Von Räuberbanden, Taufsteinen und dem nassen Bäuerlein - Ingo Tenberg - E-Book

Von Räuberbanden, Taufsteinen und dem nassen Bäuerlein E-Book

Ingo Tenberg

4,9

Beschreibung

Die Geschichte von Hiesfeld, greifbar gemacht zum spannenden Miterleben! Der alte Dinslakener Stadtteil Hiesfeld nimmt eine herausragende Stellung in der wechselvollen Geschichte des rechten Niederrheins ein. Diese Historie erzählt das vorliegende Buch in spannenden Erzählungen, die sich an die wahren historischen Begebenheiten anlehnen. Der Leser taucht ein in eine phantasievolle Reise zur Vergangenheit des Mühlendorfes und erlebt die dramatische Jagd auf eine Räuberbande im Hiesfelder Moor, besucht die alten Wirtshäuser von Hiesfeld, wird zum historischen Detektiv auf der Suche nach der Herkunft alter Taufsteine oder spürt die Schönheit der Hiesfelder Natur im frühen 20. Jahrhundert über alte Radierungen. Dabei folgt das reich bebilderte Buch dem bewährten Aufbau des ersten Bandes zur Hiesfelder Geschichte („Von Wolfsjagden, stolzen Rittern und dem Gespenst aus dem Moor“) und wendet sich mit den Erzählungen und den beigefügten historischen Hintergründen damit sowohl an heimatkundlich interessierte Leser wie auch an jene, die spannende Geschichten aus der Geschichte lesen möchten.

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Für

Maja Marie

Viva la vida, mein Schatz!

Inhaltsübersicht

Einführung

Die Schwarze Kathrin

Erinnerungen an eine sagenumwobene Fliehburg im Rouleer

Das Meisterwerk aus dem Mittelalter

Die Rückkehr des Hiesfelder Taufsteins

Der Garten in Hiesfeld

Der große Landschaftsradierer Felix Hollenberg

Der segensreiche Pfarrer von Hiesfeld

Ein Denkmal für Hermann Sander

Der Froschteich

Die Landwehre um Hiesfeld

Der Gasthof „Zum Einhorn“

Die Wirtshäuser von Hiesfeld

Ein goldener Schleier des tiefen Friedens

Das Nikodemus-Fenster in der Hiesfelder Dorfkirche

Neuigkeiten aus der Vergangenheit eines Gotteshauses

Die Restaurierung der Hiesfelder Dorfkirche im Jahre 2015

Abbildungsnachweise

Literatur und Quellen

Bauernhof der Familie Fr. Mölleken (Heistermannstraße) im Jahre 1912

Grußwort des Vorsitzenden des Vereins für Heimatpflege Land Dinslaken e.V.

2012 veröffentlichte unser Verein in seiner Buchreihe “Veröffentlichungen zur Geschichte und Heimatkunde“ unter dem Titel: “Von Wolfsjagden, stolzen Rittern und dem Gespenst aus dem Moor: Die bewegte Geschichte von Hiesfeld im Dinslakener Land“, ein ganz besonderes Buch zur Geschichte Hiesfelds. Der Autor, Dr. Ingo Tenberg, profilierte sich mit diesem Werk als profunder Kenner der Hiesfelder Historie. Gleichzeitig gelang es ihm nicht nur durch seinen Schreibstil, sondern auch durch die Einbettung fiktiver Erzählungen in die historisch belegbaren Geschehnisse unterschiedlicher Epochen, die Geschichte Hiesfelds für Jedermann lebendig werden zu lassen.

Viele Leser haben damals sicher innerlich den Wunsch geäußert: davon hätte man gerne noch mehr. Nun, nach 3 Jahren, hat Dr. Tenberg seine in der Zwischenzeit zu Papier gebrachten weiteren Erzählungen aus der Geschichte Hiesfelds erneut in einem Buch zusammengetragen. Somit lässt er uns wieder teilhaben an seiner Freude, einzelne historische Ereignisse mit romanhaften Darstellungen auszuschmücken. Durch diese spannende Verbindung von exakter geschichtlicher Darstellung mit erdachten Geschehnissen wird heimatkundliche Historie greifbar. Das Interesse für das tatsächliche Ereignis wird durch die Fiktion geweckt. So gewinnt der Autor die Aufmerksamkeit des Lesers für die dann folgenden Erläuterungen der tatsächlichen historischen Gegebenheiten hinter der Erzählung. Dies wird unterstützt durch umfassendes Bildmaterial.

Die besondere Qualität des ersten Werkes hat unseren Verein nicht zögern lassen, auch den vorliegenden Titel in unsere Veröffentlichungen als Band 32 aufzunehmen und so der Buchreihe ein weiteres besonderes Stück heimatkundlicher Literatur hinzuzufügen. Die Idee und deren inhaltliche und sachlich kompetente Umsetzung bis einschließlich zur Drucklegung liegen erneut in der Verantwortung des Autors. Wir sichern dem neuen Werk mit der Aufnahme in unsere Buchreihe eine nachhaltige Präsenz in der heimatlichen Literatur im Land Dinslaken, die es mehr als verdient hat.

Im Namen des Vereins für Heimatpflege Land Dinslaken wünsche ich Ihnen nun viel Vergnügen beim erneuten Eintauchen in die Geschichte Hiesfelds.

Dr. Thomas Becker

Vorsitzender des Vereins für Heimatpflege Land Dinslaken e.V.

Dinslaken, im August 2015

Im Turm der Hiesfelder Dorfkirche finden sich noch so manche alte „Schätze“ der Vergangenheit – wie etwa diese kleinen Anzeigetafeln, die den Gottesdienstbesuchern vergangener Zeiten Hinweise auf die Lieder des Gottesdienstes gaben

Einführung

Als im Jahre 2012 nach dreijähriger Recherche mein Buch über die bewegte Geschichte von Hiesfeld („Von Wolfsjagden, stolzen Rittern und dem Gespenst aus dem Moor“, erschienen im Klartext-Verlag, Essen) vollendet war, hatte ich den Eindruck, darin möglichst viele Aspekte der Hiesfelder Geschichte abgebildet zu haben. Dennoch bot das seinerzeitige Manuskript reichlich Ansatzpunkte für vertiefende Untersuchungen, denen ich in der Folgezeit nachgegangen bin, und die weitere berichtenswerte Details aus der spannenden Vergangenheit des Mühlendorfes hervorgespült haben. Dies und die erfreuliche Resonanz, die das erste Buch erfahren hat, haben den Verfasser dieser Zeilen dazu veranlasst, diesen Folgeband zur Hiesfelder Geschichte vorzulegen.

Im Juni des Jahres 1902 schreibt ein Hiesfelder Dorfbewohner an eine Dame in Braunschweig, die offenbar seine Nichte ist: „Wer ist´s, der diese Karte spendet, Wer ist´s, der diese Grüße sendet, Wer ist´s, der eben denkt an Dich, Du ahnst es nicht! Es ist ein alter bärbeißiger Waldonkel“; die Postkarte zeigt Aufnahmen um die Wende zum 20. Jahrhundert von der Dorfkirche, der Post sowie der Dörnemann´schen Dampf- und Wassermühe in der Dorfmitte

Die vorliegende Schrift folgt dem bewährten Aufbau des ersten Bandes und beschreibt überwiegend Geschichten aus der Geschichte Hiesfelds, welche die Fantasie des Lesers anregen und ihm helfen sollen, auf eine erlebnisreiche historische Zeitreise zu gehen. Ergänzend dazu bieten der wahre Kern der Geschichten sowie der jeweilige historische Hintergrund detaillierte Vertiefungen für den geschichtlich interessierten Leser.

Ein besonderes Ausrufezeichen verdient sicherlich die im Jahre 2014 vollendete Rückkehr des alten Hiesfelder Taufsteins in seine Heimat der Dorfkirche nach einem 180-jährigen Aufenthalt in Hamborn. Dieses Projekt, das durch die Zusammenarbeit eines hoch engagierten Teams realisiert werden konnte, macht mich außerordentlich froh, nahm es doch seinen Ausgangspunkt in den Recherchen des ersten Buches. Die Rückkehr des Hiesfelder Taufsteins wird in diesem Band ausführlich dokumentiert.

Auch für diesen zweiten Band gilt es, allen Beteiligten einen herzlichen Dank für die vielseitige Unterstützung bei der Erstellung des Werkes auszusprechen. Institutionell hervorheben möchte ich die Teams aus dem Stadtarchiv Dinslaken, der Evangelischen Kirchengemeinde Hiesfeld sowie dem Mühlenverein Hiesfeld. Namentlich gebührt mein besonderer Dank den Herren Kurt Altena (Mühlenverein Hiesfeld), Erich Schult (Evangelische Kirchengemeinde Hiesfeld) sowie Pater Dr. Ludger Horstkötter (Prämonstratenser-Abtei Hamborn). Dem Verein für Heimatpflege Land Dinslaken bin ich sehr dankbar dafür, dass auch dieser zweite Band zur Hiesfelder Geschichte in die traditionsreiche Reihe der „Veröffentlichungen zur Geschichte und Heimatkunde“ aufgenommen wurde. Schlussendlich sei auch den vielen Unterstützern aus meinem privaten Umfeld gedankt, die mich zum vorliegenden Buchprojekt ermutigt und inspiriert haben.

Bei der Niederschrift der Fakten habe ich mich um eine sorgfältige Recherche bemüht. Sofern der Leser dennoch Korrekturbedarf findet oder auch Ergänzungen bietet, bin ich für jeden Hinweis an die E-Mail-Adresse [email protected] sehr dankbar.

Ich wünsche allen Lesern vergnügliche und interessierte Stunden bei der Lektüre dieses zweiten Bandes zur Hiesfelder Geschichte, den ich meiner geliebten Tochter Maja Marie widme.

Hiesfeld, im August 2015

Dr. Ingo Tenberg

1 Die Schwarze Kathrin

Erinnerungen an eine sagenumwobene Fliehburg im Rouleer

Dichte Nebelschwaden krochen über den morastigen Boden des Hiesfelder Rouleers, und der Mond warf lange Schatten der Bäume, so dass der Sumpf in ein unheimliches Wechselspiel aus tiefster Dunkelheit und schemenhaft angedeuteten Konturen der Pflanzen und Bäume getaucht lag. Es war eine dunkle, schaurige Nacht des 17. Jahrhunderts im sumpfigen und kaum durchdringbaren Bruchgürtel zwischen Hiesfeld und Dinslaken, in dessen Mitte sich – geschützt durch einen Wassergraben und einer hölzernen Palisade – die alte Fliehburg befand.

Die Geräusche der Nacht waren bestimmt durch das unablässige Gluckern und Schmatzen des Moorwassers, und in der Ferne murmelte leise ein kleiner Bach, der durch das Rouleer führte.

Am Horizont näherten sich hektisch flackernde kleine Lichtpunkte, die wie an einer Perlenschnur aneinander gereiht schienen, der Fliehburg. Mit der Zeit durchschnitten dann auch weitere Geräusche die tiefe Nacht.

Es waren aufgeregte Rufe und Schreie, die lauter wurden.

Die Jagd auf die Schwarze Kathrin und ihr Bande war eröffnet!

Schwer atmend rannte Johann auf dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad durch den Sumpf, gefolgt von den sieben weiteren Bandenmitgliedern inklusive ihrer Anführerin, der Schwarzen Kathrin. Beidseits des Weges spritzte das Moorwasser um ihre Stiefel herum auf, während die Gruppe verzweifelt versuchte, den Soldaten des Dinslakener Drosten zu entkommen.

Es ging um ihr Leben. Seit gut einem Jahr hatten sie das Land Dinslaken unsicher gemacht mit ihren Beutezügen und Überfällen, und dank der Klugheit und Verschlagenheit der Schwarzen Kathrin hatten sie nicht nur stets fette Beute bei ahnungslosen Reisenden oder wehrlosen Bauern gemacht, sondern konnten auch immer wieder den Truppen des Drosten entkommen und in eines ihrer vielen Verstecke flüchten. Sie alle wussten, was sie erwarten würde, wenn sie doch einmal gefangen genommen werden würden. Das Gefängnis im Dinslakener Kastell-Turm wäre ihre letzte Station, bevor der Henker sie hoch oben auf dem Lohberg zur Richtstätte bringen würde. Und dort oben würde das Schwert des Henkers ihrem Leben dann ein Ende setzen.

Heute Nacht war ihr Glück vielleicht verbraucht. Als die Schwarze Kathrin und ihre Männer ein Kalb von einem einsam am Rande des Hiesfelder Rouleers gelegenen Hof stehlen wollten, um es auf dem Feuer knusprig zu braten, da wollte es der Zufall, dass eine Soldatenpatrouille des Drosten in der Nähe unterwegs war. Und so war die Bande mit dem gestohlenen Kalb geradewegs in die Arme dieser Patrouille gelaufen.

Sie waren sofort geflüchtet. „Lauft ins Moor“, hatte die Schwarze Kathrin befohlen in der Hoffnung, die Soldaten würden ihnen aus Angst vor dem Sumpf nicht folgen. Doch die Soldaten blieben ihnen unablässig auf den Fersen, da sie Pechfackeln hatten, mit denen sie den morastigen Boden unter ihren Füßen ausleuchten konnten.

Gehetzt warf die Schwarze Kathrin einen Blick über ihre Schulter, während sie mit ihren Gefährten tiefer und tiefer ins Moor vorstieß. Es war ihnen gelungen, ein wenig Abstand zu ihren Verfolgern zu gewinnen, die hektischen Punkte der Fackeln waren deutlich kleiner geworden.

„Johann, wie weit noch?“, rief sie dem vorauseilenden Gefährten zu.

Johann rannte weiter, ohne sich umzudrehen. „Gleich! Gleich haben wir es geschafft! Die alte Fliehburg ist nicht mehr weit!“

Eine alte Fliehburg inmitten des ungastlichen Hiesfelder Rouleers war ihr Ziel. Nur Wenige kannten den schmalen Pfad durch das Moor bis dorthin, und wenn sie erst einmal den Wassergraben überwunden und die kleine bewegliche Stegbrücke darüber weggezogen hätten, so würde ihnen die Burg hinter den hölzernen Palisaden einem guten Schutz vor ihren Verfolgern bieten.

Hoffentlich schaffen wir es, dachte die Schwarze Kathrin verbissen. Das Laufen fiel ihr zunehmend schwerer, zu anstrengend war die Flucht über den rutschigen Morast, auf dem ihre Füße bei jedem Schritt festzukleben schienen.

Plötzlich durchdrang dunkles, aufgeregtes Bellen die Nacht.

„Oh Gott, sie haben Bluthunde!“, stieß Kathrin hervor. „Lauft schneller, die Viecher werden unsere Witterung aufgenommen haben!“

Das Rouleer befand sich südlich des Hiesfelder Dorfkerns und westlich der Höfe Eickhof, Scheelenhof und Tackenhof, wie diese Katasterkarte aus dem Jahre 1843 zeigt

Tatsächlich schien es nun, als käme das vielschichtige Stimmengewirr der Verfolger wieder näher.

„Da, da hinten ist die Burg, wir haben es fast geschafft!“, brüllte vorne Johann, doch in diesem Moment rutschte Wilhelm, der direkt hinter ihm lief, im Morast aus und schlug wie ein nasser Sack in voller Länge auf den schmalen Pfad auf. Beinahe wären die nachfolgenden Gefährten über ihn gestolpert.

„Du Narr“, zischte die Schwarze Kathrin. „Na los, so helft ihm wieder auf die Beine!“ Die Gefährten mühten sich, Wilhelm wieder nach oben zu ziehen, der schmerzverzerrt aufheulte. Als er wieder auf zwei Beinen stand, fasste er sich vorsichtig an die Seite, um erneut vor Schmerz aufzubrüllen. „Ich glaube, ich habe mir eine Rippe gebrochen!“, presste er hervor.

Diese von Enbers erstellte Katasterkarte aus dem Jahre 1736 zeigt die Lage des unmittelbar an das Rouleer angrenzenden Eickhof-Gehöftes

Das Hundegebell war nun schon bedrohlich nahe und durchmengte sich mit wütendem Knurren. „Weiter, weiter“, befahl Kathrin. „Sie sind gleich heran an uns!“

Sie rannten weiter, als gäbe es kein Morgen mehr. Eine Eule flog erschrocken von ihrem nächtlichen Ruheplatz auf einem Baum davon, als sie darunter hinweg eilten.

Das Bellen und Knurren der Hunde war jetzt ganz dicht hinter ihnen. Als Johann nach vorne blickte, erkannte er endlich die Schemen der mächtigen Erdburganlage im Sumpf. „Wir sind da! Los, über den Steg!“

Sie eilten über den schmalen Holzsteg, der über den äußeren Wassergraben der Burganlage führte, und der zu beiden Uferseiten auf beweglichen Rundhölzern ruhte. Als sie den Steg überwunden hatten, machten sich Johann und ein weiterer Gefährte sofort daran, die Brücke einzuziehen. Keinen Moment zu früh, denn schon schnellte der erste Bluthund mit wütendem Gekläffe heran. Vor dem Wassergraben stoppte er ob des für ihn unüberwindbaren Hindernisses abrupt ab, zog die Lefzen hoch und fixierte die Männer auf der anderen Seite mit tiefem, bedrohlichem Knurren.

Die Schwarze Kathrin und ihre Gefährten starrten auf das furchterregende Tier, dem sie gerade noch rechtzeitig den Steg hinweggerissen hatten.

„Hinein in die Burg!“, befahl Kathrin und eilte durch das schwere Eichentor, das den einzigen Durchlass durch die Palisade in den Innenbereich der Burg ermöglichte. Als sie alle hindurch waren, mühten sie sich, das massive Eichentor zuzustoßen. Sie ächzten und stöhnten vor Anstrengung, langsam drehte sich das Tor nach innen zu. Während sie damit beschäftigt waren, bemerkte Johann aus den Augenwinkeln heraus das tänzelnde Licht der Fackeln jenseits des Wassergrabens. Die Truppen des Drosten hatten die Burg also erreicht!

Plötzlich sirrte etwas durch die Luft, und direkt neben dem Kopf Johanns bohrte sich ein Pfeil in das Holz des Tores. Erschrocken starrte er auf den Pfeil direkt neben ihm.

„Na los“, rief die Schwarze Kathrin, „zieht das Tor zu, so zieht es endlich zu!“

Erneut sirrten Pfeile durch die Luft, die die Truppen des Drosten auf sie abgeschossen hatten, doch in diesem Moment verschloss sich das schwere Tor der Rouleersburg mit einem lauten Krachen, so dass die Pfeile auf der Außenseite einschlugen.

Erschöpft sanken die Männer und die Schwarze Kathrin an der Innenseite der Palisade zu Boden und lauschten dem Stimmengewirr ihrer Verfolger, das sich außerhalb der Burg erhoben hatte. Johann blickte die Schwarze Kathrin an. „Wir sind fürs Erste gerettet!“

„Ja“, entgegnete sie, „aber wir sitzen hier in der Falle wie die Ratten!“ Sie lächelte ihn müde an.

Er nickte. Wie lange konnten sie hier wohl aushalten? Ohne Wasser, ohne Nahrung?

„Vielleicht schaffen wir es in den frühen Morgenstunden, auf der anderen Seite der Burg unbemerkt über die Palisade zu klettern und den Graben zu durchschwimmen!“, schlug Wilhelm vor, der die gebrochene Rippe mit einer Hand zu schützen versuchte. Die Schwarze Kathrin nickte. „Ja, wir müssen es versuchen!“

Erneut sirrten Pfeile durch die Luft und schlugen an der Außenseite der Palisade ein. Und plötzlich erhellte sich die zuvor dunkle Nacht direkt über der Palisade.

Sie bemerkten sofort den Geruch brennenden Pechs.

„Brandpfeile!“, stieß Johann hervor. „Sie setzen die Palisade in Brand! Sie wollen uns ausräuchern!“

Weitere Brandpfeile bohrten sich in die Außenwand der Palisade, und bald war das Moor rund um die Rouleersburg vom flackernden Feuerschein der inzwischen in Brand geratenen Palisade erhellt. Immer dichtere Rauchschwaden hüllten die Burg ein. Bald war die gesamte Vorderseite der Palisade in Brand geraten.

Die Männer rund um die Schwarze Kathrin konnten kaum noch atmen, der beißende Rauch ließ sie heftig röcheln und trieb ihnen die Tränen in die Augen. Johann hustete heftig und blinzelte hinüber zu Kathrin. Ihre Blicke trafen sich bedeutungsvoll.

„Es ist vorbei, nicht wahr?“, krächzte er mühsam. „Wir sind verloren!“

Die Schwarze Kathrin blinzelte in das Flammeninferno, das sie umgab, und nickte schließlich gedankenverloren. Seit über einem Jahr hatte sie die Männer geschickt geführt. Nie hatte man sie auf ihren Raubzügen erwischen können. Doch heute also hatte das Schicksal es gewollt, dass das Ende der Räuberbande wohl unmittelbar bevorstand.

Sie lächelte, während ihr das Atmen immer schwerer fiel. Sie war stark gewesen, sie war so stark gewesen!

Ihr Blick richtete sich in den von dem Flammen erhellten Himmel, dessen Rand von den sich im Wind wiegenden Baumkronen des Rouleers gesäumt war. Sie bemerkte, wie sich ihre Sinne mehr und mehr verschleierten, und dann zog die Ohnmacht in ihr auf. Das letzte, was ihre Augen sahen, war der volle Mond am Sternenhimmel über dem Hiesfelder Rouleer.

Bei einer im Jahre 1930 durchgeführten archäologischen Ausgrabung fand man auf dem Areal der Rouleersburg Scherben von Tongefäßen, die auf das hohe Alter der Anlage schließen lassen: links Tonscherben aus dem 13. Jahrhundert, auf der rechten Bildseite ältere Scherben aus weniger hart gebrannten Tongefäßen aus karolingischer Zeit (9. oder 10. Jahrhundert)

Fotos von der im Jahre 1930 durchgeführten archäologischen Untersuchung an der Rouleersburg: Seitensicht der mit hohen Bäumen bewachsenen Wallanlage (oben) sowie eine Aufnahme des Stichgrabens, der zur Bodenuntersuchung von den Archäologen quer durch die seinerzeitige Anlage ausgehoben wurde (unten)

Der wahre Kern der Geschichte

Vermutlich bereits seit karolingischer Zeit befand sich im einst sumpfigen und urwüchsigen Hiesfelder Bruchgürtel „Rouleer“ südwestlich des Hiesfelder Dorfkerns eine Erdburganlage, die wahrscheinlich von den Bewohnern der am Rande des Sumpfes gelegenen Höfe als Fliehburg angelegt worden war, um sich bei drohender Gefahr (etwa durch Kriegsleute) dorthin mit allem Hab und Gut zurückziehen zu können. Sie war von einem breiten Wassergraben umgeben, dessen Aushub man zu einem Burghügel aufgeschüttet hatte. Ihre schwer zugängliche Lage inmitten des Sumpfgebiets verstärkte die Schutzfunktion. Ausgrabungen in den 1930er Jahren haben ergeben, dass die in der Erzählung beschriebene Holzpalisade tatsächlich einmal den Burghügel umgeben hatte.