechts wegen eingestellt wurde, der ewig gestrige alte weiße Mann, der um jeden Preis das Patriarchat aufrechterhalten möchte, oder auch der ältere Mitarbeiter, der mit einem Fuß in der Rente steht und pauschal nicht mehr motiviert, lernfähig und belastbar sein kann: Menschen werden im Arbeitsumfeld laufend in Schubladen gesteckt – mit häufig fatalen Folgen für ihre Karriere. Arbeitgeber hingegen verlieren im Gegenzug die Chance auf qualifizierte Talente, wenn Menschen aufgrund von Voreingenommenheit bereits im Bewerbungsprozess aus dem Raster fallen oder das Unternehmen aufgrund von Diskriminierung im Arbeitsumfeld verlassen. In Zeiten eines sich stetig zuspitzenden Fachkräftemangels und demografischen Wandels ist dies ein Phänomen, das sich Arbeitgeber schlichtweg nicht mehr leisten können.
Dieses Buch soll Bewusstsein dafür schaffen, dass Schubladendenken auch im Job keine Ausnahme ist. Es soll zum Nachdenken und Reflektieren anregen, um gängige Stereotypen, Vorurteile und gesellschaftlich fest verankerte Geschlechterklischees zu hinterfragen und damit auch eigene Denkschubladen infrage zu stellen. Zudem soll es deutlich machen, wie gravierend die Konsequenzen von Schubladendenken in der Arbeitswelt sowohl für Unternehmen als auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein können, und Wege sowie Strategien aus der Stereotypenfalle aufzeigen. Viele Passagen sind trotz der Ernsthaftigkeit der Thematik mit einem Augenzwinkern geschrieben. Ich wünsche Freude beim Lesen und Erfolg beim Entdecken sowie Ausmisten eigener Schubladen.
Lief unseren Vorfahren einst ein Säbelzahntiger über den Weg, vergewisserten sie sich im Regelfall nicht zuerst, ob sie es mit einem menschenfreundlichen Exemplar der Gattung zu tun hatten. Nein, sie ergriffen beim Anblick der 20 Zentimeter langen gebogenen Eckzähne idealerweise schnurstracks die Flucht und rannten so schnell sie konnten um ihr Leben. Diejenigen, die auf die Gutmütigkeit der Raubkatze vertrauten, wurden schneller, als sie V-O-R-U-R-T-E-I-L buchstabieren konnten, zu einem leckeren Festmahl. In der Steinzeit waren damit Vorurteile, die als mentale Abkürzungen unsere Entscheidungsfindung unterstützen, von existenzieller Wichtigkeit. Heutzutage ist unser Überleben glücklicherweise nicht mehr an die erfolgreiche Flucht vor Säbelzahntigern geknüpft. Dennoch arbeitet unser Gehirn immer noch ressourcenschonend, um Situationen, die potenziell gefährlich werden könnten, stereotypisch einzuordnen und blitzschnelle Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen.
Das bekannte Gorilla-Experiment1 der US-amerikanischen Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons macht auf eindrückliche Weise deutlich, welche gewaltige Menge an Informationen von unserem Hirn rausgefiltert wird, um eine ressourcenschonende Verarbeitung zu ermöglichen: In dem Experiment stellen die Psychologen die Aufgabe, sechs Basketballspieler zu beobachten. Drei Spieler tragen weiße, drei schwarze T-Shirts und sie werfen sich jeweils gegenseitig einen Ball zu. Die Aufgabe lautet, die Pässe der weiß gekleideten Spieler zu zählen. Das Erstaunliche: Die meisten Menschen sind derart auf diese Aufgabe konzentriert, dass sie weder sehen, dass für mehrere Sekunden ein großer Gorilla durch das Spielfeld läuft, noch dass der Vorhang im Hintergrund seine Farbe wechselt.
Das Experiment zeigt, wie schnell unser Hirn überfordert ist und auf welche beeindruckende, aber auch erschreckende Weise es imstande ist, Informationen gänzlich rauszufiltern, sodass wir sie gar nicht erst wahrnehmen. Wir bekommen also nur selektiv jene Informationen mit, auf die wir – bewusst oder unbewusst – unseren Fokus richten, und blenden andere – womöglich relevante – Details aus. Wir Menschen benötigen diese kognitiven Vereinfachungen zwar, um mit der Komplexität unserer Welt umgehen zu können und handlungsfähig zu bleiben, doch unsere unbewussten Denkmuster und die mit ihnen einhergehenden – häufig verzerrten – voreiligen Rückschlüsse haben in unserem Alltag öfter größere Konsequenzen, als wir denken. Das Schubladendenken, das wir im Verlauf unseres Lebens entwickeln, umfasst sowohl günstige als auch ungünstige Einschätzungen von Personen.2 So fällen wir Tag für Tag blitzschnelle Urteile über Menschen, die auf unseren internalisierten unbewussten Wahrnehmungsmustern sowie unserer bisherigen sozialen Prägung beruhen. Ohne dass wir es merken, kann unsere unbewusste Voreingenommenheit – der sogenannte Unconscious Bias – also einen entscheidenden Einfluss auf unser Handeln und den Umgang mit unseren Mitmenschen haben. Auch im Arbeitsumfeld.
Wir nehmen Dinge und Menschen nicht einfach nur wahr (»Ich sehe einen älteren Mann, der eine neue Führungskraft im Unternehmen ist.«), sondern interpretieren (»Er hat einen teuer aussehenden Anzug an und wirkt sehr ernst und streng.«), um anschließend – negativ oder positiv – zu bewerten (»So wie der aussieht, ist er bestimmt ein klassischer, konservativer Chef der alten Schule.«). Unser Unconscious Bias entscheidet damit maßgeblich darüber, wie wir unser berufliches Umfeld wahrnehmen, auf welche Weise wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen interagieren, wen wir sympathisch finden oder auch wer uns von Anfang an suspekt ist. Unser Bias entscheidet außerdem auch darüber, wen wir zu einem Bewerbungsgespräch gar nicht erst einladen, wem wir mehr Redezeit im Meeting zugestehen, wen wir fördern oder auch wen wir befördern. Unsere unbewusste Voreingenommenheit ebnet damit den Weg für ungerechtfertigte Vorverurteilungen und damit auch Diskriminierung von Menschen in der Arbeitswelt. Unconscious Bias kann sich auf verschiedene Weisen äußern und mannigfaltige Auslöser haben. Im Folgenden werden wir einen Blick auf die für den beruflichen Kontext entscheidendsten Formen der insgesamt über 180 erforschten kognitiven Verzerrungen werfen, denen wir zum Opfer fallen können.
Eine der prägnantesten kognitiven Verzerrungen ist die sogenannte Affinitätsverzerrung – auch bekannt als Affinity Bias. Sie bezeichnet das Phänomen, dass wir häufig eben jene Personen besonders sympathisch finden, die uns ähneln. Getreu dem Motto »Gleich und gleich gesellt sich gern« neigen Menschen dazu, sich bevorzugt mit Personen zu umgeben, die beispielsweise eine vergleichbare akademische Ausbildung, eine ähnliche ethnische oder soziale Herkunft oder auch die gleiche sexuelle Orientierung haben. Dieser Effekt kann auch auf subtile Weise entstehen, zum Beispiel, wenn Personen uns in ihrer Körpersprache oder Ausdrucksweise gleichen. Oftmals bemerken wir nicht, dass unsere empfundene Sympathie auf einer Ähnlichkeit mit unserer eigenen Person beruht. Übertragen auf Bewerbungsprozesse und Rekrutierungsentscheidungen ist die Konsequenz hierbei, dass Führungskräfte häufig den Drang verspüren, »Mini-Me’s« – also Abbilder von sich selbst – zu präferieren und damit eher nach subjektiver Affinität und weniger nach objektiver Kompetenz einzustellen.
Wenn ich Vorträge für Führungskräfte halte, bitte ich sie oft darum, sich zu melden, falls sie selbst schon mal Mini-Me’s eingestellt haben. In den seltensten Fällen bleibt hier eine Hand unten. Bevorzugt werden dann beispielsweise Menschen, die dieselbe Universität besucht haben oder ähnliche Interessen und Perspektiven teilen wie die einstellende Person. Was wir im Bewerbungsverfahren als intuitives Bauchgefühl deuten, kann also de facto genauso unser versteckter Affinity Bias sein. Auch mir selbst fällt mein eigener Affinity Bias im Rahmen von Vorstellungsgesprächen häufig auf. Etwa dann, wenn ich mich wieder einmal dabei ertappe, dass ich eine Kandidatin oder einen Kandidaten besonders gut fand, weil er oder sie einen Lösungsweg gewählt hatte, für den ich mich persönlich auch entschieden hätte. Affinity Bias kann sich allerdings auch im Umgang mit bestehenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zeigen, wenn zum Beispiel jene Teammitglieder verstärkt gefördert oder befördert werden, in denen sich die Führungskraft selbst wiedererkennt.
Ich erinnere mich noch gut an einen meiner ehemaligen Vorgesetzten, der einen Kollegen aus dem Team auf unübersehbare Weise zu seinem persönlichen Schützling auserkoren hatte. Die beiden teilten nicht nur dieselben sportlichen Interessen, sondern auch dieselbe Lieblingsfußballmannschaft, hatten an derselben Universität studiert und lachten in den Mittagspausen lautstark über dieselben Witze. Obwohl die Arbeitsergebnisse des Kollegen im Vergleich zu den restlichen Teammitgliedern eher unterdurchschnittlich waren, bekam er eine offensichtliche und für den Rest des – zunehmend frustrierten – Teams nicht nachvollziehbare Sonderbehandlung. Dass dies sowohl für den Teamgeist als auch die Gesamtmotivation nicht sonderlich förderlich war, liegt auf der Hand. Wir waren demzufolge auch alle nicht verwundert, als unser Chef seinen Günstling als Einzigen in sein neues Team mitnahm, nachdem er intern versetzt wurde.
Ein derartiges Verhaltensmuster ist kein Einzelfall, sondern verstärkt holistisch betrachtet sogar den sogenannten Glasdeckeneffekt erheblich. Dieser Effekt beschreibt das Phänomen, dass Angehörige bestimmter Gruppen nur schwer in höhere Managementpositionen aufsteigen können. Bildlich betrachtet stoßen sie ab einer gewissen Ebene gegen eine unsichtbare »gläserne« Decke, die sie am Aufstieg hindert. Der Glasdeckeneffekt kann grundsätzlich alle folgenden sieben Diversitätsdimensionen3 betreffen:
Geschlecht und geschlechtliche Identität,
sexuelle Identität und sexuelle Orientierung,
Lebensalter,
ethnische Herkunft und Nationalität,
körperliche und geistige Fähigkeiten,
Religion und Weltanschauung,
soziale Herkunft.
Die öffentliche Debatte über die Gläserne Decke wird allerdings vor allem im Kontext mit der Geschlechtsdimension in Bezug auf die Benachteiligung von Frauen bei der Auswahl von Top-Entscheidungspositionen geführt. Frauen stellen keine gesellschaftliche Minderheit dar, sondern machen die Hälfte der Bevölkerung aus. Umso auffallender ist es, wie selten sie im Vergleich zu Männern im Top-Management deutscher Unternehmen vertreten sind. Eine Ursache, die als Begründung hierfür vornehmlich genannt wird, ist, dass Frauen mehrheitlich noch immer den Großteil der Care-Arbeit übernehmen und beruflich zugunsten der Familie damit auch öfter kürzertreten. In der Diskussion wird eine andere relevante Dimension zugleich aber oft vernachlässigt: Vorstandsetagen und Aufsichtsräte sind bis heute überwiegend mit heterosexuellen Männern über 50 Jahren besetzt, die oft vergleichbare akademische Werdegänge aufweisen und deren Biografien ähnlichen Mustern folgen.4 Es sind damit auch vor allem jene Männer, die über die Vergabe von Positionen auf dieser Ebene entscheiden.
Das Konzept der Homosozialität – das Phänomen, dass sich Menschen überwiegend mit Menschen desselben Geschlechts umgeben – hat in dem Rahmen eine direkte Benachteiligung von Frauen bei Personalentscheidungen auf Top-Führungsebene zur Folge. Gemäß des Affinity Bias wird dieser Entscheidungsprozess stark von Sympathie oder Antipathie beeinflusst, wodurch die reine fachliche Qualifikation in den Hintergrund rückt. Die Affinitätsverzerrung bewirkt somit oft, dass letztendlich die Wahl auf die Person fällt, mit der sich die Top-Entscheider besonders gut identifizieren können: Nicht selten sind das andere Männer, die möglichst viele Gemeinsamkeiten mit ihnen selbst aufweisen.
Doch es sind bei weitem nicht nur Frauen davon betroffen. Bei diesem Phänomen werden all jene qualifizierten Kandidaten und Kandidatinnen potenziell übergangen, die auch schlichtweg in ihrem Verhalten beziehungsweise ihren Sichtweisen anders sind. Genauso können es also auch Menschen aus sozial nicht privilegierten Familien sein, die den Habitus der Führungszirkel aus ihrem Elternhaus nicht mitbringen und damit als ungeeignet für diese Top-Ebene wahrgenommen werden. Bis heute entscheidet der Stallgeruch immer noch häufig über vermeintliche Eignung und damit über Karrieren von Menschen. Während Kleiderregeln oder Tischmanieren noch erlernbar sind, sind sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern versteckte Verhaltenscodes und Mechanismen, die an der Spitze gelten, oft fremd – trotz erstklassiger Studienabschlüsse oder jahrzehntelanger relevanter Arbeitserfahrung. Menschen aus Arbeitermilieus verhalten sich in Schlüsselsituationen damit oft unsicherer und steifer als Menschen aus wohlhabenden Elternhäusern, sie wirken »anders« und kommen daher auch weniger gut an. Ihnen fehlt die natürliche Souveränität von Menschen aus privilegierten Hintergründen, die von klein auf gelernt haben, sich auf diesem Parkett ganz selbstverständlich zu bewegen und damit leichter wertvolle Beziehungen knüpfen können, die für den Aufstieg unerlässlich sind. Affinity Bias geht somit mit vielschichtigen Formen der Benachteiligung von Menschen einher und ist bei weitem nicht nur auf die Geschlechtsdimension begrenzt.
Aus Unternehmenssicht kann das Phänomen der Affinitätsverzerrung und die daraus resultierende ungerechtfertigte Benachteiligung oder Bevorzugung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen negative Auswirkungen auf das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Produktivität von Teams haben. So lassen die Motivation und das Teamgefühl stark nach, wenn bestimmte Personen von der Führungskraft laufend ungerechtfertigt bevorzugt oder benachteiligt werden. Die Konsequenzen können Silodenken, Ellenbogenmentalität, intransparente Kommunikation und damit auch schlechtere Arbeitsergebnisse sein. Wenn Menschen das Gefühl haben, für ihre Leistungen nicht anerkannt zu werden, kann dies außerdem zu einer geringeren Zufriedenheit und damit zu einer höheren Fluktuation führen. Affinity Bias gehört außerdem zu den größten Fallstricken im Bereich von Diversität und Inklusion in Unternehmen, da immer homogenere Teams herangezüchtet werden.
Eine weitere Krux: Wenn ähnliche Menschen zusammenarbeiten, ähneln sich auch die Sicht- und Arbeitsweisen. Damit ist die Wahrscheinlichkeit höher, relevante Trends, Entwicklungen und Chancen oder auch bestehende Defizite und Schwächen zu übersehen. In der Folge sinkt die Innovationskraft des Unternehmens stetig. Wird Affinity Bias in Unternehmen nicht hinterfragt und dient fortlaufend als Basis für Personalentscheidungen, resultiert dies nicht nur in fehlender Vielfalt innerhalb der Belegschaft sowie einer nicht inklusiven Unternehmenskultur, sondern auch in nachlassender Zukunftsfähigkeit, einer weniger attraktiven Arbeitgebermarke und damit auch im Verlust wertvoller Talente. Die Leidtragenden von Affinity Bias sind somit auch die Arbeitgeber selbst.
Als Attributionsverzerrung oder Attribution Bias wird die Tendenz bezeichnet, das Verhalten einer Person primär mit ihrem Charakter und weniger mit situationalen Faktoren zu erklären. Diese kognitive Neigung führt dazu, die vermeintlichen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen höher zu gewichten als ihre individuellen sozialen und umweltbedingten Umstände.
Drängelt jemand beispielsweise beim Einsteigen in die U-Bahn, sind wir häufig geneigt, die Ursache dieses Verhaltens in den Persönlichkeitsmerkmalen der Person zu suchen (»diese Person ist rücksichtslos und ungeduldig«), als die möglichen situativen Umstände zu reflektieren (»diese Person hat es vielleicht aufgrund eines persönlichen Notfalls eilig und ist daher gestresst«). Dieser Attribution Bias begegnet uns auch im beruflichen Kontext immer wieder – beispielsweise in Vorstellungsgesprächen. Sitzt etwa in einem Jobinterview eine Kandidatin vor uns, die aufgrund ihrer Nervosität Fragen unstrukturiert und hastig beantwortet, ziehen wir häufig unbewusst den Rückschluss, dass wir es hierbei mit einem Persönlichkeitsmerkmal der Bewerberin zu tun haben. Wir schließen womöglich daraus, dass die Frau generell inkompetent oder unstrukturiert sei, und sagen ihr ab. Dabei hat sie möglicherweise lediglich aufgrund von negativen Erfahrungen der Vergangenheit Angst vor Bewerbungssituationen entwickelt und allein die situativen Umstände sind ursächlich für ihr Verhalten.
Ich ging meinem Attribution Bias auch selbst schon oft auf den Leim. In meiner Beratungszeit arbeitete ich mit einem Senior-IT-Architekten aus einem anderen Beratungshaus im Rahmen eines Kundenprojektes zusammen. Dieser gab in unseren wöchentlichen Regelterminen mit dem Kunden nie auch nur einen Mucks von sich und schien lediglich seine Zeit abzusitzen. Nachdem ich dieses Verhalten einige Wochen beobachtet hatte, stand für mich fest, dass er im besten Falle faul, aber wohl eher schlichtweg inkompetent sein müsse. Von seiner fachlichen Vorgesetzten, die auch an diesen Terminen teilnahm, war ich hingegen tief beeindruckt: Woche für Woche stellte sie ihre beachtlichen Arbeitsergebnisse vor und schien den fehlenden Arbeitseinsatz ihres Kollegen nicht nur wohlwollend hinzunehmen, sondern auch eigenhändig zu kompensieren.
Nach einigen Monaten auf dem Projekt erfuhr ich schließlich, dass der Architekt aufgrund des cholerischen Verhaltens seiner Vorgesetzten schlichtweg Angst hatte, sich zu Wort zu melden, im Hintergrund die ganze Arbeit machte, die sie wiederum als ihre eigene verkaufte. Unterläuft nun einer Führungskraft ein vergleichbarer Fehler wie mir damals, kann Attribution Bias damit auch eine haltlose negative Leistungsbewertung der Person zur Folge haben. Etwa wenn die Führungskraft die Zurückhaltung eines Mitarbeiters in Meetings als fehlendes Engagement deutet, obwohl diese womöglich viel mehr von einer unausgewogenen Teamdynamik herrührt. Erklären sich Vorgesetzte das Verhalten ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausschließlich mit deren vermeintlichen Persönlichkeitsmerkmalen und gehen den zugrunde liegenden Umweltfaktoren nicht auf den Grund, ist eine ungerechtfertigte Beurteilung damit oft die Konsequenz.
Eine weitere klassische Attributionsverzerrung findet auch dann statt, wenn Personen aufgrund von ungewöhnlichen Angaben im Lebenslauf pauschal als ungeeignet für eine Position angesehen werden. So kann es etwa passieren, dass ein Mensch eine lange Lücke im Lebenslauf aufweist, die von dem Personalverantwortlichen automatisch mit fehlender Disziplin oder Zielstrebigkeit gleichgesetzt wird. Nun ist diese Lücke möglicherweise aufgrund einer längeren Erkrankung des Bewerbers entstanden, der sich nach dieser Zeit mühevoll ins Arbeitsleben zurückgekämpft und hierbei seine Willensstärke unter Beweis gestellt hat. Sortiert der Personalverantwortliche den Lebenslauf aufgrund seiner falschen Grundannahme nun einfach aus, ohne der wahren Ursache auf den Grund zu gehen, ist ihm ein klassischer Attributionsfehler mit fatalen Konsequenzen und damit eine ungerechtfertigte Vorverurteilung unterlaufen, die für diesen Bias typisch ist.
Besonders interessant im Kontext von Attribution Bias ist außerdem das Phänomen der selbstwertdienlichen Verzerrung. Während Menschen die Misserfolge anderer eher mit deren Persönlichkeitsmerkmalen und nicht mit äußeren Faktoren begründen, tendieren sie wiederum im Falle eigener Misserfolge dazu, diese bevorzugt Umweltfaktoren zuzuschreiben und nach Ausreden für ihr eigenes Scheitern zu suchen. Im Gegenzug erklären sie sich ihre Erfolge hingegen mit inneren Ursachen wie beispielsweise ihren eigenen herausragenden Fähigkeiten.5 Untersuchungen stellten in dem Rahmen fest, dass Führungskräfte im Falle von wirtschaftlichen Misserfolgen im Unternehmen der Belegschaft oder externen Unternehmen die Schuld gaben, wohingegen sie Erfolge auf ihr eigenes Wirken zurückführten.6
Gruppendenken beziehungsweise Conformity Bias geschieht dann, wenn unsere Sicht- oder Verhaltensweisen an das Gruppenkollektiv angepasst werden, auch wenn diese Ansichten gar nicht zwingend unsere eigene originäre Meinung widerspiegeln. Menschen neigen als soziale Wesen schon von klein auf zu Konformitätsverhalten. Konformitätsdruck wird vor allem durch die Angst vor sozialer Ausgrenzung und dem Drang dazuzugehören befeuert. Dieses Phänomen erleichtert unser gesellschaftliches Miteinander zunächst, da Konflikte reduziert werden, führt aber auch dazu, dass Ungerechtigkeiten von der Mehrheit unterstützt oder zumindest stillschweigend hingenommen werden. Das zeigt sich sowohl im Kleinen – beispielsweise in Form von Mobbing an Schulen – als auch in folgenschweren historischen Ereignissen wie Kriegsverbrechen.
Gruppendenken hat in der Arbeitswelt wiederum zur Konsequenz, dass Einzelne es eher vermeiden, Skepsis zu äußern oder alternative Lösungsvorschläge zu adressieren. Ein klassisches Beispiel aus Bewerbungsprozessen ist etwa, dass alle vorherigen Interviewer eine Kandidatin gut fanden und die nächste Interviewerin sie damit automatisch auch als geeignet empfindet. Oder der gegenteilige Fall: Alle vorherigen Interviewer fanden eine Kandidatin schlecht – folglich empfindet die nächste Interviewerin sie auch als pauschal ungeeignet. Gruppendenken ist somit nicht nur ein Hindernis für den Aufbau diverser Teams, sondern hat ferner auch erhebliche negative Konsequenzen für die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Beispielsweise wenn Teammitglieder aufgrund eines vorherrschenden Konformitätsdrucks keine alternativen Lösungen mehr vorschlagen, auch wenn ihre Ideen bessere Alternativen darstellen würden.
Konformitätsdruck kann entweder von Personen ausgehen, die mit Macht ausgestattet sind (Autoritätsdruck) oder von der bloßen Mehrheit vorgegeben werden (Majoritätsdruck). Das Spannende hierbei: Eine Anpassung der Sicht- und Verhaltensweisen in dem Rahmen lässt sich auch beobachten, wenn der Mensch selbst bewusst gar keinen Druck durch eine Autoritätsperson oder die Mehrheit der Gruppe wahrnimmt.7 Majoritätsdruck kann in Unternehmen zur Konsequenz haben, dass sich Menschen mit ihrem Verhalten widerstandslos an eine toxische Unternehmenskultur anpassen und diese sich damit laufend weiter verschlechtert. Sehen wir uns als Beispiel dafür mal Unternehmen an, in denen eine sogenannte Hustle Culture propagiert wird: In derartigen Kulturen wird vorausgesetzt, das eigene Privatleben auf ein Minimum zu reduzieren und in einigen Fällen wortwörtlich bis zum Umfallen zu arbeiten. Lange Arbeitszeiten, stetiges Leisten von Überstunden, die Vernachlässigung von sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten oder sogar Grundbedürfnissen wie Schlaf oder Mahlzeiten gehören dazu.
Negative psychische und physische Folgen wie Burnout, Unzufriedenheit oder ein geschwächtes Immunsystem bis hin zu kardiovaskulären Erkrankungen und in Extremfällen sogar Herzinfarkten oder Suiziden sind hierbei keine Seltenheit. Der Tod einer 24-jährigen Japanerin machte 2015 weltweit Schlagzeilen.8 Die junge Frau hatte nach ihrem Studium bei einer renommierten japanischen Werbeagentur angefangen und nahm sich kurz darauf das Leben, da sie den psychischen Druck aufgrund des hohen Arbeitspensums nicht mehr aushielt. Einer der Gründe, wieso derartige toxische Unternehmenskulturen, trotz dieser abschreckenden Beispiele, beibehalten werden, liegt auch in eben jenem Phänomen des Konformitätsdrucks. Werden von der Mehrheit der Belegschaft eines Unternehmens Überstunden und eine Vernachlässigung der Work-Life-Balance nach außen hin gutgeheißen und mit positiven Attributen wie einem hohen Arbeitseinsatz, Engagement und Zielstrebigkeit in Verbindung gebracht, wird es für Einzelne schwieriger, gegen den Strom zu schwimmen, öffentliche Kritik an dieser Arbeitskultur zu üben oder diese gar gänzlich infrage zu stellen. Wird eine Hustle Culture nun zugleich auch von den Führungskräften eines Unternehmens eingefordert und gelebt, wird der Gruppenzwang aufgrund des Autoritätsdrucks zusätzlich verschärft. Die Konsequenz ist, dass bestehende Strukturen und eingebürgerte Verhaltensweisen nicht hinterfragt und somit auch nicht verbessert werden.
Haben sich in einem Unternehmen diskriminierende Verhaltensweisen etabliert, werden auch diese meist anstandslos beibehalten. Gehören in einem Team etwa rassistische oder sexistische Bemerkungen zur Normalität und werden als »Witze« getarnt, werden diese eher hingenommen oder aus Gruppenzwang sogar mitgemacht. Personen, die sich von diesem Umgang diskriminiert fühlen, trauen sich dann häufig nicht, die Unterlassung dieser Verhaltensweisen einzufordern. Eine Bekannte, die vor einigen Jahren eine Ausbildung als Kfz-Mechatronikerin angefangen hatte, erzählte mir einst, dass sie sexistische Witze während ihres ersten Lehrjahres von ihren männlichen Kollegen wortlos in Kauf nahm, um dazuzugehören. Zu groß war die Angst, zur Außenseiterin zu werden, wenn sie offen ansprach, dass sie sich mit diesen Bemerkungen unwohl fühlte. Sie brach die Ausbildung deshalb schließlich nach nur wenigen Monaten ab, obwohl ihr der Job eigentlich Spaß gemacht hatte.