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In "Vorstadtprinz" erzählt Matthias Egersdörfer von einem Kind, das wider Willen erwachsen werden muss und sich mit unbändiger Phantasie über diese Zumutung hinwegträumt. Existenziell, originell und sehr komisch! Für manche Menschen war die Geburt dann auch schon das spektakulärste Ereignis im Leben. Nicht für Matthias. Seine Phantasie verwandelt sein Dasein in eine Abfolge von Sensationen, schönen und surrealen; bereits seine Zeugung ist ein galaktisches Feuerwerk. Das Leben überrascht ihn mit weiteren Herausforderungen, den Kochkünsten der Mutter, Metzgereibesuchen, später mit Katharina, die ein Lachen wie Limonade hat. Mit all dem muss Matthias umzugehen lernen – und mit den eigenen Ecken und Kanten, die gar nicht so leicht in die Welt passen.
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Seitenzahl: 399
Matthias Egersdörfer
Vorstadtprinz
Roman meiner Kindheit
Für manche Menschen war die eigene Geburt dann auch schon das spektakulärste Ereignis im Leben. Nicht für das Kind Matthias. Er ist mit einer Phantasie ausgestattet, die sein Dasein in eine Abfolge von Sensationen verwandelt, schrecklichen, schönen und surrealen, bereits seine Zeugung ist eine Art intergalaktisches Feuerwerk. Erste Tiefschläge verursachen die zweifelhaften Kochkünste der Mutter, die die Großmutter noch mit paradiesischer Umsorgung auszugleichen weiß. Doch das Leben überrascht Matthias mit weiteren Herausforderungen: dem Machtkampf ums Dankesagen für die Wurst in der Metzgerei; der bedrohlichen Ödnis von Sonntagsbesuchen bei Bekannten, wo schon die Haustür aussieht wie die Grabplatte eines kommunistischen Diktators; später mit Katharina, die ein Lachen wie gelbe Limonade hat; aber auch mit dem Tag, an dem die Oma nicht mehr da ist. Mit alldem muss Matthias umzugehen lernen – nicht zuletzt mit seinen eigenen Ecken und Kanten, die gar nicht so leicht in die Welt hineinpassen.
In seinem ersten Roman erzählt Matthias Egersdörfer von einem Kind, das wider Willen erwachsen werden muss und das sich mit einer unbändigen Phantasie über diese enorme Zumutung hinwegträumt und -kämpft. Existenziell, originell und sehr komisch.
Matthias Egersdörfer, geboren 1969, wuchs im Nürnberger Land auf. Zunächst studierte er Germanistik und Philosophie, danach Malerei an der Kunstakademie Nürnberg. Seit vielen Jahren ist er als Kabarettist, Komiker, Musiker und Schauspieler bekannt. Für seine Soloprogramme wie «Ich mein’s doch nur gut», «Vom Ding her» oder «Falten und Kleben» wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Kleinkunstpreis, dem Bayerischen und dem Österreichischen Kabarettpreis. Er spielt im Franken-«Tatort» mit und ist in Sendungen wie «Die Anstalt» zu sehen. Matthias Egersdörfer lebt in Fürth.
Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.
Heimito von Doderer
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Jean Paul
Ich bin nicht mehr gewesen als die erste, verschwommene Silbe einer fernen Ahnung. Als feines Fuzelchen einer Schuppe von einem Nichts schwebte ich körperlos in der fernen Weite des Nirgendwo. Aber allein das Wort «schweben» ist schon maßlos übertrieben. Mir fehlte alles, und ich bemerkte es nicht einmal. Wenn man den geringen Dreck unter dem kleinen Fingernagel eines Verwaltungsangestellten einer Firma, die Büroklammern herstellt, hervorholen und auf ein Fensterbrett legen würde und dann für einen kurzen Moment die Sonne zwischen den Wolken auftaucht und der kleine Schmutz einen Schatten wirft, dann war ich ein Hauch davon. Aber das ist immer noch so übertrieben, dass es mich eigentlich maßlos ärgert. Die Wahrheit ist, dass ich noch viel weniger war. Vielleicht könnte man sagen, dass ich die verdunstete Träne einer Ameise gewesen bin, die ein kleiner Babywurm auf einem unentdeckten Planeten ein gutes Stück hinter der Unendlichkeit einmal geträumt hatte. Im Raum des Möglichen schwebte ich reglos als fixe Idee an der Grenze zur Unmöglichkeit.
Kurz gesagt: Mir fehlte einfach alles zum Sein, und selbst das «mir» war nicht vorhanden und von niemandem jemals vorgesehen. Zwischen dem Nachhall dessen, was schon gewesen ist, und dem lautlosen Flimmern von dem, was noch kommen wird, steckte ich fest wie ein zugegipster Dübel in der Wand eines Luftschlosses, ohne Betrübnis oder den Wunsch, dass jemals etwas anders sein könnte. Aber dann sollte sich alles auf einen Schlag grundlegend ändern. Jetzt bin ich ein wenig klüger und kann behaupten, dass es sich damals schon abgezeichnet hatte. Aber das war weit vor meiner Zeit. Mich traf die ganze Geschichte komplett unvorbereitet.
Es müsste nach Ostern passiert sein. Ich bin nicht gut im Rechnen und nehme an, dass meine Eltern in Österreich beim Skifahren gewesen sind. Der Himmel war so makellos blau wie der Lack einer Limousine, die gerade vom Band gelaufen war. Nirgendwo in dieser unendlich hohen und weiten Bläue war auch nur eine kleine Wolke zu sehen. Gott höchstpersönlich hatte sich für diese monochrome Wonne jegliche Trübung, und wäre es auch nur durch einen kleinen, am Rand angedeuteten Dunst, kategorisch verbeten.
Die Sonne spielte die Hauptrolle. Sie übertrieb und schien mit einer derartigen Wucht, dass man sie nicht lange ansehen konnte, ohne fürchten zu müssen zu erblinden. Der Schnee blitzte, glitzte, funkelflimmerte, strahlte und leuchtete in verschwenderischer Pracht. Mein Vater fuhr in reinster Alpenluft mit vollendetem Stil die weiten Hänge hinab. Unter Hunderten, die hier vom Gipfel hinabrauschten, konnte man ihn mühelos erkennen. Mit elegantem Schwung, perfekt parallel gewinkelten Beinen, der lässigen Drehung der Schulter und einem leichten Kräuseln der Mundwinkel tanzte er schwebend die steilsten Abfahrten hinab. Seine stahlblonde Frisur hatte der Fahrtwind schwungvoll nach hinten gekämmt. Einzelne Härchen, die aus seinen kühnen Koteletten herausstanden, waren mit Raureif überzogen. Um den Hals hatte er ein elegantes Seidentuch gebunden, wie ein Gentleman aus einer Grafschaft im Osten von Wales. Sein Lächeln war geheimnisvoll und entbehrte nicht einer gewissen, wohldosierten Frechheit. Er hatte ein Kreuz wie ein mächtiger Hirsch, und sein Geweih waren seine blauen, leuchtenden Augen. Egal ob Steilhang, Buckelpiste oder Ziehweg, mein Vater fuhr wie ein nobler Zauberer mit seinen beiden Zauberstöcken in geschmackvoller Geschwindigkeit. Höchste Höhen und steilste Hänge konnten ihn nicht schrecken, sondern zogen ihn förmlich an.
Meine Mutter blieb im Tal und vertrieb sich den Tag an kurzen Liften, die Anfänger des Wintersports auf kleine Hügel hinaufzogen. Ihre Art und Weise, bergab durch den Schnee zu fahren, war durchaus zweckdienlich, man hätte es aber auch rustikal nennen können. Mutters hauptsächliches Anliegen bestand darin, bei der Abfahrt nicht zu stürzen. Sie fürchtete Verletzungen. Aber noch mehr scheute sie die Anstrengung, sich von ganz alleine wieder aufrichten zu müssen, wenn sie aus der Bahn und in den Schnee geraten war. Ganz schlank ist meine Frau Mama nie wirklich gewesen. Aber sie war auch nicht dick, sondern auf eine barocke Art verschwenderisch prall. Ihr Fleisch war fest und das Blut, das in ihren Adern floss, glühend in zügelloser Leidenschaft. Ihr Busen war legendär in seiner ganzen einzigartigen Pracht. Diese unbegreiflichen Brüste schafften es binnen Sekunden, das Selbstbewusstsein junger Frauen aus guten Familien mit fundierter Bildung, Hochschulabschluss und integrem Freundeskreis, Frauen zudem, die man ohne jeden Zweifel als optisch reizvoll bezeichnen konnte, unwiederbringlich auszulöschen. Männer aus den verschiedensten Teilen der Welt, Geistesmenschen, Handwerker, Beamte und Ofenbauer verbrachten damals ganze Abende in verrauchten Wirtshäusern in endlosen Diskussionen über die vollen Melonen meiner Mutter. Meine Mutter wusste um deren Wirkmacht und richtete trotzdem rücksichtslos Verheerung mit den Dingern an. Kollateralschäden nahm sie billigend in Kauf.
Die Zauberkraft ihres Vorbaus resultierte neben der Formschönheit aber eben auch aus der eigentlich regelwidrigen Größe der Ballone. Damit einher ging dann auch ein stattliches Gewicht, in dem wohl der eigentliche Grund lag, dass meiner Mutter viel darum zu tun war, beim Wintersport nicht zu stürzen. Es muss einfach sehr mühsam gewesen sein, die beträchtliche Erdanziehungskraft auf die gewichtigen Glocken zu überwinden und sich nach einem Sturz wieder in die aufrechte Position zurückzuversetzen. Dazu kommt, dass meiner Mutter an Unterhaltung mit den Mitmenschen sehr viel mehr gelegen war als am Skifahren. Genau wie schon der Busen alle Formate sprengte, wollte sich auch ihr Mundwerk in keinster Weise schüchtern zurückhalten. Sie plapperte ganztägig und radikal. Diese von ihr so genannten «Unterhaltungen» meiner Mutter bestanden hauptsächlich darin, dass sie ihrem jeweiligen Gegenüber schillernde Einblicke in ihre unkonventionelle Lebensführung gab. Die Welt war ihre Bühne, und meine Mutter hatte den meisten Text. Und wenn das Publikum mal nicht bei der Sache war, forderte sie durch verbale Lautstärke die Konzentration zurück.
Während mein Vater in formvollendeter Schönheit von einer Bergspitze zur nächsten wedelte, brüllte meine Mutter die Talniederung zusammen. Im Drang nach Gründlichkeit und wegen des Rentierens versuchte mein Erzeuger, im Urlaub möglichst flächendeckend das gesamte Skigebiet abzufahren. Die Investition in eine Mehrtageskarte für die Liftanlagen musste sich auszahlen, das gebot ihm seine protestantische Sparsamkeit. Pausen hielt er aus diesem Grund gerne sehr knapp, die Fahrten mit Bergbahn und Lift nutzte er geschickt, um schnell die selbstgeschmierten Brötchen zu vertilgen. Diese zwei mit Butter bestrichenen Semmelhälften, in deren Mitte zwei Scheiben Wurst oder Käse geschmackvoll ruhten, waren in eine Serviette gehüllt und harrten ihrer Verspeisung in Vaters Wimmerl, der Gürteltasche, die er sich um den Bauch geschnallt hatte. In selbiger befanden sich immer griffbereit zwei Gletschereisbonbons, drei in ganz dünnes Papier gewickelte israelische Feigen, zwölf Blätter dreilagiges Klopapier und feinster englischer Schnupftabak in einem kleinen, durchsichtigen grünen Fläschchen. Hatte er an einem Tag einmal für seine Verhältnisse schon viel Strecke abgefahren, gönnte er sich einen Moment Rast auf einer Bergspitze. Dann zog er seine schwarzen Handschuhe aus, klemmte sie zwischen die Beine, klopfte zwei kleine, dunkle Häufchen aus dem grünen Behältnis auf seinen behaarten Handrücken, neigte seine stattliche Nase langsam und saugte dann blitzschnell mit resolutem Geräusch den linken Tabakshügel ins linke Nasenloch und den rechten Tabakshügel ins rechte. Und verschloss, so schnell hat einer nicht «blubb» gesagt, die kleine Nasenpulverflasche, verstaute sie im Wimmerl, streifte die Handschuhe über, holte Schwung, stieß sich mit seinen Stöcken ab und sauste zischend davon.
Meiner Mutter war solcher Ehrgeiz gänzlich fremd. Das Gleiten auf den Skiern war für sie Mittel zum Zweck. Gegen Ende des Tages erfreute sich der Vater an der Vielzahl der Berge, die er hinaufgegondelt und hinuntergefahren war, und meine Mutter empfand Genugtuung, weil inzwischen nahezu das gesamte Skigebiet ihre Lebensgeschichte kannte und bereits ihr unbekannte Menschen aufgrund der Erzählungen begannen, sie auf der Straße zu grüßen.
In diesem Bild von der Mutter und dem Vater, von Schnee, Himmel und Bergen, fehlen eigentlich noch die Großmutter und die beiden Schwestern. Das Ausbleiben der Großmutter an dieser Stelle der Geschichte ist leicht erklärbar. Die Großmutter fuhr nicht auf Skiern und ist vermutlich niemals in ihrem Leben irgendwelche Berge hinabgefahren. Sie hat die Eltern auch niemals zum Skifahren begleitet. Wir können uns die Oma zeitgleich auf ihrem Sofa in der guten Stube vorstellen. Sie sitzt da und horcht in das Haus hinein, und sie hört nicht viel. Vielleicht gluckert die Heizung im Keller, aber nur ganz leise. Vielleicht weht ein Wind ganz sachte durchs Geäst eines Baums im Garten. Der Nachbarshund bellt kurz, eine Amsel schimpft. Die Großmutter hört besonders gern den großen, geradezu symphonischen Klang dessen, wovon man sonst so gar nichts hört. Sie lauscht und genießt die eindrucksvolle Stille, die entstanden ist, weil die Tochter mit ihrem enormen Sprech- und Brülldrang in der Ferne weilt. Die Großmutter ist entzückt davon, wie leise die Welt sein kann, und das ist alles, was man im Augenblick über sie sagen kann. Und die beiden Schwestern? Vielleicht waren sie in diesem Urlaub zugegen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, aber ich möchte an dieser Stelle nicht von ihnen schreiben. Sie wurden jetzt ja zumindest schon einmal erwähnt, das reicht vollkommen, und ich werde noch früh genug von den Schwestern erzählen.
Die letzte Gondel war den Berg hinabgefahren. Der Vater stieg aus den Skistiefeln und hängte die Strümpfe an die dafür aufgespannten Wäscheleinen im Heizungsraum der Pension. Die Mutter hatte an dem Tag in verbaler Hinsicht schon viel geleistet und erlebt und bemalte ihre Lippen mit Lippenstift. Die Sonne machte Platz für den Mond und seine Kumpel. In der Pension roch es nach Pfannkuchensuppe, und die beiden verspeisten ihre Halbpension. Dann, in der Nacht, als Vater und Mutter schon schliefen, zogen Wolken auf. Dichter Nebel verhüllte die Welt, und dicke Schneeflocken fielen vom Himmel. Am nächsten Morgen in der Früh hatte mein Vater gleich nach dem Aufstehen aus dem Fenster des Doppelzimmers geschaut und hoffnungsvoll geraunt: «Das reißt noch auf. Das wird schon. Da oben sehe ich schon wieder freien Himmel.» Aber sein Aus-dem-Fenster-Schauen, seine Beschwörungsformeln in das Schneegestöber hinein sollten nichts bewirken. Es zog sich an diesem Morgen immer mehr zusammen.
Mit leichtem Schmerz, dass die Skiliftkarte für heute gänzlich unbenutzt verfiel – es muss ihm vorgekommen sein, wie wenn man aus Geldscheinen Papierschiffe faltet und sie dann den Fluss hinunterfahren lässt –, vertilgte mein Vater sein Frühstück. Sein Kaffee schmecke heute ein bisschen bitter, befand er. Meiner Mutter schmeckte der Kaffee eigentlich sehr gut. Sie goss Milch dazu und mochte es, wie die dunkle Flüssigkeit dabei heller wurde. Einmal nicht Ski fahren zu müssen erschien ihr keineswegs unangenehm. Sie schnitt mit Schwung das Brötchen auseinander, schmierte Butter darauf, verteilte großzügig Erdbeermarmelade darüber und biss mit Lust und Krachen ein Stück heraus. Mit einer Spur Marmelade im Mundwinkel lächelte meine Mutter meinen Vater an. Mein Vater verstand erst gar nicht, wie man sich über die widrigen klimatischen Bedingungen, die jegliche Ausübung des Wintersports vereitelten, mit einem geradezu schamlosen Lächeln hinwegverlustieren konnte.
Dann waren die Brötchen verspeist und der Kaffee getrunken. Das Wetter blieb schlecht. Ende der sechziger Jahre gab es unter solchen Umständen in den Wintersportgebieten nicht viele Möglichkeiten der Kurzweil, insbesondere am Vormittag. Meine Eltern gingen also zurück auf ihr Pensionszimmer. Mein Vater schaute vielleicht noch einmal sehnsüchtig zum Fenster hinaus, und dann zog meine Mutter den Vorhang zu und den Vater in ihre Arme. Und dann küsste sie ihn, dass es schnalzte, und er küsste zurück, und Finger fuhren den Nasenbogen entlang, zwirbelten Haar, rieben den Hals, öffneten das Hemd. Die Skihosen flogen im hohen Bogen durch das Zimmer. Spucke mischte sich mit Spucke, am Ohrläppchen wurde geleckt, am Busen gesaugt. Verärmelt, gegnietscht, gesaugleckt und der andere eingeatmet. Jetzt lächelte vielleicht auch mein Vater. Das Skigebiet, die Liftkarte, das Gewicht der Welt und eines braunen Wollstrumpfes verschwanden wie Kandiszucker in einer Tasse Darjeelingtee, gingen unter im schmelzenden Brausen der rasenden Lust.
Das Weib saugschlingt den Mann wie eine reißende Strömung. Wie eine Lawine gewitterrast der Mann in das Weib. Die Lust kocht, und in einer Explosion schießt aus dem Unterleiberknoten ein heller leuchtender Pfeil durch die Decke des Pensionszimmers, durch weitere Stockwerke und Dach. Glühendrot rast er durch die Schlechtwetterwolken. Grün zischt das Geschoss der Liebe durch die Umlaufbahnen der Planeten. Strahlt gelb, knallt knapp an der Sonne vorbei und weiter, hinter der Unendlichkeit trifft die weiße Spitze den Kern meiner Wahrscheinlichkeit, rast in einem weiten Regenbogen mit der möglichen Existenz zurück zum Ausgangspunkt. Wandelt sich aus hellem Weiß in Gelb, dann Grün, fuhr der Mutter durch All und Luft und Hausgebälk rot glühend in den Unterleib hinein.
So wurde ich möglicherweise gezeugt. In einer Mischung aus schlechtem Wetter, Langeweile und Unachtsamkeit.
Ich war jetzt ein kleines bisschen. Viel weniger als eine Löffelspitze Joghurt. Aber doch schon da, ich wuchs und wuchs heran, und alles war wunderbar. Ich schwappte in angenehm warmer Brühe einfach umher. Ab und zu gluckerte etwas, oder ein tiefer Bass ließ mich wohlig von oben bis unten vibrieren. Wenn mich etwas störte, weil es zu arg schwappte oder ein Sound mir missfiel, trat oder boxte ich einfach mit Schmackes ein paar Mal gegen die Wand. Sofort selige Ruhe. Keiner wollte etwas von mir, keine Termine, Vorwürfe oder Prüfungen. So hätte das bis in alle Ewigkeit weitergehen können, wenn es nach mir gegangen wäre.
Der Bauch meiner Mutter war jetzt über alle Maßen groß. Er war derartig groß, dass die Brüste meiner Mutter nach oben abstanden. Die Rundung darunter war so exorbitant, dass meine Mutter nur noch breitbeinig watscheln konnte. In der Stadt wurde viel und oft über den Bauch der Mutter gesprochen. Fremde Menschen baten meine Mutter, ihren Bauchumfang mit Maßbändern vermessen zu dürfen. Die Ergebnisse wurden in Bücher eingetragen. Nach der Verschriftlichung zweifelten die Menschen die Zahlen an und wollten sofort eine nochmalige Vermessung ihres Leibumfangs durchführen. Anfänglich hatte sich die Mutter das Vermessen noch gern gefallen lassen. Sie stand gern im Mittelpunkt, und in diesem Fall bedurfte es keinerlei Anstrengung ihrerseits. Aber mit der Zeit missfielen ihr die fremden Bemühungen, vielleicht auch weil sie begriff, dass dieses Interesse im Kern nicht ihr selbst galt.
Meinem Vater hatten die ständigen Heimsuchungen der fremden Menschen mit den Messbändern und den Büchern von Anfang an nicht behagt. Er suchte deshalb den Doktor A. auf, um Rat einzuholen. Der Doktor A. war ein Freund der Familie. In seinem Garten wohnten drei Schildkröten. Als der Doktor A. sich angehört hatte, was mein Vater vom Bauch meiner Mutter erzählte, antwortete er, dass er seit geraumer Zeit eine der Schildkröten vermisse, die schüchternste der drei. Noch bevor erste Wolken aufzogen, lange vor jedem Regentropfen, ziehe sie den Kopf in ihren Panzer ein. Sie beschnuppere jeden Grashalm erst von allen Seiten, bevor sie ihn ganz vorsichtig verspeise. Wenn der Doktor Besuch habe, ziehe sich die Schildkröte zurück. Ihr missfielen alle Symphonien von Beethoven, Schubert und Brahms, einzig der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach könne sie etwas abgewinnen. Der Doktor A. erzählte noch lange und ausführlich von der Schildkröte, sodass mein Vater den Bauch der Mutter vollkommen vergaß. Nach der Verabschiedung rief der Doktor A. meinem Vater noch hinterher, er solle mit meiner Mutter den Roten Berg, der sich von der Stadt, in der ich aufwachsen sollte, mit dem Auto in etwa zwanzig Minuten erreichen ließ, hinauflaufen.
Als dann mein Vater mit meiner dicken Mutter den Roten Berg hinaufgelaufen war, geschah es plötzlich, dass sie das ganze schöne warme Wasser ablaufen ließen, in dem ich so angenehm schwamm. Dann geht’s halt trocken weiter, dachte ich mir. Aber da bemerkte ich, dass sie mich unbedingt rausholen wollten. Das wollte ich nicht, also wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Es handelte sich allerdings um Profis, die bereits eine Vielzahl solcher Einsätze hinter sich hatten. Ich machte eine falsche Bewegung. Einer packte mich am Kopf und zog mich schnell aus dem blutigen Loch im Bauch meiner Mutter. Schmerzende Helligkeit und eisige Kälte umarmten mich gnadenlos. Mir fehlten die Worte. Ich empfand blankes Entsetzen und brüllte aus Leibeskräften.
Ich weiß noch, dass dann ein Mann im weißen Kittel auf mich zukam. In seiner Hand hielt er eine größere Schere. Während ich noch überlege, was er mit dem Ding vorhaben könnte, setzt er schon mit den geöffneten Scherblättern an meiner Nabelschnur an. Ich will noch Einspruch erheben und erklären, dass es sich hier um meine Ernährungskabel handelt, über die ich seit Monaten optimal versorgt werde, und dass ich an der Zweckmäßigkeit sowie an der Qualität der Nährsuppe nicht das Geringste auszusetzen hätte. Aber mein Entsetzen ist so groß, dass ich nur massiv schreien kann und meine Augen schließe, um das Grauen nicht mit ansehen zu müssen. Der Mann schneidet mein Nährkabel gnadenlos durch.
Ich rechnete mit dem Schlimmsten, denn es war Tatsache und offensichtlich: Diese Ungeheuer waren zu allem fähig. Was würde als Nächstes kommen? Zerhacken, grillen und verspeisen sie mich?
Sie taten es nicht. Ich wurde gewaschen und in eine Decke gewickelt. Trotzdem war mein Schreck so groß, dass ich die folgenden Jahre lang nur Brülllaute von mir gab und die Benutzung von Sprache gänzlich verweigerte.
Jetzt kommt die Stelle, an der meine beiden Schwestern auftreten dürfen. Die eine hat blonde Haare. Das Blond mag man sich vorstellen wie Vanilleeis, nur ohne die schwarzen kleinen Punkte. Die Backen waren gerötet vor Aufregung, als sie mich begrüßen durfte. Sie stupste mich leicht am Bauch, und ich griff mit der Hand die Spitze ihres Zeigefingers. So klein war mein süßes Händchen damals gewesen. Meine Schwester war ergriffen und begeistert von meinem überdurchschnittlichen Liebreiz und fotografierte mich. Meine Schwester hat schon immer viel fotografiert. Aber die Prägnanz und zeitlose Anmut der Porträts von mir bleiben bislang unerreicht.
Die andere Schwester hatte schwarze Haare, so dunkel wie die schwarzen Tasten des Klaviers, das bei uns im Klavierzimmer unter dem Dach stand. Die düstere Schwester lächelte und war ebenfalls ergriffen, als sie mich in meiner vollendeten Prächtigkeit erschauen durfte.
Die Kunst der finsteren Schwester lag im Sprechen. An manchen Tagen war sie imstande und sprach dir, wenn du ungünstig standest, einen ganzen Roman ins Ohr hinein. Über mein erstes Lächeln hat sie ein Gedicht verfertigt, das ihr wirklich gut gelungen ist und das ich hier nicht unerwähnt lassen möchte. Es beschreibt sehr gut die tief empfundene Freude in unserer Familie, bei den Verwandten und Bekannten, sowie die Hoffnungen und die zum Teil wohl auch übersteigerten Wunschvorstellungen, die in unserem Städtchen und großen Teilen des Landes mit dem Anbruch meiner Existenz einhergingen.
Ich kann mich auch noch erinnern, als die Nase meiner Großmutter sehr nah vor meinem Gesicht auftauchte. Sie schnüffelte mir über den Kopf, streichelte sanft über meine malerischen Backen und strahlte Liebe ab wie ein Kachelofen die Wärme. Im Frühjahr besuchte mich auch einmal ein Cousin. Er trug eine Sporthose und Turnschuhe und hatte einen Ball dabei. Er blickte nur kurz auf mich und musste enttäuscht feststellen, dass ich noch nicht in der Lage war, mit ihm Fußball zu spielen. Etwa zwanzig Jahre später habe ich ihn einmal sehr spät in einer Kinovorstellung getroffen. In dem Film ging es um einen Familienvater, der sich darum bemühte, seine Familie auszulöschen. Im Lauf der Geschichte stellte sich dann heraus, dass er bereits eine andere Familie ausgelöscht hatte und auch schon die übernächste Auslöschung plante. Ich will damit an dieser Stelle nur andeuten, dass der Cousin ein offensichtlich fragwürdiges Kulturverständnis an den Tag legte, und ich bezweifle, dass er noch einmal in diesem Roman auftauchen wird.
Zwei Personen hatten offensichtlich ein ausgeprägt schlechtes Gewissen wegen des unschönen Beginns meiner Existenz. Am Oberkörper der einen waren zwei vergrößerte Getränkebehältnisse angebracht, auf denen sich jeweils eine Trinkwarze befand. Sobald ich meine Situation bedauerte, unter Hunger oder der Fadheit der Welt litt, entblößte meine Mutter sofort einen Tank und steckte mir eine Warze in den Mund. Die Funktion war selbsterklärend. Ich saugte, und sogleich schoss mir sämige Suppe in den Mund. Ich mochte auch das Geräusch dabei. Sie mochte den Umstand, dass ich an ihr saugte. Manchmal hatte ich schon gar keinen Hunger mehr und saugte dennoch weiter die weiße Sauce, bis es rechts und links an meinen Mundwinkeln herauslief, einfach weil es ging. Ein anderes Mal biss ich aus purer Boshaftigkeit in den Nippel. Sie schrie auf vor Schmerzen. Mich traf keinerlei Sanktion, und ich genoss diesen Zustand. Ich spürte den Neid der zahlreichen Männer in meinem Nacken, wenn ich mich an den Brüsten meiner Mutter labte. Die Männer konnten es einfach nicht begreifen, dass ich zahnloses Ungeheuer Tag und Nacht Zugriff auf die wunderbaren Melonen hatte. Ich konnte weder meinen Namen schreiben noch selbständig auf eigenen Beinen stehen, war nicht geschäftsfähig und hatte keinen Führerschein, trotzdem saugte ich selbstvergessen und arrogant an den Früchten, von denen sie träumten. Die blonde und die schwarze Schwester wussten, dass es nicht nur Milch war, die ich meiner Mutter aus dem Leib saugte. Und auch mein Vater verstand, ohne es auszusprechen, dass ich fast die ganze Liebe aus seiner Frau herauszuzelte.
Der Vater war in dieser Zeit für mich nicht mehr als eine Randfigur, da er mit nur sehr flachen, fast kümmerlichen Brüsten ausgestattet war. Diese Person verfügte außer gelegentlichem Streicheln und Transportieren über keine erwähnenswerten Funktionen. Aber auch er war bemüht, mir alles recht zu machen. Ich wurde getragen, gefahren, geschultert, geschuckelt, gekämmt und geküsst. Manchmal übertrieben sie es. Ich ließ es mir gefallen und beschloss, es mir die nächste Zeit einfach nur gut gehen zu lassen. Damit meine ich aber nicht, dass ich mich einem interessenlosen Müßiggang hingab. Ganz im Gegenteil erforschte ich die Beschaffenheit meiner selbst sowie der mich umgebenden Welt. Lange Zeit widmete ich mich der gründlichen Inspektion meines eigenen Körpers, insbesondere meiner rechten und linken Hand. Ich war wie besessen von dem Gedanken, meine Gliedmaßen durch Dauerbespeichelung selbständig aufzulösen. Daneben saugleckte ich aber auch an verschiedensten Kleidungsstücken, Decken, Möbeln, Servietten und Fremdfingern mit dem Ziel, mir einen grundlegenden Einblick über deren Eigenschaften und Tiefenstruktur zu verschaffen. Über einen längeren Zeitraum erstreckte sich daneben eine Versuchsreihe, in der ich mich selbst, beginnend an den eigenen Fingern, aufzuessen trachtete.
Auch von immer neuen Experimenten mit der Schwerkraft ließ ich mich selbst durch erbitterten Widerstand nicht abbringen. Mir war es sehr wichtig herauszufinden, wie sich Gegenstände verhalten, wenn sie zum Beispiel über Tischkanten geschoben oder auch geschleudert wurden. Hielt sich das leere Glas im Gegensatz zum vollen Glas noch für einen Moment in der Luft, bevor es herunterstürzte? Durch welche Benutzung welchen Dinges konnten bei Mitgliedern des Familienverbundes welche Art Schrei- oder Brüllgeräusche erzeugt werden?
Neben der konsequenten Zerlutschung der Welt und der partiellen Zertrümmerung und Verschrammung mir erreichbarer Teile widmete ich mich auch oft und ausgiebig der Beobachtung von tierischen Lebewesen, insbesondere der Stubenfliege. Nahezu hörig verfolgte ich die surrende Kreatur in der Luft sowie am Fensterglas auf- und ablaufend, als wäre nichts dabei. Mein Blick drehte sich in Schleifen und Drehungen den Wegen nach, die das Fliegentier auf den Gardinen zurücklegte. Tatsächlich krabbelte das Tierchen verschlungene Mandalas und geometrische Zauberformeln vor meinen gebannten Äuglein, die nicht ablassen konnten vor dem Verwirrspiel. Meine Schwenkungen des Blicks und die damit einhergehenden elliptischen Schleifen meines Köpfleins schraubten meinen Kleinkindverstand aus der Fassung, und lose wackelte er im Kopf herum und schwebte zum linken Nasenloch heraus. Das Fliegentier schnappte sich das feine Wölkchen und flog damit im Zimmer herum, und ich mühte mich, befreit von Sinn und Verstand, ihrer Bahn nachzusehen. Das flügelige Wesen beabsichtigte dabei nie einen Schaden und war noch im Flug im hintersten Eck des Zimmers zärtlich mit mir verbunden. In einer engen Flugkurve ließ es mein feines Verstandeswölkchen los und wieder allein weiterschweben. Ich atmete mehrere Male hintereinander schwer ein, sodass sich mein Brustkorb merklich hob, und schnaufte zu guter Letzt mein loses Seelchen durch das rechte Nasenloch wieder in den Hirnkasten zurück.
Als mein Schauen weiter reichte, aus dem Fenster hinaus zum Baum im Garten, sah ich den Ästen, Zweigen und zartesten Zweiglein zu, wie sie sich in die Weltluft streckten und reckten und aus der Erde Wasser und Kraft saugten noch ins höchste abstehende Holzfingerchen hinein. Kahl und stumm war der Baum, weil lange Winter war, als er anfing, mich in der Chronik seines Stammes einzutragen. Die Amsel, die auf seinem buckligen Ast gesessen hatte, erzählte mir davon. Ich verstand ihre Sprache und konnte in Gedanken mit ihr Konversation betreiben, noch lang bevor ich auch nur ein halbes Silblein lallen wollte.
Es gab aber auch weniger beschauliche Seiten in meinem Leben. Ich führte mich auf wie eine regelrechte Drecksau. Ich fragte nicht etwa lang: «Entschuldigung, wo befinden sich hier die Toiletten?» Ich schiss mich einfach voll. Einer von den beiden Trotteln machte mich dann schon sauber. Und ich brunzte mich an. Angenehm warm lief mir die Pisse die Beine hinunter. Ein Einfaltspinsel trocknete mich sogleich und puderte mir den Hintern, als wär ihm selbst das Missgeschick passiert. Wenn es zu lange keiner bemerkte, schrie ich. Dann konnte man die zwei Doldis flitzen sehen.
Es war nicht viel nötig, um die beiden einfach strukturierten Menschen bei Laune zu halten. Ich musste keine Vorträge über die Weltlage geben, keine komplizierten Klavier- oder sonstige Kunststücke vorführen, um Vater und Mutter zu erfreuen. Der Aufwand dafür war wesentlich geringer. Jedes Mal, wenn ich reichlich Milch gesaugt hatte, nahm mich einer von beiden auf den Arm, bettete mein Köpfchen an seine Schulter und klopfte mir zwanghaft auf den Rücken. Ich machte es erst mal eine Zeitlang spannend, reagierte also gar nicht. Dann rülpste ich ausgiebig. Sie freuten sich über alle Maßen, als hätte ich gerade meine erste selbstkomponierte Oper vor ausverkauftem Haus dirigiert.
Mehrere Jahre lang hatte ich wegen der schikanösen Misshandlungen während meiner Geburt kein Wort sprechen wollen. Dann aber bemerkte ich, dass es dem Weltgeist mit Inbrunst nach meinem Kommentar dürstete. Anfangs sträubte ich mich erfolgreich, und um meinen ganzen Widerwillen zu demonstrieren, lallte ich stetig wiederholend verschiedene Silbenfolgen. Aus meinen monothematischen Ausführungen erwuchs aber schon bald die Problematik, dass meine diversen Gegenüber ebenfalls in sehr idiotische Wiederholungen sogar noch der allerkleinsten Sinneinheiten mir gegenüber verfielen. Geradezu unerträglich empfand ich obendrein das dazukommende aufgesetzte Lächeln aus bizarr verzerrten Gesichtern. Bereits damals beschlich mich eine vage Ahnung, dass ich überwiegend von hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten eher schlichten Charakteren umgeben war. Um wenigstens das dauernde Angestammeltwerden zu unterbinden, erhob ich schließlich doch meine Stimme.
Da ich mich lange mit der Stubenfliege und diese sich mit mir beschäftigt hatte, war es mehr als naheliegend, dass ich dem Tier einen Namen gab. Ich nannte meinen Freund mit den schillernden Flügeln und den haarigen Beinen «Monna». Laut und deutlich sprach ich den aus mir selbst geschöpften Namen für das Lebewesen in das Zimmer hinein und befand die Bezeichnung für richtig und gelungen. Das Tier, dessen Reich die Zimmerluft, die blanke Fensterscheibe und unterschiedlichste Oberflächen von Dingen waren, ließ ein kurzes Brummen vernehmen und sauste voller Dankbarkeit direkt vor meiner Nase vorbei.
Weil ich kurz nach dem Herrn Jesus geboren worden war, stand da, wo ich nach der Schmach meiner Geburt lag, bestimmt auch ein Weihnachtsbaum, dessen zeitweises Leuchten und Kugelgeflunker meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen war. Man mag es nicht zu meinen größten Geistesleistungen rechnen, dass ich durch den Eindruck des heidnischen Gelichtgeblinks und wohl mehr noch durch den Schock des Geborenwerdens mich selbst, sobald ich die Stubenfliege benamst hatte, als «Thissi Lichtbaum» bezeichnete. So also hatte ich aus Not und Gründen des Selbstschutzes begonnen zu sprechen. Sollte ich aber geglaubt haben, dass ich mich damit weiteren Demütigungen erfolgreich entzogen hätte, wäre das ein Irrtum in der Dimension eines Ozeans gewesen.
Von einem Tag auf den anderen endete die Zeit der Harmlosigkeit. Ich saß plötzlich aufrecht in einer Art Spezialstuhl, aus dem ich mich mit eigener Kraft nicht befreien konnte. Vor mir auf dem Tisch stand ein Plastikteller mit einem Bauch unten, der hohl gewesen ist. Dort hinein war heißes Wasser gefüllt worden. Im Teller schwammen vor einem bedrohlichen Kartoffelgebirge Kohlrabibrocken in einer undefinierbaren, grün schillernden Tunke. Es roch entsetzlich. Ich fragte mich, was diese Installation zu bedeuten hatte, und fand keine Antwort.
Meine eigene Mutter erklärte mir, dass es sich hierbei um mein Mittagessen handle. Das konnte nur ein Witz sein, oder eine Verwechslung. Ich betrachtete skeptisch den dickwandigen Teller und die zweifelhaften Speisen darin und gewann die Überzeugung, dass es keinen Gott auf einem Planeten geben konnte, auf dem so etwas wie Kohlrabi wuchs. Dann sagte die Frau, die mir mit jedem Augenblick fremder wurde, mit kalter Stimme, dass ich mindestens fünfundsiebzig Prozent von der Speise essen müsste. Vorher dürfte ich den Tisch nicht verlassen. Ich protestierte lautstark und wollte wissen, warum ich nicht weiterhin aus den Trinkwarzen saugen durfte, ob die Brüste denn leer seien. Als Antwort schob die mir nun unbekannte Frau einen Teil Kartoffeln und Gemüse auf meine Seite des Geschirrs und macht mir unmissverständlich klar, dass ich diese Menge zu vertilgen hätte. Vorher wäre ein Verlassen von Tisch und Raum nicht vorstellbar.
Der strenge, mitleidlose Blick verriet mir, dass es die Wärterin ernst meint. Jetzt wurde mir auch langsam klar, warum sich im Bauch des Tellers heißes Wasser befand. Wenn der Delinquent Schwierigkeiten hatte, die obskuren Lebensmittel zügig in seinen Mund zu schaffen, zu kauen und zeitnah zu schlucken, wurde der Verzögerung entsprochen, indem man den Schlangenfraß künstlich warm hielt. Um die Demütigung noch weiter zu treiben, befand sich am inwendigen Boden des Folterwerkzeuges die Abbildung eines recht agilen Donald Duck, der sich mit ganzer Kraft seines Lebens erfreute. Als Lohn für das Hineinwürgen der gekochten Beleidigung glotzte einen also der amerikanische Vogel an. Ich habe die infantile Ente ohne Hose immer gehasst.
Ich begriff, dass es in der Sache keinerlei Handlungsspielräume gab. Wenn ich nicht essen würde, müsste ich vor dem Teller sitzen bleiben.
Ich sah meine Spielgefährten sich fragen, warum ich denn nicht mehr käme. Tage vergingen, und ich bliebe verschwunden. Die Kameraden wollen es nicht glauben, immer wieder fragen sie sich und andere, ob ich denn nicht irgendwo aufgetaucht sei. Aber niemand hätte mich gesehen. Ich säße Tag und Nacht vor dem Kohlrabigemüse. Ein Freund hätte sich dann eines Tages vielleicht ein Herz gefasst, vielleicht wäre es Reinhard gewesen, mit dem war ich schon in Windeln durchs grüne Gras gerobbt. Wir waren schon Kumpels in der Zeit, als noch undefinierbare Geräusche aus unseren Mündchen kamen. Er wohnte in einem Haus in unserer Straße, hundert Meter runter rechts. Reinhard wäre der Sache auf den Grund gegangen und hätte an unserer Haustür geklingelt. Die Mutter hätte das Fenster geöffnet und gefragt, was es gäbe. Reinhard hätte gegrüßt und gesagt, er wolle sich nur mal erkundigen, ob ich krank sei, weil er mich schon länger nicht mehr gesehen habe. Die Mutter hätte dann geantwortet, dass es mir bestens ginge, ich müsse nur im Haus bleiben, weil ich noch immer nicht den Kohlrabi gegessen habe, den sie extra für mich gekocht hätte. Dann hätte sie sich verabschiedet und das Fenster geschlossen. Reinhard wäre wieder nach Hause gegangen.
Später wären Reinhard und die anderen eingeschult worden. Hätten Dezimalzahlen und den Tanz der Bienen kennengelernt. Immer wieder hätten sie sich gefragt, wo ich denn bleibe, und mein Fehlen bedauert. Am Kinn wären ihnen Haare gewachsen, Campari Orange hätten sie getrunken und lyrische Sätze in wohlgeformte Ohrmuscheln geflüstert. Währenddessen saß ich vor dem Kohlrabi und den Kartoffeln. Die Genossen hätten Führerscheinprüfungen gemacht, Dachwohnungen ausgebaut und sich scheiden lassen, und den Kindern aus erster Ehe hätten sie erzählt, dass sie einmal einen guten Freund hatten, der von einem Tag auf den anderen nicht mehr aufgetaucht sei, weil er sich weigerte, das von seiner Mutter gekochte Mittagessen aufzuessen. Ich wäre mit dem seltsamen Stuhl verwachsen. Graue lange Haare hingen mir vom Kopf, fast mein ganzes Leben lang hätte ich auf ein paar Stückchen Kohlrabi und Kartoffeln geschaut … Das dachte ich, während ich auf meinem Stühlchen saß. Es half also alles nichts. Ich legte mir eine Technik für die Situation zurecht, die sich noch öfter wiederholen sollte: Ich atmete dreimal schwer durch und gabelte mir die verhasste Speise ohne zu atmen in den Mund, kaute und schluckte schnell, um meine Geschmacksnerven so wenig wie möglich zu belasten.
Ich möchte die Kochkünste meiner Mutter durchaus nicht schlechtreden. Vielleicht war mein kulinarisches Fassungsvermögen in dieser frühen Phase meiner Existenz einfach noch überfordert. Vielleicht konnte ich den Kohlrabi in seiner geschmacklichen Dichte einfach nicht begreifen. Eventuell war die Mutter auch eingeschränkt durch die Küchensituation an sich. Wir nannten das Kochräumchen familienintern auch die «Kombüse», denn die Verhältnisse waren so begrenzt, dass die Mutter, nicht zuletzt wegen ihrer barocken Körperfülle, sich nur mit äußerster Not hineinzwängen konnte. Wenn sie zum Beispiel das Salz aus dem Hängeschrank links entnehmen wollte, um das Gericht im Topf auf dem Herd rechts zu würzen, vermochte sie sich nur noch mit Mühe um die eigene Achse zu drehen. Nicht selten kam es vor, dass sich meine Erzeugerin derartig im Mobiliar verkeilte, dass der Vater einen Nachbarn verständigen und sie die Gefangene dann mit gemeinsamem Kraftaufwand und unter vielfachen Flüchen aus der engen Falle herausschrauben mussten.
Neben dem Kohlrabi waren die verherrlichend so benannten «Gemüsesuppen» für mich eine immer wiederkehrende geschmackliche Grenzerfahrung. Leimartig in der Konsistenz waren diese Gerichte. Die Ingredienzien entzogen sich im Laufe der Zubereitung konsequent fortschreitend jeglicher Nachvollziehbarkeit. Sie erforderten einen Verdauungsvorgang, der mehrere Tage andauern konnte.
Keinesfalls ungelobt möchte ich aber die Geschwindigkeit lassen, mit der Mama Gerichte zubereitete. Kaum hatte ich mich an den Esstisch gesetzt und einen Gedanken gefasst, den ich gerade mit einem weiteren Gedanken fortführen wollte, stand schon da ein frisch zubereitetes Essen vor mir. Der Preis für diese Sportlichkeit war Mutters eher unkonventionelle Herangehensweise an die Speisenbereitung. Ich entsinne mich noch, wie ich einmal mit Reinhard und anderen Freunden in ein Brettspiel vertieft war, als plötzlich der Kopf der Mutter über uns auftauchte und kurz fragte, ob wir die Geselligkeit vielleicht durch einen Kuchen aufwerten wollten. Dankbar stimmten wir dem freundlichen Angebot zu.
«Ich back schnell einen», sprach sie und verschwand schon in der Hälfte des Satzes. Unsere Spielfiguren hatten sich unwesentlich fortbewegt, als schon ein optisch makelloser Weichselkuchen auf dem Tisch stand. Jeder schnitt sich ein Stück ab und biss mit Lust in die dargereichte Wonne. Wir kauten und schluckten. Kurz darauf wunderten wir uns aber ob der ungeahnten Würzigkeit des Obstkuchens. Waren die Weichseln vielleicht versehentlich vor der eigentlichen Reife geerntet worden? Ich hielt im Kauen inne. Ein Freund hatte das Kauen schon beendet und ließ ein fast verspeistes Kuchenstück wieder aus dem Mund fallen. Als ich meine Mutter fragte, welche Art von Weichseln sie genommen hatte, antwortete sie mir: Die Weichseln wären einwandfrei gewesen. Der besondere Geschmack resultierte lediglich aus dem Umstand, dass sie keinen Zucker zur Hand gehabt und stattdessen Salz verwendet habe.
Dergleichen kam so selten nicht vor. Immer wenn das Essen von zweifelhafter Provenienz, die Zubereitung besonders lieblos und die Demütigung besonders groß waren, bin ich nach den Zwangsmahlzeiten zur Oma ins Erdgeschoss geflohen. Dort unten, gleich rechts neben der Haustüre, befand sich die Pforte zu ihrem Reich.
Meine Oma saß meist auf einem Sofa, das mit buntem Blumenstoff überzogen war. Vor dem Sitzmöbel mit der älteren Dame stand ein Schrank, auf dem der Fernseher thronte. Dieser Schrank hatte hölzerne Löwenbeine, und es schien, als strecke er seinen intarsienverzierten Bauch selbstbewusst nach vorn. Sein eigentlicher rätselhafter Schatz befand sich im Inneren. Zwischen gestapelten Tellern und Tassen, Servietten aus edlem Stoff und einer silbernen Zuckerdose lagen immer vier Tafeln feinster Vollmilchschokolade. Manchmal schaute ich heimlich kurz in den Schrank, nur um mich dieser Unvorstellbarkeit zu vergewissern.
Mutter, Vater, die Schwestern und ich wohnten vom ersten Stock bis unters Dach. Hier herrschte eine andere Realität. Dinge flogen durch die Luft, Worte und Spucke. Menschen sprangen, rannten und explodierten plötzlich. Im Erdgeschoss atmete die Zeit erst einmal tief durch, bevor sie verging. Anders gesagt: In den oberen Stockwerken hatte eine Tafel Schokolade eine Halbwertszeit von maximal fünf Minuten. Nach zehn Minuten war sie restlos verschlungen, und niemand vermochte Angaben darüber zu machen, wann und ob einmal eine neue Schokolade auftauchen würde. Es kam schon selten genug vor, dass Süßigkeiten überhaupt über die Treppe zu uns in den ersten Stock gelangten.
Häufig passierte es, dass die Mutter das Haus erbeben ließ mit ihrem Notruf: «Ich habe Unterzucker. Ich brauche auf der Stelle etwas Süßes, sonst sterbe ich.» Darauf antwortete der Chor der Schwestern: «Wir leiden auch, und zwar schon lange, unter Unterzucker. Wir brauchen sofort etwas Süßes, sonst sterben wir in der nächsten Sekunde.» Im gleichen Moment rannte die Mutter in die Küche, zog einen Topfdeckel aus dem Schrank und klopfte mit einem Kochlöffel einen wild scheppernden Rhythmus, dazu rief sie so laut, dass man es auch zusammen mit dem Topfdeckellärm noch weit entfernt hörte: «Matthias, komm schnell her, mein kleiner Schatz! Ich glaube, wir müssen ganz schnell etwas tun, damit du nicht in die schlimmste Unterzuckerung gerätst.»
Dann rannte die Mutter mit stampfenden Schritten die Treppe hinunter, ohne vom Deckeldreschen abzulassen. Ihr hinterdrein riefen die Schwestern zischend: «Schokolade, Schokolade!» Ich ließ alles stehen und liegen. Das mit dem Unterzucker musste man mir nicht zweimal sagen, und schnell lief ich meinen Geschwistern hinterher. Trommelnd und brüllend rannten wir die Treppe vor unserem Haus hinab. Bevor die Mutter durch das Tor schritt, warf sie Topfdeckel und Kochlöffel hinter sich, ich konnte gerade noch meinen Kopf einziehen, sonst hätte mich das Kochgerät an der Stirn getroffen. Wir sprangen gleichzeitig durch alle vier Türen in den Renault, der vor dem Haus parkte, sodass das grüne Auto sich ächzend hinkniete. Die Mutter fuhr quietschend los und raste durch die Stadt direkt zum Supermarkt. Wie die wilde Jagd sprangen wir aus dem Auto und flitzten in das Geschäft, an anderen Regalen vorbei direkt auf die uns gut bekannte Stelle zu, wo sich der mit Vollmilchschokolade überzogene Puffreis befand. Einer schnappte die Doppelpackung, die die Erfüllung unserer rasenden Leidenschaft enthielt. Die Schwestern und ich heulten wie ein kleines Wolfsrudel, als die Mutter an der Kasse die Götterspeise bezahlte. Alles ging so rasant, dass die Frau hinter der Kasse überlegte, ob sie gerade geträumt habe oder ob sie überfallen worden sei. Während wir noch in das Auto sprangen, rissen wir die Packung auf, und jedes griff sich schnell ein Stück der Köstlichkeit. Man hörte Kauen und Schlucken und gebrummte Laute des Wohlgenusses. Noch bevor der Wagen wieder zu Hause ankam, war die Packung Schokoladen-Puffreis restlos vertilgt.
Im krassen Gegensatz zu solchen Verhältnissen lagen im Schrank der Oma immer vier Tafeln feinster Schokolade in Gleichmut und geradezu aristokratischer Würde übereinander. Die Schokolade ruhte dort für den Fall, dass man einmal gern ein Stückchen davon verspeisen wollte. Unter Umständen verspürte man den Appetit an einem Sonn- oder Feiertag, und dann war man versorgt und musste nicht erst warten, bis wieder ein Laden öffnete. War eine Tafel verspeist, wurde sie zeitnah durch eine neue ersetzt. Es war eine andere Welt, in der meine Oma lebte.
Ich klopfte an der braunen Holztür, hörte sie dahinter leise «herein» sagen und drückte die Klinke zu meinem Zufluchtsort. Sie hatte die Zimmer mit meinem Großvater eingerichtet und auch nach seinem Tod genauso belassen. Sollte der Fall eintreten, dass es ihm im Jenseits nicht mehr gefallen würde und er zu meiner Oma zurückkehren wollte, würde er alles so unverändert vorfinden wie an dem Tag, an dem er das Zimmer verlassen hatte. In holzeingefassten Vitrinen standen vielerlei Dinge, die die beiden gefunden und aus dem Trubel der Welt befreit hatten. Da lag etwa eine Packung Streichhölzer aus einem Hotel in Bad Reichenhall. Die Großmutter war noch jung gewesen, in dem Alter, in dem man sich über Vernunft nur amüsieren kann. Mit Freunden hatte man damals im Kurbad gespeist, getrunken und war ins Scherzen gekommen. Spät in der Nacht wurden flambierte Getränke serviert, man tanzte auf den Tischen, und meine Großmutter, damals noch weit davon entfernt, je eine Großmutter zu sein, hatte dann zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben eine Zigarre geraucht, bis die so kurz war wie der Schwanz eines Mopses. Danach war ihr schlecht. Bereut hat sie nichts. Übrig geblieben waren nur die Streichhölzer.
Hinter dem Glas der Vitrine breiteten sich Wurzeln aus, die, wenn man genauer hinsah, aus vielerlei Gesichtern bestanden. Die sich, wenn man kurz in Gedanken abschweifte oder nur aus dem Augenwinkel hinsah, scheinbar bewegten und sich in einer unbekannten Sprache Geheimnisse zuflüsterten. Dort lag ein geschnitzter Vogel, der ursprünglich von einem großen Orchestrion stammte, das der Besitzer im Rausch der Eifersucht kurz und klein gehackt hatte. Ein Lichtstrahl beleuchtete eine bunte Feder, gefunden in einem Park nahe der Stadt Padua. Daneben der Hauch eines kleinen Tässchens mit einem zierlichen Löffel, aus dem wohl einmal eine Fee getrunken hatte. Vielleicht hatte dieses Traumwesen mit ihren Glasfüßchen in einem kleinen Hinterhoftheater in der Vorstadt von Paris getanzt, und der Großvater saß im Publikum. Ihre Blicke trafen sich, und nach der Vorstellung hatte ihn die Mademoiselle noch in ihre Dachwohnung geführt. Durch ein kleines Fenster konnte mein Großvater über die Dächer der Stadt unterm großen Sternenmeer sehen, und das Leuchten des Mondes spiegelte sich im linken Auge des zierlichen Engels. Auf ihrem Platz in der Vitrine durfte die Tasse in Würde über die tatsächliche Geschichte schweigen. Aber derjenige, der sie ansah, konnte sich dabei tausendundein Märchen ausdenken. Dann ein fröhlicher, sitzender Buddha, schillernde Steine und ein kleiner Fingerhut aus Tasmanien. Oft habe ich die Schätze geschaut und dabei die Welt vergessen. Die Kostbarkeiten waren umhüllt von der Liebe, die meine Oma immer noch mit ihrem Mann verband.
Meine Großmutter hatte lange weiße Haare, die aber nicht einfach lose herunterhingen, sondern als kunstvoller Knoten ihr aristokratisches Gesicht überragten. Sie verwendete zuweilen Worte wie «Kommerzienrat» oder «echauffieren». Ich verstand oft nur die Hälfte. Wir beide hatten eine Vorliebe für Tierfilme. Sehr gerne saß ich neben ihr auf dem Sofa, und wir schauten zusammen im Fernsehen wilde Tiere in fernen Ländern an.
Manchmal konnte so ein Dokumentarfilm sehr spannend werden, wenn hungrige Löwen eine Antilope jagten und ich hoffte, dass der zierliche Vegetarier doch noch einen Ausweg finden würde in den Weiten der Savanne. Wenn die Aufregung meinerseits zu groß wurde, hielt ich mich an der Hand der Großmutter fest. Die Omahandhaut war lose verlegt. Wenn ich mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Stück von der Haut über ihrer Hand zusammenzwickte und vorsichtig nach oben zog, konnte ich ein kleines Omahandhautzelt bilden. Die Maximalhöhe war dann erreicht, wenn meine Großmutter leise «au» sagte. So weit ließ ich es aber meistens nicht kommen, weil ich meine Oma sehr lieb gehabt habe.
Gern schaute ich mit der Oma auch die Sendung «Dalli Dalli». Da brauchte ich keine Angst haben, dass ein unschuldiges Lebewesen von Raubtieren zerfleischt würde. Prominente Gäste mussten hier ganz schnell Begriffe nennen, und es gab einen Schnellzeichner, der ganz schnell Zeichnungen zeichnete. Wenn besonders viele Begriffe in sehr kurzer Zeit erraten wurden oder irgendetwas ähnlich Kolossales passierte, sprang der fast zierlich zu nennende Moderator hoch in die Luft vor Freude. Einmal sagte meine Oma nach so einem Sprung: «Schau, das ist der Hans Rosenthal, der ist ein Jude. Du musst wissen, die Juden sind uns Christenmenschen haushoch überlegen. Das ist historisch bedingt. Die Juden waren ursprünglich ein Nomadenvolk. Die hatten keinen festen Wohnsitz und sind in der Wüste herumgelaufen. Wo bei uns im Mittelalter schon die Kartoffeln auf dem Acker gewachsen sind, das Schwein im Stall gegrunzt hat und das Wasser aus der Leitung herausgekommen ist, gab es bei den Juden nur Sand und Sonne. Für die kleinste Tasse Cappuccino hat dieses Volk enorme Leistungen aufbringen müssen. Deswegen sind die alle so pfiffig. Du brauchst dir nur diesen Rosenthal ansehen. Der springt in jeder Sendung dreimal in die Luft und verdient damit viel Geld. So etwas würde ein schlichter Christ nicht so einfach hinbekommen.» Ich wusste damals nicht, was ein Jude oder ein Cappuccino ist. Aber ich fragte bei der Großmutter nicht nach, sondern zupfte stattdessen ein bisschen an ihrer Hand herum.
Stets genügten ihr schon meine Begrüßungsworte, und sie konnte mir am Tonfall anhören, dass meine Mutter mir wieder schwer zugesetzt hatte. Dann lächelte sie milde und sagte aufmunternd: «Ich glaube, du brauchst ein Dany.»
Dany war Schokoladenpudding mit einer Schicht Sahne obendrauf, der sich in einem durchsichtigen Plastikbecher mit Aludeckel befand. In Omas Kühlschrank lagerten immer einige Danys für etwaige Notfälle. Ich befolgte den Rat meiner Großmutter, holte die süße Speise und einen Löffel aus der Küche und setzte mich zu ihr auf das Sofa. Manchmal aß sie auch einen Pudding. Wenn sie den silbernen Deckel geöffnet hatte, löffelte sie immer sogleich die Sahnekrone in ihren gespitzten Mund, denn vom ganzen Pudding mochte sie die Sahne am allerliebsten, wie sie mir einmal verriet. Ich habe es dann auch ausprobiert und die weiße Haube separat verspeist. Aber mir war das zu süß, und gleich darauf befand ich, dass umgekehrt dem Pudding etwas fehlte, wenn man ihn für sich aß. Es gibt Situationen im Leben, wo Weichen gestellt werden. Entweder du isst erst die Sahne und dann den braunen Pudding, oder du rührst mit dem Löffel erst einmal gründlich im Becher herum. So wurde ich zu einem, der sein Dany rührte.
Manchmal geschah es, nachdem ich mein Dany gerührt und anschließend vollständig ausgelöffelt hatte, dass mich meine Oma sehr gründlich musterte, als wolle sie in mich hineinsehen. Dann atmete sie tief ein und sprach beim Ausatmen: «Matthias, ich glaube du brauchst noch ein Bier.» Sie meinte damit Karamalz, ein alkoholfreies Nährbier, speziell gebraut für Kinder in Not. Ein ganzer Kasten stand direkt neben ihrem Kühlschrank. Ich nickte einsichtig, holte mir eine Flasche und kehrte zu Sofa und Oma zurück.