Von wegen Unschärfetief - Sabeth Sandkühler - E-Book

Von wegen Unschärfetief E-Book

Sabeth Sandkühler

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Beschreibung

Illusion ist die Summe unserer Gedanken darüber, was wir zu verstehen glauben. Doch wenn wir meinen, die Wahrheit erkannt zu haben, hat die Suche danach erst begonnen. Als die Kriminalkommissarin Mona trotz ihres zerrütteten Verhältnisses die Hinterlassenschaften ihrer Mutter zu ordnen hat, brechen alte unbeantwortete Fragen wie verkrustete Wunden wieder auf. Ohne es zu merken, verlässt sie den bekannten Pfad der Verdrängung und begibt sich auf eine Spurensuche, die sie nach Mexiko und Tansania führt. In unerwarteten Begegnungen dieser ganz anderen Kulturkreise kreuzen sich nicht nur erneut Lebenswege, sie lassen Mona auch Begriffe, wie WAHRHEIT, LIEBE oder GLÜCK, in aller Unschärfe neu buchstabieren.

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Für Hannah und Lars

Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind.

Max Frisch

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL: IM NORDEN

ZWEITER TEIL: MEXIKO

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

DRITTER TEIL: TANSANIA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

VIERTER TEIL: IM NORDEN

ERSTER TEIL: IM NORDEN

Bevor sie die Haustür aufstößt, hält sie den Atem an, damit er nicht stocken muss. Sie hat sich gewappnet vor der unvermeidlichen Wolke muffeliger Gerüche, angefüllt mit Geschichten, die sie nie mehr hatte hören wollte. Seit ihrem ersten Schritt heute morgen und auf allen weiteren über Straßenpflaster, Zugfußböden und Bussteigen, schließlich auf Wirtschafts-, Sand- und Kieswegen, hat sie dieses klebrige Unwohlsein in ihrer Brust gespürt. Sie muss nicht Psychologie studiert haben, um es als Prophezeiung einer lästigen Auseinandersetzung mit erfolgreich verdrängten Erinnerungen zu sehen.

„Möchten Sie den Leichnam Ihrer Mutter noch einmal sehen?“

Die Nachricht ihres Todes und diese Frage in einem einzigen Telefonat.

„Auf keinen Fall.“

Sie hat eine Begegnung in den letzten zehn Jahren vermieden und Traditionen bedeuten ihr schon lange nichts mehr. Warum jetzt also alten Riten verfallen?

„Bestattungsboutique My Moria“, so hat sich der sanft säuselnde Bestatter mit gutturalem Stimmabgang vorgestellt, sich der Wirksamkeit seines bedächtig verständnisvollen und anheimelnden Klanges durchaus bewusst.

„Vielleicht überlegen Sie es sich noch.“

„Sicher nicht.“

Grits Geruch geistert noch in jeder Ecke, grapscht nach Mona aus Jacken und Taschen in der Garderobe, umwabert sie in der Küche wie mit den Fangarmen einer Krake, packt und umnebelt sie schließlich in der engen Diele. Diese seltsame Melange aus Lemongras und verbranntem Palo Santo hätte sie aus tausend Gerüchen herausriechen können, in dieser Intensität verschlägt es ihr jedoch den Atem.

Sie öffnet ein Fenster nach dem anderen und erst, als auch das letzte im Obergeschoss auf Durchzug steht, atmet sie tief durch. Erleichtert gestattet sie ihren Lungenflügeln, sich ganz mit unverbrauchter Luft zu füllen. Frei atmen, hatte sie Grit damals gesagt, als sie ging. Ich will endlich frei atmen können. Ein Schauer überrascht sie. Dabei war doch der konsequente Verzicht auf jede Sentimentalität ihr erste Bedingung, die sie sich gestellt hat für diese Fahrt in den Norden. Wirsch sieht sie sich um.

Grit hat alles aufgeräumt hinterlassen, vollkommen untypisch. Mona rekapituliert den Vorgang. Der Nachbarin, zu der Grit ein, wie sie immer sagte, Guten-Tag-und-Guten-Weg-Verhältnis pflegte, habe sie einen Brief mit einem Schlüssel und der genauen Anleitung ihres Auffindens geschickt.

Gemäß dieser sei auch sogleich ein Notarzt gerufen worden, der in Begleitung der durchaus neugierigen Briefempfängerin unter zaghaftem Grausen die Haustür aufgeschlossen, über die Treppe den Weg zum Schlafzimmer gefunden und sogleich die Todesursache begriffen haben muss.

Der Anblick der langen hageren Grit in ihrem weißen Hochzeitskleid unter den offenen roten Haaren auf dem natürlich glatt gestrichenen Bett muss bizarr gewesen sein. Die Hände sorgsam auf dem Brustkorb gefaltet, eine Aldi-Plastiktüte wie in einem surrealistischen Bild um den Kopf gewickelt, auf dem Nachttisch die entleerte Tablettenschachtel sowie die Erklärung ihres selbst gewählten Freitods für das Amt. Wie immer korrekt, aber nicht ohne einen Hauch von Theatralik. Mona hat sich schon oft gefragt, ob dieser Hang zur Selbstinszenierung nur eine egozentrische Marotte Grits gewesen ist oder ob es tatsächlich ein angeborenes Grundbedürfnis gibt, die Welt ästhetisch verformt wahrzunehmen. Magritte trifft auf Frida. Beide wären wahrscheinlich von dieser Adaption wenig begeistert.

Wieder fällt ihr auf, dass das übliche Chaos, das sie erinnert, vollständig verschwunden ist. Die Noten- und Bücherberge auf dem Fußboden, Krempel aus aller Welt in den Bücherregalen, Lichterketten, Bilder, Tücher, Traumfänger, Wandteppiche, Masken, aufgehängte Bündel getrockneter Kräuter, Räuchermännchen, fernöstliche Götterfiguren und jede Menge Keramik, alles entsorgt. Stattdessen nackte Wände, entleerte Vitrinen, ein vereinsamter Ohrensessel, nur in den Regalen ordentlich verschnürte Päckchen jeweils mit handschriftlicher Zueignung. Die vertrauten Schriftzüge, die regelmäßig verbundenen und doch klaren und nur leicht nach rechts geneigten Buchstaben versetzen ihr einen Stich, worüber sie sich ärgert.

Vergangen ist vergangen, abgeschlossen, perdú und ohne jede Zugangsberechtigung in ihr gegenwärtiges Leben. Ist eine Sache vorbei, dann war’s das. Wozu festhalten wollen an Dingen, die angeblich gleichzeitig sein und nicht sein können?

So viel Unbestimmtheit erträgt sie nicht, will sie nicht ertragen. Mona hat viel Mühe darauf verwandt, ihre Welt eindeutig und überschaubar zu gestalten. In ihre Welt passt gerade mal ein Job, der klare Grenzen steckt, Kollegen, die okay sind, eine Freundin, mit der sie einmal im Jahr einen Sprachkurs in Spanien macht, und nicht zu vergessen das Fitnessstudio. Aus ihrer Welt war Grit unwiderruflich herausgefallen.

Als Polizistin hat Mona schon oft mit Kollegen Wohnungen nach Indizien oder Hinweisen auf deren Bewohner inspiziert. Der Ablauf ist immer der gleiche. Gründliche, systematische Spurensuche, Beweisfotos, sachliche Auswertung, Bericht, Feierabend.

Doch hier drängeln sich wie quengelnde Kleinkinder eigentlich verbannte Bilder in ihren Rundgang, verschaffen sich Zugang durch alle möglichen Ritzen und Schlupflöcher bis in ihre Gegenwart und legen sich wie ein Film über alles, was sie sieht. Mühsam schiebt sie ihn beiseite.

Grit hatte aufgeräumt, wollte wahrscheinlich mit ihrem Abgang niemandem zur Last fallen, besonders dem Menschen nicht, den sie allein großgezogen und dem sie alles beigebracht hatte.

Wieder pirschen sich die Bilder ungefragt in ihr Bewusstsein, in unschöner Schärfentiefe bemächtigen sie sich ihrer und Monas Abwehrsystem beginnt zu schwächeln, ist nicht schnell genug, diese Bilder fortzujagen. Wendig und dreist schlüpfen sie einfach in ihre innere Galerie, richten sich ein, zeigen, wie Grit sie hielt bei den ersten Schritten, wie sie ihr beibrachte, wie man eine Schleife bindet, Buchstaben zu Inhalten formt, wie sie sie mitnahm in die Welt der Märchen, der Farben und der Musik und wie sie bei allem den Respekt vor dem Leben lehrte. Na toll, nur das eigene tritt sie in die Tonne.

Ein Anflug von Zorn steigt in Mona auf. Mit welchem Recht stiehlt sie sich auf diese Weise aus dem Leben? Alles an diesem selbstinszenierten Abgang ist doch ein einziger Vorwurf an sie, die gegangen ist mit den Worten, ich bin Dir nichts schuldig, ich hab mir Dich nicht ausgesucht. Sie braucht dringend einen Schluck Wasser.

Keine Sentimentalitäten. Auf dem Weg in die Küche bleibt ihr Blick an den sorgsam verschnürten Päckchen im Regal hängen. Eines ist dem Stadtarchiv zugedacht, weitere der Diakonie, einem Krankenhaus in Tansania, Terre des Hommes und so weiter.

Sollte das ihre Aufgabe sein, diese Briefe und Päckchen zu verschicken? Sie zaudert. Und hat sie wirklich erwartet, ihren Namen unter den Hinterlassenschaften Grits zu finden? Eine Antwort? Ruhig bleiben. Rational betrachtet ist alles gut so, wie es ist. Sie wird die Post erledigen. Darüber hinaus haben sie voneinander nichts zu erwarten.

Das kalte Wasser aus dem Hahn bringt ihr den kühlen Kopf zurück. Sie würde drei bis vier Tage für die Formalitäten brauchen. Die Möbel würden bei Ebay-Kleinanzeigen schnell weggehen und der Immobilienscout übernimmt das Haus. In einer Woche wird sie zurück sein in ihrem wirklichen Leben.

„Mona, schau, wer da ist!“

Der Marienkäfer, der gerade ihren ausgestreckten Zeigefinger entlanglief, stoppte und sah sie fragend an. Dann öffnete er seine Flügel, hob ohne Anlauf bis auf Augenhöhe ab und flog in einem großen Bogen über die roten und blauen Blumen weit hinweg, bis nur noch ein kleiner Punkt von ihm übrig war, der sich im Gelb des Kornfeldes verlor.

Grit stand in der Haustür und lachte ihr erwartungsvoll entgegen. Neben ihr stand Lisa in einem hübschen weißen Kleid und hielt ein Geschenk mit großer roter Schleife in den Händen.

Heute Morgen hatte Grit sie schon mit sechs Kerzen auf einem herrlich duftenden Kuchen geweckt, und auf dem Küchentisch hatte ein Geschenk auf sie gewartet. Sie hatte nicht schlecht gestaunt, als sie eine Schatulle aus dem Papier freilegte, aus der sie eine Pergamentrolle herauszog. „Schatzkarte“ hatte Grit vorgelesen und sie erkannte den Küchentisch mit den blauen Beinen, den geblümten Ohrensessel, den blauen Küchenschrank, und Fußspuren führten zur eingezeichneten Tür hinaus.

Fragend hatte sie zu Grit gesehen, doch die hatte ihr schon lachend die Hand gereicht und gemeinsam waren sie den Spuren auf der Karte aus dem Haus und sogar um den Hühnerstall herum gefolgt. Mit einem Aufschrei hatte sie schließlich dieses wunderschöne rote Fahrrad entdeckt, das sie sich so sehr gewünscht hatte, seitdem sie es einmal in einem Schaufenster in der Stadt entdeckt hatten. Und nun war auch noch ihre Freundin Lisa gekommen. Geburtstag haben ist einfach großartig.

Lisa zeigte zuallererst stolz auf ihre ganz frische Zahnlücke und Mona grinste mit der eigenen frech zurück. Noch diesen Sommer sollten sie beide zur Schule kommen, und mit den Zahnlücken fühlten sie sich beide endlich gerüstet genug dafür. Nach einem quiekenden Kleidervergleich wurde das Geschenk in Augenschein genommen: Glitzerstifte in ihren Lieblingsfarben Rosa-Pink-Orange-Rot.

Der Nachmittag ging mit Kuchenessen und Lieblingsspielen im Garten so turbulent vorüber wie ein Wirbelwind und plötzlich stand Lisas Vater neben dem festlich geschmückten Kaffeetisch, schob lachend einen Luftballon zur Seite, der vor sein Gesicht geraten war, und sah neben Lisas Mutter, die er jetzt umarmte, so kräftig und so schön aus, dass Mona schlucken musste. Was hätte sie darum gegeben, auch einen solchen Vater zu haben.

„Natürlich hast Du auch einen Papa, Liebes“, hatte ihr Grit am Abend ins Ohr geflüstert. „Ich habe sogar eine Nachricht von ihm für sein großes Mädchen.“

Auf der Rückseite einer Geburtstagskarte mit balancierenden Elefanten auf einer Wäscheleine entdeckte sie einzelne, leicht nach rechts geneigte Buchstaben, unverbunden in Wortgruppen nebeneinander stehend. Bald würde sie auch lesen können, doch noch musste Grit ihr diese fremde Welt erschließen, und so lauschte sie begierig der vertrauten Stimme ihrer Mutter, dass der Vater zwar weit weg war, aber mit unermesslichem Stolz an sie dachte, an sein großes Mädchen, das heute sechs Jahre alt geworden war.

„Dieser Sessel taugt ja nichts mehr, gebrochene Federn, zerschlissener Stoff. Nehmen wir nicht.“

Die penible Untersuchung der einzelnen Möbelstücke geht Mona zunehmend auf den Geist. Mit sarkastischem Unterton bietet sie Grits Lupe an. War es tatsächlich zu naiv zu glauben, dass sich soziale Einrichtungen über geschenkte Möbel freuen würden?

„Die Möbel sind alle aus massivem Holz und lassen sich leicht aufbereiten.“

Der Packer sieht sie fast ein wenig mitleidig an.

„Mag ja sein, dass Ihr Mobiliar einmal hochwertig gewesen sein mag, aber es hat seine Gebrauchsspuren. Wir nehmen nur einwandfreie Ware.“

Das Zuschlagen der Lkw-Tür kommt Mona so kompromisslos vor wie das Amen in der Kirche. Immerhin die Vitrine und zwei Regale. Die Räumung gestaltet sich schleppender, als Mona gehofft hatte. Zwei Tage hat sie damit zugebracht, alles zu fotografieren und ins Netz zu stellen. Doch wenn die Reaktion weiterhin so übersichtlich bleibt, gibt es immerhin noch den Entrümpelungsservice.

Ihr Blick schweift durch die von Grit selbst hergestellte Leere in ihrem Büro. Die Päckchen haben sich schnell auf den Weg bringen lassen. Allerdings kann sich Mona beim besten Willen nicht vorstellen, was darin sein könnte. Früher kam es ihr so vor, als habe Grit Freunde und Patenkinder in der ganzen Welt. Jedenfalls pflegte sie regelmäßige Korrespondenzen, in deren Verlauf immer wieder bunte, Sehnsucht weckende Briefmarken bei ihnen eintrafen, die Mona unter heißem Wasserdampf ablösen und nach Ländern sortiert in ein Büchlein stecken durfte.

Tansania und Mexiko nahmen in ihrer kleinen Briefmarkensammlung tatsächlich den größten Platz ein. Das dünne schwarze Büchlein, das einmal Monas größter Schatz gewesen war, hatte Grit vermutlich entsorgt, wie alles andere, was ihr einmal wichtig gewesen war, was sie in ihrer Wut zurückgelassen hatte. Mona ist sogar auf dem Dachboden gewesen, aber nichts, absolut gar nichts gibt es mehr, was an sie erinnert. Sie kann es Grit nicht verdenken. In ihrer Konsequenz bleibt sich Grit treu und hat Monas Hinterlassenschaften ebenso abgewickelt, wie sie es jetzt ihrerseits mit Grits tun muss. Ob es ihr schwer gefallen ist? Ob Grit trotz allem gehofft hat, dass sie zurückkehren würde, wenigstens auf eine Aussprache?

Städte und Flüsse rauschten an ihr vorbei.

Es kullerte. Erst war die Welt grün und flach, dann verbog sich der Horizont zunehmend wellenförmig. Der verwässerte Blick verfing sich in breiten Flusstälern, von Weinbergen eingesäumt und folgte den wachsenden Bergketten in eine neue Welt mit lauter unbekannten Koordinaten.

Es tropfte.

Doch je weiter sie sich von Grit entfernte, umso besser, umso befreiter fühlte es sich in der Herzgegend an, desto tiefer gelang es ihr durchzuatmen.

Es floss.

All die Worte, die sie Grit zum Abschied aus blinder Wut an den Kopf geschleudert hatte, konnten ihr den Schmerz nicht nehmen, die Enttäuschung, den ungeheuerlichen Betrug nicht wettmachen, aber sie taten gut. Aus brodelndem Wutgemisch würgten sie sich in den Raum, brachen sich Bahn, hässlich, aber mit jeder Silbe berechtigt, denn silbenspuckend konnte Mona zusehen, wie sich ihre Worte in Grits Gesicht verfingen, anfingen zu verletzen. Das geschah ihr nur recht.

Es strömte.

Mit aller Kraft der Verzweiflung hatte sie damals die Tür hinter sich zugeknallt. Grit brauchte nicht zu glauben, dass sie jemals wieder auch nur einen Schritt über diese Schwelle gehen würde.

Inzwischen jagten mittelalterliche Burgen aus den Wäldern herausragend oder auf den Berghängen aufgereiht an ihr vorbei. Wieder kam ein Taschentuch von links, das ihre Tränen alsbald zu Brei verflüssigten.

Fliegende Baumreihen begrenzten Felder mit verstreut herumliegenden Heuballen. Vereinzelt blitzten Kirchtürme auf, standen unvermittelt da wie die lustige Zwiebelreihe, die neugierig aus der Erde herauslugte, in Grits Gemüsegarten.

Neue Wasserströme stiegen unaufhaltbar in ihr auf. Erneutes Taschentuch von links. Dabei wollte sie sich doch nicht mehr erinnern an die Dinge, die sie einst liebte.

Die Erinnerung an ihren sechsten Geburtstag verschnürte ihre Eingeweide. Seitdem hatte sie einen Vater, der ihr Jahr für Jahr zum Geburtstag versicherte, wie stolz er und wie wichtig sie für ihn sei, und dass er bei nächster Gelegenheit versuchen werde, ein Schiff über den weiten Ozean zu nehmen, um endlich bei ihr zu sein. Dumm war nur, dass dieser Kommunikationskanal offensichtlich eine Einbahnstraße war. Mit zehn hatte sie das traurig gemacht, mit zwölf verzweifelt und mit fünfzehn wütend, erst hatte sie seine Karten liegengelassen, dann übersehen, schließlich zerrissen, ohne sie zu lesen. Aber all diese Wut der letzten Jahre waren ein Fliegenschiss gegen das, was sie jetzt fühlte. Welch ungeheurer Betrug! Und ausgerechnet von ihr, dem Menschen, bei dem sie das Wort Vertrauen erst buchstabieren gelernt hat.

Sie war nur auf der Suche nach einem lächerlichen Radiergummi gewesen und hätte sicher Grit danach gefragt, doch die war unterwegs und würde erst am Nachmittag wiederkommen. Grits Schreibtisch, das war unausgesprochenes Agreement, war ebenso unantastbar wie ihr eigener. Und vielleicht war das der Grund, warum es sich so seltsam anfühlte, als sie sich auf Grits Schreibtischstuhl setzte. Von hier aus also sah sie die Welt, setzte sie neu zusammen, versuchte sie, umfangen von dem Duft erfrischender Wildorange die weltverrückten Ereignisse wie einzelne Puzzleteile zusammenzusetzen.

Grit bevorzugte die Zitrusdüfte in ihrem Arbeitszimmer. Von hier aus also hat sie diese Perspektive auf ihre eigenwillige Ordnung, wenn man es noch so nennen mag, auf ihrem Schreibtisch, diesen Fensterblick auf das im Sommer von Kornblumen und Mohn gesäumte Dinkelfeld, im Winter auf die schneebedeckte Fläche vor der geschlossenen Baumreihe am Horizont. Wie ein schnurgerader Faden führt die enge Straße aus dem Wald direkt auf das Haus zu, um dann in Spuckweite vom roten Gartenzaun mit einer Rechtskurve vorbei an der Bushaltestelle aus dem rechten Fensterrahmen zu entschwinden.

Grit hatte Literatur und Philosophie studiert und war nach vielen Umwegen durch die Welt, wie sie immer sagte, schließlich in das Haus ihrer Tante gezogen, das diese ihr vermacht hatte. Nach einigen Anläufen als Lektorin verschaffte sie sich später als freie Redakteurin mit Artikeln für verschiedene Fachzeitschriften und mit Übersetzungen ein bescheidenes, aber für sie beide ausreichendes Budget.

„Die wahren Kostbarkeiten der Welt, Liebes, sind nicht mit Geld aufzuwiegen“, lachte sie, als sie zum Beispiel knietief in der Wiese standen und den Löwenzahn um die Wette pusteten, sodass sie unzählige weiße Schirmflieger wie eine Wolke umfingen. Derselbe Satz ein anderes Mal, als sie abends auf ihrer Bank vor dem Haus den Sonnenuntergang bewunderten.

„Welches sind die größten Kostbarkeiten?“ hatte sie Grit gefragt.

„Liebe, Vertrauen, Gerechtigkeit, ja und Wahrheit.“

Hatte sie wirklich Wahrheit gesagt? Die größte Lügnerin aller Zeiten hatte kein Problem damit, das Wort ’Wahrheit‘ in den Mund zu nehmen? Die Wahrheit hatte sie allerdings gut zu verbergen gewusst, zum Beispiel in der untersten Schublade ihres Schreibtisches, die Mona intuitiv auf der Suche nach dem Radiergummi aufgezogen hatte.

Fassungslos starrte sie auf zahlreiche Geburtstagskarten aus unterschiedlichen Ländern, und es dauerte etwas, bis sie begriff, dass sie auf Jahre hinaus vorbereitet waren, in immer der gleichen Ausfertigung mit den nur leicht nach rechts geneigten, unverbundenen Buchstaben.

Sie verlor jedes Vertrauen in den Menschen, den sie bis dahin am meisten geliebt hatte. Wie konnte sie all die Jahre so blind gewesen sein?

In Grits flüssiger Handschrift waren normalerweise alle Buchstaben wie Wäsche und Leine miteinander verbunden; doch lose nebeneinander aufgereiht blieben sie eigentlich dieselben, unverwechselbar klaren Schriftzeichen. Wie konnte sie das nicht bemerkt haben? Grit musste sich jahrelang beherrscht haben, diese beiden Schreibweisen auseinanderzuhalten, die die Basis ihres Lügenhauses #Natürlich-hast-Du-auch-einen-Vater bildeten. Welch Anstrengung, welch Lügengespinst, welch ungeheuerlicher Vertrauensbruch!

„Dann sag mir wenigstens, wer mein Vater wirklich ist“, hatte sie in Grits blasses Gesicht geschrien, „lebt er überhaupt noch?“

Doch Grit hatte sich nur umgedreht und war auf dem Küchenstuhl zusammengesunken. Was dann kam, war wirklich der Gipfel. Anstatt einmal eine klare Antwort auf eine klar gestellte Frage zu geben, begann sie, mit theatralisch zitternder Stimme Schrödingers Katze anzuführen, und meinte, dass philosophisch gesehen etwas gleichzeitig sein und nicht sein könne und dass die Wahrheit nicht immer eindeutig sei.

Fassungslos hatte sie erst dagestanden, während sich ihr das Bild des unehrlich zuckenden Rückens in ihre Seele brannte. Das bis dahin unbekannte Gefühl von Zorn hatte sie alsdann atemlos und in blinder Wut wahllos Wäsche, Hosen, Pullis, Kabel, Handy und ihr Sparbuch in den Rucksack pressen lassen. Grit sollte nicht glauben, dass sie weiterhin in diesem Lügenhaus bleiben werde. Diese übelste Ansammlung unschöner Worte waren ihr von ganz allein über die Lippen gekommen. Was soll’s? Was war schon Wahrheit?

Als ihr Zug später die südlichen Hügelketten erreichte, brach das in Tränen verflüssigte Elend so unversiegbar aus ihr heraus, dass sie Gefahr lief, selbst weggespült zu werden. Aus verschwenderischen Ressorts stauten sich die Flüssigkeiten in ihren Tränendrüsen, spritzten durch alle verfügbaren Ausführungsgänge heraus, nässten Wangen, Mund, Kinn, kullerten, tropften in den Schoß, flossen durch den Nasengang. Geduldig nach und nach von der Seite gereichte Taschentücher waren chancenlos, fügten sich aber nahtlos in den Reigen des Elends ein.

„Schmerz ist doch nur eine Illusion, Kindchen.“

Ein Satz, der nur unscharf in Monas Bewusstsein waberte. Unter ihrem Tränenfilm nahm sie erst jetzt die Quelle der gereichten Papiertaschentücher wahr. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sich die alte Frau in der blumenbesetzten Häkelweste mit verschiedenen Plastiktaschen und Beuteln neben sie gesetzt hatte. Ihr Taschentuchvorrat schien jedenfalls unerschöpflich zu sein.

„Und Illusion ist die Summe unserer Gedanken darüber, was wir zu verstehen glauben. Doch wenn wir meinen, die Wahrheit erkannt zu haben, hat die Suche danach erst begonnen.“

Mona wollte empört widersprechen, sich verbitten, dass sich die Fremde einmischte, sie hatte doch keine Ahnung, doch ihre Stimme versagte. Was sie sah, war eine verrückte Alte mit gezackter gelber Sonnenbrille und einem Hippietuch um die Stirn gebunden, das wohl die traurig herunterhängenden, weißen Haarzottel bändigen sollte. Unbewegt starrte ihre Sitznachbarin nach vorn. Mona sah schnell weg und konzentrierte sich auf die vorbeistürmende Landschaft. Ein erneuter Tränenschub schüttelte sie und ließ sie sich schließlich nur noch zuckend in ihrem Schmerz einrichten, aus dem sie unruhiger Schlaf endlich erlöste.

Als ein Häufchen Elend überwand sie auf diese Weise Landesgrenzen und stellte beim Aufwachen zumindest in diesem Punkt beruhigt fest, dass die Alte verschwunden war. Sie konnte sich selbst kaum ertragen, Andere gingen grad gar nicht.

Irgendwann am Abend erreichte sie das Meer mit seinen gefühlt unendlichen und einsamen Kiesstränden vor der Steilküste. Weit draußen türmten sich schwarze Wolken auf wütender See. Grummeln kündigte sich ein Gewitter an, eine verständliche Antwort auf ihren aufgewühlten inneren Abgrund. Endlich bot ihr eine kleine Höhle in der Kalksteilwand Schutz. Hier war sie sicher vor dem einsetzenden Regen der enttäuschenden Welt, sicher vor Grit.

Während sich draußen der Regen ausweint, bleibt Mona standhaft und schleicht wie ein Panther, misstrauisch auf der Hut vor zu viel Gefühl durch inzwischen nur noch spärlich möblierte Räume, die einst ihr Zuhause gewesen sind.

Sie hat sich an den Film vor ihren Augen gewöhnt, der die inzwischen karge Szenerie mit Erinnerungen überlagert. Grit auf dem Küchentisch bügelnd, während sich das Kind Mona mit seinen Lieblingsbüchern in dem bequemen Ohrensessel lümmelt.

Dem Kind jetzt ganz nah spürt sie noch immer den geliebten abgewetzten Charme des Sessels und lässt sich von ihm zu einer Pause verführen. Wie oft hatte sie hier mit ihm all die Abenteuer geteilt wie mit einem besten Freund. Er beschützte sie mit verständnisvollen Ohren, verstand alle heimlichen Wünsche und Sorgen. In seiner auch heute noch tröstenden Lehne wehrt sich Mona nicht mehr gegen die Galerie.