Vorurteilen und Diskriminierung in der Kita begegnen - Sandra Richter - E-Book

Vorurteilen und Diskriminierung in der Kita begegnen E-Book

Sandra Richter

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Beschreibung

Die Kita als Ort für Bildung, Wohlbefinden und Teilhabe – für alle Kinder, unabhängig von deren Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Familienkonstellation, Behinderung, Sprache oder Religion. Aber wie geht das ganz konkret im Alltag? Das Buch geht den Fragen nach, wie Lernumgebungen und Interaktionen gestaltet sein sollten, um die Inklusion aller Kinder sicherzustellen. Mit vielen praktischen Beispielen und ganz konkreten Tipps wie vorurteilsbewusster Kinderliteratur etc.

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Sandra Richter

Vorurteilen und Diskriminierung in der Kita begegnen

Sandra Richter

Vorurteilen und Diskriminierung in der Kita begegnen

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung© als inklusives Praxiskonzept

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Umschlagmotiv: © hudiemm – iStock

Fotos im Innenteil auf den Seiten 9: © kali9 – iStock, 29: © monkeybusinessimages – iStock; 45 und 135: © FatCamera – iStock, 119: © Orbon Alija – iStock

Illustrationen: Natascha Welz

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978-3-451-39185-9

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82645-0

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82644-3

Danksagung

Ich danke all den Menschen, die mich daran erinnern, meine privilegierten Leerstellen und Dominanzen zu erkennen und abzubauen. Menschen, die kritisch waren und sind und gleichzeitig Kontakt und Dialog ermöglichen. Allen voran meine Kolleg*innen und Freund*innen sowie meine Tochter, ohne die ich diesen Weg nicht gehen könnte. Besonderer Dank gilt den Menschen, die mir ihre Stimmen zum Thema „Verbündet handeln“ geschenkt haben. Euer Vertrauen bedeutet mir mehr, als ich in Worte fassen kann. Darüber hinaus bedanke ich mich bei allen Seminarteilnehmer*innen und Erzieher*innen, die meine Sicht mit ihren Perspektiven, Erfahrungen und Fragen fortwährend bereichern. Dieses Buch wurde von mir geschrieben, ein Großteil meines Wissens beruht jedoch auf der Arbeit von Generationen marginalisierter Menschen, die ich mit Zitaten und Verweisen versucht habe sichtbar zu machen, hoffend, dass mir dies gelungen ist. Abschließend möchte ich dem Herder-Verlag für die Zusammenarbeit danken, besonders Franziska Martinet und Eva Killmann.

Inhalt

Einleitung

1. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

1.1 Die Implementierung des Anti Bias-Ansatzes in Deutschland

1.2 Junge Kinder – keine Vorurteile?

1.3 Bildungsgerechtigkeit – was bedeutet das?

1.4 Das Inklusionsverständnis im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung

1.5 Rechtliche Grundlagen von Inklusion und die Inhalte der Bildungspläne

2. Schritte auf dem Weg zu einer vorurteils bewussten Kita-Praxis

2.1 Eine gemeinsame Entscheidung treffen

2.2 Die Ziele der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung

2.2.1 Ziele für pädagogische Fachkräfte

2.2.2 Ziele für die Arbeit mit Kindern

2.2.3 Ziele für Kita-Leitungen

2.3 Die Handlungsfelder vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

2.3.1 Die vorurteilsbewusste Gestaltung der Lernumgebung

2.3.2 Die Interaktion mit Kindern vorurteilsbewusst gestalten

2.3.3 Die Zusammenarbeit mit Bezugspersonen vorurteilsbewusst gestalten

2.3.4 Die Zusammenarbeit im Team vorurteilsbewusst gestalten

3. Inklusive Kita-Praxis gestalten

3.1 Die vorurteilsbewusste Gestaltung der Lernumgebung

3.1.1 Ich und meine Familie gehören dazu (Ziel 1)

3.1.2 Ich – wir – die Welt: Vielfalt in den Blick nehmen (Ziel 2)

3.1.3 Ungerechtigkeiten wahrnehmen (Ziel 3)

3.1.4 Wir können etwas verändern (Ziel 4)

3.2 Die Interaktion mit Kindern vorurteilsbewusst gestalten

3.2.1 Das bin ich! (Ziel 1)

3.2.2 Wer bist Du? (Ziel 2)

3.2.3 Das ist ungerecht! (Ziel 3)

3.2.4 Ich kann mir helfen – wir können uns helfen! (Ziel 4)

3.3 Die Zusammenarbeit mit Bezugspersonen vorurteilsbewusst gestalten

3.3.1 Die Kita für Familien öffnen (Ziel 1)

3.3.2 Einen Ort für Vielfalt schaffen (Ziel 2)

3.3.3 Den gemeinsamen Dialog sichern (Ziel 3)

3.3.4 Wir positionieren uns (Ziel 4)

3.4 Die Zusammenarbeit im Team vorurteilsbewusst gestalten

3.4.1 Veränderungen beginnen mit uns (Ziel 1)

3.4.2 Das Vielfaltsverständnis erweitern (Ziel 2)

3.4.3 Gemeinsam kritisch werden (Ziel 3)

3.4.4 Sich für Inklusion stark machen (Ziel 4)

4. Herausforder-ungen und Chancen auf dem Weg zu einer dis kriminierungs kritischen Praxis

4.1 Lernen und Handeln in einem schwierigen Feld

4.2 Umgang mit Abwehrmechanismen

4.3 Was es zu vermeiden gilt

4.3.1 Pseudovielfalt (Tokenism)

4.3.2 Unterschiede leugnen (Differenzleugnung)

4.3.3 Unterschiede überbetonen (Differenzfixierung)

4.3.4 Touristische Praxis

5. Verbündet handeln

Literaturverzeichnis

Ressourcen zum Weiterlernen

Über die Autorin

Einleitung

Vorurteile und Diskriminierung in Kitas sind Themen, die für viele Menschen ohne Diskriminierungserfahrungen nicht zusammenpassen. Sie sind jedoch bereits für junge Kinder allgegenwärtig, und sie erleben Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund ihrer Identitätsmerkmale wie Herkunft, Geschlechtsidentität, Hautton, sozio-ökonomischer Status, Familienkonstellation, BeHinderung, Körperform, Alter, Sprachen oder Religion. Die Auswirkungen auf Kinder sind oftmals gravierend und verwehren ihnen Wohlbefinden, Teilhabe und Bildung.

Langjährige Erfahrungen bestätigen zudem: Bereits junge Kinder übernehmen Ansichten und Vorstellungen von Erwachsenen. Damit aus diesen Vorannahmen keine Vorurteile entstehen, die in Ausgrenzung und Diskriminierung münden, bedarf es einer Kita-Praxis, die Kinder dabei unterstützt, die Vielfalt der Welt diversitätsbewusst und diskriminierungskritisch zu erfassen. Erwachsene sind deshalb aufgefordert, Ungleichheitsverhältnisse wahrzunehmen und diesen aktiv enzgegenzutreten. Es gilt, Bildungsgerechtigkeit anzustreben, kein Kind auszuschließen und die Teilhabe aller Kinder und Familien zu sichern. Für Kitas wird das Thema Inklusion damit zugleich Anspruch und Verpflichtung.

Der Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung©1 setzt sich zum Ziel, Kitas dabei zu unterstützen, ihr Angebot so zu gestalten, dass allen Kindern Bildung in hoher Qualität ermöglicht wird. Er bietet ein fundiertes Konzept und einen systematischen Rahmen für die Entwicklung inklusiver pädagogischer Praxis. Dabei stellt der Ansatz kein zusätzliches pädagogisches Konzept dar, sondern eine Gelegenheit, die vorhandenen Rahmenbedingungen und Abläufe daraufhin zu prüfen, ob sie die vielfältigen Identitäten und Lebensbedingungen der Kinder berücksichtigen, zu erarbeiten wie Diskriminierungsmechanismen abgebaut werden können und dies in die Praxis umzusetzen.

Was heißt das konkret? Gemäß dem Motto „Vielfalt respektieren (Diversitätsbewusstsein) – Ausgrenzung widerstehen (Diskriminierungskritik)“ gilt es, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen von Kindern und Familien zu berücksichtigen, um Chancengleichheit zu ermöglichen. Barrieren, die Kindern den Zugang zu Einrichtungen verwehren, müssen erkannt und beseitigt werden – ebenso wie strukturelle Barrieren, Barrieren in der Ausstattung, in den täglichen Abläufen, der Interaktion mit Kindern und in der Zusammenarbeit mit den Familien der Kinder.

Abb. 1: Vielfalt respektieren – Ausgrenzung widerstehen

Wie kann das praktisch in der Kita aussehen? Davon handelt dieses Buch. Es erläutert die Ziele vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung und enthält zur Unterstützung Ihrer pädagogischen Arbeit zu jedem der vier Handlungsfelder (Gestaltung der Lernumgebung, Interaktion mit Kindern, Zusammenarbeit mit Bezugspersonen, Zusammenarbeit im Team) konkrete Methoden, Umsetzungstipps und Beispiele. Herausforderungen auf dem Weg zu einer vorurteilsbewussten Kitapraxis werden benannt und Lösungsansätze vorgestellt. Abgerundet werden die einzelnen Kapitel durch Reflexionsfragen, die es Ihnen ermöglichen, ganz konkret auf einzelne Bereiche zu schauen, dabei die vorhandenen Stärken zu erkennen, Entwicklungsbedarfe sichtbar zu machen und Praxisveränderungen anzustoßen.

1 Der „Ansatz der Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung©“ bezeichnet einen von der Fachstelle Kinderwelten entwickelten pädagogischen Ansatz. Um der aus der Bezeichnung des Ansatzes herausgelösten Verwendung des Adjektivs „vorurteilsbewusst“ entgegenzuwirken und die Urheber*innenschaft der Fachstelle kenntlich zu machen, verwenden wir hier bei der Nennung des Ansatzes das hochgestellte ©. Im Folgenden wird auf die Verwendung verzichtet.

1.

Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

In diesem Kapitel erfahren Sie

wie der Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung und der Anti Bias-Approach in Verbindung stehenwie junge Kinder Vorurteile entwickelnwelche Auswirkungen Vorurteile auf Kinder habenwas Bildungsgerechtigkeit in pädagogischen Kontexten bedeutetwelches Inklusionsverständnis dem Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung zugrunde liegtwelche (bildungs-)rechtlichen Grundlagen für Inklusion existieren

1.1 Die Implementierung des Anti Bias-Ansatzes in Deutschland

Der Ansatz ist ein „[…] aktiver Ansatz, der sich der Herausforderung durch Vorurteile, Stereotypisierungen, Einseitigkeiten und ins System eingelassene -ismen stellt und dabei von der Annahme ausgeht, dass es für jeden Einzelnen nötig ist, sich einzumischen und die individuellen Verhaltensweisen und institutionellen Mechanismen zu bekämpfen, die Unterdrückung aufrechterhalten“ (Derman-Sparks 2001, S. 1). „Anti Bias Approach“ wurde dabei mit „Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung“ übersetzt. Es wird bewusst nicht von vorurteilsfrei gesprochen.

Die pädagogischen Ziele des Situationsansatzes (Autonomie, Solidarität, Kompetenz) in Verbindung mit den fünf theoretischen Dimensionen (Lebensweltorientierung, Bildung, Partizipation, Gleichheit und Differenz, Einheit von Inhalt und Form) und den Planungsschritten (Erkunden, Entscheiden, Handeln, Auswerten) boten bei der Adaption des Ansatzes einen hilfreichen Rahmen.

Beide Ansätze, Anti Bias- und Situationsansatz, erkennen die hohe Bedeutung frühpädagogischer Arbeit auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit an und möchten sowohl pädagogische Fachkräfte als auch Kita-Träger ermutigen, ihren Einfluss zu nutzen, um einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu leisten. Denn „[…] mit dem, was wir in Kindertageseinrichtungen tun, setzen wir den Anfang für das, was mit Kindern in unserer Gesellschaft geschieht“ (Derman-Sparks 2001, S. 11).

Die Ziele vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

Ziel 1: Alle Kinder in ihren Identitäten stärken

Ziel 2: Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen

Ziel 3: Kritisches Denken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterstützen und anregen

Ziel 4: Das Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung unterstützen

Weitere Informationen zu den vier Zielen für die Arbeit mit Kindern, für pädagogische Fachkräfte sowie für Leiter*innen finden Sie in den Kapiteln 2.2.1 bis 2.2.3.

1.2 Junge Kinder – keine Vorurteile?

„Man lernt Vorurteile aus dem Kontakt mit den vorherrschenden Einstellungen in einer Gesellschaft, nicht aus dem Kontakt mit dem Einzelnen.“ – Louise Derman-Sparks (Derman-Sparks 1998, S. 6)

Der Auslöser für Louise Derman-Sparks, sich intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzen und infolgedessen einen Ansatz für die Arbeit mit jungen Kindern zu entwickeln, war, neben den gesamtgesellschaftlichen Bewegungen, eine konkrete Situation: „Bereits mit zwei Jahren begann mein Sohn Fragen über sich selbst zu stellen, die mir zeigten, dass Kinder sehr früh auf Hautfarben aufmerksam werden. Als er vier Jahre alt war, verkündete er, dass er nicht mehr Schwarz sein wolle. Das zu hören war sehr schmerzhaft, weil es so klang, als lehne mein Kind ab, zu sein, wer es ist. Ich fand heraus, dass er ein Feuerwehrmann sein wollte, der ein großes Feuerwehrauto fuhr, die Leiter bediente und all diese aufregenden Dinge tat. Aber alle Leute, die das in seiner Lieblingsserie im Fernsehen taten, waren weiß. Er lehnte nicht wirklich sich selbst ab, sondern er hatte mit seinen vier Jahren bereits etwas über Vorurteile in unserer Gesellschaft gelernt: Er müsste seine Hautfarbe ändern, um einer dieser Feuerwehrmänner sein zu können“ (Derman-Sparks in DECET 1998).

Kindern begegnet die in einer Gesellschaft existierende Vielfalt nicht neutral, sondern immer im Zusammenhang mit Bewertungen. Welche Identitätsmerkmale dabei als positiv oder negativ bewertet werden, lernen bereits die Jüngsten von ihren Bezugspersonen (vgl. Wagner 2017, S. 87). Mit Aufnahme in die Krippe, Kita oder Tagespflege kommen weitere prägende Meinungen hinzu: die der pädagogischen Fachkräfte und mit zunehmendem Alter auch die der Peergroup.

Spätestens ab einem Alter von zwei Jahren entwickeln Kinder erste Vorstellungen über Unterschiede. Sie beginnen, in der Gesellschaft vorherrschende Vorstellungen über verschiedene Gruppen anzunehmen und übernehmen Zuschreibungen oder Vorurteile aus ihrer Umgebung oder wie Stephanie Cuff-Schöttle (Cuff-Schöttle 2020, S. 56) schreibt: „Wir zeigten auf, dass es eine ganze Reihe an Experimenten und Studien6 gibt, welche eindeutig belegen, dass schon Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren nicht nur Unterschiede zwischen Menschen (z.B. unterschiedliche Hauttöne etc.) wahrnehmen, sondern auch schon genügend an die äußere Realität angepasst sind, um die real existierenden Vorurteile und Stereotype bestimmten Personengruppen gegenüber zu erkennen, diese zu verinnerlichen und in ihre eigenen Denk- und Handlungsweisen zu integrieren“.

Infolgedessen zeigen junge Menschen zum einen häufig Unbehagen oder auch Angst gegenüber Menschen mit Merkmalen, die ihnen nicht vertraut sind und entwickeln sogenannte Vor-Vorurteile, zum anderen fließen diese äußeren Bewertungen häufig in das Selbstbild marginalisierter Kinder ein. So haben bereits dreijährige Kinder, sowohl weiße als auch Schwarze Kinder und Kinder of Color, eine positive Assoziation zu „Weißsein“ entwickelt, und fünf- bis achtjährige Kinder verbinden anerkannte Berufe mit hellen Hauttönen (vgl. Mac Naughton 2006, S. 4ff.; Van Ausdale & Feagin 2001; Clark & Clark 1940).

Schwarz – B/I/PoC – weiß

Der Begriff Schwarz ist eine politische Selbstbezeichnung: „Die Großschreibung von Schwarz verweist auf die Strategie der Selbstermächtigung und zeigt das symbolische Kapital des Widerstandes gegen Rassismus an, welches rassistisch markierte Menschen und Kollektive sich gemeinsam erkämpft haben“ (Piesche 2012, S. 7). Über die Schwarze Position wird die Analysekategorie weiß hergestellt, die kleingeschrieben wird und Menschen umfasst, die nicht negativ von Rassismus betroffen sind.

BIPoC ist die Abkürzung von Black, Indigenous, People of Color. Auch diese Begriffe sind politische Selbstbezeichnungen.

People of Color (PoC)7 verbindet all diejenigen, die geteilte Erlebnisse und Erfahrungen mit Rassismus machen: „Unter der Selbstbezeichnung People of Color können Bündnisse zwischen all jenen geschlossen werden, die durch weiße Dominanzkultur marginalisiert und durch koloniale Gewalt kollektiv unterdrückt und abgewertet werden.“ (Ha 2007, S. 37)

Wird der Abkürzung PoC ein „B“ (für Black) vorangestellt, schließt der Begriff auch Schwarze Personen ein. Mit der Erweiterung um das „I“ zu BIPoC erfolgt der Einschluss indigener Menschen.

Der differenzierte Nutzung der Begriffe PoC, BPoC und BIPoC hat wiederum zum Ziel, die sich unterscheidenden Diskriminierungserfahrungen sichtbar zu machen. Die Verwendung der einzelnen Abkürzungen dient der besseren und klareren Unterscheidung der jeweiligen Realitäten und Erfahrungen.

Dabei ist das Denken junger Kinder teilweise noch widersprüchlich, so kann es zum Beispiel passieren, dass ein Kind, dessen Mutter lange Haare hat, zu einer Mutter mit kurzen Haaren sagt: „Du bist aber keine richtige Mama! Richtige Mamas müssen lange Haare haben!“ Wohingegen die Mutter des besten Freundes, unabhängig von ihrer Frisur, klar als dessen Mutter anerkannt wird.

Zudem entnehmen Kinder ihrer Umgebung permanent bewusste und unbewusste Botschaften. Beides macht es Stereotypen leicht, sich fortzuschreiben. Und auch das, was in ihrer Umgebung nicht sichtbar ist, hat für Kinder eine Bedeutung. Sowohl Sichtbares als auch Unsichtbares gibt ihnen Aufschluss darüber, was wichtig, „richtig“ und „normal“ ist und was nicht (vgl. Wagner 2017, S. 27). Das bedeutet: auch wenn Kinder bisher keinerlei Kontakt zu den durch die Vorurteile adressierten Menschen hatten, entwickeln sie wertende Kategorien.

Hier einige Beispiele für sogenannte Vor-Vorurteile von Kindern (vgl. auch York 2003):

„Er ist kein Junge, er hat einen Ohrring.“„Das kannst du nicht machen, du bist doch ein Mädchen.“„Jungs können da nicht mitspielen, nur Mädchen.“„Er kann nicht mein Freund sein, er hat dreckige Sachen an.“„Ihhh, der isst Schweinefleisch, der kommt in die Hölle.“„Du kannst gar nicht zwei Mamas haben.“„Ein behindertes Kind lade ich nicht zum Geburtstag ein.“„Taube Menschen können nichts arbeiten.“„Ich will nicht neben ihm sitzen, er redet komisch.“„Mit deinen Haaren kannst Du keine Prinzessin sein.“„Du kommst nicht in die Schule, du kannst kein Deutsch.“

Kinder übernehmen Stereotype über sich und andere, weil sie sich die Welt erklären wollen (vgl. York 2003, S. 23). Was sie brauchen, damit diese Erklärungsversuche sich nicht als Vorurteile manifestieren, sind Erwachsene, die sie dabei unterstützen, ihre Theorien infrage zu stellen, zu prüfen und entsprechend zu korrigieren.

Auch in pädagogischen Einrichtungen wirken institutionalisierte Mechanismen, im Rahmen derer „die Ungleichbehandlung oder der Ausschluss von Menschen zum‚ Funktionieren‘ der Einrichtung gehört und als ‚selbstverständlich‘ gilt“ (ISTA/FS Kinderwelten 2017, S. 5). Problematisch dabei ist: „[…] Dominanzverhältnisse oder Marginalisierungsprozesse aber, die als ‚normal‘ und ‚üblich‘ gelten, können kaum als solche benannt oder skandalisiert werden. Die Ausgrenzung ist eingelassen in die gesellschaftlichen Strukturen, sie ist ohne direkte persönliche rassistische Übergriffe oder Gewalttaten effektiv. Sie funktioniert ‚lautlos‘ – aus der Sicht der dominierenden Gruppe“ (ebd.).

Dominanzkultur

Beschreibt Tatsache, dass „unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind“ (Rommelspacher 1998, S. 22). Zur Dominanzkultur gehört all das, was in einer Gesellschaft als „normal“ verstanden und damit als Norm gesetzt wird8 oder wie Rommelspacher (ebd.) formuliert: „Sie [die Dominanzkultur] bestimmt das Verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in dieser Gesellschaft leben.“ Dazu zählen in Deutschland zum Beispiel die Merkmale weiß, nicht beHindert, christlich, heterosexuell, über ein ausreichend finanzielle Mittel verfügend und noch immer cis-männlich9. Menschen, die diesen Normen entsprechen, sind der Dominanzgesellschaft zugehörig und verfügen über (für sie selbst häufig unsichtbare) Privilegien und damit über Macht innerhalb der Gesellschaft. Menschen, die den Normen nicht entsprechen, werden gesellschaftlich benachteiligt.

Demnach sind junge Menschen nicht nur direkt von Vorurteilen und Diskriminierung betroffen, sondern auch indirekt durch gesellschaftliche Mechanismen und Strukturen (ebd.). Ihre Erfahrungen unterscheiden sich je nach gesellschaftlicher Positionierung: „Es macht einen Unterschied, ob sie mit Teilen ihrer Identität Gruppen der Dominanzgesellschaft angehören oder Gruppen, die aufgrund ihrer Merkmale als außerhalb der Norm konstruiert werden. Besonders betroffen sind die Kinder, die als nicht dazugehörig markiert werden und infolgedessen Ausschluss und Marginalisierung erleben. Aber auch Kinder, die Privilegierung erfahren, sind vom System sozialer Ungerechtigkeit negativ betroffen. Auch wenn sie sich auf der ‚sicheren Seite‘ zu befinden scheinen, beschädigt das Denken in den Kategorien von Überlegenheit und Unterlegenheit ihr geistiges und moralisches Befinden. Denn Ungleichheitssysteme produzieren eine häufig unbewusste Wahrnehmung von sich selbst, ‚besser als‘ zu sein. Diese ‚besser als‘-Wahrnehmung ist eine instabile, die in Gefahr geraten kann, wenn sich an den Lebensumständen des Kindes und seiner Familie etwas ändert […] Eine weitere Beschädigung spielt ebenfalls mit hinein: Eine Identität, die auf der Wahrnehmung basiert, ‚besser als‘ oder ‚die Guten‘/‘die Richtigen‘ zu sein, schädigt Kinder in ihren Fähigkeiten, Empathie und Solidarität zu entwickeln, sowie in ihrer Fähigkeit, Unterschieden mit Respekt und Offenheit zu begegnen“ (ebd.).

Hier ein Beispiel, in dem sowohl individuelle als auch strukturelle Prozesse zusammenkommen: In mehreren Untersuchungen wurde festgestellt, dass sich Mädchen im Alter von sechs Jahren in Bezug auf ihre mathematischen Erkenntnisse nicht von Jungen unterscheiden. Nach einigen Jahren in der Schule werden jedoch deutliche Unterschiede sichtbar (vgl. Förster 2007, S. 43). Diese lassen sich in keiner Weise „biologisch“ erklären, sondern sind unterschiedlicher Förderung durch die verantwortlichen Erwachsenen und der Wirkung von stereotypen Zuschreibungen, Vorurteilen und Diskriminierung geschuldet: „Wir wissen, dass Menschen ihre Motivation verlieren, wenn man sie nicht ernstnimmt, ihnen nichts zutraut oder sie nicht fördert“ (ebd., S. 44).

Neben Geschlechterstereotypen gilt es zu bedenken, dass in unserer Gesellschaft fälschlicherweise überwiegend noch immer davon ausgegangen wird, „dass Geschlecht ein binäres System ist. Binär steht für „zweiteilig“ und reduziert auf nur zwei Geschlechter: männlich und weiblich. Sämtliche anderen Geschlechter werden als Abweichung von der (binären) Norm betrachtet und unterdrückt. Dieses strikt zweigeteilte System ist ein religiös geprägtes Konstrukt, das auch kolonialrassistische Traditionen umfasst und gesellschaftliche Erwartungen an ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ aufbaut. Aus diesen Erwartungen entstehen klare Geschlechterrollen, deren Nichteinhaltung negative Konsequenzen wie Anfeindungen mit sich bringt. Langsam entwickelt sich das binäre Verständnis von Geschlecht hin zu einem offenen Geschlechtersystem. Dieses sieht Geschlecht als ein Spektrum mit vielen verschiedenen Geschlechtern und unzählige Abstufungen zwischen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘. Ein offenes System wirkt Unterdrückung und Ausgrenzung entgegen, indem es Geschlecht in seiner Vielfalt erfasst und keine Normen aufbaut“ (Projekt 100% MENSCH).

In den 1960er Jahren führten die Forscher*innen Robert Rosenthal und Lenore Jacobsen (1966, S. 115ff.) Analysen in Schulen durch, bei denen sie den Lehrer*innen vermeintlich wahre Informationen über zufällig ausgewählte Schüler*innen gaben, die sie entweder als intelligent oder weniger intelligent einstuften. Ziel war es, zu untersuchen, wie stark die jeweiligen Erwartungen der Lehrer*innen die Leistungen der Kinder prägen würden. Die Ergebnisse bestätigten die Befürchtungen der Forscher*innen: Die als intelligent markierten Kinder erreichten deutlich bessere Leistungen als die als weniger intelligent eingestuften Kinder – unabhängig von ihren tatsächlichen Voraussetzungen.

Und auch heute bestätigen Erfahrungen und Studien diese Mechanismen immer wieder.10 So schildern zum Beispiel unter dem Hashtag #DarüberReden (www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/lebensbereiche/bildungsbereiche/schule/schule-node.html) Schüler*innen ihre Diskriminierungserfahrungen, unter dem Hastag #MeTwo (www.gender-nrw.de/metwo/ u.a.) berichten Menschen über rassistische Diskriminierung, BeNeDisk, das Berliner Netzwerk gegen Diskriminierung in Schule und Kita (www.benedisk.de), belegt eine Vielzahl von diskriminierenden Vorfällen in pädagogischen Kontexten, ebenso die Beratungsstelle KiDs – Kinder vor Diskriminierung schützen! der Fachstelle Kinderwelten (https://kids.kinderwelten.net/), ReachOut, die Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (https://www.reachoutberlin.de/), EOTO e.V. (https://eoto-archiv.de), #AFROZENSUS (https://afrozensus.de), die Initiative Schwarze Deutsche (ISD, https://isdonline.de), Inssan e.V. (www.inssan.de), Queerformat – Fachstelle queere Bildung (www.queerformat.de), das Projekt „Wir sind hier!“ (https://wer-ist-hier.de), DeZIM/NaDiRa (www.dezim-institut.de; https://www.rassismusmonitor.de) und viele weitere Organisationen. Die Ergebnisse machen deutlich: Vorurteile genügen, um den formalen Bildungsweg der Kinder zu zeichnen (vgl. Förster 2007, S. 44), und „Bildungsungleichheiten können nicht allein durch den Besuch einer Kita abgebaut werden, denn Kinder erleben trotz formaler Zugangsmöglichkeiten zu Kitas vielfältige Hindernisse in ihren Lern- und Teilhabeprozessen“ (Bostancı et al. 2021, S. 2).

Eigene Vorurteile in den Blick nehmen

„Funktionen“ von Vorurteilen

Verminderung von Unsicherheit/UngewissheitVersuch der Orientierung in komplexen gesellschaftlichen VerhältnissenVermeidung, Verstecken oder Eliminierung von Gegensätzen und WidersprüchenZugehörigkeiten konstruieren bzw. etablierenDas „Selbst“ und das als anders Markierte definierenVereinheitlichung/Standardisierung eigener IdentitätFunktion der „sozialen Eintrittskarte“Positives Selbstbild erschaffen und aufrechterhaltenEigene Bereicherung/Aufwertung durch Abwertung der sogenannten „Anderen“Aggressionen gegenüber Geanderten rechtfertigenHerstellung eines Gefühls von Stärke/ÜberlegenheitMacht- und Herrschaftsverhältnisse legitimierenAufrechterhaltung ungleicher MachtverhältnisseAusbalancierung der Macht von dominanten und unterdrückten GruppenTeilhabe an Machtverhältnissen auf Kosten der Geanderten (vgl. Reddy 2020, S. 109)

Vorurteile sind pauschale Urteile, die mit einer Bewertung verknüpft sind. Die Bewertungen beinhalten Verallgemeinerungen und Zuschreibungen. Bei Begegnungen mit unbekannten Personen erfolgt zumeist sehr schnell eine Bewertung, die sich dabei zunächst vorrangig auf äußerliche Merkmale bezieht. Es wird nach Merkmalen gesucht, die bekannt sind und eine erste Orientierung zu erlauben scheinen. So ist häufig die erste Frage an Eltern junger Kinder: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Je nach Antwort wird das Kind dann durch eine „Brille“ wahrgenommen, deren Fokus sowohl durch gesellschaftlich konstruierte Kategorien und Normierungen von Zweigeschlechtlichkeit als auch durch die individuellen Vorstellungen von „Geschlecht“, „männlich“ und „weiblich“ geprägt ist (vgl. Preissing & Wagner 2003, S. 27). Diese Vorstellungen setzen sich zusammen aus – vermeintlichen – Wissensbeständen, Erlebnissen, Erfahrungen, medialen Botschaften sowie gesellschaftlichen Stereotypen und Normen.

Besonderung und Geandert

Besonderung (auch: Othering, Beanderung, VerAnderung) bezeichnet einen machtvollen Benennungs- und Abgrenzungsmechanismus, bei dem Merkmale Einzelner unzulässig herausgestellt und als „anders“ definiert werden. Dies geht zumeist mit der dominanten Konstruktion eines „Wir“ und „die Anderen“ einher, wobei zugeschriebene „‘Fremdheit‘ und ‚Andersheit‘ permanent hergestellt, konstruiert und befestigt“ (Reddy 2020, S. 30) wird und den Geanderten Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit abspricht. Oder wie Ritz (2021, S. 19) formuliert: „Menschen sind nicht aus sich selbst heraus anders, sondern werden zu anderen gemacht“.

Kategorien bildet jeder Mensch täglich, um Personen einzuordnen. Wären diese Kategorien rein beschreibend, wären sie unproblematisch oder wie Louise Derman-Sparks formuliert: „Die Unterschiede sind nicht das Problem. Zum Problem wird, dass und wie Unterschiede bewertet werden“ (Derman-Sparks 1998). Kategorien sind jedoch immer auch mit Interpretationen und Erwartungen verknüpft. Diese basieren zumeist auf einer Bewertung der, oftmals konstruierten, Gruppe, der man die jeweilige Person zuordnet und haben umfassende Folgen. Das heißt, Menschen werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern ihnen werden umgehend bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten, etc. ab- oder zugesprochen (vgl. Preissing & Wagner 2003, S. 28).

Problematisch ist dabei, dass Vorurteile Menschen auf bestimmte Aspekte reduzieren und sie zugleich kollektivieren. Besonders in ungleichen Machtverhältnissen werden Stereotype und Vorurteile häufig zur Rechtfertigung von Diskriminierung und Ausgrenzung herangezogen (vgl. ISTA/FS Kinderwelten 2017, S. 4): „Je nachdem, welchen gesellschaftlichen Einfluss eine Person hat und wie weit sie sich bei ihrer Einflussnahme von ihren Vorurteilen leiten lässt, können solche Vorurteile Menschen privilegieren oder benachteiligen“ (ebd.). Dieser Vorgang bleibt auch dann problematisch, wenn er „gut gemeint“ ist oder wie eine Fortbildungsteilnehmerin beschreibt: „Ich war früher immer das ‚süße, brave Mädchen‘. Dabei war ich doch so viel mehr! Aber all das wurde nicht gesehen! Ich habe selbst als Erwachsene noch lange gebraucht, um all diese anderen Anteile meiner Persönlichkeit wieder anzuerkennen und zu leben. Es schien fast, als wären sie durch die dauernden Wiederholungen der Erwachsenen ausgelöscht worden“.

Es gehört für viele Menschen zu den überraschendsten und auch schmerzhaftesten Erfahrungen bei der Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen, wie deutlich kollektive, historische Bilder sowohl den Blick auf andere als auch das eigene Selbstbild beeinflussen und wie nachhaltig und stark sie wirken (vgl. Preissing & Wagner 2003, S. 29). Sich dieser Auseinandersetzung zu stellen erfordert Mut und Geduld und ist zugleich für pädagogische Fachkräfte unumgänglich, da Vorurteile maßgeblich das Selbstbild und die Entwicklung von Kindern mit Diskriminierungserfahrungen schädigen. Vorurteile sprechen ihnen von vornherein Fähigkeiten ab oder Eigenschaften zu, die ihre individuelle Entwicklung sowie ihre Teilhabe and damit ihre Bildungschancen einschränken oder gänzlich verhindern: „Es geht darum, sich der existierenden und internalisierten Vorurteile bewusst zu werden, ihre Funktion und Wirkung zu verstehen. Das bedeutet, wach für eigene einseitige Vorstellungen zu sein und dafür zu sorgen, dass sich unsere Vorurteile nicht verfestigen“ (ISTA/FS Kinderwelten 2017, S. 5).

1.3 Bildungsgerechtigkeit – was bedeutet das?

„Bildung findet unter Bedingungen von Ungleichheit statt.“ – Maisha-Maureen Auma (Auma 2012, S. 1)

Ungeachtet der Gesetze, die das Recht aller Kinder auf Bildung festschreiben, gibt es ein Gerechtigkeitsdefizit im deutschen Bildungssystem. Studien belegen, dass zum Beispiel Kinder aus finanziell schwächer gestellten Familien sowie Kinder aus Familien mit Migrationserfahrungen besonders benachteiligt werden und sowohl individuelle als auch strukturelle Diskriminierung erleben müssen (vgl. Wagner 2014, S. 12)11.

Inklusive Bildung als Antwort auf Bildungsbenachteiligung bejaht die vorhandene Vielfalt und nutzt sie diskriminierungssensibel für Lern- und Bildungsprozesse. Das heißt, die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Lernenden und ihr Recht auf individuelle Förderung in sozialer Gemeinschaft stehen im Mittelpunkt. Besondere Achtsamkeit gilt dabei den Kindern, die ein erhöhtes Risiko haben, durch die herrschenden Verhältnisse diskriminiert und benachteiligt zu werden. Das Ziel ist, Teilhabebarrieren, die Kinder beim Zugang zu und der Teilhabe an Bildung hindern, ausfindig zu machen und zu beseitigen. Dazu zählen Barrieren12 beim Zugang zu Bildungseinrichtungen sowie häufig subtile Barrieren bei der Nutzung von Angeboten innerhalb der Einrichtungen.

Teilhabebarrieren zeigen sich auch in der Qualität der Beziehungen, zum Beispiel dann, wenn Bezugspersonen sich unwohl fühlen im Kontakt mit den pädagogischen Fachkräften, zum Beispiel aufgrund fehlender sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten, die zu einer distanzierten Bezugspersonen-Erzieher*innen-Beziehung ohne Austausch auf Augenhöhe führen und infolgedessen zu eingeschränkter Beteiligung. Auch hier werden gesellschaftliche Mechanismen sichtbar, die ausnahmslos eine Anpassung an existierende Strukturen verlangen und ohne eine solche Anpassung Gleichberechtigung und Teilhabe verwehren. Bildungsbarrieren erkennen und abbauen zu können, ist daher immer mit einem Verständnis gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse verknüpft (vgl. Wagner 2017, S. 18).

Familie

Mit dem Begriff Familie sind alle Gemeinschaften umfasst, in denen Menschen miteinander in Beziehung stehen und Verantwortung füreinander übernehmen. Familienformen sind vielfältig, zum Beispiel Familien mit ein, zwei oder mehr Elternteilen und weiteren wichtigen Bezugspersonen, Familien ohne Kinder, Kinder mit mehreren Familien, Kinder, die nicht bei ihrer Familie aufwachsen. Sie variieren zudem nach Anzahl und Anwesenheit der Familienangehörigen, nach Alter, sexueller Orientierung, Rollenverständnissen, Religionen, Sprachen und vielem mehr. Auch Familienformen erfahren Diskriminierung, das heißt, gesellschaftliche Anerkennung und rechtlicher Status sind nicht für alle Familien gleich (vgl. ISTA 2021, S. 12). Um den normierten Blick auf Familie und Elternschaft zu durchbrechen, wird in diesem Buch zumeist der Begriff „Bezugspersonen“ statt „Eltern“ verwendet.

Kitas sind keine Schonräume, und die Ausgrenzung von Menschen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale erfolgt nie isoliert. Zumeist sind Menschen in mehreren Bereichen mit Diskriminierung und so auch mit einem beschränkten Zugang zu Ressourcen wie Wohnraum, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen oder auch der Wahl von Kita- oder Schulplätzen konfrontiert (vgl. Pates, Schmidt, Karawanskij 2010, S. 27f.).

Kitas haben die Möglichkeit, diese Mechanismen zu verstärken oder zu durchbrechen. Bedeutsam ist dabei, dass sich nicht der*die Einzelne an die Bildungseinrichtungen anpassen muss, sondern dass es zur Aufgabe der Institutionen wird, sich auf die individuellen Voraussetzungen der Kinder und Familien einzustellen. Bildungsangebote müssen so gestaltet werden, dass sie allen Kindern den Zugang zu qualitätsvoller Bildung ermöglichen. Das heißt, nicht Gleichbehandlung ist das Ziel, sondern die Berücksichtigung unterschiedlicher Ausgangsbedingungen und deren Einbezug in die Gestaltung pädagogischer Praxis (vgl. ISTA 2016b, S. 8).

„Intersektionalität ist eine Linse, die erlaubt zu sehen, woher Macht kommt und auf wen oder was sie prallt, wo es Verknüpfungen und wo es Blockaden gibt“ (Crenshaw 2019, S. 12). 1989 zeigte die afro-amerikanische Juristin Prof. Kimberlé Crenshaw Mechanismen auf, die verhindern, dass die spezifische Diskriminierung, der Schwarze Frauen ausgesetzt sind, erkannt und berücksichtigt werden (vgl. Gunda-Werner-Institut 2019, S. 1). Dabei betonte sie, dass es nicht ausreichend sei, Rassismus und Sexismus zu „addieren“, sondern ein weiterer Blickwinkel eingenommen werden muss. Oder wie Crenshaw es mit dem Bild der Straßenkreuzung beschreibt: „Nehmen wir als Beispiel eine Straßenkreuzung, an der der Verkehr aus allen vier Richtungen kommt. Wie dieser Verkehr kann auch Diskriminierung in mehreren Richtungen verlaufen. Wenn es an einer Kreuzung zu einem Unfall kommt, kann dieser von Verkehr aus jeder Richtung verursacht worden sein – manchmal gar von Verkehr aus allen Richtungen gleichzeitig“ (Crenshaw 1989, S. 149). Der Ansatz der Intersektionalität hilft, diese Überschneidungen zu erfassen und zu berücksichtigen sowie „eine vermeintliche Diskriminierungshierarchie und damit die unterschiedliche Gewichtung verschiedener Formen von Diskriminierung kritisch zu analysieren“ (Kelly 2017, S. 1), denn „wenn wir nicht intersektional denken und handeln, werden einige von uns, die am verletzlichsten sind, durch die Maschen fallen“ (Crenshaw 2019, S. 57).

1.4 Das Inklusionsverständnis im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung

„Inklusion ist das Gegenteil von Exklusion. Inklusion erfordert eine konstante Wachsamkeit, um ausgrenzenden Kräften in Erziehung und Bildung, in der Gesellschaft und vor allem in uns selbst zu widerstehen.“ – Tony Booth (Booth 2011, S. 5)

Inklusion im Sinne des Ansatzes der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung hat die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit durch die Reduktion aller Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung zum Ziel. Damit bezieht sich Inklusion nicht nur auf die gemeinsame Bildung von Kindern mit und ohne BeHinderung, sondern verlangt einen individuellen Blick auf die Gesamtheit der Identitätsmerkmale jedes einzelnen Kindes.

BeHinderung

„Ich bin kein Mensch mit Einschränkungen oder besonderen Bedürfnissen. Meine Umwelt schränkt mich ein, nicht umgekehrt“ (Gehlhaar 2021).

Der Begriff BeHinderung wird nicht als Kennzeichen einer Person verstanden, sondern als Relation zwischen als behindert bezeichneten Personen, ihrer Umwelt und den existierenden Barrieren, die sie behindern.13 Um dies zu verdeutlichen, wird im vorliegenden Buch die Schreibweise BeHinderung oder die Formulierung „Menschen, die behindert werden“ verwendet.

Petra Wagner, Leitung der Fachstelle Kinderwelten, formuliert: „Inklusion stellt demnach eine Aufforderung dar, Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und anzuerkennen – in ihrer ganzen Persönlichkeit als mehrfachzugehörig und nicht nur mit Blick auf einen Aspekt ihrer Identität.“

Inklusion

Der Begriff Inklusion